Die Tode des Tao - Wesley Chu - E-Book

Die Tode des Tao E-Book

Wesley Chu

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In ›Die Tode des Tao‹, dem zweiten SF-Thriller im Tao-Universum, bringt Wesley Chu wieder alles zusammen, was den ersten Teil der Trilogie so einmalig macht: altkluge Aliens, Spionage-Action, Kung-Fu, fein abgemischt mit einem Hauch von Weltverschwörung. Eine grandiose Fortsetzung zu ›Die Leben des Tao‹. Roens aufreibendes Leben als Geheimagent im Dienste der außerirdischen Prophus geht weiter – und wird immer turbulenter, denn ihre Gegenspieler, die Genjix, haben einen wahrhaft diabolischen Plan ausgeheckt. Roen und Tao, wie immer zwei Seelen in einer Brust, kommen ihnen zwar auf die Schliche, aber das Problem ist: Um ihren Plan zu vereiteln, muss sich Roen mit seiner Ex-Frau versöhnen. Nur gut, dass niemand weiß, dass das Schicksal der Welt von einem zerstrittenen Ehepaar abhängt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 618

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wesley Chu

Die Tode des Tao

SF-Thriller

Aus dem Amerikanischen von Simone Heller und Susanne Gerold

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1 VergeltungsmaßnahmenKapitel 2 Buck’s BarKapitel 3 Baji und TaoKapitel 4 ÜbergangKapitel 5 WiedervereinigungKapitel 6 Senator WilksKapitel 7 ErhebungKapitel 8 An der OstküsteKapitel 9 Pläne und PizzaKapitel 10 GefangeneKapitel 11 CameronKapitel 12 MarcoKapitel 13 TaiwanKapitel 14 Der Rat der GenjixKapitel 15 Das erste DateKapitel 16 Die SucheKapitel 17 Würdiges OpferKapitel 18 MädelsabendKapitel 19 HinterhaltKapitel 20 VersuchsobjekteKapitel 21 VerstärkungKapitel 22 TrainingKapitel 23 Neues ManagementKapitel 24 TibetKapitel 25 Reise in den SüdenKapitel 26 DinnerpartyKapitel 27 KundschaftenKapitel 28 Nicht so leicht, wie es aussiehtKapitel 29 Ein Angebot, das man nicht ausschlagen kannKapitel 30 UpdateKapitel 31 Frischer WindKapitel 32 AufwärmtrainingKapitel 33 Der TransportKapitel 34 NiederlageKapitel 35 StaatsstreichKapitel 36 Der FallKapitel 37 Abgesang abgesagtKapitel 38 Die ZufluchtKapitel 39 Der HafenKapitel 40 VerzweiflungstatKapitel 41 Das letzte GefechtKapitel 42 Erwachsen werdenKapitel 43 SchiffskampfKapitel 44 Im Namen des EnkelsKapitel 45 EpilogDanksagungLESEPROBE aus Wesley CHU, Die Wiedergeburten des Tao Kapitel 1 Durch die Redwoods

Für meine Frau und den mir liebsten Menschen auf der Welt, Paula Kim

Kapitel 1Vergeltungsmaßnahmen

Der Pfad eines Gefäßes ist von Toten gesäumt. Und erst recht die Reise eines Quasing, denn nur ein stetiger Zyklus von Leben und Tod wird uns letztlich nach Hause führen.

Huchel, Rat der Genjix – Östliche Hemisphäre,

Quasing von König Salomo

Das schwarze Auto schlich durch finstere, unbeleuchtete Straßen in den Außenbezirken von Washington D.C. Jill Tan schaute durch die abgedunkelten Scheiben auf die düsteren, schneebestäubten Umrisse einer wie ausgewaschen wirkenden Welt. Das Treffen mit Andrews am Abend war schon wieder ein Reinfall gewesen. In letzter Zeit hatten sich viel zu viele Abende zu Enttäuschungen entwickelt. Und mit jedem Mal wurde ihr klarer, dass die Prophus bereits mit einem Bein im Grab standen.

Dass sie sich mit dem gerade erst gewählten Senator von Idaho zusammensetzen mussten, dem Vorsitzenden des nicht sonderlich angesehenen Trinity-Ausschusses, sagte einiges über die prekäre Lage der Prophus in den Vereinigten Staaten aus. Wäre ihr Einfluss auf die amerikanische Politik größer, wären sie nicht gezwungen, mit solchen Flachpfeifen an der Peripherie des Machtapparats zu verhandeln. Jill wusste nur zu gut, dass sie in Schwierigkeiten steckten, wenn jemand wie Andrews ihr Bedingungen stellen konnte.

Du hättest beim Poseidon-Gesetzesentwurf mehr Druck machen müssen.

»Seine Stimme ist den Sitz im Gremium einfach nicht wert, Baji. Ich werde Wilks oder die Prophus nicht von diesem Frischling in Geiselhaft nehmen lassen.«

Wir haben den Befehl, dafür zu sorgen, dass das Gesetz unter allen Umständen durchkommt. Wir sind auf die Ressourcen dringend angewiesen. Was bedeutet da schon ein Sitz für zwei Jahre?

»Ich werde dafür nicht Haus und Hof verkaufen. Damit schafft man nur einen negativen Präzedenzfall.«

Uns fehlen im Senat immer noch drei Stimmen.

»Die grabe ich schon noch irgendwo aus«, murmelte Jill, während sie im Geiste die Fraktionsmitglieder durchging. Sie war nicht annähernd so zuversichtlich, wie sie sich gab – was Baji natürlich wusste. Es war Jill einfach in Fleisch und Blut übergegangen, die Fassade zu wahren. In der Politik überlebte man nicht lange, wenn man Schwäche zeigte.

Sie schaute wieder nach draußen. Das war typisch Andrews, ein Treffen an so einem Ort anzuberaumen. Er wollte nicht mit ihr gesehen werden, hatte er gesagt. Das würde seinem Ruf schaden. Für wen hielt er sich eigentlich? Das Treffen hatte drei Stunden gedauert, und dabei hatte er sie nur hingehalten und unverschämte Forderungen gestellt, auf die sie – wie er sehr wohl wusste – nicht eingehen konnte. Die Verhandlungen mit ihm kosteten Zeit und Mühe, und Jill verlor langsam die Geduld.

Sie schaute auf die Uhr; es war 21.14 Uhr. Im Büro wartete ein Berg Arbeit auf sie. Sie konnte von Glück reden, wenn sie um drei ins Bett kam. Nun ja, ihr Privatleben war ohnehin nicht der Rede wert.

Vielleicht solltest du noch mal über dieses Date mit Dr. Sun nachdenken. Er ist Arzt, und dazu noch einer von Wilks’ großen Spendern.

»Baji, ich weiß, was das Dr. med. vor dem Namen eines Kerls bedeutet. Der Mann ist langweilig, egozentrisch und vermutlich ein Soziopath. Und er hat Pranken wie ein Yeti. Hast du keine anderen Kriterien für die Partnerwahl, als dass sie Ärzte sind?«

Wieso, das reicht doch. Das und dass sie keine Wirte sind.

»Das sind die schlechtesten Kriterien, die mir je zu Ohren gekommen sind.«

Von wegen. Schau dir doch Roen an. Er ist ein Wirt und kein Arzt. Und was hat es dir gebracht?

Jill brummte missbilligend und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Ihr persönliches Alien mochte die Weisheit und Bildung aus Jahrtausenden besitzen, aber als Kupplerin gehörte Baji eindeutig ins 11. Jahrhundert. Jills durchschnittliche Trefferquote in Liebesangelegenheiten war in letzter Zeit regelrecht verheerend gewesen. Allein schon der Gedanke, sich mit jemandem zu treffen, fühlte sich mittlerweile falsch an.

»Roen, du Dreckskerl«, fluchte sie in sich hinein.

Im Rückspiegel tauchte plötzlich ein blendendes Licht auf, und etwas rammte ihren Wagen von hinten. Von der Seite preschte ein weiteres Fahrzeug heran und prallte gegen den vorderen Kotflügel, so dass ihr Fahrzeug herumgeschleudert wurde.

Ein Hinterhalt!

»Alles in Ordnung?«, fragte Shunn, ihr Fahrer, obwohl ihm selbst das Blut über die Stirn lief. Chevoen, ihr Leibwächter, hatte sich schon aus dem Auto befreit. Jill hörte Schüsse, die in die Seitenverkleidung einschlugen.

»Kümmern Sie sich nicht um mich – machen Sie, dass sie rauskommen«, fuhr sie ihn an und zog ihre Ruger. »Benachrichtigen Sie das Oberkommando. Verteidigungsring bilden. Wir ziehen uns zurück, folgen Sie mir.« Sie stieg aus und ging hinter der Autotür in Deckung. Um sie herum prasselten Schüsse, während sich schemenhafte Umrisse aus der Dunkelheit schälten. Jill beugte sich über den Kofferraum und nahm die dunklen Gestalten ins Visier. Nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt schlugen Kugeln in die Karosserie ein.

Einer ist seitlich von dir auf dem Dach.

Sie lehnte sich mit dem Rücken ans Auto und warf gerade noch rechtzeitig einen Blick nach oben, um zu sehen, wie eine dunkle Gestalt in Deckung ging.

»Prophus!«, ertönte eine Stimme. »Wir wollen verhandeln.«

Wir sind umzingelt. Auf dem Dach gegenüber sind auch zwei Genjix.

»Sie haben uns gerade überfallen, Baji. Weshalb sollten sie jetzt plötzlich verhandeln wollen?«

Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sieh zu, dass du etwas Zeit rausschindest. Chevoen hat bestimmt schon ein Notsignal abgesetzt.

»Was gibt’s denn zu besprechen?«, brüllte sie.

Einer der Genjix trat vor, ein Telefon in der erhobenen Hand. Jill ließ ihn nicht aus den Augen. Als er auf fünf Meter heran war, warf er ihr das Telefon zu. Sie fing es auf und ging ran.

»Hallo, Jill«, sagte eine aalglatte Stimme am anderen Ende der Leitung.

Sie runzelte die Stirn. »Simon.«

Ich habe Biall schon verabscheut, bevor ich eine Prophus wurde.

»Du hast auf meine Anrufe im Büro nie reagiert, deshalb musste ich zu drastischeren Maßnahmen greifen. Wie war dein Treffen mit Andrews? Unergiebig? Natürlich. Wir haben ihn schon seit zwei Monaten in der Tasche. Ihr Prophus seid im Moment wirklich nicht die Schnellsten.«

Jill biss sich auf die Lippe. »Wie schön für euch. Wir wissen beide, dass Andrews nur für eine Amtszeit im Senat sitzen wird. Ich hoffe, ihr habt nicht zu viel für ihn bezahlt. Gibt es sonst noch was, oder bist du nur hier, um mir eure Überlegenheit unter die Nase zu reiben?«

Rechts sind noch zwei. Macht insgesamt acht im Sichtbereich. Schalte zuerst den auf dem hinteren Dach aus.

»Wie sieht dein Fluchtplan aus, Baji?«

Lauf in die Seitenstraße hinter dir.

Simon schwafelte einfach weiter. »Das ist nur etwas für Menschen. Die Unsterblichen verlangen von ihren Gefäßen schon etwas mehr Selbstdisziplin. Ich möchte dir vorschlagen, mit mir zusammenarbeiten. Überparteilich sozusagen.«

Das kaufte Jill ihm nicht ab. Beim letzten Mal, als Simon im Kongress das Wort »überparteilich« in den Mund genommen hatte, waren die Genjix gerade drauf und dran gewesen, die nächste Immobilienkrise auszulösen. Ein Move, der sie um einige Milliarden reicher gemacht hatte.

»Eigentlich würde Hogan gern mit deinem Boss verhandeln«, sagte Simon. »Ob der ehrenwerte Senator Wilks wohl zwei Stunden für ihn erübrigen könnte?«

Jill stieß empört die Luft aus. »Das ganze Theater, weil ihr ein Treffen wollt?«

»Ruf mich nächstes Mal einfach zurück, ja?«

»Lass mich raten. Geht es um den Südkorea-Zerstörer-Vertrag? Die Ostmeer-Mineralien-Sanktion? Oder den japanischen IEC-Standard-Zoll?«

»Unter anderem. Sagen wir, es ist ein großes Paket.«

»Was bietet ihr?«

»Ich schicke deiner Assistentin heute Nacht die Spezifika. Du wirst sie Wilks im bestmöglichen Licht präsentieren, und dann bekommen wir beide ein Lob, weil wir über die Kluft zwischen den Lagern hinweg zusammengearbeitet haben. Wie hört sich das an?«

»Weshalb sollte ich dir helfen wollen?«, fragte Jill.

»Weil meine Männer euch sonst alle umbringen.«

»Dann habe ich wohl keine andere Wahl. Ich werde aber Zeit brauchen, dein Angebot zu prüfen.«

»Du bist nicht in der Position, Bedingungen zu stellen, aber nimm dir ruhig Zeit und denk drüber nach«, sagte er. »Nächste Woche erwarte ich eine Antwort. Übrigens, Baji, Biall schuldet dir noch was für den Unabhängigkeitskrieg. Heute kriegst du eine Teilzahlung.« Dann legte er auf.

»Was ist während des Krieges geschehen?«

Bialls damaliges Gefäß war der Neffe von Lord Sandwich, dem Admiral of the Fleet, wie sein Rang in der Royal Navy seinerzeit hieß. Er wurde zum Kapitän befördert und in die Staaten geschickt. Mein Wirt, John Paul Jones, hat seine Fregatte erbeutet. Als Nächstes bekam er eine Schaluppe. Die habe ich versenkt. Dann haben sie ihm einen Schreibtischjob im Hafen von Yorktown gegeben. Als ich den Hafen plünderte, habe ich ihn gekidnappt. Lord Sandwich musste für den Knilch dreimal Lösegeld zahlen. Das trägt er mir immer noch nach.

»Würde ich an seiner Stelle auch tun.«

Jill warf dem Genjix-Agenten das Telefon wieder zu. »Ihr habt euer Treffen bekommen. Und jetzt, husch, husch, zurück ins Körbchen.«

Der Genjix-Agent blickte sie an und lächelte selbstgefällig. »Wir haben den Befehl, dich am Leben zu lassen, wenn du keine Schwierigkeiten machst. Für die anderen gilt das nicht. Tötet sie!«, brüllte er.

»Nein!«

Der folgende Schusswechsel war ohrenbetäubend. Beide Seiten eröffneten gleichzeitig das Feuer. Die Prophus-Leute waren waffentechnisch unterlegen und hatten die deutlich schlechtere Position. Es dauerte nicht lang, bis nur noch Jill am Leben war, die sich hinter die Autotür kauerte und nachlud.

»Deine Leute sind tot, Verräterin«, rief der Genjix-Agent. »Wirf deine Waffe weg und tritt vor. Ansonsten ist dein Leben verwirkt.«

Lass deine Waffe fallen. Anders kommst du hier nicht raus.

»Schnauze, Baji. Sie haben Shunn und Chevoen getötet, nur weil sie die Möglichkeit dazu hatten. Zeig mir ihre Positionen. Jetzt!«

In ihrem Geist blitzten Bilder der Genjix auf – von dem, der auf dem Dach hinter ihr kniete, von den beiden rechts von ihr, die an dem Lieferwagen lehnten, der sie gerammt hatte, und dann vom Anführer des Hinterhalts, der sich mit ihr unterhalten hatte. Jill stand auf und verschoss ihr Magazin auf die drei Gruppen. Dann rannte sie auf die Seitenstraße zu.

»Feuer!«, brüllte jemand.

Überall um sie herum schlugen Kugeln ein, während sie den schmalen Bürgersteig entlangsprintete und in eine Gasse bog.

Ein Schatten an der Dachkante eines der Gebäude zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie drückte sich an die Wand und suchte nach weiteren Bewegungen. Dann hörte sie rechts von sich Schritte. Alles in allem mussten es etwa zehn Genjix sein. Jill kauerte sich hinter einen Müllcontainer und blickte über den Rand. Ungefähr ein Dutzend Männer und ein weißer Lieferwagen ohne Aufschrift bogen in die Gasse ein, in der sie sich versteckte.

Sieht aus wie ein Penetra-Van.

»So viel also zum Thema verstecken.«

Das Aufkommen der mobilen Penetra-Scanner hatte den Verlauf des Krieges in den letzten drei Jahren verändert. Anfangs waren die Scanner – Maschinen so groß wie Häuser – bedeutungslos gewesen. In den letzten Jahren war es den Genjix allerdings gelungen, die Scanner zu verkleinern. Nun gab es überall Penetra-Vans, und für die Prophus wurde es immer schwieriger, unentdeckt zu bleiben.

Es sind zu viele.

»Ich habe schon Schlimmeres erlebt.«

Damit wollte sich Jill jedoch nur selbst Mut machen, und das wussten sie beide. So viel sie im Lauf der Jahre auch trainiert hatte, sie würde niemals eine zweite Sonya werden. Bajis frühere Wirtin hatte Roen zum Agenten ausgebildet und war einer ihrer Lieblinge gewesen. Sie war von den Genjix gefangen genommen und umgebracht worden, nachdem sie versucht hatte, Jill und Roen während der Dezennalien zu retten. Baji hatte Roen den Tod von Sonya nie verziehen, und in gewisser Weise trug sie ihn auch ihrer neuen Wirtin noch nach.

Jill spähte um die Seite des Müllcontainers und schoss dreimal. Einmal traf sie, während die anderen Schüsse harmlos vom Lieferwagen abprallten. Sie ging in Deckung, kurz bevor ein Kugelhagel auf den Container niederprasselte.

Zwei schleichen sich auf deiner Seite an der Mauer an.

Ein Bild blitzte in ihrem Kopf auf: zwei Männer, die sich im Sichtschutz des Containers geduckt auf sie zuschoben. Jill atmete wieder aus und zielte auf die Position, die sie in Gedanken gesehen hatte. Sie erwischte einen Genjix mitten im Gesicht. Weitere Kugeln schlugen um sie herum ein, und sie hörte jemanden nach Feuerschutz rufen.

»Ich hätte jetzt gern eine Granate.«

Und warum nicht gleich noch einen Raketenwerfer, wenn wir schon dabei sind?

Jill biss sich auf die Lippe, ihre Gedanken rasten, um einen Ausweg zu finden. Vielleicht hatte sie etwas, das an eine Granate herankam. Die Genjix-Agenten rückten näher. Jill wühlte in ihrer Tasche und zog eine kleine Dose Pfefferspray heraus. Mit der Spraydose in der Hand lehnte sie sich zur Seite.

So ein guter Schütze bist du nicht.

»Positiv denken, Baji.«

Baji hatte recht: Jill war bestenfalls ein durchschnittlicher Schütze. Aber was blieb ihr anderes übrig? Sie beugte sich wieder zur Seite, ließ die Dose auf die Agenten zurollen, nahm sie ins Visier und drückte mehrmals in rascher Folge ab. Die ersten drei Schüsse gingen daneben. Die Genjix eröffneten das Feuer.

Zieh dich zurück!

Jill hörte nicht auf Baji und konzentrierte sich weiter auf die Dose. Der fünfte Schuss fand endlich sein Ziel. Die Pfefferspraydose explodierte, und eine OC-Wolke breitete sich aus. Sofort begannen die Genjix in diesem Teil der Gasse zu husten. Jill zog sich zurück – aber nicht schnell genug, um verhindern zu können, dass eine Kugel ihre Wange streifte. Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückte sie einen Schrei. Das war knapp gewesen.

Im Augenblick waren die Genjix abgelenkt. Jill musste hier verschwinden, bevor die Wolke sich auflöste. Sie verließ ihre Deckung, sprintete zum Ende der Gasse und schoss dabei blindlings nach hinten. Plötzlich spürte sie einen brennenden Schmerz im Oberschenkel. Durch die Wucht des Treffers verlor sie das Gleichgewicht und fiel hin. Ihre Pistole schlitterte über den Boden.

Jill fluchte und zog sich auf Händen und Füßen durch die Gasse, um sie zu erreichen. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um ihren Sohn Cameron und Baji. Sie hatte beide enttäuscht. Einer der Genjix-Agenten tauchte vor ihr auf und kickte die Pistole zur Seite. Dann spürte sie, wie ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde, als ein anderer ihr kräftig auf den Rücken trat.

»Gib auf, Prophus«, sagte eine Stimme. Die Lichter des Lieferwagens näherten sich. Sie war umzingelt. Jill trat mit dem gesunden Bein zu und brachte einen der Agenten zu Fall, grapschte nach dem Fuß des anderen. Ein heftiger Schlag auf den Kopf machte ihrem letzten, verzweifelten Fluchtversuch ein Ende. Betäubt und mit geschlossenen Augen wartete sie auf den Fangschuss.

Plötzlich ertönte ringsum ein leises Prasseln, und sämtliche Genjix-Agenten kippten schlagartig um. Der Van änderte quietschend die Richtung und krachte gegen die Mauer. Der Fahrer stieg aus, fasste sich an die Schulter und sackte in sich zusammen. Weitere schallgedämpfte Schüsse ertönten, und er rührte sich nicht mehr.

Jill setzte sich und blickte auf das Dutzend regloser Körper. Es sah aus wie in einem Kriegsgebiet. Sie rappelte sich auf, verzog das Gesicht und betastete ihr verletztes Bein. Die Kugel hatte den Knochen verfehlt. Sie nahm ein Tuch aus ihrer Tasche und band die Wunde ab. Dann humpelte sie zum Ende der Gasse auf die größere Straße. Ihr Telefon klingelte.

Jill zog es aus der Handtasche und nahm den Anruf an. »Hallo?«

Am anderen Ende der Leitung ertönte eine barsche Stimme. »Richte dem Oberkommando aus, dass sie nächstes Mal bessere Security schicken sollen, oder ich ramme ihnen ein paar Essstäbchen in die Augen!« Dann legte er auf.

»Arschloch«, murmelte sie und suchte die Dächer ab.

Immerhin hat dir das Arschloch gerade das Leben gerettet.

»Er hätte mir zumindest anbieten können, mich mitzunehmen.«

Jill verließ den Schauplatz so schnell, wie es ihr humpelnd möglich war. Die Genjix würden bald ein Aufräumteam schicken, und es war klüger, bis dahin möglichst weit weg zu sein. Fünfzehn Minuten später hatte sie es bis zu einer großen Kreuzung geschafft. Sie wollte schon weitergehen, blieb jedoch stehen, als ihr Blick auf das Neonschild einer Bar fiel. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»O verdammt, das habe ich mir verdient«, sagte sie und ging hinein.

Du blutest. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen Drink.

»Das ist genau der richtige Zeitpunkt für einen Drink.«

Sie ging zum Tresen und bestellte sich eine Margarita.

Du verhältst dich unklug.

»Ich verhalte mich sogar sehr klug. Beinah hätte ich mir einen Tequila bestellt.«

Baji war schlau genug, das Thema fallenzulassen. Der Barkeeper musterte das Blut auf ihrer Wange neugierig, ließ sie aber ansonsten in Ruhe. Nach der zweiten Margarita ließ Jill alle Klugheit fahren und wechselte zu Tequila, von dem sie gleich zwei Shots hintereinander kippte. Es half, den Schmerz zu betäuben. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie knapp es gewesen war: dass sie Baji beinahe verloren und Cameron nie wiedergesehen hätte. Und dann dachte sie an Roen. Sie ballte die Faust, stürzte einen letzten Tequila hinunter und knallte das Glas auf den Tisch. Mit neuentfachter Zielstrebigkeit eilte sie aus der Kneipe und winkte ein Taxi heran.

Je schneller wir wieder in einer sicheren Umgebung sind, desto besser.

»Ich werde in kein Safe House gehen.«

Wohin denn sonst?

»Ich mache mich auf die Suche nach meinem Ehemann.«

Kapitel 2Buck’s Bar

Der Absturz. Eine Katastrophe. Mit über sechs Millionen Quasing an Bord war das Schiff versehentlich durch ein Asteroidenfeld geflogen und schwer beschädigt worden. Es blieb länger intakt, als wir für möglich gehalten hatten. Tapfer schleppte es sich durch den Raum, sterbend und auf der verzweifelten Suche nach einem Landeplatz. Bis wir in eure Galaxie vordrangen.

Der Hohe Rat hatte einen Planeten in diesem Sonnensystem ausfindig gemacht, auf dem es Atmosphären gab, in denen wir überleben konnten. Atmosphären, die allerdings in der Form von Milliarden winziger, beweglicher Einheiten auftraten – die indigenen Lebensformen des Planeten. Wir hatten eigentlich keine andere Wahl und setzten Kurs auf den Planeten, den wir jetzt Erde nennen.

Tao

Der größte Fehler des 20. Jahrhunderts. Los.

»Wurde von der Kunstschule begangen, die Hitlers Bewerbung abgelehnt hat, woraufhin er eine Karriere als Massenmörder einschlug. Das oder New Coke. Und du?«

Den japanischen Überraschungsangriff auf Pearl Harbor 1941 oder die Präsidentschaftswahl 1948, als die Demokraten es nicht schafften, Henry Wallace zum Vizepräsidenten zu machen.

»Du bist immer noch nicht drüber weg, was? Es ist ein halbes Jahrhundert her, und du bist immer noch verbittert.«

Wallace war Roosevelts geistiger Nachfolger. Die Welt wäre eine andere geworden.

»Du bist doch nur sauer, weil du nie wieder so nahe dran warst, Präsident zu werden.«

Ich habe zwei Jahrzehnte damit verbracht, ihn darauf vorzubereiten.

Roen Tan bog mit seinem Chevy Impala auf den Schotterplatz ein und musterte die Autos, die dort parkten, um zu sehen, wer da war: Jimmy, Amy, der komische Typ mit einer Stimme wie die von Alvin von den Chipmunks, der Besitzer, Dan und Hutzel. Er prüfte im Spiegel, ob er Blut im Gesicht hatte. Die Kämpfe auf dem Dach waren recht ruppig gewesen.

Ihm fielen seine eingesunkenen Wangen und der fusselige Viertagebart auf. Seine schwarzen Haare, gestutzt zu einer Art Beckham-Welle, standen unordentlich ab. Zufrieden stellte er den Motor ab, nahm den Cowboyhut vom Rücksitz und stopfte sich die Pistole in die Jeans.

Er stieg aus und ging um das Gebäude herum zur Vorderseite. Bars an einer Landstraße abseits des Highways mitten in den Appalachen hatten ihre Vorteile – man traf meistens die gleichen Gäste an, und es gab keinen Türsteher, der einen abtastete. Letzteres war besonders wichtig. Roen spürte, wie sein Messer ihm am Knöchel entlangrutschte. Er würde bald ein weiteres Loch in den Riemen machen müssen. Seine neue Diät, bei der er nur einmal am Tag etwas aß, war jetzt wohl auch an den Waden angekommen.

Er stieß die Schwingtür auf und tippte sich an den Hut, als er Amy sah, die Barkeeperin. Sie war der heißeste junge Feger im Umkreis von hundert Kilometern – was aber, um die Wahrheit zu sagen, auch nicht allzu schwer war. Bei den tausend Leuten, die überhaupt hier in der Gegend lebten, handelte es sich zum Großteil um Männer. Roen vermutete außerdem, dass sie so jung nicht war, sondern stramm auf die vierzig zuging.

»Charlie.« Sie nickte ihm zu. »Spät geworden heute? Wir schließen bald.«

»Howdy, nur ein oder zwei Drinks, Ma’am«, erwiderte er.

»Kein Problem, Cowboy.« Sie lächelte schief.

Dir ist schon klar, dass sie dir den Akzent keine Sekunde abnimmt …

»Ich übe für den Moment, in dem ich ihn wirklich mal brauche.«

Dann hoffen wir, dass dein Leben nicht davon abhängt, wenn es so weit ist.

Natürlich wusste Roen, dass sie ihn nicht deshalb Cowboy nannte, weil sie ihn tatsächlich für einen hielt. Er gab sich zwar alle Mühe, aber sein Akzent klang albern. Die Ortsansässigen amüsierte er im besten Fall mit seinem Gehabe, aber im Laufe des letzten Jahres hatten sie seine Anwesenheit nach und nach zu tolerieren gelernt. Wenn man schon ein Fremder war, konnte man zumindest versuchen, sich so gut wie möglich anzupassen. Trotzdem fiel er auch nach einem Jahr noch auf, und immer wieder versuchten die Einheimischen herauszufinden, was er verbrochen hatte, dass er sich hier verstecken musste. Die meisten tippten auf Steuerhinterziehung.

Du solltest es einfach aufgeben.

»Andere Länder, andere Sitten, Tao.«

Ich habe schon Jahrhunderte in anderen Ländern verbracht. Und das Letzte, was die meisten wollen, ist, dass man sie nachahmt.

Es gab eine alte Anlage, auf der Buck Owens auf Kassette lief. Dass es Buck Owens war, wusste Roen, weil die Bar jeden Abend dieselben vier Kassetten spielte und er beim ersten Mal, als er sich nach diesem Giganten der Countrymusik erkundigt hatte, ausführlich für seine Wissenslücke gerügt worden war. Eigentlich fand er, dass Buck ein bisschen ausdruckslos klang, was aber auch daran liegen konnte, dass das Band schon hunderttausendmal abgespielt worden war.

Die Hintertür steht etwas offen. Die Mülltonne blockiert den Ausgang. Schrotflinte hinter der Bar. Zwei Männer in der Nische ganz hinten. Sieht aus, als wären Howie und sein unzertrennlicher Freund wieder da.

Alvin von den Chipmunks saß wie immer am anderen Ende der Bar, den Blick fest auf den Bildschirm gerichtet, eine museumsreife Röhre, die noch eine Skalenscheibe hatte. Jedes Mal, wenn er hereinkam, rechnete Roen halb damit, dass der Fernseher kaputt war, aber bislang hielt er durch.

Hutzel saß allein in der Nische, die der Tür am nächsten war. Er versuchte, Roen zu sich herüberzuwinken, der aber den Blick abwandte und so tat, als würde er den alten Mann nicht bemerken. Stattdessen setzte er sich so an den Tresen, dass er sowohl den Ein- als auch den Ausgang im Auge behalten konnte.

»Was soll’s sein, mein Hübscher?«, fragte Amy mit ihrer Reibeisenstimme. Sie nannte jeden hübsch. Trotzdem hegte Roen insgeheim den Verdacht, dass sie es bei ihm ernst meinte. »Wie immer?«

Er nickte. »Warte.« Er klopfte sich die Taschen ab – sie fühlten sich leer an. Er hatte heute Abend einen seiner falschen Ausweise mitgenommen und vergessen, auch Geld dazuzupacken. »Cutty«, sagte er niedergeschlagen. »Unverdünnt. Nein, lieber on the rocks.«

Davon kriegst du Kopfschmerzen.

»Von einem leeren Magen auch.«

Nein, davon bekommst du nur miese Laune.

Amy stellte zwei Gläser mit brauner Flüssigkeit auf den Tresen und schob ihm eins davon hin. »Da hast du deinen Glen, wie immer. Ich setz ihn auf die Rechnung – und den hier auch.« Sie zwinkerte.

Er unterdrückte den Gedanken an das Geld und hob das Glas. »Auf die schönste Frau diesseits der Berge.« Sie stießen an und leerten die Gläser.

Wenig später holte sie die Flasche aus dem Regal und schenkte nach. Das hier versprach langsam, ein teurer Spaß zu werden. »Warum kommst du erst so spät, Charlie?«, fragte sie und drehte die Flasche in der Hand.

»Musste noch ein Dutzend Typen abknallen« klang irgendwie nach der falschen Antwort.

Roen hob das Glas auf Höhe ihrer Augen und tippte sich an den Hut. »Musste den Chemikalienspiegel in der Anlage checken.« Chemische Aufbereitung war in dieser Gegend die gängigste Branche, und man arbeitete häufig zu merkwürdigen Zeiten. Gewöhnlich zuckte dabei niemand auch nur mit der Wimper.

Amy beugte sich über den Tresen, ihre Finger spielten am Rand des Glases. »Und was hast du heute Abend noch vor, mein Starker? Diese alte Flasche und ich sind nämlich ganz allein.«

Roen zögerte, und noch bevor er antworten konnte, öffnete sich mit einem lauten Quietschen die Tür. »Er hat eine Verabredung mit mir«, unterbrach eine starke, klare Stimme seinen Entscheidungsprozess. Roen musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, zu wem sie gehörte. Stattdessen nahm er Amy die Flasche aus der Hand, schenkte sich einen Doppelten ein und stürzte ihn hinunter.

Amy schaute träge zur Tür und wandte ihr dann den Rücken zu, während sie so tat, als würde sie den Tresen abwischen. »Sorry, Süße, wir haben geschlossen.«

»Ich bin nicht hier, um was zu trinken«, erwiderte Jill, die sich neben Roen setzte.

»Gib ihr trotzdem einen. Tequila für den tobenden Sturm«, meinte Roen.

»Ich bin hier, um mit diesem Drecksack zu reden.« Sie deutete vage in seine Richtung.

»Willst du, dass ich sie für dich abwimmle, Hübscher?«, fragte Amy. »Wer ist sie überhaupt?«

»Sie ist nur eine …«, begann Roen.

»… Ehefrau«, knurrte Jill.

Und damit löste sich das ganze Wohlwollen, das Amy ihm entgegengebracht hatte, in Rauch auf. Sie warf ihm einen Blick zu, der einen Bison hätte umhauen können. »Du miese kleine Sumpfnatter«, zischte sie und schenkte Jill einen Tequila ein. »Da, für dich, Süße. Geht auf seine Rechnung.«

Jill lächelte Amy freundlich an. Die beiden tranken gemeinsam auf Roens Kosten und verbrachten eine gute Viertelstunde damit, über ihn zu lästern, als wäre er gar nicht da. Als er sein Glas schüttelte, um noch einen Drink zu bekommen, zuckte Amy nur mit den Schultern. »Zahl erst mal deine Rechnung, Kleiner«, antwortete sie, nur um Jill dann noch einen einzuschenken.

Mein Rat: Nichts wie weg. Ich glaube nicht, dass du hier noch was reißen kannst.

»Danke, Dschingis. Bei dem Tempo, das die beiden vorlegen, muss ich am Ende Gläser spülen, wenn ich diese Rechnung je begleichen will.«

Als Amy die Bar dichtmachte, umarmte sie Jill noch einmal: »Pass auf dich auf, Süße, und achte auf die Schlangen, die sich zurück in dein Leben schlängeln.«

Und dann standen Jill und Roen allein auf dem verlassenen Schotterparkplatz vor Buck’s Bar. Sie gingen schweigend zu Jills Auto. »Sie ist niedlich«, sagte Jill und lächelte süßlich. »Jetzt verstehe ich, warum du mich verlassen hast.«

»Ich habe dich verlassen?« Roens Stimme schoss um zwei Oktaven nach oben.

Ruhig Blut. Mach den Countdown.

Roen schloss die Augen und zählte von vierzehn abwärts, wobei er jede Silbe einzeln betonte. Früher hatte er bei zehn angefangen, aber im Lauf der Jahre waren ein paar Zahlen dazugekommen. Als er sich beruhigt hatte, öffnete er die Augen langsam wieder und musterte ihr Gesicht. Sie hatte dunkle Augenringe, und ihr normalerweise glattes braunes Haar war wirr. Roen streckte die Hand nach ihr aus und berührte die verletzte Wange. »Das muss behandelt werden, sonst gibt das eine Narbe. Wie geht es dir?«

Sie schlug seine Hand weg. »Ich denke, du wolltest eigentlich fragen, wie es unserem Sohn geht?« Dann atmete sie tief ein und sagte: »Ich lebe. Im Augenblick zumindest.«

»Wie geht’s Cameron? Vermisst er seinen Vater?«

»Er kennt seinen Vater gar nicht!«, fuhr Jill ihn an.

»Ich bin nicht derjenige, der mir das Besuchsrecht entzogen hat«, fauchte er zurück. »Dürfte ich …«

Halt.

»Tao, verzieh dich.«

Hört sofort auf damit. Ihr Idioten streitet euch um zwei Uhr morgens auf einem Parkplatz in Highwaynähe. Könntet ihr euren gemeinsamen Trip in die Idiotie bitte zumindest an einem sicheren Ort fortsetzen?

Roen seufzte. »Komm schon, Jill, es ist spät. Wir haben beide was getrunken. Unterhalten wir uns doch bei mir.«

Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, und ihre Mundwinkel wölbten sich nach oben. Einen Augenblick lang war sie wieder die alte schelmische Jill, die er von früher kannte. »Du lädst mich zu dir ein? Das ist kühn. Hast du keine Angst, dass ich meinem Vater verrate, wo er dich finden kann?«

»Was treiben Louis und Lee Ann so?«, fragte Roen. Zweifellos würden ihre Eltern am liebsten eine Piñata aus ihm machen. Es war alles einfach dumm gelaufen.

»Sie sind damit beschäftigt, sich um deinen Sohn zu kümmern«, erwiderte Jill, die jetzt plötzlich gar nicht mehr kämpferisch wirkte. »Ich konnte es nicht. Bei allem, was seit einer Weile abgeht, konnte ich mich nicht mal um meinen eigenen Sohn kümmern. Ich bin eine furchtbare Mutter.«

Roen sah, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel stahl und die Wange hinablief. Als er Anstalten machte, sie zu umarmen, boxte sie ihm auf die Schulter. Roen biss sich auf die Lippe und hielt die Hände kapitulierend hoch. Zumindest hatte sie nicht gelernt, wie man jemanden richtig verprügelte, sonst wäre diese Unterhaltung womöglich noch richtig schmerzhaft geworden.

Ihm war nicht ganz wohl dabei, dass Jills Eltern sich um Cameron kümmerten. Er wusste zwar, dass Jill trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, niemals schlecht über ihn reden würde. Aber wer konnte schon sagen, welches Gift seine Schwiegereltern verspritzten? »Woher wusstest du eigentlich, dass ich in Buck’s Bar war?«, fragte er.

»Du bist nach deinen Jill-Bewachungs-Eskapaden immer hier.« Sie zuckte mit den Schultern. »Glaub nur nicht, die Prophus würden dich nicht im Auge behalten. Du bist nicht so unerreichbar, wie du vielleicht denkst.«

Da hat sie recht. Du bist in letzter Zeit unerträglich vorhersehbar.

»Wo wir übrigens gerade davon sprechen«, fuhr sie fort, »wer ist eigentlich dein Maulwurf im Oberkommando?«

Roen zuckte mit den Schultern und tat so, als wüsste er von nichts.

»Wer ist unsere undichte Stelle?«, wiederholte sie und betonte dabei jedes Wort. »Komm schon, dass du Zugang zu den Taktikplänen meiner Missionen hast und bei manchen meiner Aufträge den Schatten spielst, bedeutet, dass irgendein Arsch dir aus falsch verstandener Loyalität Informationen zusteckt. Wer ist dieser Schwachkopf?«

»Nicht bei manchen deiner Aufträge«, murrte er. »Bei allen. Ich habe dir bei allen zwölf Blödsinnsmissionen, auf die dich das Oberkommando im letzten Jahr geschickt hat, den Rücken gedeckt.«

»Vierzehn«, verbesserte sie.

Roen schüttelte den Kopf. »Costa Rica zählt nicht. Du hast nicht mal deine Knarre mitgenommen. Und was Paris betrifft, habe ich dafür gesorgt, dass man dich im Auge behält.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht.«

»Hab ich gesehen«, sagte er missgelaunt. »Du hattest das heute Abend vollkommen im Griff. Komm, steig ins Auto und fahr mir nach. Lass uns diese Unterhaltung an einem sicheren Ort weiterführen.«

Jill sah aus, als wollte sie widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Baji hatte wohl erkannt, dass es ein schlauer Vorschlag war. Wahrscheinlich brachte es sie fast um, mit ihm einer Meinung zu sein. Ein kleiner Sieg. Baji hatte schon kaum ein gutes Haar an ihm gelassen, als Sonya noch gelebt hatte. Jetzt war es bestimmt zehnmal so schlimm.

Sie stiegen in ihre Autos und fuhren sechs Kilometer nach Westen, tiefer in die Appalachen hinein, zwei einsame Paar Scheinwerferkegel, die sich zwischen den düsteren Hügeln hindurchschlängelten. Schließlich bog er ab und fuhr über einen Schotterweg in eine Schlucht. Er parkte unter einem kleinen Überhang und stieg aus. Augenblicke später hielt Jill neben ihm.

»Entweder lebst du in einem Zelt, oder du hast mich hierhergelockt, um mich zu ermorden«, sagte sie, als sie sich umschaute.

»Nach dir«, sagte Roen mit schiefem Lächeln, während er auf einen krummen Lorbeerbaum zeigte, der aus dem Hang wuchs.

Jill verdrehte die Augen, stieß dann aber einen Pfiff aus, als sie unter dem Baum einen Betontunnel entdeckte, der sich in die Schlucht grub und von einem rostigen Tor verschlossen war. »Als du gesagt hast, du würdest untertauchen, hast du das wohl wortwörtlich gemeint«, bemerkte sie beeindruckt. »Lebst du jetzt unter deinesgleichen?«

»Bezeichnest du unseren Sohn etwa als Halbratte?«, scherzte er.

»Immerhin hat er mein Aussehen und meine Intelligenz«, erwiderte sie.

Sie passierten das Tor und durchquerten den dunklen Tunnel. Roen betätigte einen Schalter, und eine Reihe von trübgelben Lampen gingen brummend nacheinander an und beleuchteten einen gut fünfzig Meter langen Tunnel. Sie gingen eine Weile schweigend weiter, und die dumpfen Geräusche ihrer Schritte hallten von den Wänden wider.

»Wie hast du das hier gefunden?«, fragte sie schließlich.

Roen kickte einen Stein aus dem Weg und sah zu, wie er von den runden Tunnelwänden abprallte. »Nachdem ich die Prophus verlassen hatte, brauchte ich einen neuen Lieferanten. So lernte ich Old Alex kennen, einen Einsiedler, der illegal Munition verkaufte. Er war ein Prepper, der sich auf den Weltuntergang vorbereitet, in den Achtzigern dieses alte Atomraketensilo gekauft und es in eine dieser unterirdischen Festungen verwandelt hat. Wir gehen gerade durch den Abluftschacht von Startrampe 2.

Der alte Mann hasste die Regierung und war ein Verschwörungstheoretiker vor dem Herrn. Stundenlang laberte er davon, dass sie kommen würden, um ihm seine Waffen, seine Bibeln und seinen Whiskey wegzunehmen. Als er versuchte, einen sowjetischen Panzer zu kaufen, hat man ihn schließlich verhaftet. Ist dann im Knast an Lungenkrebs gestorben. Er hatte keine Familie, und als ich mitbekommen habe, dass er gestorben ist, bin ich hier eingezogen. Jetzt habe ich einen lebenslangen Vorrat an Munition.«

Sie erreichten das Ende des Tunnels, wo eine große verrostete Tür mit einem Tastenfeld ihnen den Weg versperrte. Roen murmelte etwas in ein Mikrophon und präsentierte dem Scanner sein Auge. Die Tür piepte und glitt zischend auf. Sie traten in einen Raum, der nur ein Wohnzimmer sein konnte.

Ein verdammt großes Wohnzimmer. Die Decke ließ sich nur erahnen, und der ganze Raum stand voller nicht zusammenpassender Möbelstücke. Es gab eine Couch, von der Jill geschworen hätte, dass sie eine echte Antiquität aus der französischen Kolonialzeit war, und einen billigen Kaffeetisch aus Kutschenrädern. Drei Bücherregale reihten sich an der einen Seite des runden Raums auf. Am anderen Ende standen ein Airhockey-Tisch und eine Hantelbank. Gleich am Eingang befand sich ein Set aus sechs übereinandergestapelten LCD-Fernsehern.

»Hmm, eine Bat-Höhle«, bemerkte sie. »Das ist in der Tat recht beeindruckend. Ich habe die letzten beiden Jahre gedacht, du würdest an irgendeinem Strand in Panama leben, den ganzen Tag surfen und nachts die Chicas anbaggern.«

»Das waren die ersten sechs Monate«, erwiderte er grinsend. Er deutete auf die karge Küche. »Mi casa es su casa.«

»Gibt es was Anständiges zu trinken, oder hast du dich an den Mist gewöhnt, den die Leute hier selbst brennen?«, fragte sie.

Er holte eine halbe Flasche Bourbon und zwei Gläser heraus. »Das Eis ist etwas knapp«, entschuldigte er sich, während er ihr ein Glas einschenkte und es mit Wasser mischte. »Bleibst du heute Nacht hier?«

Jill schüttelte den Kopf. »Ich muss wieder auf dem Hill sein in …«, sie schaute auf die Uhr, »sieben Stunden.«

Roen nahm ihr das Glas weg. »Ich hol dir ein Wasser. Bist du sicher, dass du nicht bleiben kannst? Tao würde vermutlich gern ein paar Worte mit Baji wechseln.«

»Ich bin nicht sicher, ob Baji das genauso sieht. Gib mir den Drink. Ich bin ein großes Mädchen.«

Roen zögerte, ehe er ihr das Glas wieder überließ. Er setzte sich ihr gegenüber auf die Couch und beugte sich vor. »Also, wie geht es Cameron?«

»Schießt hoch wie Unkraut. Tritt und schlägt mit drei besser um sich als sein Vater mit dreißig.« Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte Jill richtig ehrlich. Für ein paar Minuten vergaßen sie ihre Vergangenheit und versanken in der Welt ihres Sohnes. Jill erzählte davon, wie Cameron das erste Mal auf einem Fahrrad mit Stützrädern gefahren war, und ein paar Augenblicke verdrängten sie die Probleme der letzten beiden Jahre und waren einfach stolze Eltern, die sich gemeinsam Bilder ihres Sohnes ansahen.

Eine Stunde später redeten sie immer noch über Cameron. Es war spät geworden, und sie waren beide so erschöpft, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnten. Sie saßen aneinandergeschmiegt da. Roen konnte den schwachen Geruch nach Rauch, Blut und Alkohol an ihr wahrnehmen, während er sie sanft festhielt.

»Das ist die ganze Zeit dein Plan gewesen«, murmelte sie schläfrig. »Ich muss zurück nach Washington.«

Roen murmelte etwas Unverständliches, während er ihr den Arm um die Schulter legte und die Augen schloss. Für diesen kurzen Moment waren sie wieder ein Paar.

Kapitel 3Baji und Tao

Als das Schiff in die Erdatmosphäre eintrat, verbrannte es und zerbrach in etliche Stücke, die auf die Oberfläche des Planeten hinabprasselten. Wir hatten es so gezüchtet, dass sich seine Membran verhärtete, wenn es großer Hitze ausgesetzt wird. Das hat uns vor der kompletten Auslöschung bewahrt.

Die meisten unseres Volkes verdampften mit dem Hauptteil des Schiffes, kaum dass es auf den Ozean auftraf. Doch einige hunderttausend von uns überlebten in den Fragmenten, die über die ganze Erde verstreut wurden. Ich befand mich in einem Abschnitt des Schiffs, der in den Tiefen des heute als Afrika bekannten Erdteils abstürzte.

Tao

»Hallo, Baji.«

Jills Augen gingen flatternd auf und richteten sich auf Roen, der auf sie herabschaute. Sie zog sich vor ihm zurück ans andere Ende der Couch, das Gesicht von Wut verzerrt. »Was willst du, Tao?«

Tao sorgte dafür, dass Roen sich nach vorne beugte. »Im Augenblick will ich mit einer alten Freundin sprechen. Wie geht es dir?«

Baji schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast Nerven, dass du das fragst. Es läuft furchtbar. Eigentlich ist es so schlimm wie in der ganzen sechshundertjährigen Geschichte unseres Krieges nicht, inklusive der fünfzig Jahre, die ich im Tower von London verbracht habe. Und das wüsstest du, wenn du uns nicht im Stich gelassen hättest.«

»Komm schon, verglichen mit anderen Gefängnissen war der Tower ein Ponyhof«, sagte Tao leichthin. »Außerdem kennst du mich doch besser. Bin ich je vor diesem Krieg davongelaufen?«

»Wo warst du dann, als Capulets Skiresort fiel? Wo warst du bei der Invasion von Dubai und Ankara? Warst du während der Verteidigung der Zentrale in Denver bei uns? Nein, warst du nicht. Als die Genjix losschlugen, bist du verschwunden.«

»Unsere Stützpunkte in diesen Städten waren verloren, von dem Augenblick an, als die Genjix unser altes Netzwerk infiltriert hatten. Meine Anwesenheit dort hätte keinen Unterschied gemacht.«

Baji stach Tao mit dem Finger in die Brust und schob ihn nach hinten. »In Boulder haben sechs Prophus und ein dreißigköpfiger Trupp vierhundert Genjix fünf Tage lang aufgehalten. Die Verstärkung kam drei Stunden zu spät. Wage es ja nicht, mir zu sagen, dass die Anwesenheit des großen Tao keinen Unterschied gemacht hätte.«

Sie lehnte sich zurück und vergrub das Gesicht in den Händen. Tao erkannte, dass Baji erschöpft war.

»Allein dieses Jahr haben wir zweihundert Quasing an die Ewige See verloren. Nach neuesten Informationen gibt es ein Gefängnis in Tibet, in dem sich etwa zweitausend Agenten und Wirte befinden. Was konnte so wichtig für dich sein, dass du uns im Stich lässt?«

»Die Genjix spielen jetzt ein anderes Spiel, und es geht dabei nicht um die Kontrolle über die Menschheit.« Tao verzog das Gesicht. »Obwohl wir dabei auch schon keine besonders gute Figur gemacht haben.« Er stand auf und bewegte sich ein Stück weg, dann drehte er sich zu ihr um, plötzlich wütend. »Nach dem Fall von Toronto habe ich sie gewarnt. Ich habe diesen Narren gesagt, sie sollen das Guerillaprotokoll initiieren und in den Untergrund gehen!«

Baji stand auf und machte ein finsteres Gesicht. »Und als die Hüterin nicht auf dich gehört hat und dir andere Befehle gab, bist du beleidigt abgezogen. Und mit dir auch Jills Ehemann und Camerons Vater.« Sie warf die Hände in die Luft. »Jill und Cameron waren Roens Familie. Habt ihr beiden Schwachmaten euch eigentlich mal überlegt, was das für Konsequenzen hat? Habt ihr beiden selbstsüchtigen Bastarde je daran gedacht, was Jill euretwegen durchmacht?«

»Schieb das nicht Roen in die Schuhe. Sie hat ihn rausgeworfen!«

»Weil er monatelang in der Weltgeschichte unterwegs war. Auf deinen Wunsch hin, wie ich hinzufügen möchte!«, keifte sie. »Er war nicht da, als sie sich damit herumschlug, seinen Neugeborenen aufzuziehen.«

Tao senkte den Blick und flüsterte: »Damit hat Roen mehr zu kämpfen, als du dir vorstellen kannst, aber es war wichtig. Er hat es verstanden.«

»Du glaubst vielleicht, dass es wichtig war! Und es besteht gar kein Zweifel, dass du dabei die Strippen gezogen hast. Roen gehorcht dir doch wie ein abgerichteter Köter, deswegen ist es ziemlich sicher nicht auf seinem Mist gewachsen.«

»Ich konnte nicht anders«, sagte er noch nachdrücklicher. »Die Information, die ich aus Südkorea erhalten hatte, war zu wichtig, als dass man sie hätte ignorieren können. Die Hüterin entschied, keine Ressourcen dafür einzusetzen. Ich tat, was getan werden musste. Das Oberkommando verliert den Ball inzwischen immer öfter an den Gegner.«

»Und du willst das ändern, indem du dich in einem verlassenen Raketensilo mitten in den Bergen versteckst?« Sie wurde lauter. »Indem du unsere Kommunikationskanäle ausschnüffelst und auftauchst, wann immer es dir passt?« Baji schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Ich kenne dich seit der Inquisition. Du warst nie vorhersehbar. Gewissermaßen hat dich das zum Menschlichsten von uns allen gemacht. Und Sonya hat dafür bezahlt.«

»Es läuft immer auf Sonya hinaus, nicht wahr?«, fuhr Tao sie an. »Menschen sterben im Krieg. Edward ist gestorben. Glaubst du, ich habe nicht um ihn getrauert?«

Sie marschierte wieder auf ihn zu. »Ja, es läuft immer auf Sonya hinaus. Edward ist auf einer Mission bei der Ausübung seiner Pflichten gestorben. Er hatte die Risiken akzeptiert. Du hattest zwanzig Jahre mit ihm. Sonya hatte ihre Berufung gerade erst gefunden. Sie wäre einer meiner bedeutendsten Wirte geworden, und Roen hat mir dieses Potential genommen. Sie hat während der Dezennalien das Hotelzimmer verlassen, um ihn zu retten. Er war der Grund, weshalb sie in Gefangenschaft geriet. Sie starb für deinen idiotischen Wirt, weil er an Gehirnlähmung litt und seiner dummen Freundin nachrannte.«

Tao runzelte die Stirn. »Der dummen Freundin, die jetzt dein Wirt ist? So wie du mit Menschen umgehst, solltest du vielleicht für die Genjix kämpfen.«

Bajis linker Haken zischte dicht an Roens Nase vorbei. Tao hatte den Angriff abblocken können, wenn auch nur knapp, da die Quasing lediglich eine schwerfällige Kontrolle über die Körper ihre Wirte ausüben konnten.

Baji kam mit dem Gesicht sehr nah an seines heran, und ihre Augen blitzten vor Zorn. »Wie kannst du es wagen!«

Tao lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber er hielt sich zurück. »Es tut mir leid, Baji. Sonya hat auch Roen viel bedeutet. Seine Schuld nagt noch immer an ihm.«

»Das sollte sie auch.« Baji zog sich zurück und setzte sich wieder auf die Couch. Sie schaute an den hohen, gerundeten Wänden empor, die einst eine Atomrakete beherbergt hatten, und dann auf die Bilderrahmen, die die Wand zierten. Es gab ein Bild von Jill, vier von Jill und Roen und beinahe ein Dutzend von Cameron und Jill. An der anderen Wand, gegenüber vom Eingang, hing eine Weltkarte. Ein paar Dutzend verschiedenfarbige Reißzwecken waren über die Karte verstreut. Daneben befand sich noch eine kleinere Karte der Ostküste. Auch darin steckten etliche Reißzwecken.

Baji zögerte und verzog das Gesicht. »Mir gefällt, was Roen aus diesem Ort gemacht hast«, sagte sie schließlich. »Zumindest ist er nicht mehr so ein Chaot.«

Tao zuckte mit den Schultern. »Er spült sogar jeden Abend das Geschirr.«

»Das macht er nur, weil sie nicht da ist, um ihm hinterherzuräumen.«

Baji nahm wieder auf der Couch Platz. »Hast du denn gefunden, wonach du gesucht hast? War es das wirklich wert?«

Tao legte nachdenklich die Hände aneinander, womit er Roen nachahmte. Er hätte Roens Körper auch dazu bringen können, auf dem Kopf zu stehen, und seine Gedanken wären genauso klar gewesen. Es machte ihm allerdings Spaß, sich menschlich zu verhalten, wenn er die Kontrolle hatte. »Erinnerst du dich an meine Theorie vor zwei Jahren? Über die sich alle lustig gemacht haben?«

Baji lächelte schief. »Welche denn? In den letzten Jahren hast du ziemlich viel Nonsens von dir gegeben.«

»Die mit …«

In diesem Moment piepte Jills Telefon, und dann erschienen gleichzeitig beinahe ein Dutzend Nachrichten auf dem Display. Sie runzelte die Stirn und schaute an den Metallwänden hinauf. »Wie ist hier der Empfang?«

Tao zuckte mit den Schultern. »Es gibt einen Signalverstärker, der auf die Frequenz von Roens Telefon eingestellt ist. Alles andere ist Glückssache.«

Sie ging die Texte durch und keuchte. »Ich muss zurück!« Sie stand auf, dann schüttelte sie heftig den Kopf. Jills Augen wurden einen Moment trüb und dann wieder klar; sie wirkte verwirrt. Langsam breitete sich Besorgnis auf ihrem Gesicht aus.

»O mein Gott«, keuchte sie, während sie hektisch ihre Jacke suchte.

Tao packte sie am Ellbogen. »Was ist los?«

Sie bückte sich und zog ihre hochhackigen Schuhe an. »Die Genjix haben die Atlantis vor der Südostküste Chinas lahmgelegt. Es sind hundert Prophus an Bord und zweihundert zusätzliche Mannschaftsmitglieder. Sie ist unser letztes Flaggschiff.«

»Was hat sie dort gemacht?«, fragte er. »Das Südchinesische Meer wird seit fünf Jahren von den Genjix kontrolliert.«

Jill schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht genau. Ich kann nur sagen, dass sie sich mit einem Team auf dem Festland treffen wollten.« Sie rannte zum Ausgang, hielt inne, kehrte zu Roen zurück und gab ihm einen raschen Kuss auf den Mund. »Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.« Sie löste sich von ihm und rannte hinaus.

Tao folgte ihr und rief: »Was hat das Oberkommando vor?«

Sie wandte sich zu ihm um. »Sie stellen eine Rettungsmission auf die Beine.« Ein kurzer Moment verging, ehe sie hinzufügte: »Roen, Dylan war an Bord der Atlantis.«

Tao ballte die Fäuste und brüllte ihr nach: »Warte. Ich komme mit.«

Er schloss die Augen und schlug sich ins Gesicht.

Kapitel 4Übergang

Unter den Quasing wird oft darüber debattiert, welche irdische Lebensform das würdigste Gefäß für sie war. Für viele sind es die Menschen, weil sie zu fortgeschrittenen Denkprozessen fähig sind. Doch stellt nicht gerade der freie Wille bei Gefäßen eine überflüssige Eigenschaft dar?

Tatsächlich waren der Tyrannosaurus Rex und andere Raubsaurier nicht nur die größten Landreptilien, die je auf Erden wandelten, sondern auch das großartigste Gefäß, und zwar aus einem einfachen Grund: Kein anderes Wesen auf diesem Planeten war jemals mit einer so harmonischen Kombination aus Wildheit und Geistesschwäche ausgestattet.

Unser Goldenes Zeitalter auf Erden erlebten wir während jener Millionen Jahre, als wir durch die Riesenechsen herrschten. Sie haben uns zwar keinen Schritt näher nach Hause gebracht, aber in dieser Zeit waren wir alle Könige.

Zoras

Devin Watson hatte einen schlechten Tag. Gerade hatte er sich noch mit Premierminister Wen und Admiral Wu zu einem geheimen Lunch getroffen, um den Einsatz der chinesischen Südflotte und die aktuelle Militäraktion vor der Küste von Taiwan zu besprechen, als ihn ein Herzinfarkt ereilt hatte. Nun befand er sich in einem sehr unbequemen Bett im 301 Military Hospital, umgeben von einem Ärzteteam. Die Prognose sah nicht gut aus – er lag im Sterben.

»Wir können Sie an die Spitze der Transplantationsliste setzen und Ihnen jetzt gleich ein Herz besorgen«, sagte einer der Ärzte. »Man wird es uns innerhalb von zwei Stunden liefern. Wir müssen Sie sofort für die OP vorbereiten. Ohne diesen Eingriff überleben Sie die Nacht nicht.«

Devin packte den Arzt am Ärmel und zog ihn dicht zu sich heran. »Wie lange dauert es, bis ich dieses verdammte Zimmer verlassen kann?«, fragte er zwischen zwei mühsamen Atemzügen. »Meine Arbeit ist zu wichtig, sie kann nicht warten. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich mich vollständig erhole?«

Dieser Verzug ist inakzeptabel.

Der Arzt zögerte. »Sir, dies ist Ihr dritter Herzinfarkt in fünf Jahren. In Ihrem Alter wird es einige Monate dauern, bis Sie das Krankenhaus verlassen können. Vielleicht erholen Sie sich auch nie mehr ganz.«

»Ich entschuldige mich für meinen Zustand, Zoras.«

Du warst immer ein demütiges Gefäß, Devin. Dein gebrechlicher Körper lässt uns jedoch im Stich. Deine Zeit ist abgelaufen. Ruf das Adonis-Gefäß.

»Wir nähern uns einer kritischen Phase. Würde ein Übergang nicht den Plan gefährden?«

Ich habe meine Entscheidung getroffen. Initiiere das Transferprotokoll.

»Wie du wünschst.«

Devin blickte nach unten auf seinen kaputten Körper und verzog das Gesicht. Er hatte gehofft, noch ein paar Jahre durchzuhalten. Schließlich war das ProGenesis-Projekt seine Idee gewesen. Es wäre herrlich gewesen, mitzuerleben, wie es umgesetzt wurde.

Devin scheuchte die Ärzte beiseite und winkte seine Mitarbeiterin Amanda heran. »Bringen Sie mir ein Glas von Pappy’s Bourbon, unverdünnt, und eine kubanische Habanos-Zigarre.« Das Ärzteteam legte Protest ein und informierte ihn, dass beides in seinem gegenwärtigen Zustand wenig ratsam war. Einer besaß sogar die Dreistigkeit, ihn daran zu erinnern, dass sie sich in einem Krankenhaus befanden und man hier nicht rauchen durfte. Devin musterte diesen Narren genauer und sprach in deutlichem Mandarin: »Wenn ich jetzt eine Pistole in der Hand hätte, würde ich Sie erschießen. Und jetzt raus mit Ihnen, alle!«

Seine beiden Leibwächter zogen ihre Waffen. Die Ärzte flüchteten, und als er schließlich mit Amanda allein war, erteilte er in schneller Folge die notwendigen Befehle. »Lassen Sie alle Abteilungen einen vollständigen Statusbericht vorbereiten. Rufen Sie Palos, damit sein Team für einen Gefäß-Transfer bereitsteht. Holen Sie Enzo aus der Brutanstalt, und schicken Sie ihn nach Qingdao. Wir brechen auf, sobald ich bereit bin.«

Amanda verbeugte sich und verließ das Zimmer. Ein paar Minuten später kehrte sie mit einem Silbertablett zurück, auf dem sich eine Zigarre, ein Glas mit goldbrauner Flüssigkeit, eine Pille und ein Shilin-Messer befanden. Palos, der Anführer seines Sicherheitstrupps, war bei ihr. Devin starrte nachdenklich auf das silberne Tablett, das sie ihm auf den Schoß stellte. Dies waren seine Sterberiten, und er trug ein Totenhemd. Er hätte nicht gedacht, dass sein Leben so enden würde – mit einem natürlichen Tod. Nun ja, so natürlich eben, wie es jemandem in seiner Position möglich war.

Er bedeutete allen, still zu sein, während er sich zärtlich der Zigarre widmete, erst daran roch, dann die Enden abschnitt und sie anschließend anzündete. Er zog großzügig daran und atmete genussvoll aus. Es war zwei Jahre her, seit er die letzte geraucht hatte. Der Bourbon brannte in seinem Mund, und er schmeckte das süße Aroma von Honig und Gewürzen. Nach zwanzig glücklichen Minuten, als das Glas leer und von der Zigarre nur noch ein Stumpen übrig war, nickte er Amanda zu.

»Fangen wir an.«

Sie verbeugte sich. »Darf ich um die Ehre bitten, Vater?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Enzo wird dich brauchen.« Er wandte sich an Palos. »Ich benötige einen Freiwilligen. Nicht dich, alter Freund. Auch du wirst gebraucht.« Palos nickte und verließ den Raum.

Nur Augenblicke später trat Saldhana ein, der älteste Mann aus seinem Wachtrupp. Er fiel neben Devins Bett auf die Knie, berührte mit der Stirn fast den Boden. »Vater, ich danke Euch für die Ehre, die mir zuteilwird.«

Devin legte Saldhana eine Hand auf die Schulter. »Du bist würdig, mein Sohn.« Devin schloss die Augen und holte tief Luft, dann sprach er ein Gebet an die Unsterblichen. Als er bereit war, gab er die Anweisung, dass sein Leichnam seiner Frau übergeben werden solle, und befahl allen Anwesenden, Enzo die Unterstützung zukommen zu lassen, die er benötigte, um den Willen der Genjix auszuführen. Dann nahm er das Shilin-Messer.

Die Transferzeremonie ist nicht nötig. Bring es schnell und schmerzlos hinter dich.

Devin zögerte. »Wie du wünschst, Zoras.«

Er blickte sich im Raum um und sprach die letzten Worte: »Gepriesen seien die Unsterblichen.« Dann griff er nach der Zyanid-Kapsel und zerbiss sie. Augenblicke später war Devin Watson, Senator des Staates Alabama, Vater von vier Kindern, Großvater von neun, Hoher Vater von Nordamerika und Mitglied des Rates der Genjix, tot.

»Gepriesen seien die Unsterblichen«, wiederholten die Anwesenden.

Sofort verließ Zoras Devins Körper. Die Agenten im Zimmer warfen sich zu Boden und warteten. Er bewegte sich im Kreis, huschte vor und zurück, ehe er sich im Transfergefäß niederließ. Saldhana gab einen entsetzten Schmerzensschrei von sich und zuckte ein paar Minuten auf dem Boden. Schließlich erholte er sich und nickte Palos zu. Der Wachtrupp versammelte sich um Saldhana, und sie verließen im Gleichschritt den Raum.

Wenige Minuten später befanden sich alle in einem Konvoi von Limousinen auf dem Weg zum Flughafen. Innerhalb einer Stunde waren sie in der Luft und unterwegs nach Qingdao.

 

Enzo saß am Infinity Pool am Rand einer hohen Klippe, von der aus man die üppigen Wipfel der Bäume des Santa-Rosa-Nationalparks überblicken konnte. Sein Körper war straff und muskulös, ohne wuchtig zu sein, und er bewegte sich mit der Anmut eines Tänzers. Er war ein ausgesprochen gutaussehender Mann, das fast perfekte Produkt einer sorgfältigen Auswahl: groß, mit hohen Wangenknochen und kantigen, aber vollkommen symmetrischen Gesichtszügen. Darüber hinaus lief er einen Marathon in drei Stunden, traf mit der Handfeuerwaffe ein acht Zentimeter großes Ziel aus fünfzig Metern Entfernung und hatte so gute sozioökonomische Kenntnisse, dass er jedes Land in Südamerika besser hätte lenken können als die aktuelle Führungsriege. Wie alle seine Brüder aus der Brutanstalt dienten sein Leben und seine Ausbildung nur einem einzigen Zweck.

Am unteren Rand des Tablets, das auf seinem Schoß lag, tickerten die Zahlen vom Handelstag in der Eurozone vorbei. Darüber wurden die Kennzahlen der Börsen in New York, Tokio, London und Frankfurt angezeigt. Für die Genjix war es heute gut gelaufen, für den Rest der Welt weniger. Der Eurokurs war ein Grund zur Sorge, aber ihre Analysten hatten diese Entwicklung richtig vorhergesagt, und die Haftungsbeschränkung sorgte dafür, dass die Hauptlast der Schuldenkrise nicht von Unternehmen getragen wurde, die den Genjix nahestanden. Enzo nahm sein Glas mit Macallan 24, wobei er darauf achtete, es nur mit zwei Fingern zu berühren, und nippte daran. Neben ihm saßen ein halbes Dutzend seiner Brüder und Schwestern ähnlich entspannt auf einer Reihe von Liegen und analysierten das Weltgeschehen. Ein Bericht über ihre Operationen in Südamerika erschien auf seinem Bildschirm, und er warf einen raschen Blick darauf, ehe er ihn archivierte. Südamerika interessierte ihn nicht sonderlich.

»Bruder«, sagte Danette, die neben ihm saß. »Der Finanzminister von Schweden ist gerade zurückgetreten. War er nicht einer von uns?«

»Nein. Aber sein Nachfolger wird es sein«, verbesserte er sie.

»Außerdem sind die natürlichen Gasvorkommen in Spanien rückläufig. Dort hat die Pegasus-Operation ihren Sitz. Warum drückt der Rat in Europa die Förderrate noch weiter?«

Enzo wandte sich an eine andere Schwester. »Jeanine, kannst du deiner Schwester diese Frage beantworten?«

Sie nickte. »Operationen in dieser Region tragen weniger als ein Prozent zu unserer globalen Präsenz bei. Der Anteil bei den Prophus wird auf bis zu drei Prozent geschätzt.«

Er wandte sich wieder an Danette. »Ihnen schadet es mehr als uns.«

Die Gruppe verfiel wieder in Schweigen, während sie weiter Zahlen und Berichte analysierte. Enzo öffnete eine vergleichende Dreimonatsrückschau zum geschätzten Vermögen der Prophus und der Genjix. Sie zeigte ein befriedigendes Bild – die beiden Seiten entwickelten sich in völlig unterschiedliche Richtungen.

Enzo trank seinen Scotch aus, stand auf und streckte sich. Er trat an den Rand der Aussichtsplattform und schaute hinaus – ein wirklich atemberaubender Anblick. Der Dschungel wucherte in alle Richtungen, so weit das Auge reichte. Von Enzos Stirn tropfte eine einzelne Schweißperle, lief seine Wange hinab und klammerte sich an sein Kinn. Das sanfte Rauschen des Wassers im Infinity Pool klang beruhigend, nur die Kampfgeräusche, die von den Matten herüberschallten, störten den Frieden. Und die junge Frau, die links daneben die portugiesische Sprache verstümmelte.

Enzo, in seiner Ausbildung weit fortgeschritten, riss den Blick vom Dschungel los und richtete ihn auf Azumi. Sie war in vielerlei Hinsicht talentiert – Sprachbegabung gehörte definitiv nicht dazu. Ihre Rezitation von Die Kunst des Krieges auf Portugiesisch war einfach nur peinlich. Hinter ihr schwamm Austin seine hundert Bahnen. Und daneben lieferten sich Matthew und Akelatis ein heftiges Sparringmatch.

Wie immer saß die Ehrwürdige Mutter auf ihrem Thron, um die täglichen Übungen zu überwachen. Sie ging auf die achtzig zu, und Enzo fragte sich, wie sie gewesen war, bevor sie den Posten hier erhalten hatte. Früher war sie eine bekannte Agentin gewesen und galt als eine der Architektinnen des Brutanstalt-Programms; sie führte ihr Regiment mit eiserner Disziplin. Als einziges gesegnetes Gefäß weit und breit war die Ehrwürdige Mutter für ihre Zöglinge zugleich Elternteil und verehrtes Wesen. Das Brutprogramm war der dritte und bislang erfolgreichste Versuch der Unsterblichen, Gefäße zu produzieren, die ihren Wünschen entsprachen. Bei den ersten beiden Versuchen, die ihren Ursprung im Zweiten Weltkrieg und in der Eugenikbewegung hatten, waren die Ergebnisse nur durchwachsen gewesen. Das dritte Programm hatte sich jedoch entschieden besser entwickelt. In den letzten zehn Jahren hatten bereits vierundachtzig Adonis-Gefäße den Übergang hinter sich gebracht. Enzo war eines von derzeit neunzehn, die den Unsterblichen zugewiesen waren. Die restlichen hundertsiebenundvierzig Brütlinge waren noch in unterschiedlichen Stadien ihrer Ausbildung.

Die Ehrwürdige Mutter bemerkte, wie er sie anstarrte. »Enzo. Ich sehe, du bist fertig. Tritt vor und berichte mir.«

Enzo neigte den Kopf und durchquerte den Trainingsraum. Austin schwamm ruhig und gleichmäßig weiter. Enzo rechnete damit, dass seine Leistung mittlerweile um fünfzehn Prozent nachgelassen hatte; er musste sich also auf der neunundsiebzigsten Bahn befinden.

Enzo zwinkerte Azumi zu, als er an ihr vorbeiging, und wurde mit einem leichten Stottern in ihrer Rezitation belohnt. Er blieb am Rand der Bambusmatte stehen, auf der Matthew und Akelatis gegeneinander antraten. Enzo beobachtete sie mit professionellem Interesse und war sich bereits nach Sekunden sicher, dass Akelatis gewinnen würde. Matthew war bei seinen Kontern stets zu langsam, besonders rechts. Auf dieser Seite erblühte auch ein Veilchen direkt unter seinem Auge, das seine Sicht behindern musste. Auf einem Arm, gleich über dem Ellbogen, zeigte sich eine hässliche Beule. Akelatis war nicht stark, aber er brachte sein Führbein deutlich schneller nach vorne.

Enzo begann seinen Vortrag mit dem Technologiemarkt in den Staaten und dem Fall des Dow-Jones. Dann leitete er zur Eurokrise über und stellte einen Bezug zu den Sparmaßnahmen in den Randstaaten der Europäischen Union her. Zuletzt widmete er sich dem auffälligen Preisanstieg bei Beton und Industriekränen.

Sieben Minuten nachdem Enzo mit seiner Analyse begonnen hatte, verließ Austin den Pool und näherte sich der Matte, wo er den beiden Kämpfenden zusah. Enzo machte sich eine geistige Notiz über Austins Kondition: Er war zwanzig Prozent von seinem anfänglichen Tempo abgewichen. Der Kampf endete damit, dass Akelatis Matthew in die Defensive drängte und von der Matte jagte.

Die Ehrwürdige Mutter hörte Enzo schon länger nicht mehr zu. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Kampf. Sie winkte die beiden Gegner zurück in die Mitte, um ihnen ihre Analyse zu unterbreiten. Akelatis würde einen guten Feldkommandanten für einen Unsterblichen mittleren Grades abgeben. Matthew war für das Leben eines Verwalters bestimmt. Keiner von ihnen hatte jedoch das Zeug für den Rat. Aber das hatten ohnehin nur wenige. Derzeit gab es in der Brutanstalt lediglich ein Adonis-Gefäß, das eines Ratsmitglieds würdig war.

»Austin, komm zu uns«, sagte die Ehrwürdige Mutter. Der Junge verbeugte sich und bezog neben Matthew und Akelatis am rechten Rand der Matte Stellung. Dann gab die Ehrwürdige Mutter schließlich Enzo das Zeichen, näher zu treten. Er verbeugte sich und postierte sich am Ende der Reihe. Die Ehrwürdige Mutter legte die Hände zwischen Enzo und den anderen dreien aneinander und öffnete sie dann. Die Männer teilten sich entsprechend auf und standen jetzt einander gegenüber. Enzo würde gegen die drei anderen kämpfen müssen.

»Möchtest du bei diesen Kräfteverhältnissen antreten?«, fragte sie.