Die Wiedergeburten des Tao - Wesley Chu - E-Book

Die Wiedergeburten des Tao E-Book

Wesley Chu

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Beschreibung

Die Wiedergeburten des Tao‹ ist Wesley Chus atemberaubendes Finale der Tao-Trilogie – ein Science-Fiction-Roman voller Aliens, Spionage-Action und Kung Fu – mit einem Hauch von Weltverschwörung. Seit den Ereignissen in ›Die Leben des Tao‹ und ›Die Tode des Tao‹ sind viele Jahre vergangen. Die beiden Alien-Fraktionen der Genjix und der Prophus befinden sich noch immer im Krieg miteinander, und doch ist alles anders geworden: Da die Existenz der Außerirdischen kein Geheimnis mehr ist, machen die Regierungen Jagd auf beide Seiten. In Amerika befinden sich die Quasing und ihre Sympathisanten im Untergrund. Roen und Jill leben mittlerweile mit ihrem 15-jährigen Sohn Cameron auf einer abgelegenen Farm ein idyllisches Familienleben – bis eine Gruppe flüchtiger Genjix bei ihnen auftaucht. Während Roen für eine Mission nach Oregon reist, kümmert sich Jill um die Flüchtlinge. Doch die schwierigste Aufgabe fällt Cameron zu: Er muss eine junge Genjix-Agentin in Sicherheit bringen, in die er sich zu allem Überfluss unsterblich verliebt hat … Ein spannender, lustiger und phantasievoller Science-Fiction-Thriller – perfekter Lesestoff für Fans von ›Kingsman‹ oder ›Men in Black‹.

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Seitenzahl: 585

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Wesley Chu

Die Wiedergeburten des Tao

SF-Thriller

Aus dem Amerikanischen von Andreas Heckmann

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1 Durch die RedwoodsKapitel 2 HausarbeitKapitel 3 Die GästeKapitel 4 SchultagKapitel 5 Der Erbe des KremlKapitel 6 RoenKapitel 7 StatusabfrageKapitel 8 GeheimoperationKapitel 9 Die russische AktionKapitel 10 AlexKapitel 11 Zwei Erbsen in einer SchoteKapitel 12 FöderationsversammlungKapitel 13 Teenager-LebenKapitel 14 Ontario, OregonKapitel 15 Der PräsidentKapitel 16 Fünfzehn KerzenKapitel 17 KundschaftertruppKapitel 18 ÜbernahmeKapitel 19 NachtwacheKapitel 20 Im WaldKapitel 21 Ein neuer SpielerKapitel 22 ReinigungKapitel 23 Die Genjix-FabrikKapitel 24 The Show Must Go OnKapitel 25 GefundenKapitel 26 Auf sich allein gestelltKapitel 27 WahlfälschungKapitel 28 SchultagKapitel 29 Besuch im KrankenhausKapitel 30 Der Weg nach SüdenKapitel 31 Kinderfreier AbendKapitel 32 EndspielKapitel 33 Pries BefreiungKapitel 34 WiedervereinigtKapitel 35 Auf der JagdKapitel 36 VerstärkungKapitel 37 Bewegliche TeileKapitel 38 WiedervereinigungKapitel 39 Vater und SohnKapitel 40 EinstiegspunktKapitel 41 Der AngriffKapitel 42 Der KonterKapitel 43 Dunkle ZeitenKapitel 44 Um jeden PreisKapitel 45 Letztes TreffenKapitel 46 EpilogDanksagung

Für Amanda, Lee und Marco

Kapitel 1Durch die Redwoods

Was soll das? Wisst ihr nicht, wer ich bin? Ich werde euch die Köpfe abschlagen lassen!

Huchel, Rat der Genjix (Östliche Hemisphäre), bei seiner Festnahme durch das Interpol Spezialkommando Aliens (ISKA), das nach dem Großen Verrat seine Flucht aus Deutschland vereitelte.

Alles war viel zu groß – das war Wladimirs Problem mit diesem verdammten Land. Die Autos waren zu groß, die Musik zu laut, die lächerlichen Bäume dieses Waldes zu hoch. Die zerlumpte Gruppe, die er anführte, umging einen Mammutbaum. Groß wie ein Haus war so ein Redwood und dabei nicht mal rot. In dieser Finsternis konnte er das allerdings nicht erkennen. Selbst Alex, die sich an seine Hand klammerte, war nur als dunkle Silhouette auszumachen. Er sah in die Baumkronen, durch deren Laub keine Sterne leuchteten. Das machte es fast unmöglich, die Richtung zu halten. Wo war nur Süden?

Immerhin waren in Amerika auch die Portionen üppig. Nie hatte er so gut gefrühstückt, erst recht nicht im Stockfinsteren. Wer aß schon mitten in der Nacht Burritos mit fünf Eiern? Zu blöd, dass die Mahlzeit schon zwei Tage her war.

»Ich brauche eine Pause.« Sachin sank gegen einen der viel zu hohen Bäume, lehnte sein Gewehr an den Stamm und glitt auf den Moosboden.

Wladimir hielt sich vor Augen, dass der siebzigjährige Inder den Großteil seines Lebens im Institut für Technologie unterrichtet hatte, um vielversprechende Studenten für die gemeinsame Sache zu gewinnen. Der Professor war es nicht gewöhnt, in tiefer Nacht im Wald herumzuirren, auf der Flucht vor bewaffneten Angreifern. Wladimir stupste seine Tochter an, die daraufhin eine Feldflasche hervorzog und zu Sachin ging. Er trank in tiefen Zügen daraus und ließ das Wasser über Kinn und Hals laufen und aufs Hemd tropfen. Alex zog einen Lappen heraus und wischte dem alten Mann die Stirn. Wladimir schüttelte den Kopf. Sie war ein tolles Mädchen mit großem Potential und hatte Besseres verdient als das.

In der Ferne bellten Spürhunde durch die ansonsten ruhige Nacht. Wladimir schloss die Augen und lauschte. Zwanzig, vielleicht dreißig Minuten waren sie noch entfernt. Sein Blick wanderte von seiner Tochter und Sachin zu den anderen Flüchtlingen: zu Petr, einem russischen Oberst, mit dem er schon viel zu tun gehabt hatte; zu Rin, der Kernphysikerin aus Japan; zu Marsuka, ihrem Assistent; zu Ohr, dem früheren Senator von Südkorea; zu den verbliebenen Überlebenden des Sibirischen Epsilon-Schockteams.

Er verzog das Gesicht. Im Handumdrehen war sein Leben in sich zusammengestürzt. Noch vor wenigen Wochen war er ein respektierter und einflussreicher Geschäftsmann gewesen, doch nun waren sein Vermögen beschlagnahmt und seine Frau ermordet worden, und er und seine halbwüchsige Tochter waren mittellose Flüchtlinge in einem Land, dessen Bewohner ihn verachteten. Er sah sich zu Alex um, die sich weiter um den alten Professor kümmerte. Ein Teil seiner Frau steckte in ihr. Tabs würde in seiner Tochter fortleben.

Weiter. Jede Sekunde ist kostbar.

»Ja, Ladm.«

»Die Pause ist um«, bellte er. »Auf geht’s. Sofort.«

Er schob Sachin einen Arm unter die Achsel und zog ihn auf die Beine. »Komm, alter Mann. Ausruhen kannst du, wenn du in Sicherheit bist. Oder tot.« Er sah seine Tochter an, die auf der anderen Seite des Professors stand. »Alex, hilf ihm weiter, ja?«

Die kleine Gruppe zog weiter nach Süden, folgte den gewundenen Wegen, wo es ging, und schuf neue Pfade, wenn es sein musste. Wladimir war überzeugt, dass sie den Treffpunkt verpasst hatten. Die kodierte Botschaft in dem Lokal in Portland hatte sie zu dem Punkt geführt, wo der 43. Grad nördlicher Breite den 123. Grad westlicher Länge schnitt. Von dort aus, hieß es, sollten sie dem Fluss folgen. Doch dann hatte ein Penetra-Netz sie geortet, so dass sie von ihrem Kurs abweichen mussten. Die von den Quasing erfundenen Scanner dienten den Menschen nun dazu, Jagd auf sie zu machen. Welche Ironie der Geschichte.

Jetzt, neun Stunden später, kam das Spezialkommando der Bundespolizei näher, und die Verfolgten hatten jede Orientierung verloren. Wieder passierten sie einen Mammutbaum, diesmal so groß, dass Wladimir seine Umrisse im Dunkel der frühen Morgendämmerung kaum erkennen konnte. Das Bellen wurde immer lauter.

Diese Gruppe gefangen zu nehmen würde ein bedeutender Schlag gegen das noch verbliebene Genjix-Netzwerk sein. Doch keiner von ihnen würde seinen Quasing den Feinden in die Hände fallen lassen. Wladimir betrachtete seine schöne Tochter. Keiner bis auf Alexandra. Sich für Ladm zu opfern bereitete Wladimir keine Sorgen, aber niemand – ob Quasing oder nicht – würde seinem kleinen Mädchen etwas tun. Für sie musste es einen Ausweg geben.

Vergiss deine Stellung nicht, Wladimir.

Sie setzten sich wieder in Bewegung, und eine Zeitlang schienen sie ihre Verfolger auf Abstand halten zu können, doch bald wurde die erschöpfte Gruppe wieder langsamer, vor allem Sachin. Als das erste Licht durch die Baumkronen drang, brach er zusammen. Schon davor war er getaumelt. Nun fiel er auf die Knie, rollte sich auf den Rücken und verscheuchte Alex, die ihm aufhelfen wollte. Stattdessen lehnte er sich an einen Stamm, sah ins dichte Laub hinauf, dann ins übrige Grün des Waldes, schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Los, Sachin«, drängte Rin.

Er winkte ab und hielt die Lider geschlossen. Gleich darauf änderte sich seine gequälte Miene. Er nickte und fasste die anderen ins Auge. »Dieser Ort ist so schön und friedlich wie ein Gemälde. Die Luft ist herrlich, und alles ist voller Leben. Mawl fände hier Ruhe und Gelassenheit.«

»Halt den Mund, du alter Narr«, knurrte Wladimir. »Wir lassen dich nicht in der Wildnis zurück.«

Sachin rappelte sich auf und schlang das Gewehr über die Schulter. »Es ist schon entschieden. Mawl hat sich damit abgefunden, und – bei Brahma! – ich ersehne das Ende. Für mich gibt es schlimmere Orte, meinem Schöpfer entgegenzutreten, für Mawl schlimmere Orte, in Freiheit zu leben. Zieht weiter. Na los! Ich verschaff euch etwas Zeit.«

Wladimir wollte ihn packen. »Ich habe gesagt, wir gehen nicht ohne …«

Sachin fuhr herum, richtete das Gewehr auf ihn und senkte es dann langsam auf Alex. »Ich meine es ernst, du sturer Russe. Denk an dein kleines Mädchen. Und jetzt haut ab hier, bevor die Minuten verrinnen, die ich für euch erkaufen kann.«

Tu, was er sagt. Ich habe Mawl auf diesem Planeten nur kurz gekannt, als wir zusammen gegen die Bolschewiken kämpften. Man wird sich seiner erinnern. Eines Tages kehre ich zurück und suche ihn.

Wladimir biss sich auf die Lippe. »Du verrückter Hund.« Er umarmte Sachin ungestüm. »Bis zur Ewigen See, mein Freund. Mawl, mach dich für Menschen unsichtbar. Deine Mission ist vorläufig beendet. Eines Tages kehrt Ladm deinetwegen zurück – wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten.«

»Mrithyur maa amritham gamaya, mein Freund«, erwiderte Sachin, wandte sich ab und humpelte in die Richtung, aus der das Gebell der Spürhunde kam.

Alex folgte dem Professor einige Schritte und machte das traditionelle Friedenszeichen der Hindus. »Phir milenge, Mr Sachin. Ade, Mawl. Tabs sagt, sie trifft dich in der Ewigen See.«

Rufe traten zu dem immer lauteren Gebell. Wladimir vermutete, dass die Verfolger nur noch wenige Minuten hinter ihnen waren. Er legte seiner Tochter die Arme um die Schulter und drängte sie zum Aufbruch. »Für Sentimentalität ist keine Zeit. Weiter jetzt!«

Wladimir hetzte in die Dunkelheit und schubste seine Tochter dabei vor sich her. Die anderen würden ihm folgen oder auch nicht. Seit Wochen hatte er mit ihnen überlebt, das Essen und die Betten geteilt und an ihrer Seite gekämpft. Doch nun, da die Dinge die schlimmstmögliche Wendung genommen hatten und die Gruppe kurz vor ihrer Gefangennahme stand, war jeder auf sich allein gestellt.

Ihm ging es nur darum, seine Tochter in Sicherheit zu bringen, sollte es ihn oder seine Begleiter auch das Leben kosten. Könnte er sich von der Gruppe absetzen, würde ihm das vielleicht etwas Zeit verschaffen, den verfluchten Verfolgern zu entgehen. Wladimir schämte sich für diesen Gedanken, doch im Zweifelsfall zählte für ihn nur Alexandra.

Schäm dich nicht. Ich bereue nur, sie in diese Sache reingezogen zu haben. Tabs hätte sie nach dem Tod ihrer Mutter nicht zum Gefäß nehmen sollen.

»Dir oder Tabs gebe ich keine Schuld, Ladm. Sondern Martas Mördern. Und den Amerikanern, die uns im Nacken sitzen.«

Ungünstig an Wladimirs Plan war, dass alle fitter waren als er und deshalb spielend mit ihm mitkamen. Minuten später hallte der unverwechselbare Klang einer Kalaschnikow durch die Morgenluft, und zu ihrem vertrauten Peck-Peck-Peck trat ein Chor hellerer Rat-Tat-Tats. Schwärme von Vögeln flatterten auf und flogen um die Bäume herum, und auch der übrige Wald erwachte. Der Schusswechsel dauerte einige Minuten, dann erstarb er. Der Wald beruhigte sich und wurde wieder still. Alle blieben im gleichen Moment stehen und blickten zurück.

»Möge es dir wohlergehen, Sachin.« Rin verbeugte sich. »Mögest du ein …«

»Später! Wir haben keine Zeit zu trauern.« Wladimir drängte sie ungestüm vorwärts. »Wir müssen weiter.«

Ohr sah die anderen an und schüttelte den Kopf. »Weglaufen hat keinen Sinn. Den Hunden und den Soldaten können wir hier nicht entkommen.« Er wies auf eine kleine Anhöhe. »Und einen besseren Ort werden wir kaum finden. Verschanzen wir uns dort und sterben wir im Kampf. Ich will mich nicht wie ein Tier zu Tode hetzen lassen, mit dem Rücken zum Feind.«

Wladimir schüttelte den Kopf.

Er hat recht.

»Nein«, sagte er, den Blick auf Alex gerichtet. »Wir fliehen weiter.«

Wir haben keine Chance. Vor euch liegt ein Vierundzwanzigstundenmarsch durch den Wald, und die Feinde sind euch direkt auf den Fersen. Im Moment könnt ihr wenigstens noch den Ort des Gefechts bestimmen. Diese Anhöhe sieht nach Westen, also steht ihr mit dem Rücken zur aufgehenden Sonne. Das ist die richtige Strategie.

Wladimir verzog das Gesicht. Er hatte gehofft, es würde nicht dazu kommen – vergebens. Er nahm sein Gewehr von der Schulter und schritt auf die felsige Anhöhe zu. Die anderen folgten ihm dichtauf, erkletterten den steilen Hang und legten ihre Ausrüstung ab. Er sah zu, wie die überlebenden Epsilons die Bajonette an ihre Gewehre und Pistolen schraubten, sich sammelten und gemeinsam beteten. Wladimir wünschte, er besäße solche Inbrunst. Die letzten Monate hatten seinen Glauben erschüttert.

Minuten später hatten sich alle zur Verteidigung um ein paar meterhohe Felsbrocken verteilt. Wladimir gab es ungern zu, aber Ladm und die anderen hatten recht. Nun kam das Hundegebell von allen Seiten, und er rechnete jeden Moment damit, die Soldaten auftauchen zu sehen. Sich zu verstecken war sinnlos; der Feind hatte bestimmt tragbare Penetra-Scanner dabei.

Wladimir wies auf eine kleine Felsspalte. »Alex, dort versteckst du dich, bis alles vorbei ist. Komm nicht raus, sondern warte, bis ich dich hole. Falls wir untergehen, fliehst du allein weiter, kapiert?« Seine Tochter verdrehte die Augen und zog ihre Pistole. Wladimir knurrte: »Kommt nicht in Frage. Du bist nicht …«

Flink spannte sie den Hahn. »Red keinen Unsinn, Papa. Den Scannern kann ich nicht entkommen. Außerdem brauchst du mich. Ich bin ein besserer Schütze als du, schon vergessen?«

Wladimir war schockiert, dass seine Tochter sich in den Kampf stürzen wollte, doch auch ein wenig stolz. Er sank aufs Knie und zog sie an sich. »Deine Mutter wäre stolz auf dich. Behalt den Kopf unten. Schieß nur, wenn du das Ziel deutlich vor Augen hast.«

»Da hat sich was bewegt«, zischte Marsuka.

Die anderen krochen an die Kante und nahmen ihre Posten ein. Wladimir drückte den Rücken an einen Felsblock, öffnete seine Schultertasche mit Munition, legte drei Magazine auf den Boden und reichte die Tasche an Ohr auf der anderen Seite des Felsens weiter. Dann wandte er sich an Alex, die neben ihm zwischen zwei kleineren Steinen saß. Dunkle Gestalten näherten sich durchs Unterholz.

»Die wissen, dass wir hier oben sind«, knurrte Petr. »Feuer frei, ehe sie sich verschanzen.«

Er begann zu schießen, und die anderen taten es ihm nach. Binnen Sekunden erhellte Mündungsfeuer den noch immer dunklen Wald. Knatternde Schusswechsel durchlöcherten die eben noch so stille Morgendämmerung. Hunderte Vögel flatterten auf und vergrößerten Chaos und Verwirrung noch.

Zu Beginn lief das Gefecht gut. Weil Wladimirs Leute Epsilon-trainierte Agenten waren und von erhöhter Position aus kämpften, lag die Zahl der Toten anfangs beim Gegner bedeutend höher. Doch die Soldaten waren sehr viel zahlreicher, und als es auch in Wladimirs Gruppe immer mehr Opfer gab, nahm die Überlegenheit der Angreifer erheblich zu. Die Waagschale neigte sich unaufhaltsam zu ihren Ungunsten.

Links von ihm bekam Polski, auch ein Epsilon, eine Kugel in den Kopf. Wladimir zog Alex von der Felskante weg und zeigte auf den Toten. Sie nickte, kroch zu ihm, durchsuchte seinen Mantel nach Magazinen, entdeckte vier und warf eins davon Wladimir zu.

Er fing es und wies ans andere Ende des Felsvorsprungs. »Schau nach, ob die anderen auch Munition brauchen.«

Als Ohr sich etwas zurückzog, um nachzuladen, warf Wladimir ihm einen Blick zu. Ohr hatte nur noch ein Magazin übrig. Den anderen ging es vermutlich genauso. Munition war schließlich schwer, und der Großteil ihres Gepäcks bestand aus Essen und Ausrüstung. Er hörte Marsuka rufen, er habe keine Kugeln mehr, und schaute nach links, wo Alex dem Assistenten noch ein Magazin zuschob.

Kaum hatte Marsuka die Munition genommen, traf ihn eine Kugel in den Hals. Alex wich aus, als er zu Boden stürzte und auf sie zurollte. Wladimir zerriss es das Herz. Sie war viel zu jung, um solche Dinge mitanzusehen. Dann aber verschlechterte sich die Lage noch, sofern das möglich war. Kaum war Vlel, Marsukas Quasing, aufgestiegen, kam von unten ein Flammenstrahl und verzehrte ihn. Entsetzt musste die kleine Gruppe mit ansehen, wie das jahrmillionenalte Wesen im Morgenhimmel verdampfte.

Die Überlebenden kämpften mit größter Verbissenheit weiter. Wladimir tötete zwei weitere Soldaten, musste nachladen und erschoss noch mal vier. Inzwischen hatte nur noch Rin Munition. Sekunden später waren auch ihre Kugeln verbraucht. Sie hatten verloren, und diese Anhöhe würde ihr Grab werden. Die Schüsse kamen jetzt nur noch von den Feinden, bis schließlich jemand unten befahl, das Feuer einzustellen.

»Kommt mit erhobenen Händen raus, Aliens«, bellte eine Megaphonstimme. »Wir wissen, dass ihr da oben zu fünft seid. Wir haben Scanner. Ihr entkommt uns nicht.«

Wladimir hielt Alex umschlungen und betete verzweifelt um eine Fluchtmöglichkeit. Das Beste, worauf er hoffen konnte, war das Alien-Auffanglager, ein streng geheimes Gefängnis, in dem die westlichen Länder Quasing gefangen hielten und Tests an ihnen durchführten. Das Schlimmste und Wahrscheinlichste aber waren Folter und Tod – und damit auch der Tod von Ladm.

Es ist Zeit, sich zur Ewigen See zu begeben.

Ladm hatte natürlich recht: In ihrer Lage wäre es nur konsequent, sich umzubringen, um Ladm und den anderen Quasing eine Chance zur Flucht zu geben. Aber Wladimir hatte nie zu den Fanatikern gehört. Er war erst recht spät im Leben zu Ladm gelangt und hatte nie den Eifer entwickelt, den viele seines Rangs besaßen. Er sah Rin und Ohr an – auch diese zwei waren keine Hardliner. Sie alle waren bloß kluge, fähige Leute, die einen Vorteil in den Quasing gesehen und ihn am Schopf ergriffen hatten.

Sein Blick wanderte zu Petr, einem echten Fanatiker. Wenn sein Quasing ihm sagen würde: »Töte alle in der Gruppe, um den anderen eine Chance zur Flucht zu geben«, dann würde er das tun. Im Moment betete Petr mit geschlossenen Augen und wappnete sich für die Selbstopferung. Denn genau das würde die Gruppe als Nächstes tun. Es war die letzte Möglichkeit, die ihnen blieb.

Es ist die richtige Entscheidung. Mach deinen Frieden mit der Welt.

Wladimir drückte Alex fest an sich. Nein, er brächte es nicht fertig, sie zu opfern. Sie war unschuldig und hatte das Leben noch vor sich. Bestimmt würden die Soldaten Erbarmen mit ihr haben. Nicht mal sie konnten so grausam sein.

»Ihr habt eine Minute Zeit, dann räuchern wir euch aus, Aliens«, rief die Megaphonstimme von unten herauf. »Dann kann ich für eure Sicherheit nicht mehr garantieren.«

Petr beendete sein Gebet. Weder er noch die Soldaten würden Erbarmen haben, aber Wladimir wusste nun, auf welcher Seite seine Tochter eine bessere Überlebenschance hatte.

Bevor Petr begriff, was geschah, nahm Wladimir sein Gewehr, stieß es ihm mit aller Kraft ins Gesicht und schlug ihn bewusstlos. Und ehe die anderen ihn aufhalten konnten, stand er mit erhobenen Händen auf. »Hier ist ein Kind. Wir sind unbewaffnet.«

Das ist unakzeptabel! Du weißt, was mit uns passieren wird.

»Sei ruhig, Ladm«, knurrte Wladimir.

»Werft eure Waffen weg und kommt runter. Hände oben behalten«, sagte die Megaphonstimme. »Wir können euch alle verfolgen, versucht also keine Tricks.«

Wladimir packte den Bewusstlosen bei den Füßen. »Ohr, hilf mir, Petr hochzuheben.« Der Koreaner nahm die Arme des Oberst, und zusammen schleppten sie ihn die Anhöhe hinab.

Unten wurden sie von acht Uniformierten umzingelt. Neun Tote lagen am Boden. Wladimir ächzte zufrieden. Wenigstens hatten sie tapfer gekämpft. Doch nur das Ergebnis zählte. Und dies war eine Niederlage. Wladimir ließ die Schultern hängen, als allen Handschellen angelegt wurden und sie sich hinknien mussten. Sogar Alex. Sie so zu sehen trieb ihm Tränen in die Augen. Wie hatte es so weit kommen können?

»Agentin Kallis, wir haben alle Aliens festgenommen«, sagte der Anführer in sein kleines Schulterfunkgerät. »Jetzt fesseln und markieren wir sie.«

»Gut«, krächzte eine Stimme zurück.

»Wir haben ein neues Signal«, bellte ein Soldat von weiter hinten. »Ist eben aufgetaucht. Hinter dem Baum da.« Die Soldaten eilten in Deckung und ließen Wladimir und seine Leute kniend zurück.

»Wie viele?«, fragte der Mann mit dem Megaphon.

»Nur einer. Und er rührt sich nicht.«

Sechs Soldaten strebten fächerförmig auf den gewaltigen Redwood-Baum am Westrand der Lichtung zu. Zwei blieben zurück, um die Gefangenen zu bewachen.

»Kommt mit erhobenen Händen raus«, rief der Anführer durchs Megaphon. »Ihr seid zahlenmäßig unterlegen, und wir haben die Übrigen gefangen genommen. Niemandem muss etwas geschehen.«

Es machte zweimal leise Ping, und die beiden Bewacher von Wladimirs Gruppe gingen zu Boden. Wieder drei Pings, und die Soldaten links und rechts außen stürzten. Der Rest ging in Deckung.

»Wie viele Signale?«, rief der Anführer.

»Noch immer eins!«

»Die müssen Geister dabeihaben.«

Ein weiteres Ping. Diesmal hatte es den Soldaten mit dem Scanner erwischt.

»Lasst eure Waffen fallen«, rief eine Stimme aus dem Wald, »dann wird euch nichts geschehen.«

Die vier letzten Soldaten blickten in alle Richtungen, um rauszufinden, woher die Schüsse kamen. Schließlich ließ einer seine Waffe fallen und hob die Hände. Zwei andere taten es ihm Sekunden später nach. Alle sahen den letzten bewaffneten Soldaten an, den mit dem Megaphon, der seine Möglichkeiten erwog. Wieder kam ein leises Ping aus dem Wald, und der Staub vor seinen Füßen stob auf. Daraufhin folgte auch er dem Beispiel seiner Gefährten und warf die Waffe weg.

»In jeder Gruppe gibt es einen, der etwas langsamer ist als die anderen und beinahe alles kaputtmacht«, sagte eine aus dem Wald tretende Gestalt. Der Mann trug Tarnanzug und Kapuzenjacke und hatte ein kleines Sturmgewehr in der Hand. Er ging auf die Lichtung und hielt seine Waffe weiter auf die vier Soldaten gerichtet.

Wladimir musterte ihren Retter. Dessen Aussehen und Stimme waren ihm fremd, und beides war völlig anders als im Kontaktdossier verzeichnet, zumal dort von einer weiblichen Person die Rede gewesen war. Das Gesicht des Mannes war zum Großteil unter einer dunkelbraunen Fliegersonnenbrille und einem zotteligen Bart verborgen, sein übriger Kopf unter einer Kappe.

»Auf die Knie, Jungs.« Er richtete seinen Blick auf den Anführer, der das Megaphon gehabt hatte. »Weißt du, wer ich bin, Pfadfinder?«, fragte er schließlich.

Der nun entmegaphonisierte Agent warf ihm einen düsteren Blick zu. »Ja, du bist Ghost.«

»Ganz genau«, sagte der Mann mit einem Hauch von Selbstzufriedenheit in der Stimme, »ich bin Ghost.« Er pflückte dem Agenten das Funkgerät von der Schulter und setzte es an den Mund. »Hallo. Mit wem hab ich das Vergnügen?«

»Hier Sonderagentin Kallis vom ISKA. Wer da?«, fuhr eine Stimme ihn an.

»Dein Lieblingsverräter, Kallis.«

»Rayban Ghost? Du Mistkerl. Was hast du mit meinen Männern gemacht?«

»Denen geht’s gut. Und dir? Wie geht’s der Familie?«

»Du hast meine Leute erschossen, deshalb geht’s mir gerade ausgesprochen schlecht. Und wie oft muss ich dir noch sagen, dass du meine Familie aus dem Spiel lassen sollst?«

»Ich hab deine Jungs nur mit Elektro-Schockern betäubt. Die erholen sich wieder. Einige sind auch noch munter und bleiben es, sofern du meine Forderungen erfüllst. In Guantanamo sitzen sechs Nordkoreaner ein, die binnen einer Stunde freizulassen sind. Und ich brauche fünfzig Millionen Dollar, zu überweisen auf ein Schweizer Konto.«

»Du weißt, dass ich diese Forderungen nicht erfüllen kann.«

»Gut, Kompromissvorschlag: Du stiftest viertausend Dollar, tausend für jeden hier, ans Tierheim von Eureka. Damit wären wir quitt.« Er betrachtete die knienden Soldaten. »Für den Dicken vielleicht eins fünf.«

»Sieh dich vor, Rayban Ghost! Eines Tages krieg ich dich.«

»Und meinen kleinen Hund auch?« Ghost grinste. Er genoss das Gespräch sichtlich. »Wie du schon sagtest: Niemandem muss etwas geschehen.« Er wandte sich an die Männer vor ihm. »Gesicht auf den Boden, Hände hinter den Kopf. Und zwar zackig. Ich hab noch sechs Leute im Wald, die ich erst überzeugen musste, euch nicht das Hirn aus dem Kopf zu blasen und eure Leichen nicht in ein Säurebad zu werfen.«

Kurz darauf lagen die Soldaten nebeneinander gefesselt da und krümmten sich – Gesicht nach unten – im Staub. Rayban Ghost nahm sich die Zeit, auch die Ohnmächtigen zu fesseln. Wladimir überlegte, warum er Waffen einsetzte, die nicht tödlich waren. Als er fertig war, sprach Ghost in sein Kehlkopfmikro und gab dann Wladimir und seiner Gruppe ein Zeichen, ihm zu folgen.

»Danke, äh, Rayban Ghost«, sagte Wladimir, als der Fremde ihn und die anderen auf die Beine zog. Leider konnten sie seine Haut durch die Kleidung hindurch nicht berühren, doch Wladimir war sich inzwischen sicher, dass dieser Mann kein Gefäß war.

»Und was ist mit uns?«, rief der entmegaphonisierte Agent. »Du kannst uns doch nicht einfach so zurücklassen! Hier draußen überleben wir keine zwei Stunden!«

»Ghost, wir hatten eine Abmachung«, dröhnte Kallis’ Stimme aus Raybans Schultermikro.

Er nahm es zur Hand. »Du bekommst deine Männer zurück, Kallis, das hab ich schon gesagt. Wir sind hier schließlich die Guten. Ich gebe später einem Ranger Bescheid.« Er riss das Kabel aus dem Mikro und wandte sich an Wladimir. »Sollen wir?«

Ghost führte sie fünfzehn Minuten lang nach Süden durch den Wald. Als er fand, sie seien weit genug von den Soldaten entfernt, hielt er an und musterte die Gruppe.

»Danke, Bruder«, sagte Wladimir.

»Authentifiziere dich.«

»Anzugreifen, ohne sich vorher vergewissert zu haben, ob …«, begann Wladimir.

Die Formel erstarb ihm im Mund, als Rayban Ghost ihn unterbrach. »Mund zu, Genjix. Das ist mir egal.«

Nun erst begriff Wladimir, wer sie gerettet hatte. Und stutzte. Vielleicht wären sie als Gefangene des Interpol Spezialkommandos doch besser dran gewesen. Beim ISKA hätten sie wenigstens eine Chance gehabt, von eigenen Leuten in deren Reihen befreit zu werden. Als Gefangene der Prophus dagegen erwartete sie bestenfalls ein schneller Tod.

»Ich will Namen, deinen und den deines Quasing«, sagte Rayban Ghost. »Volle Namen und Herkunftsangaben. Sofort.«

Ohr und Rin sahen Wladimir fragend an. Der schüttelte den Kopf und erklärte laut und deutlich: »Wladimir Mengsk. Ladm. Ich bin Geschäftsmann aus Moskau, und das ist …«

»Ich kann selbst antworten, Papa«, unterbrach ihn Alex und trat einen Schritt vor. »Alexandra Mengsk. Ich bin die Tochter meines Vaters, Verräter.« Herausfordernd reckte sie Ghost das Kinn entgegen.

Wladimir erstarrte, als Ghost vor seine Tochter trat und aufs Knie sank. »Und offenbar ziemlich temperamentvoll, was? Wie heißt dein Quasing, Alexandra Mengsk, Tochter deines Vaters?«

Alex schüttelte den Kopf und verweigerte die Antwort. Rayban Ghost sah zu Wladimir hoch.

»Schon gut«, meinte der. »Sag es ihm.«

»Tabs«, gehorchte sie widerwillig.

Ghost lächelte. »Danke. Ich hoffe, sie führt dich gut.« Er stand auf. »Wie sieht es bei euch Übrigen aus?«

Wie zu erwarten, weigerte sich Petr, etwas rauszurücken, sah weg und schien sogar das Vorhandensein von Rayban Ghost ignorieren zu wollen.

Der seufzte. »Wie gesagt: Immer vermasselt einer allen die Tour.« Er packte ihn und stieß ihm das Knie so in den Magen, dass Petr sich krümmte. Er schlug ihn nieder, zog die Pistole und rammte sie ihm an die Stirn. Dann sah er Rin an. »Sein Name und sein Quasing. Sofort.«

»Petr. Coruw«, sagte sie widerstrebend und mit niedergeschlagenem Blick.

Petr funkelte sie zornig an. »Memme.«

Sein Name musste Rayban Ghost etwas gesagt haben, denn er zeigte gesteigertes Interesse an Petr. »Coruw. Dem Akzent nach ein Russe.« Er sah zu Boden und entdeckte die Bajonetthalfter links und rechts von Petrs Stiefeln. »Du bist einer von Vinnicks Hunden?«

»Was geht dich das an, Verräter?«, knurrte Petr.

»Mit tollwütigen Tieren kann ich nichts anfangen.« Ghost setzte die Fliegersonnenbrille ab. »Die Russen haben dreißig Prophus-Flüchtlinge umgebracht, die vor zwei Jahren der chinesischen Inquisition entkamen. Einige von ihnen waren meine Freunde.«

»Es war mir ein Vergnügen, daran beteiligt gewesen …«, begann Petr.

»Ich heiße Roen Tan, du massenmörderischer Dreckskerl.«

»Du! Du und deine Schlampe haben uns an die Menschen verraten!« Petr wollte sich auf ihn stürzen, doch ein Schuss in die Brust ließ ihn zusammenbrechen. Sein funkelnder Quasing schwebte empor und flatterte wie ein Windhauch zwischen den riesigen Bäumen herum.

»Verschwinde, Coruw, und sei froh, dass ich keinen Flammenwerfer dabeihabe.« Roen Tan wandte sich an die Übrigen. »Will sonst noch jemand seinen Quasing freilassen? Ich erfülle diesen Wunsch nur zu gern.« Er gewann das Blickduell und setzte schließlich hinzu: »Das ist mein Angebot: Ich kann euch sofort umbringen, und eure Quasing können sich hier zwischen den Redwoods einen tierischen Wirt suchen. Oder ihr kooperiert und kommt mit. Übrigens, falls ihr auf eure Kontaktfrau wartet: Tut mir leid, aber ihr Quasing macht sich inzwischen ein schönes Leben in einem Ameisenbären. Also, wie sieht’s aus?«

Die Gefangenen tauschten Blicke und sahen dann Wladimir an. Der trat vor. »Wir kooperieren, Prophus.«

»Gut.« Roen wies auf Ohr. »Authentifiziere dich.«

»Verzeihung, Mr äh … Ghost«, begann Rin. »Warum bedienen Sie sich nicht des Gefäßes, das der Penetra-Scanner vorhin entdeckt hat? Es kann uns einfach durch Berührung identifizieren, und wir sparen uns dieses Affentheater.«

Roen Tan schüttelte den Kopf. »Den musste ich schon vorschicken. Seine Mom wird uns umbringen, wenn er zu spät zur Schule kommt.«

Kapitel 2Hausarbeit

Die Prophus und sicher auch die Genjix hatten die Anhörungen im Senat genau verfolgt. Die Senatoren James Wilks und Mary Thompson sowie Haewon, Marys Quasing, wurden vom Militär sowie von CIA, FBI und diversen anderen Regierungsbehörden ausführlich befragt, gelöchert und getestet.

Drei Monate nach dem Großen Verrat wurde der Alien Sedition Act verabschiedet. Dieses Gesetz markierte den Beginn einer neuen Ära. Die Regierungen der Welt begannen, die Existenz von Außerirdischen langsam anzuerkennen. Mit einem Mal hatten sich die Regeln des Spiels komplett verändert.

Baji

Lange Zeit hatte Jill Tesser Tan leidenschaftlich ungern gekocht. Als Mädchen hatte sie es nicht gelernt, weil ihre Eltern viel zu beschäftigt gewesen waren, um einen Fuß in die Küche zu setzen, außer um sich gelegentlich am späten Abend noch ein Take-away-Gericht aufzuwärmen. Anders als bei den meisten Familien war die Küche bei ihnen das am seltensten benutzte Zimmer.

Nun war Jill über vierzig und hatte endlich entdeckt, wie herrlich es war, Mahlzeiten ganz ohne Fertigprodukte zuzubereiten. Das war günstig, denn inzwischen besaß sie in ihrem idyllischen Bauernhaus eine Küche, so groß wie die Eigentumswohnung in Manhattan, in der sie aufgewachsen war, und sie liebte diese Küche. In den letzten Jahren hatte sie die gleichmäßige Wärme ihres Ziegelofens und den Duft von selbstgekochtem Essen, der durchs ganze Haus zog, zu schätzen gelernt. Die Küche war das Herz ihres Heims – und gleichzeitig ihr Büro.

Sie rückte ihr Headset zurecht und rührte dabei mit dem Mixer Pfannkuchenteig. »Dann dauert es eben drei Stunden. Das Geld wird gezählt, ehe es gewechselt wird. Nach Gewicht wird nicht mehr abgerechnet, letztes Mal hat er uns so um Dreißigtausend betrogen. Und Hite, sorg gefälligst dafür, dass die Rate drei Viertel beträgt. Sag Moyan, dass wir das Geld künftig anderswo waschen, wenn er uns noch mal übers Ohr haut.«

Moyan wird wissen, dass du bluffst. Im Umkreis von tausend Kilometern gibt es niemanden, der ihn ersetzen kann.

»Na ja, sag ihm das lieber doch nicht. Aber zählt auf jeden Fall das Geld.«

Jill wechselte zum zweiten Kanal, schaltete den Ofen an und goss Öl in die Pfanne. Der Bewegungsmelder an der Grenze ihres Grundstücks blinkte orange. Sie blickte aus dem Küchenfenster, sah eine bewaffnete Gestalt aus dem Unterholz treten, behielt das orangefarbene Licht im Blick, bis es auf Grün sprang, und machte dann weiter mit dem Pfannkuchenteig.

Wieder wechselte sie den Kanal. »Kate? Ach, Harry, entschuldige. Sims mir, wenn du eine neue Fassung des Registers bekommst. Die Patels müssen während der Reise funktionieren – vergewissere dich also, dass sie gute Unterkünfte haben.« Und wieder ein neuer Kanal. »Kate? Gut. Wenn du dich mit den Hillmans triffst, bring ihnen ein paar zusätzliche Päckchen 45er-Munition mit. Kugeln, die nicht rückverfolgbar sind, natürlich. Und Brandbomben. Aber diesmal bitte keine aus der Zeit des Koreakriegs.«

»Hi, Mom.« Im Tarnanzug und mit auf den Rücken geschnalltem Gewehr kam Cameron Tan, die Hand zum Gruß erhoben, in die Küche. Vor dem Eintreten hatte er die Schuhe abgestreift, doch alles andere an ihm sah aus, als wäre er bei einer Schlammschlacht auf die Verliererstraße geraten. Sie winkte zurück und musterte ihn intuitiv auf Anzeichen für Verletzungen, während er sich vorbeugte und sie auf die Wange küsste.

Kaum hatte Jill ihn gerochen, scheuchte sie ihn weg. »Geh duschen. Du hast den Bus schon verpasst und riechst, als wärst du durch die Kanalisation gewatet.« Sie zögerte kurz. »Warst du etwa wieder mit deinem Vater …?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, heute waren wir nicht Containern …«

Jill lächelte ihren schlaksigen Jungen an. Seine Frisur gefiel ihr nicht, denn sie verdeckte das halbe Gesicht, das dem von Roen sehr ähnelte. Dass er die meiste Zeit draußen verbrachte, hatte ihn braun werden lassen. Gerade erlebte er wieder einen Wachstumsschub und war mit seinen fünfzehn Jahren – sehr zum Ärger seines Vaters – bereits der Größte der Familie. Die Hemden, Pullover und Hosen, die sie ihm letzten Winter gekauft hatte, reichten nicht mal mehr bis zu den Hand- und Fußgelenken. Bei den vielen Übungskämpfen der letzten Zeit hatte sie zudem bemerkt, dass er erheblich stärker geworden war, sei es aufgrund der Pubertät, sei es, weil er beim Tai Chi endlich den Bogen raushatte.

Sie scheuchte ihn zur Treppe. »Bis du nicht mehr aus allen Poren stinkst, hab ich das Frühstück fertig.« Sie hob einen Finger und wandte sich ab. »Ja, hallo. Was soll das heißen, sie können die Patels nicht unterstützen? Aus gutem Grund haben wir Plätze auf einem Forschungsschiff gebucht. Alles andere wäre Geldverschwendung. Dann sag ihnen, wir wollen unser Geld zurück. Nein, vergiss sie. Lass dir eine Entschädigung zahlen, oder ich schneide sie ihnen aus den Rippen.«

Jill widmete sich wieder dem Telefon und gab die erste Kelle Teig in die Pfanne. Doch dann bemerkte sie, dass Cameron sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Also schaltete sie ihr Mikro stumm und sah ihn an. »Noch was?«

»Mom«, sagte er, »Dad ist auf dem Rückweg. Er hat sein Funkgerät ausgeschaltet, aber ich soll dir sagen, er bringt eine Gruppe Genjix mit.«

Sie nickte. »Alles klar. Ines soll die Zellen im Kerker herrichten – die mit den Schlössern außen.« Cameron schien noch immer etwas auf dem Herzen zu haben. »Und sonst?«

»Es ist ein Mädchen dabei. Etwa in meinem Alter. Ich glaube …«, er zögerte, »ich glaube, sie ist ein Wirt.«

Das ließ Jill innehalten. Sie sah seinen verwirrten Blick und hatte bemerkt, wie zögernd er sprach. Großer Gott, hoffentlich war das Mädchen nicht hübsch. Als Mutter war sie darauf einfach noch nicht eingestellt. Sollte dieses Mädchen ein Wirt und gutaussehend sein, würde sein fünfzehnjähriges Bewusstsein womöglich explodieren.

Es passiert. Der Albtraum wird wahr.

»Das ist fast so schlimm, wie Roen ohne Einkaufszettel, aber mit viel Geld in den Supermarkt zu schicken.«

Jill zeigte zur Treppe. »Geh duschen. Sofort.« Sie sah zu, wie ihr Sohn das Gewehr von der Schulter nahm, es in den Waffenschrank stellte und die Stufen hocheilte. Einen ungünstigeren Zeitpunkt für die Begegnung mit einem Mädchen, das Wirtin war, gab es vermutlich nicht, zumal es sich bei ihr obendrein um eine Genjix handelte.

Glaub mir: Auch wir sind keine Fans von pubertierenden Jugendlichen.

Cameron war ein guter Sohn – dafür hatten seine drei Elternteile gesorgt. Da Roen und Jill sich rund um die Uhr um ihn kümmerten und Tao ihn beriet, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als so aufzuwachsen, wie sie ihn prägten. Es war eine ungewöhnliche Kindheit mit wenigen gleichaltrigen Freunden gewesen.

Als die neue Regierung dem ISKA im Zuge der Säuberungen in der Verwaltung befohlen hatte, alle Schulen in Washington D.C. und in der näheren Umgebung der Hauptstadt mit Penetra-Scannern abzusuchen, hatten sie ihn aus der zweiten Klasse nehmen müssen. Den Großteil seiner Kindheit war er entweder mit seinen Eltern umhergezogen oder hatte in San Diego bei Jills Eltern gelebt. Zwar hatte Tao ihn angeleitet und ihm Gesellschaft geleistet, doch es war trotzdem eine sehr einsame Kindheit gewesen.

Vor vier Jahren hatte sich die Familie am Rand von Eureka, Kalifornien, angesiedelt. Seit dem Großen Verrat, durch den die Menschen von den Quasing erfahren hatten, waren sie nicht mehr so lange an einem Ort geblieben. Inzwischen war Jill für alle Prophus-Aktivitäten zwischen Vancouver und San Francisco verantwortlich. Ihre Arbeit war ausgesprochen heikel, weil die Route, auf der die Quasing geschleust wurden, geradewegs durch diese Gegend führte.

Die Spannungen zwischen Östlicher und Westlicher Hemisphäre nahmen seit Jahren zu, und Diplomaten beider Seiten sagten den baldigen Ausbruch eines dritten Weltkriegs voraus. Weiträumige wechselseitige Seeblockaden machten Schiffstransporte gefährlich. Mit dem Flugzeug zu reisen war nahezu unmöglich, denn in jedem Flughafen gab es Penetra-Scanner.

Also war die Querung der Meerenge zwischen Sibirien und Alaska die sicherste Möglichkeit zur Flucht aus Asien. Die Route über die Beringstraße und durch Nordamerika nach Südamerika war eine der am stärksten frequentierten und zugleich gefährlichsten Strecken für Tausende, die vor der Herrschaft der Genjix in Asien flohen. Interessanterweise waren die ankommenden Flüchtlinge fast zur Hälfte Prophus und Genjix.

Der Machtkampf im Rat hatte von vielen Quasing und ihren Wirten Tribut gefordert. Über fünfzig Jahre lang waren Vinnick mit Flua und Devin mit Zoras die mächtigsten Ratsmitglieder gewesen. Doch seit Enzo Devin besiegt hatte und zum starken Mann in China geworden war, hatten Enzo und Vinnick einen offenen Konflikt riskiert, der auch viele andere Regionen in Mitleidenschaft gezogen hatte.

In den letzten Jahren hatten die Vereinigten Staaten ihre Grenzen undurchlässiger gemacht, und es war immer riskanter geworden, fliehende Quasing zu schleusen. Jill ging inzwischen fast davon aus, dass das ISKA ihr Bauernhaus jederzeit stürmen konnte. Das und Cameron waren ihre Hauptprobleme …

Sie senkte den Blick und fluchte. Die ersten Eierkuchen waren angebrannt. Sie schob sie mit dem Pfannenwender in den Müll und begann von vorn. Im Pazifischen Nordwesten das Kommando zu übernehmen, so hatte sie gedacht, würde nach der anstrengenden Undercover-Arbeit in Chicago und Washington geradezu entspannend sein. Aber das hatte sich als Irrtum herausgestellt.

Ihre derzeitige Arbeit war wichtiger als alles, was sie je auf dem Kapitol für Senator Wilks erledigt hatte. Damals hatte sie bloß Politikberaterin gespielt. Jetzt war sie an der Front. Jede schlechte Entscheidung gefährdete Menschenleben, und sie wurde stets unmittelbar mit den Konsequenzen ihrer Misserfolge konfrontiert. Eine ernüchternde Erfahrung.

Jill schaltete auf Roens Kanal. »Hier Hühnerstall. Wo bist du? Hast du dein Funkgerät wirklich ausgeschaltet? Kannst du reden?«

»Für dich, Schatz, bin ich immer zu erreichen«, drang seine Stimme fröhlich zu ihr. »Wir sind knapp außerhalb der Umzäunung und gleich da.«

»Und ihr habt Lebensmittel eingekauft? Für Rührei?«

»Ja. Aber fünf Eier waren schlecht und eins zerbrochen. Vier sind in Ordnung, müssen aber bebrütet werden.«

»Ich kümmere mich bereits darum. Unser Sprößling sagt, eins der Eier sei …«

»… in seinem Alter. Ja, Ma’am, das ist sie.«

»Und ist sie … hübsch?«

Es folgte eine lange Pause.

Schließlich erwiderte er: »Ist das eine Fangfrage? Denn um offen zu sein: Ich weiß nicht, wie ich sie ehrlich beantworten soll, ohne von dir, vom Vater des Mädchens oder von einer höheren Macht eins drüber zu bekommen. Also überlasse ich die Beurteilung dir.«

»Verstehe. Haben sie wenigstens gestutzte Federn?«

»Ja. Die vier sehen aus, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen.«

Jill betrachtete den kleinen Stapel Pfannkuchen, den sie inzwischen gebacken hatte, und holte Mehl und Eier aus der Speisekammer. Eine Viertelstunde später blinkte auf dem Monitor ein rotes Licht. Roen musste am Eingang zu den Tunneln sein. Gleich würden sie das Safe House erreichen.

Jill wischte sich den Teig von den Händen, legte die Schürze ab, strich ihr Haar zurück und besah sich im Spiegel. Dann ließ sie die Pfannkuchen Pfannkuchen sein, schnallte ihr Halfter um und verschwand in der Speisekammer.

Hinter den Fünf-Pfund-Dosen mit Tomatenmark an der Rückwand tippte sie einen Code in ein Tastenfeld und wartete, bis der Boden neben ihr sich senkte und eine Wendeltreppe zum Vorschein kam. Sie stieg die Metallstufen hinab und ging, wie es sich für jeden guten Gastgeber gehörte, ihre neuen Gäste begrüßen.

Das Bauernhaus, eine alte, umgebaute Sägemühle in Küstennähe, wirkte von außen heruntergekommen, ja baufällig. Das Innere bestätigte diesen Eindruck nur. Unter dem Haus befand sich jedoch ein Bunker mit Betonwänden und genug Vorräten für mehrere Jahre. Das Haus stand auf einem stillgelegten Goldbergwerk, dessen Stollen sich kilometerweit in alle Himmelsrichtungen schlängelten. Einst, als der Großteil dieser Region noch nicht zu den Vereinigten Staaten gehörte, war dies die Prophus-Kommandozentrale für die Westhälfte des Landes gewesen. Nun diente die Anlage einem noch wichtigeren Zweck.

Zwei Fluchtwege waren tief in den Fels gehauen: ein versteckter Tunnel, der zwei Kilometer nach Westen zu einer Unterwasserhöhle führte, wo ihnen eines der verbliebenen Prophus-U-Boote – ein winziges, unbewaffnetes Tauchboot, das einst Touristen befördert hatte – als Fluchtfahrzeug diente; der andere Tunnel führte schnurgerade nach Osten und an den Rand einer Höhle im Redwood National Park. Auf dieser Route dienten zwölf Mountainbikes als Fluchtfahrzeuge.

Roen hatte ihre neuen Gäste in den Aufnahmebereich des Safe House gesperrt, der den gleichen Grundriss hatte wie das Bauernhaus darüber, aber eine niedrigere Decke, so dass sich eine gewisse Klaustrophobie einstellte. Für Jill und Roen war das kein Problem, für einige Gäste jedoch schon, besonders für den Russen, der beim Aufstehen immer den Kopf schräg legen musste, was ausgesprochen unbequem wirkte.

Sechs Pritschen und Sofas standen an den Längswänden, und in der Mitte des Zimmers befand sich ein quadratischer Tisch. An einer Wand war ein Fernseher angebracht, ein Gerüst mit Hanteln stand in der nächsten Ecke und daneben eine Tischtennisplatte. Die erste Person, auf die Jills Blick fiel, als sie die Treppe runterkam, war das Mädchen.

»Verdammt.«

Sie ist umwerfend. Als Erwachsene wird sie wunderschön sein. Ein Adonis-Gefäß, keine Frage.

»Nichts bereitet einer Mutter größere Sorgen als ein schönes Mädchen. Was die hier angeht, hab ich ein schlechtes Gefühl. Vielleicht sollte ich unseren Gästen das Duschen verbieten.«

Das blonde Mädchen war ungefähr in Camerons Alter, eher etwas jünger. Jill sah sofort, dass sie gelenkig war; ihre Bewegungen waren fließend, und sie besaß die Anmut einer Tänzerin, obwohl Jill ziemlich sicher war, dass ihre Tänze gelegentlich tödlich endeten. Ihr Blick wanderte zurück zu dem großen, ausgemergelt wirkenden Mann, der sich beschützerisch neben dem Mädchen aufgebaut hatte. Das musste der Vater sein.

Ladm ist ein pragmatischer Quasing und hat immer die Rolle des Geldgebers gespielt. Seine Wirte haben sich nie die Hände schmutzig gemacht. Wladimir war unter Vinnick ein hohes Tier. Sein Vermögen muss sich auf etwa vierhundert Millionen belaufen haben.

»Nicht schlecht. Warum können wir nicht solche Leute auf unserer Seite haben?«

Hatten wir doch. Aber sie sind entweder pleite oder tot.

»Ist er weich? Bloß ein Geldmensch?«

Wohl kaum. Wer in Russland operiert, ist nicht weich, vor allem dann nicht, wenn er Vinnick untersteht. Seit Kriegsbeginn hat kein Quasing eine stabilere Kontrollzone aufrechterhalten als Flua.

»Welchen Rang nimmt Wladimir auf der Fanatismus-Skala ein? Berichten zufolge sind Vinnicks Leute fast so verrückt wie Enzos.«

Schwer zu sagen. Darauf gehen wir in der Nachbesprechung ein.

»Es sind weniger hier als ich dachte. Und wer ist unser eigentlicher Promi?«

Die Frau. Rin.

Jill musterte die Gruppe, identifizierte jeden Quasing und prägte sich seine Rolle und die seines Wirts ein und entsicherte ihre Pistole. Sie war sicher, dass keine Gefahr bestand; wäre es anders, hätte Roen seinen Sohn nicht in die Nähe dieser Leute gelassen. Und doch erwies sich eine Machtdemonstration oft als beste Vorbeugung gegen Ärger. Dass sie alle mit dem ISKA einen gemeinsamen Feind besaßen, bedeutete ja nicht, dass sich Prophus und Genjix plötzlich um den Hals fielen. Selbst Jahre später schmerzten Jills Erinnerungen an Sonya, Paula und Stephen noch.

Jill blieb am Fuß der Wendeltreppe stehen, wartete, bis alle sie bemerkt hatten, und ging dann betont langsam zwischen ihnen hindurch zur anderen Seite des Raums. Dort wandte sie sich um und behielt die Hand an ihrer Feuerwaffe. Inzwischen war die Gruppe verstummt.

»Ich heiße Jill Tan«, sagte sie knapp und sah in die Runde. Sie war gewöhnt, bei den Genjix als Schreckgespenst zu gelten. Nicht wenige hatten sie sofort angreifen wollen, nachdem sie ihren Namen genannt hatte.

Sie zog ihre Pistole und hielt sie deutlich sichtbar neben dem Körper. »Ihr steht unter dem Schutz der Prophus und befindet euch zugleich in deren Haft. Falls ihr zu fliehen versucht, töten wir euch und eure Quasing. Solltet ihr meine Operation gefährden, töten wir euch und eure Quasing. Wenn ihr unseren Anweisungen nicht gehorcht, töten wir euch und eure Quasing. Habt ihr das verstanden?«

Der Vater legte seiner Tochter den Arm schützend um die Schultern, doch die beobachtete Jill ohne jede Furcht. Im Gegenteil, sie schien vor Wut zu schäumen. Jill hoffte, das Mädchen werde nichts Dummes tun. Die Vorstellung, ein Kind zu töten, ließ sie innerlich verkrampfen, aber sie würde tun, was nötig ist.

»Wir befragen euch getrennt. Überlegt euch genau, was ihr uns in den nächsten Stunden sagt. Euer Leben kann davon abhängen.« Jill warf Roen einen Blick zu. »In Quarantäne mit ihnen.«

»Entschuldigung«, begann der Vater. »Meine Tochter, kann sie bei mir bleiben?«

Jill schüttelte den Kopf. »Sie, Wladimir, sollten Ihre Worte doppelt genau wählen. Denn Sie müssen für zwei denken.«

»Sie ist erst vierzehn!« Er hob die Stimme. »Was sind Sie nur für ein Ungeheuer?«

Zwei Meter Abstand. Ziel auf seinen linken Unterschenkel, um nicht das Mädchen zu treffen.

»Ich erschieße niemanden vor den Augen seiner Tochter, Baji.«

Jill spannte ihre Pistole und richtete sie auf ihn. »Einen Schritt weiter, Genjix, und ich zeige Ihnen, was für ein Ungeheuer ich bin.«

Auch Roen hatte sein Gewehr auf den Mann gerichtet. »Wladimir, lassen Sie das. Niemand will das, Sie am wenigsten.«

Der große Mann hob die Hände. Jill merkte, dass seine Tochter sie weiter ansah, ja sogar studierte, und zwar furchtlos. Das Mädchen war offenbar gewöhnt, dass Waffen auf sie gerichtet wurden, und zuckte nicht im mindesten. Dieses Kind war gefährlich.

Jill schob die Pistole ins Halfter und ging wieder zur Treppe. »Vorläufig bekommt jeder ein eigenes Zimmer mit Bett und Dusche. Ich schlage vor, ihr erholt euch erst mal.« Beim Gehen sah sie Cameron auf halber Höhe der Wendeltreppe stehen – er hatte alles mit angesehen.

Das ging ihr nahe. Ihr Sohn hatte viel erlebt, seit Roen und sie sich wieder versöhnt hatten. Sie hatten ihr Bestes getan, um Cameron möglichst vollständig von den schmutzigen Bereichen ihrer Arbeit abzuschirmen, aber dass er etwas davon mitbekam, ließ sich einfach nicht vermeiden. Dann bemerkte sie die Pistole in seiner Hand. Ihre Blicke trafen sich, und er wirkte beschämt, schlich die Treppe wieder hoch und war verschwunden.

Jill schüttelte traurig den Kopf. Er war ein gutes Kind. Und eigentlich schon fast ein Mann. Sehr bald würde er dem Netzwerk beitreten und an ihrer Seite kämpfen müssen. Aber noch nicht. Nicht wenn sie und Roen es verhindern konnten. Wenigstens noch nicht heute.

Kapitel 3Die Gäste

Zeitstempel: 2566

Ich soll drei Wochen im künstlichen Koma gelegen haben. Tatsächlich handelte es sich dabei wohl um mein angenehmstes Nickerchen seit Jahren. Als ich schließlich aufwachte, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich konnte mich nicht bewegen und hatte das Gefühl, an der Wasseroberfläche zu treiben. Ich wollte rufen, konnte aber nur stöhnen.

Eine Schwester kam rein, schaltete das Licht ein, zog mir den Schlauch aus dem Mund und fragte, ob ich sie hören könne. Ob ich hungrig sei oder auf die Bettpfanne müsse. Ich habe zu allem genickt. Dann habe ich nach unten geschaut und gemerkt, dass ich komplett eingegipst war und wie eine Mumie aussah. Mein Blick blieb an meinem großen Zeh hängen – er schaute unten raus und ließ sich bewegen. Das zu sehen war wunderbar. Der anschließende Schmerz schon weniger.

Nachdem Roen die Genjix-Flüchtlinge eingesperrt hatte, brachte er Cameron ans Ende der langen Einfahrt. Es war schon halb neun; dass sein Sohn zu spät zur Schule kam, war also unvermeidlich. Roen gab ihm eine der im Voraus ausgedruckten Entschuldigungen mit. Dem Text zufolge hatte Cameron sich diesmal mit Kojoten rumschlagen müssen, die um ihren Hühnerstall schlichen. Roen war sich ziemlich sicher, dass in dieser Gegend Kojoten lebten. Nur dass sie weder einen Stall noch Hühner hatten.

In der Schule waren sie an seine Verspätungen gewöhnt, aber weil Cameron ein sehr guter Schüler war, drückten die meisten Lehrer ein Auge zu. Zudem investierten seine Eltern – nun ja, Jill – viel Zeit in die ehrenamtliche Arbeit im Lehrer-Eltern-Ausschuss, was Cameron ein wenig Narrenfreiheit verschaffte.

»Ciao, Roen«, sagte Cameron und führte sein Fahrrad die geschotterte Einfahrt hinunter Richtung Teerstraße.

Roen stupste seine Schulter. »Für dich immer noch Dad, Kumpel.«

»Entschuldige, ich habe bloß Taos Worte wiedergegeben. Du sollst vorsichtig sein, was diese Genjix-Gruppe angeht.«

»Das sagt er über jede Genjix-Gruppe.«

»Diesmal aber besonders.«

Roen zuckte die Achseln. »Das sagt er auch jedes Mal. Sie sind in meinem Haus, mit meiner Frau und meinem Sohn. Falls dieser kahlköpfige Russe dich oder deine Mutter auch nur von der Seite ansieht, werde ich …«

Cameron schwang sich aufs Fahrrad. »Wladimir ist nicht das Problem. Er erzählt es dir heute Abend.«

»Okay, Junge, mach’s gut. Komm nach der Schule sofort nach Hause und fahr gegen keinen Baum.«

»Dad, da war ich sechs, und der Baum hatte es verdient, er stand zwischen mir und dem Seelöwengehege.«

Roen sah dem davonradelnden Cameron nach, bis er nur noch ein kleiner Fleck auf der Straße war. Was Tao wohl gemeint hatte?

Nur ein toter Genjix ist ein guter Genjix. Danach kam in der Regel Erschieß sie oder Stich sie ab. Das war die übliche Tao-Weisheit; nur den Spruch Aus dem Bett mit dir brachte er noch öfter.

Auf dem Rückweg zum Bauernhaus lachte Roen in sich hinein. Der Anstieg machte ihm jedes Mal sein Alter bewusst. Das rechte Knie schmerzte wieder, und die Hüfte tat arg weh. Genau wie sein Kreuz. Auch die linke Schulter wurde immer ungelenkiger, und er ertappte sich immer wieder dabei, krumm zu sitzen. Ansonsten aber war er das blühende Leben. Wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er inzwischen auch öfter pinkeln musste als früher.

Roen kam zur Haustür rein und traf Jill in der Küche, wo sie das Essen zubereitete. Offenbar hatte sie vor, bei den Gefangenen Blaubeerpfannkuchen im Rahmen der höheren Kunst des Verhörs einzusetzen.

Er öffnete den Kühlschrank, nahm eine Packung O-Saft heraus, roch daran und sah auf. »Wo ist die gute Sorte?«

Jill schüttelte den Kopf. »Der Direktsaft ist alle. Bis nächste Woche musst du damit vorliebnehmen. Was ist mit unserem Promi-Gast? Ist sie so ein dicker Fisch, wie wir dachten?«

Roen nickte. »Allen Anzeichen nach ein Wal.«

Jill hob eine Braue. »Ein echter?«

»Echter geht’s nicht. Auf diesem Chip hat sie Dokumente geschmuggelt.« Er hielt ihn hoch. »Harry sichtet sie gerade. Wenn die Sachen sauber sind, schick ich sie zur Zentrale, damit die Experten sie dechiffrieren. Ich isoliere Rin, bis wir wissen, was die anderen drei vorhaben. Ihre Tarnung sollten wir erst auffliegen lassen, wenn es unvermeidlich ist.«

Jill nickte. »Was ist mit den anderen?«

»Unbekannt. Die nehme ich mir aber gleich vor.« Er wies auf die vielen Eierkuchen. »Gehört das zum Verhör oder bist du wieder schwanger?«

»Sehr witzig.« Mit dem Pfannenwender warf sie ihm einen Eierkuchen zu.

Roen fing ihn auf und steckte ihn in den Mund. »Ich begleite dich und rede mit ihnen«, meinte er mit vollem Mund. »Aber weißt du, statt ihnen zu essen zu geben«, er verdrehte die Hände, »könnte ich ihnen auch Daumenschrauben anlegen.«

Sie nahm den Teller mit Pfannkuchen. »Wir müssen die Herzen gewinnen und die Köpfe, Schatz. Die Herzen, die Köpfe und die Mägen. Nichts begeistert Flüchtlinge mehr als Pfannkuchen mit viel Sirup. Sitzen sie in Einzelzellen?«

Er nickte. »In Block D. Ich hab dem Russen und seiner Tochter die hinteren zwei Zimmer mit Verbindungstür gegeben. Für die Befragung können wir sie voneinander trennen.«

»Was ist mit unserem Undercover-Agenten?«

Roen schüttelte den Kopf. »Sachin hat’s nicht überlebt. Er hat sich geopfert, um den anderen Zeit zu verschaffen, und ein Feuergefecht mit den ISKA-Soldaten angezettelt, damit ich ihren Aufenthaltsort herausfinde. Sonst wäre ich nicht rechtzeitig gekommen.«

Jill fluchte. »Wir verlieren zu viele Agenten in Asien. Meinst du, es kommt überhaupt einer von dort zurück?«

Roen zuckte die Achseln. »Warum nicht? Die Gemäßigten sind auf der Flucht. Bis auf die Kleider am Leib haben sie alles verloren. Die Grenze hat sich verwischt, seit der Machtkampf im Rat auf ganz Asien übergegriffen hat. Die Loyalitäten sind ins Wanken geraten. Nur schade, dass die Prophus so schwach sind und keinen Nutzen aus diesem Chaos ziehen können.«

Jill atmete vernehmlich aus. »Es ist eine Schande. Trotz ihrer Zerrissenheit sind sie stärker als wir. Vielleicht verschafft uns Rins Verrat einen handfesten Vorteil.«

»Und Ohr dürfte auch bald zu uns überwechseln.« Roen wollte sich noch einen Pfannkuchen nehmen, fing sich aber einen Klaps aufs Handgelenk und einen strengen Blick ein. »Interessant ist auch der Russe.«

»Unbedingt. Laut unseren Akten rangierten er und seine Frau in Vinnicks Hierarchie recht weit oben. Und Alexandra ist Vinnicks Patentochter.«

»Bestimmt sind sie auf der Flucht vor dem Psychopathen Enzo.« Roen hielt inne. »Das Mädchen ist ein Wirt. Wir könnten sie als Druckmittel nutzen.«

»Sind wir so tief gesunken?«

»Pah! Machen wir doch schon seit Jahrhunderten. Damit kann ich prima leben, wenn es uns hilft.«

»Deshalb müssen wir aber nicht gleich allen Anstand verlieren.« Jill gab ihm den Teller und nahm eine Flasche Ahornsirup. »Komm, versorgen wir unsere Gäste.«

Sie stiegen die geheime Wendeltreppe zum Zentralbereich des Safe House hinab und gingen über einige schmale Flure. Die meisten Tunnel hier waren älter als das Bauernhaus und bildeten ein Labyrinth aus Bergwerksstollen, die Roen zumindest in der Nähe der Wohnräume mit rauen, ungleichmäßigen Trockenbauwänden vergipst hatte. Den Großteil ihres ersten Jahrs hier hatte er damit verbracht, die Schächte freizulegen und ihren Bedürfnissen anzupassen, indem er alles bloß mit elektrisch betriebenem Werkzeug und einem übers Internet erworbenen Do-it-yourself-Handbuch ausbaute.

Zugegeben: Die Flure und Zimmer sahen furchtbar aus, aber es waren seine furchtbaren Flure und Zimmer. Wann immer er jemanden hier runterführte, berichtete er seinen Besuchern stolz von seinen handwerklichen Arbeiten, auch den Gefangenen. Denen sogar vor allem.

»Erinnere mich daran, nach dem Treffen beim ISKA anzurufen«, sagte er auf dem Weg zu den hinteren Zimmern.

»Du hast sie gefesselt und wieder Lösegeld zugunsten eines Tierheims gefordert?«

»Alles für einen guten Zweck.«

»Aber du tust keinem der Heime einen Gefallen, indem du sie ins Rampenlicht rückst. Jedes, für das du eine Spende erpresst, muss danach garantiert eine Finanzprüfung über sich ergehen lassen. Eines Tages wird sich das rächen.«

»Dann erinnern sie sich hoffentlich der vielen lebenden ISKA-Agenten, die tote ISKA-Agenten hätten sein können.«

Sie sperrten die rechte Tür auf und betraten eine kleine Zelle. Rechts an der Wand war ein Bett, links standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle, und der Tür gegenüber befanden sich Toilette und Waschbecken. Zudem gab es eine Verbindungstür zum nächsten Zimmer. Wladimir saß mit Alex am Tisch. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten. Nun standen sie auf, und der Alte schob seine Tochter hinter sich.

»Wenn Sie nur einen Funken Anstand besitzen«, begann Wladimir, »tun Sie, was Sie tun müssen, nicht vor den Augen meiner Tochter. Schicken Sie sie weg, darum bitte ich Sie.« Dann erst entdeckte er die Teller mit Essen in ihren Händen und wurde verlegen. »Vielleicht war ich etwas vorschnell.«

»Nein, nein, Sie haben ja recht«, sagte Roen. »Wir essen beim Foltern nur gern.«

Jill gab ihm einen freundlichen Klaps auf die Schulter. »Wladimir Mengsk, möchten Sie frühstücken? Ich bringe Ihre Tochter nach nebenan.«

Roen beobachtete, wie Jill das Mädchen hinter dem Vater hervorlockte und in die Nebenzelle führte. Bevor sie die Tür schloss, sah sie sich um und nickte ihm zu. Mit einer Handbewegung forderte Roen Wladimir auf, sich zu setzen. Dann gesellte er sich zu ihm und sah geduldig zu, wie sein Gefangener sich über die Pfannkuchen hermachte. Schließlich war der Russe auf der Flucht gewesen und hatte seit einiger Zeit nichts zu essen bekommen. Außerdem musste Roen ihn womöglich erschießen, und er verabscheute es, Menschen ohne Henkersmahlzeit hinzurichten.

Nachdem Wladimir in kaum zwei Minuten fünf Pfannkuchen verdrückt hatte, wischte er sich den Mund und musterte seinen Kerkermeister. »Der berühmte Roen Tan.«

»Berühmt?« Roen wurde munter. »Na ja, meine Heldentaten machen schon was her, aber berühmt? So weit würde ich nicht gleich gehen. Wie ist mein Ruf heutzutage bei den Genjix?«

Wladimir sah verblüfft drein. »Heldentaten? Verzeihung, aber ich wusste nicht mal, dass Sie Agent sind. Sie sind als der Mensch bekannt, der den Auszug seines Quasing überlebt hat. Das hatte bislang als unmöglich gegolten.«

»Dann haben Sie noch nie von mir gehört? Dabei stand mein Quasing bestimmt auf etlichen Ihrer Fahndungslisten.«

»Tao schon, Sie nicht so.« Wladimir zuckte die Achseln. »Nehmen Sie mir das bitte nicht krumm. Die meisten Gefäße werden nie prominent, was zählt sind ja nur ihre Unsterblichen. Aber die Genjix haben tatsächlich ein Projekt nach Ihnen benannt.«

Das hörte Roen zum ersten Mal. Er hatte gedacht, solche Informationen wären längst auf seinem Schreibtisch gelandet. Wie viele Menschen konnten schon von sich behaupten, dass ein Geheimprogramm nach ihnen benannt worden war?

»Ach«, sagte er, »um was für ein Projekt handelte es sich da? Vermutlich um nichts Cooles wie die Rettung der Eisbären oder die Trinkwasserversorgung in der Wüste.«

Wladimir stopfte noch einen Pfannkuchen in sich rein und sprach mit vollem Mund. »Es hieß Tan-Transfer-Initiative. Forschungen zum Wechsel des Wirts. Der Rat wollte sehen, ob sich wiederholen ließe, was Ihnen geschah.«

Roen grinste. »Wow, ich hab sogar einen schicken Namen bekommen. Und wie lief es?«

»Dreihundert Versuchspersonen sind dabei gestorben. Dann wurde beschlossen, das Experiment an Menschenaffen fortzusetzen. Nachdem sich auch das als Fehlschlag erwiesen hatte, wurde das Programm eingestellt.«

»Dreihundert!« Roen hatte Mühe, diese Zahl zu verdauen. Plötzlich fühlte er sich irgendwie schuldig. Schließlich war das Projekt nach ihm benannt. Ansonsten war es mal wieder typisch Genjix. »Erst experimentieren sie an Menschen, dann erst an Menschenaffen. Das Gute ist vermutlich, dass so dreihundert Agenten der Genjix ums Leben kamen.«

Wladimir ächzte. »Wie dem auch sei – Sie haben Fragen, Prophus. Raus damit.«

»Gut«, begann Roen. »Nehmen wir mal an, wir sind beide clever und belügen einander nicht. Inzwischen ist Ihnen wohl klar, dass ich Sie im Wald nicht zufällig gefunden habe.«

»Sie wussten also, dass wir durch Nordamerika reisen? Wie das? Der Prophus-Geheimdienst ist völlig zerstört. Gibt es also einen Verräter?« Wladimir runzelte die Stirn. »Die Epsilons können es nicht gewesen sein. Auf deren Loyalität würde ich das Leben meiner Tochter wetten. Und die beiden Pakistani, die wir vor der Überfahrt nach Alaska verloren haben, scheiden auch aus. Indem wir uns nach Süden wandten, sind wir vom ursprünglichen Plan abgewichen …« Er verstummte. »Der Professor.«

Roen nickte. »Professor Sachin war ein guter Mann, und Mawl war kein Verräter. Er war von Anfang an Prophus-Agent.«

»Ladm meinte immer, Mawl habe sich nie leidenschaftlich für den Krieg interessiert«, sagte Wladimir. »Dafür haben Sie jetzt mich. Was wollen Sie? Inzwischen muss Ihnen doch klar sein, dass ich machtlos bin. Meine Fraktion hat fast ihren gesamten Einfluss im Rat verloren.«

Roen lachte leise. »Sie sind uns egal, Wladimir. Sie sind nur so eine Art Bonus.«

Der Russe begriff. »Rin. Hinter ihr seid ihr schon die ganze Zeit her. Ihr wollt eine Architektin des Quasiform-Programms in eure Gewalt bringen.«

»In unsere Gewalt bringen? Sie hat sich abgesetzt.«

»Verstehe. Und wir Übrigen: Tabs, Ladm und Brep und deren Gefäße – sind wir jetzt überflüssig?«

Roen lächelte nicht länger und beugte sich vor. »Das müssen Sie entscheiden. Sie haben viele Informationen, die uns nutzen könnten. Baji hat Ladm von den Dezennalien noch in bester Erinnerung und glaubt, es lassen sich Lösungen finden. Als Mitglied der Vinnick-Fraktion sind Sie von der Quasiform doch auch nicht sonderlich begeistert, oder? Was glauben Sie, passiert mit ihrem kleinen Mädchen, falls es zur Quasiform kommt?«

»Wir sind nur Werkzeuge der Unsterblichen. Was passiert, wenn ich Nein sage?«

Roen zog Kugelschreiber und Notizblock aus der Tasche und schob ihm beides zu. »Das wäre dumm, Wladimir, weil Sie keine Freunde mehr haben. Enzo hat bereits Ihre Frau getötet und würde nicht zögern, Sie und Alex ebenfalls aus dem Weg zu räumen. Sie sind in einem feindlichen Land, dessen Regierung große Anstrengungen unternehmen wird, Sie gefangen zu setzen, und ehrlich gesagt: Niemand sonst auf der Welt wird Ihnen helfen. Wir werden Ihnen nicht länger drohen, denn erpresste Verbündete sind schlechte Verbündete.

Denken Sie darüber nach. Falls Sie allein von hier verschwinden wollen, lassen wir Sie gehen. Falls Sie den Schutz der Prophus wünschen, erwarte ich von Ihnen, dass Sie bis heute Abend alles aufschreiben, was Sie über Genjix-Operationen im Rahmen Ihres finanziellen Netzwerks wissen. Nur dann schleusen wir Sie und Ihre Tochter auf unseren geheimen Wegen in ein sicheres Drittland. Grönland vielleicht. Oder lieber etwas Südamerikanisches? Also, wie sieht’s aus? Helfen Sie den Prophus? Oder bringen Sie lieber das Leben Ihrer Tochter in Gefahr und wollen von beiden Seiten und allen Regierungen dieser Welt gejagt werden?«

Wladimir griff nach dem Kugelschreiber und tippte damit mehrmals auf den Notizblock. »Das sind meine Möglichkeiten? Da bleibt mir ja kaum eine Wahl.«

»Stimmt.« Roen erhob sich grinsend und ging zur Verbindungstür, um Jill abzuholen. »Für Grönland hat sich bis jetzt noch niemand entschieden.«

Kapitel 4Schultag

Lass mich dir erzählen, was ich noch keinem meiner Wirte erzählt habe. Ein ungeschriebenes Gesetz der Quasing lautet, nichts aus unserer Geschichte zu verraten, was sich vor unserer Ankunft auf diesem Planeten ereignet hat.

Andererseits geht es dabei ja nur um eine recht harmlose Wahrheit, und ich würde mich gern mal wieder in Erinnerungen an meine Heimatwelt ergehen.

Tao

Cameron starrte auf die Frage auf seinem Monitor: »War die Schlacht von Alamo wirklich die größte Niederlage in der Geschichte der Vereinigten Staaten? Wenn nicht, nenne eine andere.«

Darüber musste er kurz nachdenken. »Ich muss wohl Ja sagen. Das könnte aber auch das dämlichste je gefeierte Ereignis sein.«

Nur dass Texas erst ein Jahrzehnt später ein Staat der USA wurde.

»Raffiniert, Mrs Federlin. Was meinst du stattdessen, Tao? Pearl Harbor?«

Oder die Schlacht um den Changjin-Stausee.

»Und was war das dämlichste Ereignis überhaupt?«

Schwer zu sagen. Für mich liegt Alamo gleichauf mit Napoleons Einfall in Russland. Die Dummheit, zu der ihr Menschen euch aufschwingen könnt, ist schwindelerregend. Das Allerdümmste aber war wohl doch, dass deine Mutter der Welt von der Existenz der Quasing erzählt hat.

»Daran wird sie jeden Monat wieder von irgendwem erinnert.«

Und Jill sagt trotzdem, sie würde es wieder tun.