Die Leben des Tao - Wesley Chu - E-Book
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Die Leben des Tao E-Book

Wesley Chu

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Beschreibung

Action, Abenteuer und Aliens – Wesley Chus SF-Thriller ›Die Leben des Tao‹ ist der Auftakt einer Trilogie, in der sich ein durchschnittlicher Nerd zum Top-Geheimagenten mausert. Seit Anbeginn der Zeiten wird das Schicksal der Menschheit insgeheim von Aliens gelenkt, die als körperlose Parasiten einige der einflussreichsten Persönlichkeiten der Geschichte kontrolliert haben: Dschingis Khan etwa, Napoleon oder Steve Jobs. Und fast ebenso lange tobt unbemerkt ein heftiger Krieg auf der Erde, in dem sich zwei verfeindete Fraktionen der Außerirdischen bis aufs Blut bekämpfen. Mal haben die Prophus die Nase vorn, die auf eine friedliche Koexistenz mit den Menschen setzen, und manchmal die Genjix, die glauben, dass technischer und gesellschaftlicher Fortschritt nicht ohne Krieg und Konflikte zu haben ist. Wenn es nach ihnen geht, wird auch in Zukunft die Weltgeschichte mit Blut geschrieben. Von all dem ahnt Roen Tan – Programmierer, Vollzeit-Nerd und Freund fettiger Fertiggerichte – natürlich nichts. Bis er eines Morgens in seiner Wohnung in Chicago aufwacht und eine fremde Stimme in seinem Kopf hört … ›Die Leben des Tao‹ von Wesley Chu ist der fesselnde Auftakt des Tao-Universums – ein Buch voller altkluger Außerirdischer, Spionage-Action, Kung-Fu und einem Hauch von Weltverschwörung: spannend, lustig und phantasievoll. Perfekter Science-Fiction-Lesestoff für die Gamer-Generation.

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Seitenzahl: 540

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Wesley Chu

Die Leben des Tao

SF-THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Simone Heller

FISCHER digiBook

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1 EndspielKapitel 2 WiedergeburtKapitel 3 Der AnrufKapitel 4 Die JagdKapitel 5 Der Tag danachKapitel 6 ErstkontaktKapitel 7 GenjixKapitel 8 TrainingKapitel 9 SonyaKapitel 10 Erste LektionKapitel 11 Willkommen im NetzwerkKapitel 12 Die WahrheitKapitel 13 Im HamsterradKapitel 14 Ein WiedersehenKapitel 15 LinKapitel 16 Der ErnstfallKapitel 17 FreiheitKapitel 18 EntdeckungKapitel 19 Eine BegegnungKapitel 20 NachwehenKapitel 21 Der VerfolgerKapitel 22 Tai ChiKapitel 23 AuswärtsspielKapitel 24 Lose EndenKapitel 25 Auf dem RadarKapitel 26 VorbereitungKapitel 27 VorspielKapitel 28 GregoryKapitel 29 Safe HouseKapitel 30 Wieder zu HauseKapitel 31 Die ElternKapitel 32 zur Herde ZurückKapitel 33 MonacoKapitel 34 WidersprücheKapitel 35 Unangemeldeter BesuchKapitel 36 Capulets Ski-resortKapitel 37 Der AngriffKapitel 38 Die KonfrontationKapitel 39 EpilogDanksagung[Leseprobe aus Wesley Chu, Die Tode des Tao]Kapitel 1 Vergeltungsmaßnahmen[Interview mit dem Autor]

Für meine Eltern, Mike und Yukie Chu

Kapitel 1Endspiel

Einst schrieb ich: »Was da ist, ist längst mit Namen genannt, und bestimmt ist, was ein Mensch sein wird. Darum kann er nicht hadern mit dem, der ihm zu mächtig ist.« Die Menschen denken, jenes mächtige Wesen sei Gott. Ich habe mich selbst gemeint.

Huchel, Rat der Genjix – Östliche Hemisphäre, Quasing von König Salomo

Die fünf selbstgefälligsten Persönlichkeiten der Geschichte. Los.

»Das ist einfach. Du, Dschingis, Alexander, Napoleon und Kathys Neffe.«

Der in Cambridge?

»Jedes Mal, wenn ich ihm begegne, macht er mir das von neuem klar.«

Keine schlechte Liste. Dschingis Khan taucht jedenfalls zu Recht darauf auf.

»Woran du nicht ganz unschuldig bist. Eigentlich ist es ein wenig redundant, dich und Dschingis auf die Liste zu setzen.«

Nur ein wenig. Lass uns den Platz wechseln. Die Aussicht hier ist schlecht.

Edward Blair musterte die blonde Frau im anthrazitfarbenen Anzug, die auf der anderen Seite der Bar saß. Ihre Blicke trafen sich, und auf ihrem Gesicht zeigten sich Ansätze von Grübchen, begleitet von einem verheißungsvollen Lächeln. Dabei rückte sie etwas an ihrer Taille zurecht und gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Die Aussicht hier ist ganz wunderbar, Tao.« Edward schwenkte die goldbraune Flüssigkeit in seinem Glas und nippte daran. Er ließ den Blick auf der Frau ruhen und zwinkerte ihr zu. Sie erwiderte sein Zwinkern, und Edward sah, dass sie leicht errötete. Dann kam der Barkeeper und verstellte ihm die Sicht.

Wir haben keine Zeit für dieses alberne Spielchen.

Edward trank seinen Scotch aus und bestellte noch einen. »Oh, ich vergaß. Wir unterhalten uns ja darüber, wie großartig Dschingis war. Tatsache ist doch, Kumpel, dass sein Stil kopiert und von anderen perfektioniert wurde. Ich sage nur: Alexander. Und meines Wissens spielt die Mongolei auf der Weltbühne des 21. Jahrhunderts eine reichlich unbedeutende Rolle.«

Der Vergleich mit Alexander hinkt. Es ist leicht, ein Imperium aufzubauen, wenn man eine Armee erbt.

»Das gute alte britische Empire war sogar noch größer. Kolossal und stabil. Es kommt eben doch auf Größe und Standfestigkeit an. Frag meine Frau.« Edward wandte sich von der Bar ab und blickte durch das Fenster auf die schwindelerregende Lichtermatrix der nächtlichen Straßen – ein komplexes Gitter aus hellen Linien, die sich in die Ferne erstreckten, so weit das Auge reichte. Riesige wogende Wolken löschten den Mond und die Sterne aus und verdunkelten den Nachthimmel.

In der 94. Etage konnte man das sanfte Schwanken spüren, wenn heftige Böen auf das John Hancock Center einpeitschten und es ganz leicht erzittern ließen. Einen halben Kilometer über dem Boden fühlte sich der Frühling in Chicago eher unangenehm an. »Gut, dass wir nicht mit dem Gleitschirm reingekommen sind«, murmelte er, nahm noch einen Schluck vom Scotch und spürte, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitete. »Man sollte meinen, ein kriminelles Superhirn würde sich einen abgelegeneren Ort als Operationsbasis aussuchen, nicht ausgerechnet die Spitze eines Wolkenkratzers. Was ist nur aus der guten alten Zeit geworden, als die Bösewichte auf verlassenen Pazifikinseln residiert haben?«

Ferienanlagen und durch die Decke gehende Immobilienpreise für Strandlagen, das ist draus geworden. Außerdem sind Superschurken letztlich auch nur Menschen. Sie brauchen Supermärkte und Kabelempfang wie alle anderen auch. Und einfach ist es nicht gerade, hier hereinzukommen.

Edward beugte sich vor und ließ den Blick an einer der Metallstreben entlangwandern, die sich durch das Gebäude zogen. Da war was dran. Es dürfte genauso schwer sein, unbemerkt eine Basis an der Spitze eines Wolkenkratzers mitten in einer Großstadt zu infiltrieren wie eine entlegene Insel. Im Erdgeschoss herrschten strenge Sicherheitsvorkehrungen, und das Wetter machte einen Fallschirmsprung riskant. Wenn man nicht gerade das ganze Gebäude in die Luft jagen wollte, blieb nur der Weg über den Signature Room, das Restaurant im 95. Stock, eine Etage über der Basis der Genjix. »Was ist mit Napoleon?«

Was soll mit ihm sein? Er dürfte nicht einmal auf dieser Liste stehen.

»Er wurde immerhin zum Kaiser gekrönt.«

Du meinst, er hat sich selbst zum Kaiser gekrönt. Aber nur weil man sich selbst als Genie bezeichnet, ist man noch lange keins.

»Sagt der geniale Tao …«

Nach menschlichen Standards ist es nicht allzu schwer, genial zu sein.

»Napoleon hat sich gar nicht so schlecht geschlagen. Du bist nur etwas voreingenommen, weil ihr euch nicht leiden konntet.«

Die Beinahe-Eroberung von Europa macht einen noch nicht zum rechtmäßigen Kaiser. Er war ein brillanter General, aber mit seiner kurzen Amtszeit disqualifiziert er sich für einen Platz in der Ruhmeshalle.

»Du meinst, er hat seine Macht schlecht verwaltet? Das ist alles?«

Darf ich dich daran erinnern, dass ein wesentlicher Bestandteil der politischen Herrschaft im Herumschieben von Papierstapeln besteht? Denke daran, dass …

»Entschuldigen Sie, mein Herr, die Geschäftsführerin würde Ihnen gerne einen Drink ausgeben.« Der Barkeeper stellte ein weiteres Glas Scotch auf den Tresen.

Edward wandte sich wieder zur Bar um und lächelte erneut, als die Frau, die vorhin ein Stück entfernt gesessen hatte, neben ihn trat. In der einen Hand hielt sie einen Martini, die andere streckte sie in seine Richtung aus.

»Simone«, schnurrte sie. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Ich habe Ihnen statt des 12-Jährigen einen 18-Jährigen bestellt.«

Edward blickte auf seinen Drink und lächelte. Er nahm ihre Hand und hielt sie geradezu unanständig lange fest. »Blake Emanuel. Ich werde den Gefallen wohl auf andere Weise erwidern müssen.« Die nächsten zwanzig Minuten plauderten die beiden vertraut und rückten immer dichter zusammen.

Edward, ich will dir nicht den Spaß verderben, aber uns läuft die Zeit davon. Die Codes werden in zwei Tagen ungültig, und wir kommen hier nicht weiter. Vielleicht hätten wir uns doch für die Gleitschirm-Variante entscheiden sollen.

»Bei diesem Wetter? Offenbar hast du größeres Vertrauen in meine Flugkünste als ich. Still jetzt, und stör mich nicht. Ich muss meine Tarnung als erfolgreicher Architekt aufrechterhalten.«

Zwanzig gemeinsame Jahre, und du bist immer noch unverbesserlich.

»Intergalaktischer Bürgerkrieg war nach meinem Abschluss in West Point nicht unbedingt Teil meiner Karriereplanung, Tao.«

Wünschst du dir, ich hätte dich nie gefunden?

»Die Frage kannst du dir doch selbst beantworten.«

Sein In-Ear-Kopfhörer knisterte. »Abelard, bist du in Stellung?«

»Wie süß. Erinnere mich dran, mal mit Marc über diese dämlichen Codenamen zu reden, wenn ich zurück bin.«

Ich finde ihn passend. Eigentlich ein ziemliches Kompliment.

»Wenn ich mich recht erinnere, ging es für Abelard und Heloise nicht allzu gut aus. Ich hasse es, wenn er mithört.«

Das ist typisch für Jeo. Marc hat seine schlechten Angewohnheiten übernommen.

Mit einem Lächeln entschuldigte sich Edward und ließ Simone an der Bar zurück, um zum hinteren Teil der Lounge in Richtung Toiletten zu gehen. Er wartete, bis er sich allein im Korridor befand, dann trat er durch eine Tür mit der Aufschrift ›Nur für Personal‹. Er hastete am Küchenpersonal vorbei, bevor ihn jemand aufhalten konnte, betrat ein Hinterzimmer und blieb vor einer verschlossenen Tür stehen. »Roger, Marc. Haltet euch bereit.« Er zog einen Schlüsselbund an einem Band heraus und probierte die Schlüssel nacheinander aus.

Woher hast du gewusst, dass sie die Geschäftsführerin mit den Schlüsseln ist?

»Die Schlüssel an ihrer Taille. Und sie hat gegenüber dem Barkeeper einen ziemlichen Kommandoton angeschlagen.«

Clever, Edward. Ich hätte nicht an dir zweifeln sollen.

»Zwanzig gemeinsame Jahre, Tao. Hab doch ein wenig Vertrauen.«

Mit einem Klicken öffnete sich die Tür. Edward ging durch einen leeren Gang an den Aufzügen vorbei zum Treppenschacht auf der anderen Seite. Er hastete einige Absätze hinab und blieb vor einer unauffälligen Metalltür stehen. Dort zog er sich dünne schwarze Handschuhe an und zerbrach über dem Griff ein kleines Fläschchen. Edward beobachtete, wie sich das ätzende Mittel durch das Schloss fraß, und flüsterte: »Grünes Licht, Marc. Wie sieht es bei euch da oben aus?«

»Es ist ein wenig windig, aber die Skyline ist malerisch. Komm aufs Dach, wenn du so weit bist. Wir haben nur einen Versuch, also mach was draus.«

»Evak um 0100. Verspätet euch nicht.«

»Bestätigt, Abelard. Over and out.«

»Tao, behältst du die Zeit im Auge?«

Ich werde wie immer deine Stoppuhr sein.

»Ist irgendwas mit Marc? Bei den letzten paar Missionen fehlte ihm irgendwie der Schneid. Als wir den spanischen Premierminister bewacht haben, wurde ich das Gefühl nicht los, dass es Marc vollkommen egal war, ob der Mann überlebt.«

Das liegt an Jeo. Er verabscheut diesen Planeten noch mehr als wir Übrigen, aber ich kenne ihn schon sehr lange. Er ist immer zuverlässig gewesen.

»Ihr verabscheut die Erde, Tao?«

Wir vermissen unsere Heimat. Für uns gleicht das Leben hier einem Besuch beim Steuerberater.

»Verstehe. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er uns nicht so runterziehen würde.« Edward fing den Türgriff auf, als dieser sich löste, und legte ihn auf den Boden. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und ließ den Blick durch den dahinterliegenden Raum schweifen. Dunkle Böden aus Tropenhölzern, antike Lampen und viktorianische Polstermöbel zierten beide Seiten eines langen Gangs. Regalreihen voller Bücher zogen sich an einer Wand entlang; eine große Plato-Büste aus poliertem Marmor stand markant zwischen zwei Aufzugtüren. »Haben wir die richtige Etage erwischt?«

Ich glaube schon. Ich erkenne hier überall Chiyvas Handschrift. Typisch, dass er eine Büste von sich selbst besitzt. Und wie ich sehe, hat sich sein Geschmack seit dem 19. Jahrhundert nicht großartig verändert.

Flach an die Wand gepresst, kroch Edward ans Ende des Korridors und spähte um die Ecke.

Rechts standen zwei Wachen. Im Zwanzig-Sekunden-Takt schwenkten in der Ecke Überwachungskameras hin und her.

»Zwanzig Sekunden, hm? Das wird eng. Schusswaffe?«

Nein, erledige es geräuschlos. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen. Jetzt beginnt der Kameraschwenk. Los!

Edward atmete aus, während er das Messer aus der Scheide zog, umkurvte die Ecke und sprintete los. Er drückte sich gegen die rechte Wand und schoss in geduckter Haltung auf die beiden ahnungslosen Männer zu. Sobald er in Reichweite war, wechselte er auf die linke Seite des Korridors, um einen günstigeren Angriffswinkel zu bekommen, und schleuderte mit einer fast unmerklichen Bewegung aus dem Handgelenk das Messer. Es pfiff, als die Klinge an der ersten Wache vorbeizischte und die zweite in die Kehle traf. Der Mann keuchte und brach zusammen. Der verbleibende Wächter wandte sich gerade um, als Edward sich auf ihn stürzte und dem Mann die Faust in die Rippen rammte.

Die Kamera ist bei fünfzehn Sekunden.

Die Wache krümmte sich, als Edward sie am Kopf packte und ihr das Genick brach. Ehe der Körper auf dem Boden aufkam, hatte er bereits die andere Leiche erreicht und sein Messer gezückt.

Gar nicht schlecht für einen vierzig Jahre alten Mann.

»Wie ich schon sagte, auf die Standfestigkeit kommt’s an.«

Touché. Schaff die Leichen weg. Noch zehn Sekunden für die Kamera.

Edward zog eine modifizierte Schlüsselkarte aus der Tasche und ließ sie durch das elektronische Schloss gleiten, das sich mit einem leisen Klicken öffnete. Die Leichen schleifte er hinter sich her in ein fensterloses Zimmer, in dem reihenweise Computer standen. Es war kühl. Das tiefe Brummen Dutzender Rechner und eines lauten Ventilationssystems erfüllte den Raum. »Hat die Kamera was gesehen?«

Noch gut zwei Sekunden. Der Zielrechner heißt Trixlix GeTr715.

Edwards Blick überflog das Verzeichnis der Server, bis er GeTr715 gefunden hatte, weit hinten in der dritten Reihe im unteren Rack. »Hallo, Zielrechner«, flüsterte er zufrieden. »Wollen wir doch mal sehen, ob du es wert bist, dass ich Simone oben sitzengelassen habe.« Edward zog ein kleines Kabel aus dem Gürtel und verband es mit dem Server. »Die Codes werden akzeptiert. Download eingeleitet.« Der Monitor über dem Server flackerte auf. Edwards Finger huschten über das Keyboard, während er tippte und die Verzeichnisse durchsuchte. »Es scheint, dass die Gerüchte über dieses legendäre Penetra-Programm der Wahrheit entsprechen. Es existiert.«

Prüf das.

Edward wechselte in das entsprechende Unterverzeichnis und öffnete die darin enthaltenen Dateien. »Hmm.« Er hielt inne. »Ordentlich sind sie hier nicht gerade.«

Ihr Archivierungssystem kannst du später kritisieren. Kopier die Pläne, und dann raus hier.

Edwards Pupillen weiteten sich, als er den Inhalt durchging. »Ich habe die Pläne, aber sieh dir diese Vorratslisten und Lagerbestände mit Chemikalien an. Ich dachte, das hier sei der Prototyp einer Überwachungstechnologie. Könnte es sich um eine biologische Waffe handeln? Wie kriegen sie so was bloß durch den Zoll? Ich wünschte, wir hätten auch so gute Connections. Ich beginne mit dem Upload. Moment, die Backup-Zugriffssteuerungsliste hat gerade Schluckauf bekommen. Wir fliegen raus.«

Das Sicherheitsprotokoll hat vermutlich gerade ein ganzes Platoon Wachen alarmiert. Nimm, was wir haben, und dann nichts wie weg hier.

In seinem Kopfhörer knisterte es. »Edward, die Daten sind heil bei uns angekommen. Wir holen dich jetzt raus.«

»Bestätigt. Over and out.« Edward stöpselte das Kabel aus und robbte zum Ausgang. Als er Schritte hörte, hielt er inne und zog sich zu den Serverschränken zurück, nur Sekunden bevor eine Gruppe von Wachen den Raum betrat.

Keine Rüstung. 1911er-Colts, wie es aussieht. Laserzielerfassung. Drei, nein, vier Wachen. Offenbar kein Genjix darunter.

»Das müssen Söldner sein.«

Schalt sie aus. Schnell.

Eine der Wachen knipste das Licht an. Der Rest schwärmte aus und durchsuchte systematisch die Gänge des Rechenzentrums. Edward hörte die Männer mehrmals »Alles sauber!« rufen, während sie sich ihm näherten. Er zog seine Glock und kroch zum Ende des Gangs. Als ein Arm in Sicht kam, griff er zu und stieß der Wache den Ellbogen ins Gesicht. Mit einem Aufstöhnen ging sie zu Boden. Das Geräusch alarmierte die anderen.

Ein weiterer Mann tauchte am anderen Ende des Gangs auf und eröffnete das Feuer. Kugeln prallten von den Metallrahmen der Racks ab. Ein brennender Schmerz explodierte in Edwards linkem Arm. Seine Hand wurde taub. Er ließ sich flach auf den Boden fallen, zielte rasch und schaltete sein Ziel mit drei schnellen Schüssen in die Brust aus.

Nur ein Streifschuss. Lass uns die Kurve kratzen. Jetzt.

Edward lud die Glock nach und stürmte aus dem Gang. Überall um ihn herum heulten Sirenen. Er sprintete zurück zum Treppenhaus. Gleich hinter sich hörte er Schritte. Er brach durch die Tür und hetzte die Stufen hinauf, dicht gefolgt von einer Gruppe Wachen. Während ihm Kugeln um die Ohren zischten, zog Edward eine Granate aus einer Hüfttasche und warf sie über das Geländer. Die Explosion riss ihn von den Beinen. Für einen Sekundenbruchteil wurde alles schwarz. Dann ging die Sprinkleranlage an. Edward schüttelte den Kopf, um sich zu sammeln, rappelte sich auf und setzte seinen Sprint über die Treppe nach oben fort.

»Ich werde zu alt für diesen Scheiß!«

Wo bleibt jetzt deine berühmte Standfestigkeit? Willst du etwa schon in Rente gehen?

Zwei Absätze über ihm erschien eine weitere Gruppe Wachen und eröffnete sofort das Feuer. Edward warf sich an die Wand, als der Kugelhagel auf ihn einprasselte. »Such mir einen anderen Weg zum Dach.«

Durch die Tür. Über das zweite Treppenhaus.

Marcs Stimme drang so laut aus dem Kopfhörer, dass Edward zusammenzuckte. »Wir sind auf dem Dach gelandet. Der Widerstand ist heftiger als erwartet. Beeil dich!«

»Ich arbeite dran!«, brüllte Edward, während er durch die Tür des Treppenhauses krachte und unvermittelt einer attraktiven jungen Frau gegenüberstand. Sie trug einen teuren hellbraunen Anzug und hatte sich das Haar zu einem hochsitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre er stehen geblieben und hätte versucht, mit ihr zu plaudern. Aber dies war nicht jeder andere Zeitpunkt. Er packte sie und rammte ihr die Glock in die Seite. »Tut mir leid, Süße, das ist ein schlechter Zeitpunkt für ein erstes Date.«

Es ist Yrrika.

Edward seufzte. »Ehrlich? Yrrika sucht sich immer die Hübschen aus.« Ohne zu zögern, drückte er ab. Die Frau keuchte nur einmal kurz auf, ehe sie zu Boden sank. Ihr Körper schimmerte, als der Genjix daraus entwich und in die Luft emporschwebte.

Hoffen wir, dass Yrrika keinen neuen Wirt findet. Dem Gang bis zum Ende folgen, rechts abbiegen, danach durch die dritte Tür links.

»Erinnerst du dich noch daran, wie ich versucht habe, Yrrikas vorherigen Wirt anzugraben?«

In Istanbul? Ich hab dich davor gewarnt. Du warst ein fünfundzwanzigjähriger Agentenfrischling und sie mindestens sechzig. Was hast du dir nur dabei gedacht?

»Du hättest mir sagen können, dass sie Judomeisterin ist.«

War sie nicht. Du bist damals einfach nicht besonders gut gewesen. Manchmal sind die härtesten Lektionen die besten.

Edward rannte los. Der Alarm ging ihm langsam auf die Nerven, und er hörte überall um sich herum Schritte. Es ließ sich nicht sagen, wie viele andere Genjix-Wirte sich hier aufhielten. Er sprintete durch den Gang zum zweiten Treppenhaus und zum Dach hinauf. Edward warf sich gegen die Außentür und stolperte ins Freie. Er verlor das Gleichgewicht und torkelte nach vorn, rollte sich ab und landete auf den Knien, die Pistole im Anschlag.

Das Dach des John Hancock Centers in Chicago war ein wildes Durcheinander aus schwarzen Schatten und Metallaufbauten, die von den Lichtern der beiden aufragenden Antennen in einen geisterhaften roten Schein getaucht wurden. Weiter links erkannte Edward eine Reihe riesiger Ventilatoren; unmittelbar vor ihm führten ein paar Stufen auf eine höher gelegene Ebene, auf der sich der Helikopter befand. Kalte Böen heulten über ihn hinweg. Edward huschte geduckt von Schatten zu Schatten auf sein Taxi zu.

Wo sind die anderen Agenten, und wieso ist der Helikopter nicht abflugbereit? Edward, hier stimmt etwas nicht.

Edward spurtete zum Cockpit. Die beiden Agenten lagen zusammengesunken über der Steuerkonsole. Ein weiterer lag tot neben der Einstiegsluke. Die Windschutzscheibe war zerbrochen, das Cockpit eingedrückt, und im Laderaum brannte ein kleines Feuer.

Fliegt er noch?

»Natürlich nicht – das Cockpit ist nur noch ein Haufen Schrott! Mal sehen, ob der Notfallschirm noch drin ist.«

Das Fach im hinteren Bereich, in dem die Fallschirme aufbewahrt wurden, war intakt. Edward schnallte sich einen davon um, klinkte ihn an der Taille ein und überprüfte den Auslösegriff.

Liegt Marc hier auch irgendwo? Wenn ja, müssen wir nachsehen, ob Jeo überlebt hat. Wir können ihn auf keinen Fall hier zurücklassen.

Edward drehte die Leichen um und riss ihnen die Helme herunter, ging nach draußen und überprüfte auch den Agenten, der neben dem Heli lag. »Das sind alles Reguläre. Wo ist Marc, verdammt?«

Edward, sie sind alle drei durch einen Kopfschuss gestorben.

Edward lief es eiskalt den Rücken hinunter. Niemand war gut genug, um drei Leute kurz nacheinander mit einem Kopfschuss auszuschalten … es sei denn, er befand sich ganz dicht neben ihnen. Die einzige Leiche, die fehlte, war die von Marc. Konnte das sein? Verrat an den eigenen Leuten hatte im Krieg der Quasing eine lange Tradition, aber Tao und Jeo hatten bereits Seite an Seite gekämpft, als Rom nicht mehr als ein Haufen Hütten auf einem schlammigen Hügel gewesen war. Sosehr Edward den Gedanken verabscheute, ihm fiel keine andere Erklärung ein. Und wenn es so war, schwebte er in akuter Gefahr.

Er duckte sich hinter das Wrack und verschmolz mit der Dunkelheit. Tief gebückt machte er sich zur Ostseite des Dachs auf, wobei er alle möglichen Aufbauten, Generatoren und Lüftungsschächte als Deckung nutzte, bis er den Rand des Gebäudes erreicht hatte. Er blickte auf die schwarze Leere des Lake Michigan hinaus. Das John Hancock Center war nicht hoch genug für einen sicheren Fallschirmsprung, daher bestand die beste Chance darin, im Wasser zu landen – das zu dieser Jahreszeit eiskalt sein würde. »Base-Jumping entspricht nicht gerade meiner Vorstellung von einem soliden Fluchtplan«, murmelte er, während er über den Rand auf die Straßen tief unten blickte.

Es gibt Schlimmeres. Erinnerst du dich noch an Budapest und die Abwasserkanäle?

Edward erschauerte. »Daran will ich lieber nicht denken.« Er trat an den Rand und rüstete sich für den Sprung. Plötzlich explodierte ein heftig stechender Schmerz in seinem Rücken, der ihn beinahe umgeworfen hätte. Nur der Fallschirm und die Panzerung retteten ihm das Leben. Edward stöhnte und hob den Kopf.

»Keine Bewegung, Edward«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm. »Ich kann dich nicht entkommen lassen.«

Reiß dich zusammen. Die Stimme kommt von links hinter dir. Das Bild eines Generators, an dem Edward vor wenigen Augenblicken vorbeigekommen war, blitzte in seinem Geist auf.

Er rollte sich herum und blickte seinen Partner an. »Ein abgeschiedenes Dach – wirklich eine hübsche Falle. Was geht ab, Marc? Zahlen wir dir nicht genug?«

Mit versteinerter Miene schüttelte sein Gegenüber den Kopf und hob das Gewehr. »Ich habe nicht etwa den Glauben an die Sache der Prophus verloren, sie ist mir einfach nur egal geworden. Ich habe diesen dummen Krieg satt.«

»Wir alle haben diesen Krieg satt«, brüllte Edward über das Heulen des Windes hinweg. »Das heißt nicht, dass wir einfach das Handtuch werfen und das Team wechseln, du elender Bastard.« Ganz langsam richtete er sich auf, bis er saß.

Marcs Gesicht verzog sich vor Zorn. »Und weißt du was? Du hast recht, ich werde nicht gut genug bezahlt. Zumindest behandeln die Genjix ihre Leute anständig. Niemand verlangt von mir, umsonst zu arbeiten, nur damit ein Haufen Aliens zu irgendeinem Schlammplaneten zurückkehren kann! Für keinen von uns springt dabei was heraus. Nicht für dich, nicht für mich. Teufel nochmal, ich hatte nicht einmal die Wahl. Ich wurde einfach von Jeo eingezogen, nachdem er beschloss, dass ich sein Typ bin! Und was soll dieser ganze Tanz überhaupt, wenn wir alle längst krepiert sind, bevor sich irgendwas ändert?«

»Es geht nicht nur um dich, Marc. Du weißt, was passiert, wenn wir verlieren. Sieht Jeo das genauso wie du?«

Marc lachte. »Jeo? Zum Teufel, er hat mich erst davon überzeugt, dass das alles eine verdammte Zeitverschwendung ist.« Sein Gesicht wurde weicher, zeigte einen kleinen Anflug von Reue. »Hör mal, Mann, das ist nichts Persönliches. Ich bin sicher, du und Tao, ihr wisst das. Aber wenn ich schon mitmachen muss, will ich auf der Seite der Sieger stehen, und da keiner keinem mehr traut, seid ihr meine Eintrittskarte. Ich muss euch an Sean ausliefern. Er hat speziell nach euch verlangt.«

Edwards Körper pochte vor Schmerz. Sein linker Arm fühlte sich unbrauchbar an. Trotzdem beabsichtigte er nicht, sich zu ergeben. Er beobachtete Marcs Brustkorb, verfolgte dessen nervöse, schnelle Atemzüge und die leichten Auf-und-ab-Bewegungen seines Gewehrs. Dann, als Marc gerade einatmete, warf sich Edward zur Seite und schoss. Auf die Stelle, an der er sich eben noch aufgehalten hatte, prasselten Kugeln nieder. Er hörte einen Schrei, als Marc sein Gewehr fallen ließ und auf ein Knie sank.

Edward kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht hinter einen Generator. Er hatte bestimmt ein paar angeknackste Rippen. Als er über das Gerät spähte, sah er, wie sich Marc die blutende Schulter hielt und in den Schatten zurückzog. Edward nahm den Rucksack ab und checkte den Inhalt. Die Kugeln hatten den Fallschirm durchsiebt.

»Wir stecken in Schwierigkeiten, Tao. Wir haben gerade unsere Fluchtmöglichkeit eingebüßt.«

Ich arbeite schon an einem Backup-Plan.

»Dann arbeite schneller, Tao! Sie kommen!« Tatsächlich öffnete sich gerade die Tür, und etliche Wachen strömten auf das Dach. In wenigen Augenblicken würden sie ihn entdecken. Marc kam aus dem Versteck gehumpelt und schloss sich den Neuankömmlingen an, während sie auf der Suche nach Edward ausschwärmten.

Ergib dich. Ich sehe keine andere Möglichkeit.

»Das ist dein Backup-Plan? Du weißt, dass ich das nicht tun kann. Wenn ich mich ergebe, werden sie mich trotzdem töten, nur um an dich ranzukommen. Du wirst sterben.«

Dann gehen wir eben kämpfend unter.

»Auf gar keinen Fall. Wenn ich hier sterbe, wirst du auf dem Dach gefangen sein, und wir verlieren dich. Sie werden es merken, wenn du dir einen der Wächter schnappst, und ihn dann auch töten.«

Edward …

»Edward«, rief Marc. »Ich gebe dir eine Chance. Wirf dein Leben nicht weg. Komm schon, wir können Bedingungen aushandeln. Du musst hier oben nicht sterben.«

»Meinst du, wir können aushandeln, dass sie uns am Leben lassen?«

Mit Jeo vielleicht. Aber Chiyva oder Zoras werden dir bei der erstbesten Gelegenheit den Hals umdrehen.

»Das ist wohl der Preis des Ruhms.« Edward spähte seitlich an dem Generator vorbei auf die Strahlen der Taschenlampen, die über die Dachfläche tanzten. Es war nur eine Frage der Zeit. »Also bleibt nur eins.«

Nein, Edward. Wir finden einen anderen Weg.

Edward seufzte und blickte himmelwärts. Die Wolken waren vorbeigezogen. Ein einzelner Stern kam heraus und funkelte in der ansonsten schwarzen Nacht. Der Wind hatte sich ebenfalls gelegt. Edward spürte, wie ihn Ruhe überkam. »Tao, es ist die einzige Möglichkeit. Zumindest einer von uns beiden wird hier rauskommen. Da unten sind jede Menge potentieller Wirte.«

Es muss einen anderen Weg geben.

»Uns rennt die Zeit davon. Du weißt, dass es die richtige Entscheidung ist. Versprich mir einfach, dass du dir diesen Hurensohn Marc irgendwann schnappen wirst.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille.

Ich schwöre es bei der Ewigen See.

»Sag Kathy von mir Lebewohl und dass ich sie liebe.«

Das werde ich tun, mein Freund.

Ohne ein weiteres Wort stand Edward auf und sprintete auf die Dachkante zu. Das Herz hämmerte ihm in der Brust, als er sich mit einem mächtigen Sprung in den Abgrund stürzte. Unter ihm öffnete sich die Stadt in einer Explosion aus Licht.

Kapitel 2Wiedergeburt

Tao genoss die letzten bewussten Momente mit seinem Wirt, während Edward an der Seite des John Hancock Centers hinabstürzte – ein bittersüßer Luxus, um einander Lebewohl zu sagen. Edward blieb auch im Angesicht seines bevorstehenden Todes gelassen; er hatte mit dieser Möglichkeit bereits vor Jahren seinen Frieden geschlossen.

Lebe wohl, mein Freund. Kehre in Frieden in die Ewige See zurück. Deine Seele wird durch mich weiterleben, und dein Tod wird nicht vergebens sein. Ich werde mich immer an dich erinnern.

»Pass auf dich auf, Tao. Gewinn den Krieg für mich, Kumpel.«

Dann Dunkelheit.

Und beißende, bittere Kälte.

Die Ausstoßung tat weh. Das tat sie immer. Ganz gleich, wie viele Wirte er schon verlassen hatte, Tao war nie auf den alles zermalmenden Schock der dichten Atmosphäre vorbereitet. Er verlor mehrmals hintereinander das Bewusstsein, bis er plötzlich auf den Körper seines gefallenen Freundes hinabblickte.

Tao, der ohne den wärmenden Kokon seines Wirts nicht lange überleben konnte, kämpfte darum, seine gasförmige Gestalt zusammenzuhalten, während stürmische Böen auf ihn einhämmerten. Seine durchsichtige türkisfarbene Membran streckte und dehnte sich wie ein unregelmäßig schlagendes Herz, schwere Sauerstoffströmungen schubsten und zerrten ihn hin und her. Ihm blieben nur wenige Minuten, bis er den nahezu frostigen Temperaturen der harschen Umwelt dieses Planeten zum Opfer fallen würde. Unerbittlich wurde er daran erinnert, weshalb er so verzweifelt wieder nach Hause zurückkehren wollte.

In wenigen Augenblicken würden die Genjix ihre Leute hier herunterschicken. Ihre Scanner konnten Quasing aufspüren, die sich außerhalb von Wirten befanden. Tao betrachtete seine Umgebung. Die Michigan Avenue vor ihm lag zu dieser Stunde, von ein paar vorbeifahrenden Autos abgesehen, ziemlich still da. Hinter ihm ragte die bedrohliche Masse des John Hancock Centers in den Himmel auf, unheimlich, schwarz und still.

Tao beschloss, sein Glück Richtung Süden zu versuchen, und schwebte den Bürgersteig entlang. Obwohl die Zeit gegen ihn arbeitete und die Auswahl zu wünschen übrigließ, war er fest entschlossen, seinen potentiellen Wirt mit Bedacht zu wählen. Sein erster Kandidat war ein alter Landstreicher, der auf der Bank einer Bushaltestelle schlief. Tao betrachtete ihn aus der Nähe: schwache Skelettstruktur, multiple Abschürfungen an der Membran, ungleichmäßige, flache Atmung. Tao beschloss weiterzuziehen. Es war sinnlos, sich mit einer so alten und gebrechlichen Person zusammenzutun. Selbst zu dieser Stunde musste es einen geeigneteren Wirt geben!

Er schwebte auf der Michigan Avenue weiter nach Süden, überquerte den Water Tower Plaza in Richtung Chicago Avenue, wandte sich am Museum of Contemporary Art nach Osten und musterte einen streunenden Hund, der einen Müllcontainer durchwühlte. Ein großer Mischling, vermutlich Mastiff und Pitbull, mit starkem Gebiss, kräftigen Beinen und einem intelligenten, wachsamen Blick. Tao schätzte, dass er nicht älter als drei oder vier Jahre sein konnte. Er zog das Tier einen Augenblick lang in Betracht, ehe er seinen Weg fortsetzte. Er war seit Jahrhunderten nicht mehr so verzweifelt gewesen, sich einen tierischen Wirt zu nehmen.

Als er sich umdrehte, sah er eine Gruppe von vier Menschen in der Ferne auf sich zulaufen. Die Genjix hatten ihn gefunden! Wenn sie nahe genug kamen, konnte ihn bereits ein einziger Schuss in Stücke reißen. In seinem natürlichen Zustand konnte ein Quasing einem Menschen nicht entkommen. Verstecken stand nicht zur Debatte. Die Scanner würden ihn finden, solange er sich innerhalb ihres Radius aufhielt. Tao musste einfach rechtzeitig einen passenden Kandidaten aufstöbern. Er eilte weiter.

Erneut folgte er der Michigan Avenue Richtung Süden. Kurze Zeit später sah er auf der anderen Straßenseite eine athletische Frau Ende zwanzig, gut einen Meter achtzig groß bei einem Gewicht von etwa sechzig Kilo. Eine exzellente Kandidatin. Als Wirt fand er sie zwar etwas zu alt, aber zu dieser Tageszeit waren nur wenige Jüngere unterwegs. Tao traf seine Entscheidung und schwebte auf sie zu, so schnell er konnte. Er überquerte die Straße dicht über dem Straßenbelag, um den stärkeren Luftströmungen zu entgehen, und achtete darauf, fahrenden Autos auszuweichen.

Die junge Frau stand am Straßenrand. Sie spähte aufmerksam nach links und rechts. Vor Tao zischte ein Auto vorbei und verursachte einen Luftzug, der ihn von seinem Kurs abbrachte. Er verlor wertvolle Sekunden damit, die Kontrolle zurückzuerlangen. Gerade als er sie erreichte und in sie einziehen wollte, winkte sie ein Taxi heran und stieg ein. Das Fahrzeug brauste davon.

Nein! Tao ließ sich von diesem Rückschlag nicht entmutigen. Er war fest entschlossen, diese Nacht zu überleben. Seine Membran riss in der Kälte langsam auf. Wie ein Mensch, der im Meer ertrank, wurden seine Bewegungen zunehmend kraftloser. Er erreichte die Ontario Street und begab sich nach Westen. Ein paarmal überlegte er, zu dem Hund zurückzukehren, aber er ahnte, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde. Auf der anderen Straßenseite stand eine Menschentraube, doch es herrschte zu viel Verkehr, als dass er den Übergang hätte riskieren können. Schon ein kleiner Unfall wäre für ihn in seinem geschwächten Zustand mit Sicherheit tödlich.

Ein lauter Knall hallte in der Ferne wider. Neben ihm zersplitterte die Fensterscheibe eines Autos. Er sah, wie zwei weitere Genjix-Agenten, keine zweihundert Meter von ihm entfernt, auf ihn anlegten. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Tao bog um die Ecke und floh die Straße entlang. Er musste einen Wirt finden, solange er außerhalb der Sichtweite der Genjix-Agenten war, und ihn aus der Gefahrenzone befördern, ehe sie ihn in ihrem Überwachungsnetz einfingen.

Eine Gestalt kam aus einem Gebäude am entfernten Ende des Blocks und lief in seine Richtung. Tao wusste, dass dies vermutlich seine letzte Chance war, also schwebte er auf die Zielperson zu und stemmte sich entschlossen gegen die Luftströmungen, die ihn wie ein Segelboot in einem Sturm herumwarfen. Die Kälte war überwältigend – schmerzhafte Dolchstiche, die seine Membran punktierten. Wäre er ein Mensch gewesen, hätten Schreie die Qualen nicht ausdrücken können, die er empfand. Es war, als würde er gleichzeitig zermalmt und ausgeweidet. Die Vorstellung, einfach loszulassen, erschien ihm mit einem Mal ungeheuer verführerisch. Die letzte Ruhe … hatte er sie sich nicht verdient?

Für einen Moment verlor Tao das Bewusstsein und trieb in die Schwärze davon. Er wurde von einem unaussprechlich süßen Gefühl der Taubheit überwältigt. Wenn diese Gelassenheit tatsächlich das Ende ankündigte, war das Sterben möglicherweise gar keine so große Sache. Die Quasing dachten nur selten an den Tod, und Tao fürchtete ihn sogar noch weniger als die meisten anderen. Aber nun ergab er sich ganz dieser betörenden Taubheit, die die letzten Momente seiner Existenz einläutete. Hätte er nur schon vorher gewusst, dass es so schön sein würde!

Aber das bedeutete zugleich, dass die Prophus verloren.

Und die Genjix siegten.

Er dachte an Edward. Und an jeden seiner Brüder, der durch die Genjix gefallen war. Er dachte an die Folgen eines Triumphs der Genjix. Sie würden die Erde – einen Planeten, den er ebenso wie seine Bewohner nach und nach schätzen gelernt hatte – in eine Ruine verwandeln. Seine Mission war noch nicht vollendet. Mit einem stummen Heulen kam Tao ruckartig wieder zu Bewusstsein und blickte zu der Gestalt auf, die gerade neben ihm in ein Auto stieg. Er kämpfte sich energischer voran als je zuvor. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass er einfach aufgeben könnte. Tao war jetzt beinahe am Ziel und bereitete sich auf den Einzug in den Körper des neuen Wirts vor – als dieser in das Auto stieg und die Tür zuknallte.

Nicht noch einmal. Vorbei. Niemand hielt sich mehr in der Nähe auf, und ihm fehlte die Kraft, um sich noch weiterzubewegen. Tao schwebte an der Außenseite der Karosserie entlang und beobachtete, wie der Fahrer den Motor startete. Seine Zeit war abgelaufen. Sein Tod stand unmittelbar bevor. Es erschien ihm irgendwie unpassend, dass sein Leben so jämmerlich enden sollte. Plötzlich öffnete sich die Tür, und der Mann beugte sich nach draußen und neigte den Kopf zur Seite.

Tao konnte sein Glück kaum fassen, glitt ins Fahrzeug und konzentrierte sich auf seinen neuen Wirt. Der Hautpigmentierung nach zu urteilen musste der Mann Anfang dreißig sein. Er wog knapp 120 Kilo und war nicht annähernd zwei Meter groß. Seine Skelettstruktur wirkte instabil, und ihn plagte ein Herzleiden, vermutlich verursacht durch ein äußerst ungünstiges Verhältnis zwischen Muskelmasse und Fett. In seinem Organismus befand sich außerdem eine beträchtliche Menge Alkohol, die seine Fähigkeit, ein Fahrzeug zu führen, erheblich beeinträchtigte. Offenbar ein Mann, der auf Abenteuer aus war, oder ein Narr – beides konnte sich Tao zunutze machen.

Inzwischen tat es ihm leid, sich gegen den Hund entschieden zu haben. Das Tier hätte ihn zumindest problemlos zurück zu den Prophus zurückgebracht. Menschen machten deutlich mehr Mühe, man musste sie körperlich fit machen und auf Trab bringen. Nun, die Entscheidung war gefallen. Er musste mit dem arbeiten, was er hatte.

Mit letzter Kraft drängte er sich in sein neues Zuhause. Der Übergang in einen neuen Wirt gestaltete sich immer schwierig. Durch die Haut absorbiert zu werden war knifflig, wenn auch längst nicht so schwer wie bei einigen anderen Kreaturen, die er schon in Besitz genommen hatte. Bei Dinosauriern mit ihrer externen Knochenpanzerung war es erforderlich gewesen, die weicheren Körperregionen zu suchen. Andere – wie die heutigen Insekten – verfügten weder über die notwendige Masse noch über einen flüssigkeitsbasierten Organismus, um als Wirte in Frage zu kommen.

Einige mühselige Sekunden später befand sich Tao innerhalb des neuen Wirts. Er zitterte vor Erleichterung, als der Körper des Menschen ihn vor den Elementen abschottete. Noch ein paar Augenblicke, und die Atmosphäre hätte ihn umgebracht. Tao begann, die grundlegenden chemischen Verbindungen und Nährstoffe von seinem neuen Wirt zu absorbieren, wobei er darauf achtete, Maß zu halten. Er füllte zunächst nur die Reserven auf, die er zum unmittelbaren Überleben brauchte. Es würde eine Weile dauern, bis sich der neue Körper an seine Anwesenheit gewöhnt hatte.

 

Roen Tan beugte sich aus dem Auto und holte tief Luft. Sobald er sicher war, dass kein neuerlicher Schwall von Erbrochenem die Innenausstattung aus Lederimitat ruinieren würde, schloss er die Tür und richtete sich auf. Die kalte Nachtluft tat gut, nachdem er die letzten drei Stunden im überfüllten Keller eines Clubs verbracht hatte. Er beschloss, dass dies wirklich das allerletzte Mal gewesen war, aber er belog sich nur selbst und wusste das auch.

Langeweile und Einsamkeit trieben Roen alle paar Wochen in diesen schäbigen Club, in dem er eine elende Nacht damit verbrachte, in der Ecke zu stehen, bevor er sich frühzeitig auf den Nachhauseweg machte. Er sah auf die Uhr: 01.30 Uhr. Nun, früh war ein dehnbarer Begriff. Roen seufzte. Weitere hundert Kröten verprasst – dreißig für den Eintritt und siebzig für Drinks für sich selbst und die vier Schnecken, die ihn fallengelassen hatten, kaum dass die Getränke vor ihnen standen.

Als er sein Gesicht im Spiegel musterte, fielen ihm die blutunterlaufenen Augen und aufgequollenen Wangen auf. Roen wusste, dass er zu viel getrunken hatte, aber er wollte verdammt sein, wenn er weitere fünfzehn Dollar für ein Taxi investierte. Lieber riskierte er einen Strafzettel oder eine Verwarnung.

Plötzlich keuchte Roen auf und krümmte sich, während ihm sein Mageninhalt langsam die Kehle hochkam. Er riss die Tür auf, beugte sich nach draußen und flehte innig darum, dass das, was gerade in seinem Bauch verendet war, einfach herauskam und ihn von seinem Elend erlöste. Hatte er wirklich so viel getrunken? Oder war das Abendessen daran schuld? Wie auf Kommando ergoss sich der komplette Mageninhalt in einem großen, ekelhaften Schwall aus seinem Mund über den Bürgersteig.

»Scheiß Tiefkühlpizza«, knurrte er, das Gesicht vor Schmerz verzogen. Mit hämmerndem Herzen und tobendem Magen machte sich Roen darauf gefasst, auch noch die letzten Reste seines Abendessens von sich zu geben. Doch das flaue Gefühl verflog. Langsam fühlte er sich besser. Er lehnte sich zurück in den Autositz und gab Gas, wobei er beinahe eine Gruppe von vier Männern mitgenommen hätte, die ihn mit ihrer seltsamen Protonenstrahler-Ausrüstung auf dem Rücken verdächtig an die Ghostbusters erinnerten.

Roen verzichtete darauf, ihnen zuzubrüllen, dass sie besser aufpassen sollten, und fuhr weiter. Die Straße verschwamm ein wenig vor seinen Augen. Zum Glück herrschte wenig Verkehr, und die Fahrt zu seiner Wohnung war kurz. Roen leckte sich die Lippen und verzog das Gesicht wegen des galligen Geschmacks im Mund. Er kam ohne Zwischenfall in der Tiefgarage an, parkte das Auto und stolperte zum Aufzug. Sobald sich die Metalltüren schlossen, wurde ihm wieder übel. Roen konzentrierte sich auf die Digitalanzeige an der Wand.

»14, 15, 16 … immerhin ein Rattenkäfig mit Aussicht.« Mit verkniffener Miene stieg er im 19. Stock aus, schleppte sich durch den Flur und fummelte seine Schlüssel aus der Tasche. Er musste ein wenig kämpfen, bis das Schloss endlich aufging. Beim Wegkicken seiner Schuhe torkelte er gegen die Wand.

Die Küche drehte sich um ihn, als er sich ein Glas Wasser eingoss. Er nahm ein paar große Schlucke und blickte auf die leeren Schalen auf dem Boden. Wann hatte er den Kater zum letzten Mal gefüttert? Der arme Kerl musste am Verhungern sein. Roen füllte die Schüsseln mit einer Wochenration Futter und Wasser.

Er wollte gerade gehen, als er eine Packung Chips auf der Anrichte liegen sah, die er bereits vor Tagen aufgerissen hatte. Er machte sich darüber her – vielleicht brachten etwas Salz und Kohlenhydrate seinen nervösen Magen zur Ruhe. Auf dem Weg zum Bett bemerkte er Licht im zweiten Schlafzimmer. Sein Mitbewohner Antonio war offenbar wieder online. Roen ging hinein und beugte sich über die Schulter seines besten Freundes. »Das Mädchen in Yale oder die alleinerziehende Mutter in Kalifornien?«

»Beide. Und eine der Schwestern von der Herzstation.« Antonio lehnte sich zurück und zwinkerte. »Tja, was soll ich sagen? Sobald man einmal ein Dr. med. vor dem Namen hat, kommen sie aus allen Löchern gekrochen.«

Roen schüttelte den Kopf. »Wirklich? Zwei Tage nach der Approbation, und schon nutzt du es aus? Du bist ein echter Stecher, Bro.«

Antonio zuckte die Schultern. »Für dich immer noch Dr. Stecher, mein Lieber. Aber um ehrlich zu sein, so geil ist der Titel gar nicht. Weckt irgendwie die falsche Art Interesse bei den Mädels. Ich werde ihnen in Zukunft lieber erzählen, dass ich Koch bin.«

Roen schüttelte die Fäuste in der Luft. »Oh, warum hat mir der Typ in der Berufsberatung damals nicht gesagt, dass Ärzte die ganzen Frauen abkriegen? So ein Arsch! Und überhaupt: Warum bist du kein Koch, dann hätte ich zumindest auch was von unserer Beziehung.«

»Man braucht keine kulinarische Ausbildung, um Tiefkühlkost aufzuwärmen. Wie war’s im Club?«

»Wie immer, wie immer.«

»Hast du jemanden kennengelernt?«

Roen seufzte und klopfte Antonio auf den Rücken. »Wie ich schon sagte: wie immer. Ich geh ins Bett. Viel Spaß noch, du Don Juan des Internets. Und pass auf, dass du mit echten Frauen chattest und nicht mit vierzigjährigen Perversen.«

»Dr. Don Juan, bitte.«

Erschöpft wankte Roen in sein Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und wollte nur noch ins Bett. Er zog Hemd und Hose aus und warf beides achtlos auf den Boden. Roen ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Antonio unterhielt sich an einem Tag vor dem PC mit mehr Frauen als er in einer ganzen Nacht im Club. Und dabei gab sich Antonio nicht mal richtig Mühe. Das Leben war unfair. Ich hätte in Chemie nicht durchrasseln dürfen, dachte er. Ich hätte Arzt werden können. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er den Anblick von Blut nicht ertrug. Seufzend drehte sich Roen um. Wenige Sekunden später schnarchte er in Sturmlautstärke.

Kapitel 3Der Anruf

Tao beobachtete interessiert, wie sein neuer Wirt betrunken umherschwankte. Nach Hunderten von Leben war er in Sachen Mensch zum Experten geworden. Er studierte Roens Ticks und Verhaltensweisen, seinen Fahrstil, die Interaktion mit seinem Mitbewohner, die Unordnung in seinem Schlafzimmer. Ihm entging nicht, dass Roen vergaß, sich die Zähne zu putzen.

Tao wartete, bis sein Wirt schlief, ehe er das Bewusstsein seines neuen Körpers unterdrückte und ihn dazu brachte, sich aufzusetzen. Tao hatte sich noch nie sonderlich gut auf unbewusste Manipulation verstanden. Und da ihn die Strapazen dieser Nacht erschöpft hatten, übte er lediglich eine sehr unsichere Form von Kontrolle aus. Er manövrierte Roen wie einen Kleintransporter durch das Zimmer zum Schreibtisch und grapschte ungeschickt nach dem Telefon, das die Form eines Footballs besaß. Er brauchte ein paar Versuche, aber schließlich gelang es ihm, die Notfallnummer zu wählen. Er ließ es die vereinbarten fünfzehnmal läuten.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: »24-Stunden-Weckdienst. Wir wachen, damit Sie in Ruhe schlafen können. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Identifikation Tao.«

»Die Stimmerkennung passt nicht zum Wirt Edward Blair.«

»Der Wirt wurde terminiert.«

»Das erfordert den Basis-Binärcode.«

»Binärcode eins, eins, null, null, eins, null, eins, eins, null, null, null, eins.«

Stille.

»Mein Beileid, Tao. Edward war ein guter Mann.«

»Danke, Krys. Registriere bitte den neuen Wirt und stelle mich zur Hüterin durch.«

»Natürlich. Wird es lange dauern, bis du wieder einsatzbereit bist?«, fragte Krys.

»Ich weiß es nicht. Das hängt vom Wirt ab. Du weißt doch, wie es läuft.«

»Ja, sicher. Ich stell dich jetzt durch. Viel Glück, Tao.«

»Danke.«

Tao spürte brennendes Bedauern, während er wartete. Er verabscheute diesen Anruf, der ihm die Endgültigkeit des Verlustes noch einmal vor Augen führte. Tao dachte an Kathy, Edwards Ehefrau, mit der er ebenfalls reden musste. Sie hatte es nicht verdient, im Unklaren gelassen zu werden.

Eine Frauenstimme meldete sich am Telefon. »Hallo, Tao.«

»Hüterin.«

»Es tut mir leid, von Edwards Tod zu erfahren. Als sein Tracer den Dienst einstellte, befürchteten wir schon, wir hätten dich an die Ewige See verloren.«

»Edward hat dafür gesorgt, dass ich mir einen neuen Wirt suchen konnte. Hat das Oberkommando den Upload erhalten?«

»Positiv.«

»Ist es wahr?«, fragte Tao.

»Dieses sogenannte P1-Penetra-Programm scheint keine Waffe zu sein. Unsere Ingenieure analysieren gerade die Baupläne. Sie vermuten, dass es sich um eine fortgeschrittene Kommunikations- oder Überwachungsmatrix handelt.«

Überwachung? Bei dem Security-Aufgebot war das äußerst unwahrscheinlich. Außerdem hatte ihr Maulwurf betont, das Projekt besitze höchste Priorität und werde unter allergrößter Geheimhaltung betrieben. »Habt ihr die Liste mit den Chemikalien gesehen?«, fragte Tao.

»Haben wir. Ein echtes Rätsel. Unsere Leute arbeiten daran, die Chemikalien und die Matrix miteinander in Bezug zu setzen. Bislang ohne Erfolg.«

Tao schwieg einige Augenblicke und hing seinen Gedanken nach. Schließlich stellte er die Frage, vor der er sich insgeheim fürchtete: »Konnten wir die Leiche bergen?«

»Es tut mir leid.«

Tao fluchte. Kathy konnte die Leiche ihres Mannes also nicht beerdigen lassen. Er hatte gehofft, ihr zumindest diesen Trost spenden zu können. Nun blieb ihr nicht einmal das. »Es war Marc. Er hat Edward getötet und treibt ein doppeltes Spiel. Wir müssen ihn aus unseren Systemen aussperren.«

»Globale Sicherheitsumstellungen sind bereits initiiert. Mach dir keine Sorgen um Jeo, Tao. Du hast dringlichere Probleme. Wie sieht deine neue Situation aus? Wie lange wirst du ausfallen?«

Tao zog Roens Geldbörse heraus und las die Informationen vom Führerschein ab. »Name des neuen Wirtes: Roen Tan. Alter: 31. Größe: ein Meter siebenundsiebzig. Gewicht: Hmm … offensichtlich ist der Führerschein nicht ganz auf dem neuesten Stand. Ich glaube, er wiegt gegenwärtig deutlich über 120 Kilo. Meine Situationsanalyse ist noch nicht abgeschlossen, aber ich gehe davon aus, dass ich mit ihm alle Hände voll zu tun haben werde. Die Ausbildungszeit könnte lang werden. Er hat sowohl körperliche als auch geistige Defizite, die erst ausgeräumt werden müssen, bevor er für uns von Nutzen sein kann.«

»Ich hole mir gerade seinen Background auf den Schirm. Nichts Ungewöhnliches. Kein Militärdienst. Keine Vorstrafen, leicht überdurchschnittliche Schulnoten in der Highschool, leicht unterdurchschnittliche auf dem College. Heuschnupfen, leichtes Asthma und etwas Alzheimer in der Familiengeschichte. Interessant, einer seiner Vorfahren vor ein paar Generationen ist ein Prophus gewesen: Seurot. Wir haben ihn beim 228-Massaker in Taiwan verloren.«

»Ich kannte Seurot. Ein guter Quasing.«

»Die Aufzeichnungen zu Tans Highschool-Zeit weisen auf geringes Selbstvertrauen und eine Neigung zur sozialen Isolation hin, aber auch auf eine überdurchschnittlich ausgeprägte Intelligenz und Gewichtsprobleme«, fuhr die Hüterin fort. »Wir initiieren jetzt die Wirt-Transferprotokolle. Roen Tan wird in wenigen Minuten nicht länger existieren. Achte bitte darauf, dass du den Erstkontakt herstellst, bevor er seine Sozialversicherungsnummer oder andere Fundamentaldaten benutzt. Aus seinen Dateien geht hervor, dass er für unsere Belange völlig unpassend ist. Uns bleibt nur wenig Zeit. So hart das klingt: Wenn er nicht flexibel genug für eine sofortige Einarbeitung ist, werden wir jemanden schicken müssen, der ihn beseitigt.«

»Das sollte nicht nötig sein«, schnitt ihr Tao das Wort ab, ehe sie fortfahren konnte. Er versuchte, seine Stimme ruhig zu halten, aber innerlich kochte er. Vorsätzliche Übergänge waren verabscheuenswürdig, ganz gleich, wie schlimm die Lage war. Er hatte noch nie einen durchführen müssen und wollte jetzt nicht damit anfangen. »Ich werde mich bemühen, die Integration zu beschleunigen, und habe …«

»Keine Fallstudien oder sanftes Aufwecken. Wir können uns keine langen Flitterwochen leisten. Ich will Ergebnisse sehen, und das bald. Er muss im Laufe weniger Monate einsatzbereit sein, verstanden?«

»Hüterin, bleib realistisch. Er besitzt keine militärische Erfahrung. Man braucht zwei Jahre, um einen Agenten auszubilden, und das unter optimalen Bedingungen. Es ist nicht sinnvoll, innerhalb weniger Monate vorzeigbare Resultate zu erwarten. Dann könnt ihr auch gleich heute Nacht jemanden schicken und ihn erschießen lassen.« Roen schnaubte und ließ das Telefon fallen. Er murmelte etwas im Schlaf. Tao verlor vorübergehend die Kontrolle und wäre beinahe gestürzt. Mit einem tonlosen Murmeln hob Tao den Hörer auf. »Tut mir leid, Hüterin, er verhält sich unkooperativ.«

Am anderen Ende entstand eine Pause. »Sollen wir dir jemanden zur Unterstützung schicken? Es gibt gerade ein paar freie Agenten ohne festen Aufgabenbereich.«

Tao konnte es nicht leiden, wenn jemand anders auf seine Ausbildung Einfluss nahm. Er zog es vor, die neuen Wirte selbst anzupassen. Unter diesen Umständen blieb ihm jedoch kaum eine andere Wahl. »Wer ist verfügbar?«

»Haewons zweites Jahr. Evas fünftes. Bajis viertes. Vous neuntes.«

»Baji, ist das Danias Tochter?«, fragte er.

»Ich dachte mir schon, dass du dich für sie entscheidest. Sie hält sich momentan auf den Philippinen auf. Ich werde sie herbringen lassen.«

»Ja, perfekt. Danke, Hüterin.«

»Natürlich, Tao. Pass auf dich auf. Du bist immer einer unserer Besten gewesen.«

Roen räkelte sich im Schlaf und ließ das Telefon noch einmal fallen. Diesmal verlor Tao das Gleichgewicht und stürzte. Da er beinahe am Ende seiner Kräfte war, gab er auf und ließ den Körper an Ort und Stelle liegen.

Tao musste sich ausruhen. Für die nächsten paar Tage nahm er sich vor, seinen Wirt ausgiebig zu analysieren. Dann, zu einem geeigneten Zeitpunkt, wollte er sich Roen Tan vorstellen. Aber gab es überhaupt einen geeigneten Zeitpunkt für diese Art von Kennenlerngespräch?

Im Normalfall hätte er Monate damit zugebracht, seinen Wirt zu beobachten, bevor er den Kontakt herstellte. Aber es gab viel zu tun und wenig Zeit. Roens Leben lag nun in Taos Händen. Die Hüterin hatte keine Zweifel daran gelassen, was im Falle seines Scheiterns geschehen würde. Und Tao wollte nicht innerhalb so kurzer Zeit einen weiteren Wirt verlieren. Vielleicht, grübelte Tao, würde er durch die Entscheidung für diesen Wirtskörper Jahrzehnte verlieren. Aber andererseits: Was, wenn sich Roen Tan zu einem weiteren Edward, Zhu oder Temudschin entwickelte?

Kapitel 4Die Jagd

Sean Diamont starrte auf sein Smartphone und klopfte mit dem Fuß im Takt des piepsenden Aufzugs, der den Willis Tower hinaufschoss. Während alle anderen auf die durchlaufenden Nummern starrten, schenkte er ihnen keine Beachtung. Er wusste genau, wann er aussteigen musste. Für ihn glich jeder Augenblick im Leben einem Schachspiel, bei dem er allen anderen um vier Züge voraus war. Alles, was geschah, ließ sich in Muster und Mechanismen auflösen, und indem er dies erkannte und verstand, konnte Sean sein Leben äußerst effizient gestalten – genau wie Chiyva es wünschte.

Sean war von seinem Unsterblichen, Chiyva, in den Dschungeln Vietnams aufgespürt worden. Damals war er ein undisziplinierter, straffälliger Jugendlicher gewesen, den seine Eltern zur Army abgeschoben hatten. Er stand kurz vor seiner unehrenhaften Entlassung aus der Army, und niemand hatte damit gerechnet, dass Sean lebendig aus dem Krieg zurückkehren würde.

Chiyva entdeckte den achtzehnjährigen Soldaten während eines heftigen Feuergefechts, bei dem sein Platoon ausgelöscht und Sean vom Feind gefangen wurde. Als sein Unsterblicher zum ersten Mal zu ihm sprach, hatte Sean zunächst geglaubt, er sei in der Gefangenschaft wahnsinnig geworden. Erst nach etlichen Monaten erkannte er die Wahrheit seines Auserwähltseins. Chiyva half ihm dabei, das Gefangenenlager zu überleben, die Muster der Wachpatrouillen zu erkennen und die Schwachstellen des Gefängnisses ausfindig zu machen. Gemeinsam entwickelten sie einen Fluchtplan. Sean streifte drei Wochen durch den Dschungel und lebte von den Früchten der Erde, bis er sich zu den eigenen Truppen durchschlug. Er führte die Rettungsmannschaft zurück zum Gefangenenlager und bekam eine Ehrenmedaille verliehen, was ihn offiziell zum Kriegshelden machte. Seither vertraute Sean dem Genjix blind.

Zurück in den Staaten hatte Sean seinen Abschluss in Jura an der Northwestern University nachgeholt. Inzwischen war er geschäftsführender Teilhaber einer der größten Anwaltskanzleien des Landes. Nicht schlecht für einen jungen Querulanten, der beinahe die Highschool geschmissen hätte.

Der Aufzug piepte zum vierundfünfzigten Mal. Die Tür glitt zur Seite, und Sean stieg aus. Sein Blick hob sich kein einziges Mal vom Smartphone, während er fünf Schritte vorwärtsging, zwölf nach links durch die Glastüren und dreiundfünfzig nach rechts zu seinem Eckbüro. So hatte Chiyva es ihn gelehrt – fehlerlose Effizienz. So war Sean aus dem Gefängnis geflohen, so hatte er die Spitze der Gesellschaft erklommen, und so war er zu einem der führenden Genjix geworden.

Sean riss den Blick gerade lang genug vom Display los, um seiner Sekretärin zuzuzwinkern, die ihm einen Stapel Dokumente überreichte, ohne dass er auf dem weiteren Weg zu seinem Büro auch nur einmal langsamer wurde. Sie griff rasch nach ihrem Notizbuch und folgte ihm. Sean hasste ihre Gewohnheit, sich handschriftliche Notizen zu machen. Es war langsam, linkisch und ungenau. Meredith hatte im Gegensatz zum Rest der Welt nie den Übergang ins Computerzeitalter vollzogen. Aber ihre Erfahrung und Loyalität machten sie unverzichtbar. Es hätte Jahre in Anspruch genommen, eine neue Sekretärin anzulernen.

Außerdem wusste sie über die Genjix und die wahre Natur ihrer Mission Bescheid. Seans Vertrauen in sie war so groß, dass er es schlicht nicht riskieren konnte, sie zu ersetzen. Deswegen hatte er sich mit ihrem gemächlichen Tempo beim Diktieren abgefunden.

Er hängte sein Jackett auf, setzte sich auf den Bürostuhl und loggte sich in den Computer ein, während sie seinen Terminplan herunterratterte und ihn auf den neuesten Stand brachte.

»… und Ihr Termin um drei Uhr ist auf Dienstag verschoben worden«, sagte sie. »Nächste Woche hat Ihre Schwester Geburtstag. Ich habe bereits einen Blumenstrauß und eine Karte organisiert. Wollen Sie neue Winterreifen für sie bestellen? Es war ein brutaler Winter. Ihr Juniorpartner muss sich mit Ihnen treffen, um über die Sorgfaltspflicht bei der Burton-Fusion zu reden. Dafür habe ich am Mittwoch um zehn Uhr ein Zeitfenster geblockt. Um vierzehn Uhr haben Sie ein Meeting mit dem CEO von Engras Enterprise, um den Regierungsvertrag für militärische Ausrüstung zu besprechen. Und Devin Watson hat angerufen und darum gebeten, dass Sie sich bei ihm melden, sobald Sie eine ruhige Minute haben.«

Bei der Erwähnung von Devin hob Sean eine Augenbraue. Er legte sich seine Antworten genau zurecht, bevor er sich an Meredith wandte und diktierte. »Bitten Sie den CEO von Engras – Nick, nicht wahr? –, unser Meeting auf neunzehn Uhr zu verschieben, auf ein paar Drinks im Palmer House, und bestellen Sie eine Flasche von dem 93er Cheval Blanc, den er mag. Sehen Sie zu, dass Sie diesmal Runflat-Reifen bekommen und nicht diesen Schrott, den Sie vor zwei Jahren bestellt haben. Halten Sie mir außerdem den restlichen Nachmittag frei.« Er unterdrückte seinen aufkeimenden Ärger, als er sah, wie sehr sie sich bemühen musste, mit ihm Schritt zu halten.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte sie, als sie aufgeholt hatte.

»Eine Tasse Kaffee in einer Viertelstunde.« Und dann schickte er sie mit einer kurzen Handbewegung aus dem Zimmer.

Sean wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor er auf einen Knopf unter seinem Schreibtisch drückte. Ein tiefer, nachhallender Summton breitete sich im Raum aus. Die Schwingungen blockierten jegliches Abhörgerät, das auf sein Büro gerichtet sein mochte. Sean war zwar sicher, dass in der Firma keine Spione der Prophus arbeiteten, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Das Summen erreichte eine höhere Frequenz, bis er es schließlich gar nicht mehr wahrnahm. Zufrieden aktivierte Sean das Bildtelefon und rief Devin an. Nach dreimaligem Klingeln tauchte ein Gesicht auf dem Display auf.

»Bruder Sean. Chiyva.«

»Vater.«

Devin Watson war ein älterer Mann mit vollem weißen Haar und einem langen, gepflegten Bart. Sein Gesicht war wettergegerbt und vernarbt von Jahren der Kämpfe und Auseinandersetzungen, aber in seinen Augen leuchteten Weisheit und fanatische Ergebenheit. Er war der oberste Repräsentant des Rats der Genjix in der westlichen Hemisphäre und einer von Seans wenigen direkten Vorgesetzten. Sein Unsterblicher, Zoras, war ein dominanter Genjix, der einige der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Geschichte kontrolliert hatte. Und für die Genjix galt das als gleichbedeutend mit Rang und Autorität.

»Haben wir eine Antwort vom Bürgermeister erhalten?« Devin zündete sich eine Zigarre an und paffte.

»Ich fürchte, ja.« Sean beugte sich zum Bildschirm vor. »Er kann den Stadtrat nicht davon überzeugen, uns den Bau einer Offshoreplattform auf dem Lake Michigan zu gestatten, zumindest keine, die unseren Sicherheitsanforderungen entspräche. Er sagt, es würden zu viele Fragen gestellt und die Umweltschützer nähmen uns die Tarnung als Forschungseinrichtung nicht ab.«

Devin verzog das Gesicht und paffte weiter. »Das wird unsere Produktionsabläufe im Mittleren Westen stören. Bitte erinnere ihn daran, wer ihm zu seinem Amt verholfen hat.«

Schlag ihm die Alternative vor.

»Es gibt noch eine andere Lösung«, warf Sean ein. »Der Bürgermeister hat sich stets als treuer Freund erwiesen und sich für unsere Unterstützung erkenntlich gezeigt. Er hat uns ein Gebiet unmittelbar östlich von Northerly Island angeboten.«

Devin runzelte die Stirn, zog noch einmal an der Zigarre und wandte den Blick vom Bildschirm ab – vermutlich richtete er ihn auf eine Karte. »Unter Wasser?«

»Genau, Vater«, fuhr Sean fort. »Unsere Operationsbasis läge in Ufernähe etwa zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel. Man könnte die Anlage mittels unterirdischer Tunnel mit der Oberfläche verbinden. Lufteinsätze könnten nachts stattfinden, und der Bürgermeister hat mir versichert, dass wir keine Auditierung von der Kommunal- oder Staatsregierung benötigen. Also im Grunde alles, was wir wollen, nur nicht dort, wo wir es ursprünglich geplant hatten.«

»Und die Kosten?« Bei Devin ging es letzten Endes immer um die Kosten.

Sean rief eine Datei auf dem Rechner auf und überflog den Inhalt. Zufrieden drehte er sich in Richtung Kamera und lächelte. »Ich habe dir soeben einen Überblick geschickt. Die Kosten bewegen sich innerhalb der ursprünglichen Marge, vielleicht zwei oder drei Prozent höher wegen der Unterwasserbohrungen. Dafür sparen wir auf lange Sicht einiges ein, weil wir die Anlage nicht aufwendig vor der Öffentlichkeit verbergen müssen.«

»Exzellent. Ich werde mir die Zahlen ansehen und mich melden. Gute Arbeit, Sean. Ich rechne noch in dieser Woche mit einem Zeitplan für das Projekt. Stelle bitte sicher, dass die Basis in achtzehn Monaten bezugsfertig ist. Ich möchte so bald wie möglich mit der Massenproduktion beginnen.«

»Natürlich, Vater. Gibt es sonst noch etwas?«

Devin zog an seiner Zigarre. Der Rauch war so dicht, dass er den Bildschirm vernebelte. Sean fragte sich, ob der alte Mann versuchte, sich mit der ganzen Qualmerei umzubringen. Oder wollte sein Unsterblicher ihn etwa loswerden?

Keine frevlerischen Gedanken.

»Entschuldige, Chiyva, ich wollte nicht respektlos sein.«

»Ja, da ist noch etwas.« Devin beugte sich näher an das Display. »Wie sieht es mit dem Einbruch in das Rechenzentrum aus? Hat er uns geschadet?«

Sean zuckte die Schultern. »Sie wissen jetzt von dem Programm. Aber nicht, welchem Zweck es dient. Sie konnten nur in unsere Archive eindringen. Die gestohlenen Pläne stammen von einem inzwischen verworfenen Entwurf, einem Blindgänger, der sie bestimmt ein oder zwei Jahre lang beschäftigen wird. Wir haben das Gefäß von Yrrika an die Ewige See verloren und einen Überläufer gewonnen. Sie haben Edward Blair verloren.«

»Blair? Die Pläne müssen ihnen wichtig gewesen sein. Was ist mit Tao?«

»Ist geflohen, aber es gibt ein paar gute Hinweise auf sein neues Gefäß. Ich habe gleich ein Briefing mit dem Tötungskommando.«

Devin machte ein finsteres Gesicht. »Das sind zu viele Ressourcen, um sie auf ein neues Gefäß zu verschwenden. Du solltest deine Anstrengungen auf ein Klasse-A-Ziel konzentrieren, das in deinem Gebiet operativ tätig ist, etwa Haewon. Tao ist im Moment nicht so wichtig.«

»Chiyva will es so, ich gehorche«, gab Sean knapp zurück.

»Und gehorchen sollst du, Sean«, sagte Devin. »Aber lass dir nicht von Chiyvas Groll die Prioritäten diktieren.«

»Ich bin nur ein Instrument des Unsterblichen«, erwiderte Sean. »Haewons Spur ist inzwischen ohnehin kalt. Seit der Katrina-Vertuschung ist sie wie vom Erdboden verschluckt.«

»Haewon hat trotzdem Priorität, falls ihr Gefäß je in Erscheinung tritt, verstanden?«

»Natürlich, Vater. Ich werde das Tötungskommando anweisen, beide zu jagen.«

»Wer führt es an?«

»Der ehemalige Prophus.«

Devin nickte. »Du hast ihn in deinem letzten Bericht erwähnt. Hat Jeos Gefäß uns etwas über das Netzwerk der Prophus verraten?«

»Weniger, als wir uns erhofft hatten. Er war nicht in die höheren Sicherheitssysteme eingeweiht. Jeo war jedoch am Entwurf etlicher älterer Netzwerke beteiligt. Wir arbeiten daran, die Daten aufzubereiten.«

»Gut, gut. Halte mich auf dem Laufenden.«

Sean starrte noch auf den Bildschirm, nachdem er längst schwarz geworden war. Ganz gleich, was Devin auch sagte, Sean wusste, wo Chiyvas Prioritäten lagen. Sein Unsterblicher hatte das nur allzu deutlich gemacht. Es würde nicht leicht sein, Taos neuen Wirt aufzuspüren. Die Prophus achteten diesbezüglich auf Diskretion. Wahrscheinlich war er längst untergetaucht, wie die anderen auch. Seit bei ihrem letzten größeren Konflikt in Brasilien die von den Prophus gestützte Regierungspartei gefallen war, befanden sie sich in der Defensive. Die Schlinge um ihren Hals zog sich immer enger zu, während sie Gefecht um Gefecht verloren. Sie arbeiteten inzwischen noch verdeckter als früher.

Nun, der Abtrünnige würde die Chancen der Genjix weiter verbessern. Es war beinahe ein halbes Jahrhundert her, dass es einen Überläufer gegeben hatte, deshalb handelte es sich um eine seltene Gelegenheit, das Know-how von jemandem zu nutzen, der mit den Abläufen im inneren Kreis der Prophus vertraut war.

»Ich warte nur darauf, dass du den Kopf hinausstreckst, kleiner Hase …«, sagte Sean, während er mit den Fingern auf die Schreibtischplatte trommelte. »Wir haben eine Schlinge für dich ausgelegt.« Er drückte auf den Knopf seiner Sprechanlage. »Meredith, ist mein Zehn-Uhr-Termin schon da?«

»Ja, Sean. Er wartet bereits auf Sie.«

»Schicken Sie ihn rein.«

Marc betrat das Büro und nahm auf dem Stuhl gegenüber von Sean Platz. Mit seinem braunen Golfshirt und den abgetragenen Jeans wirkte er, als sei er gerade erst aufgestanden. Sean bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick und tippte auf seiner Tastatur herum. Er ließ sich Zeit, bis er das Wort er- griff: »Ich nehme an, deine neue Unterkunft ist zufriedenstellend?«

Marc zuckte die Schultern. »Ist ein verdammtes Stück besser als das, was ich vorher hatte.«

»Und das Gehalt ist angemessen?«

Marc nickte.