The Woods 1. Die vergessene Anstalt - Nova Hill - E-Book
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The Woods 1. Die vergessene Anstalt E-Book

Nova Hill

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Beschreibung

Alle Wege führen zurück zu ihr Ein Zwillingspaar. Einst waren sie Ivana. Heute haben sich Ira und Vanjo auseinandergelebt. Eine verlassene Lungenheilanstalt. Seit Jahren lebt hier niemand mehr. Denken sie. Zwei Gruppen. Im Wald treffen sie aufeinander. Keiner kennt den anderen wirklich. Aufkeimende Gefühle. Ist es möglich, im absoluten Finster sein Herz zu verlieren? Keuchen in der Nacht. Es nähert sich. Ein Ort. Ein Geheimnis. Kein Entkommen. Band 1 der hochspannenden Mystery-Reihe

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Über dieses Buch

Alle Wege führen zurück zu ihr

Ein Zwillingspaar. Einst waren sie Ivana.

Heute haben sich Ira und Vanjo auseinandergelebt.

Eine verlassene Lungenheilanstalt.

Seit Jahren lebt hier niemand mehr. Denken sie.

Zwei Gruppen. Im Wald treffen sie aufeinander.

Keiner kennt den anderen wirklich.

Aufkeimende Gefühle. Ist es möglich, im absoluten Finster sein Herz zu verlieren?

Keuchen in der Nacht. Es nähert sich.

Ein Ort.

Ein Geheimnis.

Kein Entkommen.

 

Band 1 der hochspannenden Mystery-Reihe

In den Wald bin ich geflüchtet,

Ein zu Tod gehetztes Wild,

Da die letzte Glut der Sonne

Längs den glatten Stämmen quillt.

 

Keuchend lieg’ ich. Mir zu Seiten

Blutet, siehe, Moos und Stein –

Strömt das Blut aus meinen Wunden?

Oder ist’s der Abendschein?

 

Conrad Ferdinand Meyer, Abendrot im Walde

Episode 1

Die Lungenheilanstalt

Ira

Wir stehen auf der Kreuzung.

Die Straßenlaterne wirft einen Lichtkegel in Vanjos harte, unerschütterliche Augen. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt, die Abenddämmerung lauert über unseren Köpfen.

»Du hast keinen Bock, gib es einfach zu!«, sage ich und lasse die schwere Sporttasche von meinen Schultern rutschen. Sie knallt auf den Asphalt.

»Es ist ein Turnier von vielen, sei nicht so dramatisch«, erwidert er genervt.

Das Handy in meiner Jackentasche vibriert unaufhörlich, mein Trainer fragt sich sicher schon, wo ich bleibe. Die Turnhalle befindet sich hinter meinem Rücken, ein grauer Klotz, der aus dem Boden ragt. Der muffige Umkleidegeruch drängt sich mir bereits in die Nase.

»Du sollst mir doch auch nur zuschauen, mich ein bisschen anfeuern, mehr nicht.« Ich blicke Vanjo flehend an, versuche, etwas von dieser Lücke zwischen uns zu schließen. Ich habe so hart für diesen Wettkampf trainiert, ich brauche Vanjo, um diese Medaille zu gewinnen. Ich muss einfach wissen, dass er irgendwo zwischen den angespannten Gesichtern auf der Tribüne sitzt. Nur da ist. Einen Ruhepol bildet.

Vanjo seufzt, seine Züge bleiben unverändert, während mein Herz zu rasen beginnt. Komm schon, bitte.

Ohne ihn wird die Halle schwanken wie ein großes Schiff, das weiß ich. Wie soll ich mich da fokussieren? Meine Hände werden so schwitzig sein, dass ich bei der letzten Umdrehung am Barren abrutsche. Das ist die schwierigste Stelle in der Kür. Ich werde fallen, ich –

Vanjo bemüht sich um eine weichere Stimme, obwohl ich genau heraushöre, wie angepisst er ist. »Nur weil wir Zwillinge sind, heißt das nicht, dass wir immer auch die gleichen Sachen mögen müssen.«

Ich zittere, und der Kloß in meinem Hals schwillt weiter an. »Du hast das Turnen geliebt.«

»Richtig. Ich hab es geliebt.«

Das sitzt.

Für einen Moment ist es still, der Wind reißt am Kragen meiner Trainingsjacke. Die Laterne sirrt. Wir stehen immer noch vor der Halle, ich bin ohnehin schon viel zu spät dran.

»Ira …« Er kommt einen Schritt auf mich zu, doch ich zucke zurück, als hätte mich ein giftiges Tier gebissen.

»Spar dir deine Entschuldigung«, sage ich und hasse mich dafür, dass meine Stimme dabei so weinerlich klingt. Aber wenn es um Sachen mit Vanjo geht, bin ich manchmal komisch.

Ich drehe mich von ihm weg, beiße fest die Zähne zusammen. »Geh einfach nach Hause! Ich hoffe, ich mache den letzten Platz.«

»Grrr, du machst mich wahnsinnig!« Er schnappt sich meine Sporttasche, wirft sie sich schwungvoll über die Schultern und überquert die Straße zur Turnhalle. »Dann guck ich halt zu!«

Ich haste hinterher, könnte es nun dabei belassen, einfach mit ihm reingehen und froh sein, dass er nachgegeben hat. Aber fühlt sich das richtig an?

Ich halte inne.

»Nein«, schniefe ich. »So will ich dich auch nicht dabeihaben. Du interessierst dich doch überhaupt nicht mehr für irgendwas, das ich tue.«

Vanjo fasst sich an die Stirn. »Okay, das wird mir jetzt eindeutig zu blöd.« Und wieder plumpst die Sporttasche auf den Boden, diesmal noch lauter als vorher. »Jedes Mal dieses Scheißdrama. Sei doch froh, dass ich dich wenigstens noch herbegleite. Zur Hölle, Ira! Mach endlich mal was allein!« Sein versteinertes Gesicht hat sich aufgelöst, spiegelt nun all seinen Frust wider.

»Du Arsch!«, brülle ich. »Hau ab, wie du es eh vorhattest!«

Und das ist sein Startzeichen. Vanjo winkt noch einmal genervt ab, so als wolle er sagen, bringt doch eh alles nichts, dann wirbelt er herum.

Wind bläst ihm durchs Haar, er trägt die dunkelgrüne Bomberjacke, die wir zusammen ausgesucht haben, und alles, was ich fühle, ist Wut. Ich balle die Hände so fest zu Fäusten, dass es schmerzt.

Er läuft auf die Kreuzung, steht auf einem dicken X. Vier Wege führen von ihm weg.

Da rauscht ein Auto von rechts heran, kurz bevor Vanjo die weiße durchzogene Linie erreicht hat. Ich kreische.

Bremsen quietschen. Ein ohrenbetäubender Aufprall. Vanjo wird zu Boden geschleudert. Scherben klirren. Blut fließt.

Dann ist es schlagartig wieder still.

Nur die Laterne hinter meinem Rücken sirrt weiter durch die zunehmende Dunkelheit.

Und auf der Straße liegt mein toter Zwillingsbruder.

Tag 0, 9:15 Uhr, zu Hause.

Ich reiße die Augen auf. VANJO!

Der Schrei erstickt in meiner Kehle. Ich spüre den schnellen Herzschlag im ganzen Körper, schnappe nach Luft. Vanjo!

Und obwohl sich alles in mir überschlägt, siegt jetzt die Erleichterung. Ich bin in meinem Zimmer, in meinem Bett. Nur ein Traum. Es war nur ein Traum.

Ich wische mir mit dem Handrücken über das verschwitzte Gesicht, selbst das Laken ist feucht. Ich muss es mir immer wieder sagen. Nur ein Traum. So lange, bis es auch echt ist.

Denn ich erinnere mich an jenen Abend vor der Turnhalle. Zwei Jahre oder länger ist es her. Wir waren wirklich dort. Vanjo und ich. Wir haben wirklich gestritten. Allerdings ist er damals mit mir reingegangen und hat beim Wettkampf zugesehen. Ein letztes Mal.

Ich sinke erschöpft ins Kissen zurück und starre nachdenklich auf das Mandala-Tuch an meiner Decke. Ein paar Worte, ein paar Entscheidungen, eine Kreuzung. Alles kann sich ändern – überall und jederzeit.

Schluss mit solchen Gedanken. Ich schüttle all das von mir und stehe auf.

Schwindel überfällt mich, aber nach ein paar Schritten schärft sich meine Sicht. Dennoch trage ich etwas von der Traumstimmung mit in den Tag.

Schon vor dem großen Streit bei der Turnhalle hatte sich etwas zwischen uns verändert. Heute müsste ich Vanjo sowieso nicht mehr fragen, ob er mit zum Turnier kommt. Stattdessen hängt er bei irgendwelchen Kumpels ab, kifft oder macht so Draufgängersachen. Warum er das Turnen aufgegeben hat, hat er mir bis heute nicht erzählt.

Kurz ins Bad, Zähne putzen, anziehen, Haare bürsten und ein bisschen Tusche auf die Wimpern. Ich werfe einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Man sagt, Vanjo und ich hätten dieselben Augen. Braun mit orangen Sprengseln.

Dann geht es runter in die Küche, die Stufen knarzen an den bekannten Stellen, und von unten scheint die Sonne her, das Licht tut mir in den Augen weh. Aber ich mag diese Morgenstimmung, die es macht. Die Sonnenstrahlen spiegeln sich in den Scheiben der Küchenschränke, es duftet nach Frühstück, und Mama hat die Fußbodenheizung aufgedreht, kurz bevor sie aus dem Haus ist, weil sie weiß, dass wieder irgendeiner barfuß rumrennt. Papa schläft wohl noch tief und fest, er hatte Nachtschicht in der Fabrik.

Die Küchenuhr tickt, der Kühlschrank summt leise. Und ich weiß, unter Tausenden summenden Kühlschränken würde ich unseren immer heraushören. Wäre er ein Mensch, dann vermutlich ein knuffiger, griesgrämiger alter Herr.

Vanjo sitzt bereits am Tisch und futtert seine Cornflakes. Schokochips gemischt mit den bunten Ringen, am besten so, dass sich die Milch dabei verfärbt. Ich schmunzle – wie ihm das einfach nie zu blöd wird.

»Hey, Zwilling«, begrüßt er mich mit vollem Mund.

»Morgen«, sage ich, fülle mir etwas Orangensaft in ein Glas und schmiere mir ein Marmeladenbrot.

Ich ziehe den Stuhl heran. Eine Weile sitzen wir schweigend am Tisch. Das Krachen in seinem Mund erfüllt den Raum. Ich könnte mich so amüsieren über dieses Geräusch.

»Was lachst du?«, fragt Vanjo, schluckt runter und sieht von seiner Schüssel auf.

Seine Augen sind noch geschwollen vom Schlaf, und die braunen Haare fallen ihm verwuschelt in die Stirn, ganz ohne Gel darin. Sein Gammelshirt hängt ihm etwas schief über der Schulter. Der Aufdruck mit dem stinkefingerzeigenden Bart Simpson ist vom vielen Waschen schon ein wenig abgeblättert. So mag ich meinen Bruder. Da ist er für mich der Zuhause-Vanjo. Nicht der Schule-Vanjo.

»Hab ich was im Gesicht?« Er wischt sich irritiert mit der Hand übers Kinn.

»Nein, alles gut«, sage ich. »Es hat sich nur witzig angehört, wie du kaust.«

Er runzelt die Stirn. »Du bist ja komisch drauf heut Morgen«, sagt er, und ich kann dabei beobachten, wie die bunt zerkaute Cornflakesmasse von der einen Backe in die andere fliegt. Er wirft einen kurzen Blick auf sein Handy, das neben der Müslischüssel auf dem Tisch liegt. »Hat Marius dir schon geschrieben? Weißt du, ob wir ihn abholen sollen?«

»Wir treffen uns am Parkplatz mit den anderen Projektgruppen.«

»Okay«, sagt Vanjo knapp und schiebt das Handy von sich. Schweigen setzt wieder ein, ich sehe an seinem Kopf vorbei aus dem Fenster.

Der Ahornbaum vor unserem Haus hat bereits einige Blätter abgeworfen, die einen herbstlichen Teppich auf der Wiese bilden. Rot und gelb verfärbt, so gefallen sie mir am besten. Wenn der Wind die Zweige oben im Wipfel bewegt, kreiert die Sonne ihr ganz eigenes Lichtspiel, wirft flimmernde Muster durch die Scheiben.

Seit ich mit Vanjos bestem Kumpel Marius zusammen bin, ist vieles anders. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob das wirklich nur an der Sache mit Marius liegt oder noch an etwas anderem.

Es gab da diesen Bruch zwischen uns. Wir sind nicht mehr Ivana. Ivan und Irina wie früher. Die Zwillinge gegen den Rest der Welt.

Plötzlich macht jeder sein eigenes Ding. Wir werden sogar schon getrennt auf Geburtstage eingeladen. Es kommt auch vor, dass wir getrennt voneinander zum Unterricht erscheinen, obwohl wir natürlich denselben Schulweg haben. Was macht es dann noch aus, dass Marius und ich ein Paar sind?

Ich schiebe mir das letzte Stück Marmeladenbrot in den Mund. Kaue, schlucke.

»Soll ich uns ein paar Stullen einpacken? Wer weiß, wie lange dieses Projekt heute geht«, frage ich.

»Ja. Danke. Aber ohne –«

»Butter. Ich weiß«, vollende ich Vanjos Satz. Und irgendwie macht es mich wehmütig. Nicht die Sache mit der Butter – so war er schon immer, das meint er auch nicht so –, sondern die Gesamtsituation. Keiner tut etwas, damit wir wieder Ivana werden.

Nachdem wir beide unsere Rucksäcke gepackt haben, steigen wir draußen auf die Fahrräder. Ich mache den Reißverschluss meiner Daunenjacke zu. Für Oktober könnte es durchaus kälter sein, aber der Fahrtwind wird eisig. Bevor Vanjo in die Pedale tritt, sieht er mich noch mal über die Schulter an. »Ich bin froh, dass wir das Projekt zusammen machen, auch wenn ich von dir und Marius genervt sein werde.« Er grinst schief.

Ich lege den Kopf schräg und sehe ihn an. »Dito.«

Dann schaut er wieder nach vorn und radelt auf die Straße. Die schwarzen Streifen an den Ärmeln von Vanjos grüner Bomberjacke sind über die Zeit verblichen. Mein Herz geht dumpf und drückt fest gegen meinen Brustkorb. Ich höre das Sirren der Laterne, und auf einmal wird es dunkel. Die Kreuzung, der Aufprall. Ich höre mich in meinem Kopf schreien.

Aber dann hole ich wieder Luft.

Es war doch nur ein Traum.

Tag 0, 9:45 Uhr, Winkenburg, Siedlung.

Obwohl ich fitter sein müsste als Vanjo, weil ich immer noch regelmäßig trainiere und auf Wettkämpfe gehe, komme ich ihm kaum hinterher. Er radelt mit einer solchen Leichtigkeit, selbst als es den steilen Hang hinaufgeht. Aber so war das schon immer: Ich muss mir die Dinge hart erkämpfen, Vanjo sind sie irgendwie in die Wiege gelegt worden.

Die vertrauten Häuser der Stadt ziehen an uns vorbei. Der alte Spielwarenladen, der Drogeriemarkt und der Kiosk, bei dem wir uns als Kinder die sauren Gummischlangen gekauft haben. In Winkenburg haben sich auch unsere Eltern kennengelernt. Papa wurde zuerst nur als Zeitarbeiter aus Russland nach Deutschland geschickt, dann traf er Mama. Sie haben recht früh geheiratet, wahrscheinlich auch, weil das Ganze mit der Aufenthaltsgenehmigung dann etwas unkomplizierter war, auch wenn sie das nie zugeben würden. Sie bauten das Haus in der Mohnfelderstraße, in dem Vanjo und ich aufgewachsen sind und wo wir heute noch leben. Ich trete fester in die Pedale. Fünfzehn Minuten später haben wir die Siedlung hinter uns gelassen und sind am Waldrand, dem Treffpunkt für unser heutiges Biologieprojekt.

Marius wird von seinem großen Bruder gefahren, da er erst vor zwei Monaten ein Messer in den Bauch bekommen hat. Ein anonymer Angreifer auf der Straße. In mir zieht sich alles zusammen, wenn ich an den Abend zurückdenke. An all das Blut und Marius’ Anblick. Ich hatte mich gerade ins Bett gelegt. Als die Nachricht kam, bin ich in Tränen ausgebrochen. Vanjo hingegen war außer sich – mehr wütend als erschrocken.

Ich krampfe die Hände um meinen Fahrradlenker, bis die Knöchel weiß hervortreten. Es war ein merkwürdiger Vorfall. Warum sollte es jemand auf Marius abgesehen haben?

Am Parkplatz steht die übliche Begrüßungszeremonie an. Als Erstes kommt Marius auf mich zu. Er ist immer noch braun gebrannt vom Sommerurlaub, wodurch seine Augen heller wirken. Die Cap sitzt lässig auf seinem Lockenkopf und passt perfekt zu seiner tief sitzenden Jeans. Ein kurzes Kribbeln steigt in mir auf, als er mir einen Kuss auf den Mund drückt. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie Vanjo verunsichert in eine andere Richtung schaut. Normalerweise wäre unsere Begrüßung länger ausgefallen, aber nicht hier vor all den anderen.

Als wir uns voneinander lösen, geben sich Marius und Vanjo ihren üblichen Handshake. Ich hoffe, Vanjo zieht hauptsächlich so ein Gesicht, weil er keinen Bock auf dieses Schulprojekt hat. Ich seufze leise.

Nachdem sich auch die üblichen Zuspätkommer auf dem Parkplatz zusammengefunden haben, steigt der Leiter des Projekts mit den Füßen auf die Bordsteinkante, sodass er die rund fünfzehn Leute sehen kann, die alle aus unserer Elften sind. Das Stimmengewirr verebbt.

»Ich bin Mark, für die, die meinen Namen vergessen haben.« Er setzt ein bemüht freundliches Lächeln auf. »Cool, dass jetzt doch so viele bei meinem Projekt mitmachen. Auch wenn mir klar ist, dass viele nur keine Klausur schreiben wollen. Aber nehmt die Sache ernst! Ich will am Ende nicht irgendeinen stumpfen Bericht darüber lesen, wie ihr durch den Wald spaziert seid. Oder Abschnitte, die ihr aus Wikipedia herauskopiert habt. Das hier wird für mich ein Modulabschluss an der Uni, also wäre es ganz nett, wenn ihr mich nicht hängen lasst.«

Mark macht sich gut. Er fällt auf. Nicht nur, weil er älter ist. Generell wirkt er sich seiner selbst so sicher. Mit den schwarzen, etwas längeren Haaren, dem symmetrischen Gesicht und dem tief vibrierenden Klang seiner Stimme. Er wirkt so unangepasst, und für einen Moment bin ich neidisch darauf, dass er die Schulzeit bereits hinter sich hat. Sein Blick ist wacher als der der anderen, das bemerke ich vor allem, als er über die Kursteilnehmer wandert und dann bei mir stoppt.

Mark holt Luft, redet verzögert weiter. »Jeder von euch soll verstehen, worum es hier geht. Ich will, dass ihr die Pflanzen genau beobachtet. Sie besitzen ihre ganz eigene Intelligenz. Forscher glauben, dass die Wurzeln der Pflanzen ein riesiges, erdumspannendes Kommunikationsnetz bilden. Auch über der Erde können sie weit mehr, als man vermutet: Bäume können Duftstoffe aussenden, um andere Bäume vor Gefahren zu warnen. Und ich wette, ihr findet noch mehr Hinweise darauf, wie der Wald kommuniziert. Je tiefer ihr hineingeht, desto mehr wird sich das für euch erschließen. Erstellt ein Protokoll davon.«

Aber das ist es noch nicht ganz. Er ist kein üblicher zwanzigjähriger Biologiestudent, der seinen Modulabschluss machen will. Dieses Projekt liegt ihm wirklich am Herzen. Wahrscheinlich war er früher einer von diesen Jungs, die in der Pause alleine ihr Brot gegessen haben und die in der neunten Klasse noch die Klamotten trugen, die in der fünften modisch gewesen waren, weil seine Mutter es nicht besser wusste. Er war einer von denen, die im Sportunterricht als Letzter in die Mannschaft gewählt wurden. Aber das macht ihm heute nichts mehr. Er wusste nur damals noch nichts von seinem Potenzial und der Dummheit der anderen.

»Ira.«

»Hm?«

Marius tippt mir gegen die Schulter. »Hast du Block und Stifte eingepackt?«

Es dauert einen Moment, bis seine Worte bei mir ankommen.

»Ja«, flüstere ich ein bisschen genervt. War klar, dass er sie vergessen hat beziehungsweise sich wohl darauf verlassen hat, dass ich sie dabeihabe.

Ich konzentriere mich nun wieder auf das Geschehen.

»Schon wieder im Strebermodus?«, fragt Marius und wirft einen Blick zu dem Studenten.

»Ich höre zu, damit ich später deine Fragen beantworten kann«, stichle ich zurück.

»Klingt eher so, als hättest du noch nicht verdaut, dass du gestern bei Tekken verloren hast.« Marius hat immer diesen Unterton, wenn wir uns gegenseitig necken. So etwas leicht Herrschsüchtiges. Eigentlich mag ich das, aber seit der Messerattacke sind seine Bemerkungen oft etwas drüber.

Erste Schülergruppen werden jetzt losgeschickt. Mark reicht ihnen vorher eine Karte und beschreibt kurz, worauf sie zu achten haben. Gleich sind wir an der Reihe.

Ich richte meine Haare, verlagere mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Manchmal hatte ich Angst, ich könnte auch eine von den Schülerinnen sein, die alleine am Tisch sitzen oder als Letzte in die Mannschaft gewählt werden. Aber ich hatte zum Glück Vanjo. Er hat mich wohl davor bewahrt.

Ich schiele zu ihm rüber, irgendetwas auf seinem Handy scheint interessanter zu sein. Was soll’s. Das Projekt wird so oder so größtenteils an mir hängen bleiben.

»Okay.« Mark kommt zielstrebig auf uns zu. Mit ungefähr einem Meter Abstand bleibt er vor uns stehen, geht mit dem Finger seine Teilnehmerliste durch. Erst jetzt bemerke ich, wie groß er ist. Er überragt sogar Marius um ein paar Zentimeter.

»Dann müsst ihr Ivan und Irina Nowikow und Marius Pohl sein, richtig?« Er sieht wieder von seinem Zettel auf. Seine Augen sind eisblau.

Vanjo nickt, steckt immerhin sein Handy höflicherweise in die Hosentasche.

»Ja«, sage ich.

Mark faltet das Papier unbeeindruckt wieder zusammen. »Dann sind wir vollzählig. Und auch für euch gilt: GPS und die Zeit im Blick haben. Wir treffen uns spätestens gegen vierzehn Uhr wieder auf dem Parkplatz. Falls ihr Hilfe braucht, probiert, mich anzurufen. Meine Nummer steht auf dem Infoblatt. Es ist alles ausgeschildert. Außerdem –«, er kramt einen weiteren Zettel aus seinem Rucksack, »ist hier noch eine Kopie der Karte. Achtet gut auf die Linie, die ich markiert habe, das ist eure Route, sie ist durch die gelben Pfeile im Wald gekennzeichnet. Solange ihr euch nicht zu weit von diesem Pfad entfernt, kann nichts passieren. Wenn ihr es tut, landet ihr im Moor.«

Tag 0, 12:22 Uhr, Wald am Stadtrand.

Das Blätterdach hat sich über unseren Köpfen verdichtet und uns in Schatten gehüllt. Kaum ein Sonnenstrahl passt mehr hindurch. Wir sind bereits tief in den Wald vorgedrungen. Ich fröstle nun etwas, obwohl ich unter meiner Daunenjacke noch einen Pulli und ein T-Shirt anhabe. Zwiebelprinzip, höre ich Mamas Stimme im Kopf.

Wir müssen jetzt genau aufpassen, wo wir hintreten, der Pfad wird abenteuerlicher. Ich wäre vorhin beinahe über eine herausragende Wurzel gestolpert, und Vanjos Haar hat sich in den Zweigen einer kleinen Buche verfangen. Aber dafür mag ich die Luft im Wald, so unbenutzt, ganz vom Menschen in Ruhe gelassen. Jetzt kann das Projekt für mich erst richtig beginnen.

Vanjo stapft ungeduldig voran, irgendwie in der Hoffnung, es gäbe eine Ziellinie, die wir überqueren müssen. Ich versuche hektisch, ein paar Notizen und hin und wieder ein Foto zu machen, und Marius bildet den Schluss unseres Dreiergespanns. »So ein Bullshit, bald erzählt dieser Mark uns noch davon, dass Bäume sprechen können.« Er schüttelt den Kopf. »Was machen wir hier eigentlich?«

»Hast du nicht zugehört?«, frage ich. »Manche nennen es auch das ›wood wide web‹. Es gibt ein unterirdisches System von Pilzfäden, das für jeden Baum existiert, und das ist vielleicht sogar über die ganze Erde verteilt, ein riesiges Kommunikationssystem für Pflanzen. Danach sollen wir suchen.«

»Du bist ja schon sweet, wenn du so schlaue Sachen sagst«, meint Marius und grinst mich unter seiner Cap hervor an. Ich tippe den Schirm nach unten, sodass ihm die Mütze beinahe vom Kopf rutscht. Als wir letzten Frühling zusammengekommen sind, hat er mir erzählt, dass ihn das besonders verrückt macht.

Ich zupfe an Vanjos Ärmel. »Wie hast du es nur geschafft, fünf Jahre in der Schule neben ihm zu sitzen?«

Vanjo zuckt teilnahmslos mit den Schultern.

Eine Weile ist nur das raschelnde Laub unter unseren Schuhen zu hören, hin und wieder das Knacken von Ästen. Ich würde gerne Marius’ Hand nehmen. Gleichzeitig will ich Vanjo nicht ständig demonstrieren, dass seine Schwester mit seinem besten Freund zusammen ist.

»Dieser Biologiestudent ist schon ein Nerd. Wer sucht sich denn so ein Projekt aus? Hätten wir nicht Tiere sezieren können?«, fragt Marius.

»Wieso denn?«, frage ich. »Er hat eben etwas, wofür er brennt.«

»Und ich etwa nicht?« Marius deutet mit beiden Daumen auf sich.

»Nicht wirklich«, sage ich. Fußball und seine PS4 vielleicht, denke ich mir, aber wage nicht, es laut auszusprechen.

»Dieser Mark findet das alles nur ein bisschen magic, will was sehen, wo eigentlich gar nichts ist. Macht einen auf geheimnisvollen Wald-Guru.«

Ich warte, ob Vanjo etwas sagt, doch er läuft einfach weiter schweigend vor sich hin, die Hände in die Jackentaschen gesteckt, und hat offensichtlich kein Interesse, sich an unserer Unterhaltung zu beteiligen. Ich weiß, dass unsere Dreierkonstellation nicht die einfachste ist, aber ein kleiner Kommentar würde ja schon genügen.

»Wenn du zugehört hättest, wüsstest du, dass du falschliegst«, sage ich schließlich zu Marius.

»Verteidigst du ihn gerade?«

»Ich verteidige ihn nicht, ich ärgere mich nur darüber, dass du immer an allem rumnörgeln musst.«

»Du findest ihn gut?« Marius bleibt plötzlich stehen. Auch ich halte an.

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Wolltest du aber!«

»Nein.«

»Oh doch«, sagt er. »Deswegen hast du dich auch so auf dieses Projekt gefreut.«

»Ich habe mich auf dieses Projekt gefreut, weil Bio mein Lieblingskurs ist.«

Marius stößt ungläubig Luft aus der Nase. »Ach, komm schon, Ira. Gib’s einfach zu!«

»Was soll das denn jetzt?«, frage ich aufgebracht.

»Ich bin eben nicht blind, außerdem hast du gestern erst gesagt –«

»Leute, ihr geht mir auf die Eier!«, mischt Vanjo sich nun endlich ein. »Könnt ihr euren Scheiß nicht irgendwann anders klären?«

»Er hat mich doch angegriffen.« Ich hebe abwehrend die Hände.

Vanjo greift sich an die Stirn. »Oh Mann, wo sind wir denn?«

»Ach, egal. Ich hab eh keinen Bock mehr«, sagt Marius und zieht sich die Cap kapitulierend vom Kopf. Seine blonden Locken darunter sind ganz platt gedrückt.

»Willst du etwa gehen?«, frage ich.

»Ja!«, mault er. »Und meine Rippen tun von der Scheißverletzung sowieso weh.«

»Ich dachte, es wäre besser geworden?«, frage ich besorgt.

»Na und, es tut eben weh!«

»Jetzt bleib doch.« Ich gehe auf ihn zu, halte ihn am Arm fest.

Marius schüttelt den Kopf. »Macht da lieber so ein Zwillingsding draus, ich bin raus.« Er macht sich von mir los und geht weiter. Ich lasse die Schultern hängen. Ich weiß, dass es sinnlos wäre, ihn überreden zu wollen. Wenn Marius einmal einen Entschluss gefasst hat, ist er davon auch nicht mehr abzubringen.

»Und übrigens habe ich etwas, wofür ich brenne!«, sagt er nach einigen Schritten und dreht sich noch mal um.

»Was?«, frage ich, aufgebracht darüber, dass er hier so eine Szene machen muss. Er kann manchmal so eine Dramaqueen sein.

»Dich«, sagt er und zwinkert.

Es versetzt mir einen Stich. War ich zu fies?

Da verschwindet er schon hinter dem nächsten Baum. Es dauert nicht lange, dann hat ihn der Wald ganz verschluckt.

Meine Kehle schnürt sich zu. Warum sagt er mir solche Dinge nur so selten?

Kurz warten Vanjo und ich ab, lauschen, wie der Wind ein paar verwelkte Blätter dicht über dem Waldboden tänzeln lässt, dann drehe ich mich zu ihm. »Du kannst das doch sicher nachvollziehen, dass Marius manchmal –«

Vanjo hebt die Brauen und unterbricht mich. »Willst du jetzt etwa wirklich mit mir über deine Beziehungsprobleme reden? Oder dein Gewissen beruhigen?«

Ich hole Luft, bereit zum Gegenargument, und lasse es dann doch sein. Vanjo winkt ab und läuft weiter, und mit jedem Schritt fühle ich mich mieser. Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen, Marius habe ich vertrieben, und einfühlsam gegenüber Vanjo war ich auch nicht unbedingt. Schließlich bin ich diejenige, wegen der Marius viel weniger mit Vanjo rumhängt.

Und trotzdem hätte Vanjo früher ohne Wenn und Aber zu mir gehalten. Selbst wenn ich im Unrecht war und er das wusste, konnte er meinen Standpunkt nachvollziehen. Ich muss an eine Trainingsstunde zurückdenken. Heute schäme ich mich dafür, aber damals war ich einfach impulsiv. Ich sollte Sophia eine Hilfestellung beim Handstand geben, kurz nachdem sie etwas Gemeines zu mir gesagt hatte. Ich war so sauer, dass ich sie auf die Matte plumpsen ließ. Sie hat sofort den Trainer gerufen und gepetzt, ich hätte das mit Absicht getan. Ich habe versucht, es abzustreiten, aber unser Trainer hat mir nicht geglaubt, erst als Vanjo ihn davon überzeugte. Er habe das genau beobachtet, es war ein dummer Unfall, mehr nicht. Vanjo hat mir den Arsch gerettet. Er hat mich verteidigt. Bedingungslos.

»Ey, sieh mal da!«, sagt er plötzlich und reißt mich aus meiner Erinnerung. Ich folge mit dem Blick seinem Zeigefinger. Am Wegesrand steht ein ungewöhnlicher Baum.

»Er sieht krank aus«, sage ich.

»Irgendwie schon, lass näher ran.«

Wir ducken uns unter tief hängenden Ästen hindurch und steigen über stachliges Gebüsch, bis wir direkt davorstehen. Ich mache ein paar Fotos.

Die Pilze bilden eine spiralförmige Treppe am Stamm hinauf. Selbst die Bäume um ihn herum haben Flechten, als würde seine Krankheit die anderen anstecken. Wie bei den Menschen.

Vanjo runzelt die Stirn, eine Weile hat er einfach nur stumm beobachtet. »Glaubst du, der Baum spürt das? Denkst du, er kann leiden?« Er reißt den Blick von der Rinde los und sieht mich an. Es ist das erste Mal heute, dass ich mich Vanjo ein bisschen näher fühle.

»Ich weiß nicht«, sage ich. »Bäume haben ja keinen wirklichen Verstand. Nur den Körper, aber ob sie den ohne ein Bewusstsein spüren können?«

»Hm.« Vanjo sieht schnell auf seine Uhr am Handy, als wolle er eine Unsicherheit überspielen. »Schon halb eins. Fotos und Notizen haben wir genug. Wir sollten zurück, bis wir wieder am Parkplatz sind, dauert es ewig.« Er wirft einen nachdenklichen Blick auf die Karte. »Wobei … am besten folgen wir dem Pfad weiter geradeaus. Er verläuft in einem runden Bogen. Wir kommen also wieder am Parkplatz raus und sind schneller. Vielleicht sind wir sogar noch vor Marius da.«

Ich nicke. »Klingt gut, gehen wir.«

Wir lassen den besonderen Baum hinter uns und folgen weiter dem vorgetrampelten Pfad. Dem sogenannten Ritzentalpfad.

Es geht immer den gelben Pfeilen nach. Manchmal sind sie an kleinen Masten befestigt, die man in den Boden gerammt hat. Meist jedoch auf Sichthöhe an den Baumstämmen.

Es dauert fast zehn Minuten, bis endlich wieder ein Schild auftaucht. 6 km bis zur Innenstadt. Ich schürze skeptisch die Lippen.

»Das können doch niemals noch sechs Kilometer sein«, sage ich.

»Na ja.« Vanjo schaut auf seine Handyuhr und rechnet. »Wir sind über zwei Stunden unterwegs, könnte hinkommen.«

»Hm, na gut, knapp wird es trotzdem.«

»Wir laufen einfach ein bisschen schneller oder versuchen, Mark zu erreichen – ’ne Nachricht, dass wir uns etwas verspäten oder so. Stellenweise hatte ich sogar Empfang.«

»Okay.« Wir ziehen das Tempo an. Ich zähle das als Trainingseinheit, dann muss ich mich morgen nicht zum Joggen quälen.

Manchmal entdecke ich Radspuren auf dem Waldweg, vielleicht von Mountainbikes. So weit kann es also nicht mehr sein. Einmal kommen wir an einem sehr großen, umgefallenen Baum vorbei. Die Wurzel ist aus dem Erdreich gebrochen, hat keine Verbindung mehr zum Boden, zu Nährstoffen. Sie trocknet aus. Mit viel Fantasie sieht sie aus wie ein alter, zerfledderter Lederstiefel.

An den nächsten beiden Kreuzungen schicken uns die gelben Pfeile wieder nach links. Das kommt mir merkwürdig vor, denn der Pfad wird hier schmaler, so als wären hier nur wenige Wanderer und Spaziergänger unterwegs.

Aber wie will ich das auch beurteilen? Wir sind im Wald. Hier sieht alles irgendwie gleich aus. Doch dann führt der Weg weiter bergauf, und das ungute Gefühl in mir wird stärker.

Keuchend halte ich an, die Hände auf die Knie gestützt. »Vanjo?«

Er dreht sich zu mir um.

»Bist du dir sicher, dass wir richtig sind?«

»Es ist immer noch derselbe Pfad.«

»Aber vorher gab es doch auch nicht so steile Wege?«, hake ich nach.

»Kein Plan, du warst sowieso die meiste Zeit abgelenkt, weil du dich mit Marius gezankt hast.«

Ich verdrehe die Augen. »Ja, bestimmt.«

Wir gehen weiter. Kleine Dornensträucher am Wegesrand kratzen bis durch die Jeans an meinen Waden. Die Haut beginnt dort zu brennen. Auch mein Hals brennt und ist trocken.

Bestimmt eine halbe Stunde vergeht, bis wir wieder stoppen. Vanjo holt die Wasserflasche aus dem Rucksack, nimmt ein paar große Schlucke und hält sie dann mir entgegen. Sein Blick streift finster umher, scannt die Umgebung. »Also langsam bin ich mir auch nicht mehr sicher.«

Ich nehme ebenfalls ein paar Schlucke, wische mir mit dem Handrücken über den Mund und packe die Flasche wieder zurück in den Rucksack. »Wir hätten doch in der Ferne schon mal Autos hören müssen oder eine andere Gruppe treffen. Hier müssten doch irgendwelche Stadtgeräusche sein«, sage ich aufgewühlt, spüre, wie die ganze Unruhe, die sich in mir aufgestaut hat, jetzt in meinen Worten herausbricht. »Aber ich bin mir ganz sicher, dass Mark von den gelben Pfeilen geredet hat!«

»Chill, das sind auch die richtigen«, sagt Vanjo. »Ich hab ja extra noch mal auf die Karte geschaut. Es gibt einen Westwanderweg, der fast einmal quer durch das Bundesland geht. Darauf weisen die roten Pfeile an den Bäumen hin. Dann den örtlichen Wanderweg, den sogenannten Ritzentalpfad, der durch die kleinen gelben Pfeile gekennzeichnet ist und einfach nur einen langen Kreis zieht – unseren.«

»Wir sollten versuchen, jemanden zu erreichen, dieses Waldgebiet ist zu groß.« Ich ziehe das Handy aus meiner Hosentasche. Meine Hände sind ganz schwitzig. Der Bildschirm leuchtet hellblau im Schatten der Bäume. Keine mobilen Daten, kein einziger Strich Empfang. Nicht mal ein GPS-Signal.

»Verdammt, da geht gar nichts!«, fluche ich.

Vanjo tippt flink auf seinem Handy rum, versucht einen Anruf, doch die Verbindung bricht sofort wieder ab. »Keine Chance.«

Ich beiße mir nervös auf die Lippe. »Was jetzt?«

»Wir laufen einfach weiter und behalten unser GPS-Signal im Auge. Irgendwann müssen wir ja wieder am Parkplatz rauskommen.«

Wir holen noch mal den Zettel mit der Karte aus dem Rucksack, den Mark uns mitgegeben hat. Das Papier fühlt sich schon ganz durchweicht an.

Wir prüfen die markierte Route – zweimal, dreimal, viermal. Laut Karte haben wir alles richtig gemacht. Wie kann das sein?

Schließlich gehen wir weiter, doch diesmal dicht hintereinander, wenn der Pfad genug Platz bietet, nebeneinander. Und mit jedem Schritt bin ich mehr davon überzeugt, dass wir uns nicht nur ein bisschen, sondern gewaltig verlaufen haben.

Ich spüre meinen Herzschlag deutlicher als sonst. Kalter Schweiß rinnt an meinen Achseln entlang. Scheiße. Die Luft riecht modrig, und wir haben schon seit einer Weile keinen nächsten Pfeil gefunden. Meine Sneakers sind voller Dreck. Wo sind wir nur?

»Wir sollten umdrehen, ich habe das Gefühl, hier kommt kein Wegweiser mehr. Wir laufen nur weiter in die Irre, und du weißt ja, wie riesig dieses Waldgebiet ist«, sage ich atemlos.

Ich will mir nicht ausmalen, wie es ist, sich hier zu verirren. Selbst als Kind wurde dir das schon eingetrichtert. Wenn ich nur an Hänsel und Gretel denke. Jeder schlechte Horrorfilm beginnt so. Eden Lake, Wrong Turn, The Forest, The Ritual – oder noch schlimmer: Blair Witch Project.

Es schüttelt mich.

Als Vanjo sich umdreht, deutet er meinen Gesichtsausdruck sofort richtig.

»Ira, schieb keine Panik, es ist immer noch mitten am Tag. Lass nur noch ein kleines Stück weiter.« Er legt mir besänftigend eine Hand auf die Schulter.

»Na gut«, sage ich leise, strecke meine Glieder, dehne den Nacken, und dann wagen wir uns weiter vor.

Entspannen, Ira. Im echten Leben passiert so was nicht.

Tropfen finden vereinzelt einen Weg durch das Blätterdach. Ich werfe einen Blick nach oben. Der Himmel scheint sich im Laufe des Tages verdunkelt zu haben.

Ich schlinge die Arme fester um den Körper, konzentriere mich auf den schlammigen Untergrund. Plötzlich beginnt Vanjo zu schwanken, dann: ein schmatzendes Geräusch.

»Igitt!«, ruft er.

Mit etwas Schwung zieht er seinen Nike-Sneaker wieder aus dem Matschloch, in das er eben getreten ist. »Scheiße, guck mal da!«

Ich sehe über seine Schulter. Dort, hinter ein paar Bäumen, verliert sich der Pfad in einer kleinen Wasserfläche. Nicht größer als ein Zierteich im Garten – und ich vermute, auch nicht tiefer. Aber das Wasser darin sieht zäh aus, trüb. Auf der Oberfläche hat sich ein Ölfilm gebildet, und ein Ast ragt aus dem Wasser wie ein altes Knochengerüst, das sich dort seit Jahren zersetzt.

»Ist das …?«

»Moor«, beendet Vanjo meinen Satz. Das Wort hallt bedrohlich in meinem Inneren wider. Der Moorwald, verdammt.

Mark hat uns extra davor gewarnt. Wie sind wir nur hier gelandet?

Die Vegetation hat sich auch verändert. Es ist feucht, meine Haare haben sich zu kräuseln begonnen. Und überall ist matschiges Laub.

»Wir müssen doch den Pfeil verpasst haben. Mark meinte doch, dass wir nicht von der markierten Route abkommen sollen«, sage ich energisch. »Nicht in das Moorgebiet. Und jetzt guck, wo wir sind, Vanjo!« Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen. »Wie konnten wir das nicht merken?«

»Jetzt chill endlich mal!« Vanjo steuert auf mich zu, zieht mir die Hände wieder vom Kopf. »Wir drehen einfach wieder um.«

Aber ich weiß, dass das nicht so leicht wird. Und wenn er ehrlich wäre, weiß er das auch. Fakt ist, wir haben keinen blassen Schimmer, wo wir sind. Und wir sind ganz allein.

Wortlos kehren wir um, doch der Trampelpfad ist so schmal, dass er sich mehr und mehr in den knorrigen Büschen um ihn herum verliert. Irgendwann sieht für mich alles nur noch gleich aus.

Etwas im Unterholz knackt, nicht weit von uns. Ich bleibe augenblicklich stehen, sodass Vanjo beinahe in mich hineinläuft. »Was ist denn?«

»Hat sich angehört, als wäre da jemand«, flüstere ich.

»Ey, werd’ mal nicht paranoid jetzt«, sagt er, immer noch in normaler Lautstärke, doch dann höre ich wieder etwas knacken. Schritte! Mein Puls rast. Da kommt jemand auf uns zu.

»Hallo?«, rufe ich.

Es raschelt dicht neben uns, und auch Vanjo hält jetzt den Atem an.

Ein Gesicht schält sich aus dem Gebüsch. Es ist Mark.

»Da seid ihr!«, sagt er.

Vanjo und ich seufzen erleichtert.

»Gott sei Dank!«, sage ich und wäre ihm am liebsten in die Arme gesprungen.

»Zum Glück habe ich euch gefunden! Einer eurer Mitschüler hat mir verraten, dass sich irgendwelche Idioten einen Spaß erlaubt und die Schilder verdreht haben. Da bin ich euch direkt nachgelaufen«, sagt Mark, noch etwas außer Atem.

»Oh Mann«, sagt Vanjo angestrengt lässig.

»Hat Marius zurück zum Parkplatz gefunden?«, frage ich.

»Der mit der Cap? Dein Freund?«, fragt Mark.

Woher weiß er, dass Marius mein Freund ist? War das etwa so offensichtlich?

»Genau.«

»Ja, der ist mir am Waldrand entgegengekommen und hat sich wegen Schmerzen abgemeldet«, sagt Mark unbeeindruckt.

»Gut.« Ich lege mir erleichtert die Hand auf die Brust. Immerhin irrt Marius nicht auch noch irgendwo rum.

Mark sieht von mir zu Vanjo. »Wie weit sind wir etwa vom Weg abgekommen?«

Es versetzt mir einen kurzen Stich, dass Mark mich so übergeht. Wieso kann er die Frage nicht an uns beide stellen? Mache ich denn den Eindruck, als hätte ich gar keinen Orientierungssinn?

»Vielleicht einen halben Kilometer«, antwortet Vanjo.

Mark wirft einen kurzen abschätzigen Blick auf meine dreckigen Schuhe. »Moorgebiet«, sagt er.

Dann tippt er auf seinem Handy herum und zeigt uns eine andere abfotografierte Karte des Waldes. Er zoomt an das Stück heran, auf dem wir uns gerade ungefähr befinden. Wir beugen unsere Köpfe über sein Display.

Ich atme etwas flacher, sehe mir sein Profil aus den Augenwinkeln an. Die feinen, dunklen Bartstoppeln um seinen Mund herum. Kleine Leberflecke auf der linken Wange. Die Lippen schmal, aber mit einem sehr schönen Übergang. Er sieht so jung aus für einen Studenten.

»Hm.« Mark legt sich nachdenklich einen Finger an den Mund, ich blicke schnell wieder zurück auf den Bildschirm.

»Wir sind ziemlich weit im Nordwesten. Noch weiter, und wir landen tiefer im Moor. Wir dürfen nicht unterschätzen, wie groß der Wald ist.« Er hebt kurz den Kopf, schaut nach rechts, dann nach links. »Okay, ich würde vorschlagen, wir gehen ein paar Hundert Meter nach links, dann kreuzt der Trampelpfad wieder den großen Ritzentalpfad. Wenn es gleich richtig regnet, ist unser gelaufener Weg schnell nur noch Matsch.«

»Darf ich?«, fragt Vanjo und zeigt auf Marks Handy.

»Klar.« Er nickt.

Vanjo prüft ebenfalls die Karte. Eine Furche bildet sich zwischen seinen Augenbrauen, als er sie betrachtet. Dann nickt er zustimmend.

Wir brechen auf.

Eine Weile laufen wir schweigend hintereinander her, Mark ganz vorne, Vanjo hinter ihm, und ich bilde den Schluss. Unsere Schuhe machen schmatzende Geräusche am Boden. Bis wir zu Hause sind, ist von ihrer Farbe bestimmt nichts mehr zu erkennen. In der Luft liegt ein modriger Geruch, und auch die Gnitzen haben sich vermehrt. Ich wedle vor meinem Gesicht, um sie loszuwerden.

Ab und zu bleiben die beiden stehen und prüfen die Karte, dann geht es wieder weiter. Nach meiner Zustimmung fragt keiner, besonders nicht Mark, der zieht es irgendwie vor, mich zu ignorieren.

Tag 0, 14:56 Uhr, Wald.

Da ist immer noch Moor um uns herum. Wie zähes Wasser, an den Rändern schwarz. Und das klamme Gefühl, das von ihm ausgeht, kriecht an meinen Fußknöcheln hoch, als wolle es eine Warnung an meinen restlichen Körper schicken.

Ich starre auf die stille Oberfläche des Wassers. Dürre Äste hängen darüber, völlig ineinandergeschlungen. Im Lauf der Jahre ganz dem Chaos überlassen, kreuz und quer. Die Zweige bemühen sich, die Fühler Richtung Himmel zu strecken, verzweifelnd auf dem Kampf nach Licht. Sie nutzen jeden Weg, aber letzten Endes bilden sie nur ein Durcheinander.

Genauso wie wir.