The Woods 2. Die verlorene Gruppe - Nova Hill - E-Book
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The Woods 2. Die verlorene Gruppe E-Book

Nova Hill

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Beschreibung

Band 2 der packenden Mystery-Trilogie: Welcher der Freunde ist zu einem Mord fähig? Die Spannung unter den Jugendlichen im Wald nimmt immer weiter zu. Durch Misstrauen und gegenseitige Verdächtigungen droht die Gruppe ganz auseinanderzufallen. Doch plötzlich droht von außen noch eine ganz andere Gefahr: Die Jugendlichen sind nicht alleine in der Wildnis, und es droht Lebensgefahr. Wicca, moderne Hexen, gehen dort ihrer schwarzen Magie nach und suchen noch ein Menschenopfer für ihr bevorstehendes großes Ritual …

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Über dieses Buch

Traue niemandem, nicht mal dir selbst

 

Zwei Fronten. Ein ungeklärter Mord.

Die einen sind sich sicher: Das war Ira.

Alle haben Geheimnisse, keiner gibt sie preis.

Nicht mal die Menschen, die du am meisten auf dieser Welt liebst.

Weißt du wirklich, wer der Feind ist?

Lichter im Wald. Ihr seid nicht allein.

Ein Ort.

Ein Geheimnis.

Kein Entkommen.

 

Band 2 der hochspannenden Mystery-Reihe

Aber es ist keine Jagd. Es ist ein Tanz. Und manchmal

machen sie die Lichter in diesem Ballsaal aus.

Aber wir werden dennoch tanzen, Sie und ich.

Auch im Dunkeln. Ganz besonders im Dunkeln.

Darf ich bitten?

 

Stephen King, Danse Macabre

Episode 1

Zwei Lager

Ira

Tag 6, 09:40 Uhr, Lungenheilanstalt, Eingang Hauptgebäude.

Sie hat doch vorhin noch mit uns gesprochen, sie … sie stand im Schuppen, und wir haben diskutiert, und – das ist nicht möglich. Sie ist ganz normal hier rumgelaufen. Sie … das geht nicht, das …

Blut sickert von Ricardas Kopf auf den Boden und tränkt die Kieselsteine in Rot. Der Körper schlaff, die Augen starr. Da ist kein Zucken, kein Blinzeln, keine Regung.

Nichts.

Meine Kopfhaut kribbelt, jedes einzelne Haar stellt sich auf. Das ist schlicht und einfach nicht möglich. Das geht nicht, das geht nicht in meinen Kopf. Ich verstehe es nicht, ich verstehe gar nichts. Und schon überhaupt nicht, warum mich alle ansehen. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen.

»Was ist passiert?«, frage ich, meine Hand ist vor den Mund geschlagen.

»Das fragst du ernsthaft?« Tränen rinnen über Alvas Gesicht und hinterlassen Linien auf ihren Wangen. Sie schüttelt fassungslos den Kopf. Die großen Augen sind zu verachtenden schmalen Schlitzen zusammengekniffen.

»Du hast sie umgebracht«, sagt Tim.

Ich drehe mich ruckartig zu ihm um. Was?

Was hat er da gerade gesagt?

Das muss ich falsch verstanden haben. Aber dann erschrecke ich vor dem Ausdruck in seinem Gesicht. Entsetzen? Wut? Schock? Verachtung?

Ich kann es nicht deuten. Tim spannt seine großen Fäuste an, seine Haut an den Fingern sieht aus wie kurz vorm Zerplatzen. »Ich habe es gesehen.«

Mir klappt der Mund auf. Das passiert gerade nicht wirklich. »Tim. Ich war die ganze Zeit in der Anstalt, ich war da drin, du kannst mich nicht gesehen haben, ich bin dem Keuchenden Mann hinterher. Was redest du da?« Mein Herz klopft mir bis zum Hals.

»Hör auf, Ira!« Rote Flecken haben sich um Tims breiten Hals gebildet. Er deutet auf den großen, blutverschmierten Stein am Boden. »Du hast dich von hinten an sie herangeschlichen. Sie hatte nicht mal eine Chance. Du … Du hast ihr einfach den Schädel zertrümmert!«

»Bist du verrückt? Ich würde doch niemanden umbringen!« Ich werde jetzt selbst wütend und blicke Hilfe suchend zu Vanjo, der jedoch völlig abwesend ist, dann zu Mark, aber selbst in seinem Gesicht spiegelt sich so etwas wie Misstrauen. Sein Blick schweift ausweichend wieder zu Tim. Blut rauscht in meinen Ohren, mir wird schwummrig.

»Ich habe es auch gesehen«, sagt Paul plötzlich. Er starrt unentwegt auf Ricarda. Wie fremdgesteuert macht er einen Schritt auf sie zu, dann sackt er mit den Knien auf den harten Boden. Staub und kleine Kieselsteine wirbeln durch seinen Aufprall zur Seite. Er beugt sich über seine tote Freundin und tippt mit einem Finger gegen ihre Schulter, als wollte er testen, ob sie sich auch wirklich nicht mehr regt. Ein dumpfer Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, und ich muss an einen kleinen Jungen denken, der verzweifelt den Schalter seines Spielzeugs drückt, nachdem es kaputtgegangen ist.

»Oh Gott!« Jetzt drückt Alva ihre Hände so fest gegen ihren Kopf, als wolle sie rauspressen, was darin gerade geschieht. »Fuck, fuck! Ich kann das alles nicht mehr, ich will hier weg, ich …!«

Alles passiert schnell und gleichzeitig und doch wie in Zeitlupe.

Es ist, als hätte mein Gehirn einen Filter hochgefahren und ich stünde außerhalb des Geschehens. Wie eine stumme Beobachterin ohne Zutritt. In dieser Zeitlupenfilterwelt ist da Vanjo, der mich so entgeistert ansieht, als wäre ich eine Fremde.

Mark, ernst und undurchsichtig wie nie.

Julian, verloren und mit riesigen weißen Augäpfeln.

Henrike, mit der Hand vor den Mund geschlagen.

Theo, bleich wie ein Geist.

Alva, kreischend und sich das blonde Haar raufend.

Tim, mit immer fester krampfenden Fäusten.

Benny, mit finster schimmernden Augen.

Und Paul, mit gesenktem Kopf über der toten Ricarda.

Ich starre auf den leblosen Körper und dann wieder auf die anderen. Ihre Blicke durchbohren mich. Sie schmerzen.

»Ich glaub einfach nicht, dass du so etwas tun kannst«, flüstert Theo. Und ich komme mir vor wie ein wildes Tier im Zoo, das alle anglotzen.

»Ihr … Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass ich das gewesen bin?« Meine Stimme ist dünn, kommt mir selbst wie von weit weg vor.

Tim funkelt mich drohend an. »Du hast ihr den Stein auf den Schädel gehämmert.«

»Ich habe euch doch schon gesagt, ich war die ganze Zeit da drinnen!« Ich deute mit dem Finger auf die Anstalt.

Das ist ein böser Scherz, das ist ein Missverständnis, nur Einbildung, jemand hat sich gegen mich verschworen … ich war das nicht.

Ich fixiere den blutbefleckten Stein, der ein paar Meter von Ricarda entfernt liegt. Vielleicht etwas kleiner als ein Football. Würde er in meine Hand passen? Wenn ich einen Menschen töten wollte, würde ich einen Stein wählen? Wie viel würde er wiegen … vielleicht drei Kilo oder vier?

Es schüttelt mich.

Ich halte meine zittrigen Hände nach oben. »Seht ihr da etwa Blut?«

Abwechselnd schaue ich von ihren Gesichtern zu dem Stein und zurück.

»Für wen haltet ihr mich?« Ich schüttle den Kopf, immer wieder.

»Wir wissen doch alle, dass du sie nicht leiden konntest!« Tim pfeffert die Worte voller Verachtung aus seinem Mund.

»Aber deswegen bringe ich sie doch nicht um!«, schreie ich jetzt.

»Halt endlich die Klappe!« Tim beugt seinen Kopf gefährlich vor, seine Kiefermuskeln zucken.

»Du beschuldigst mich, einen Menschen getötet zu haben – weißt du, wie krank das ist?!« Ich merke, wie der Boden unter mir zu schwanken beginnt. Und dann blicke ich wieder Vanjo an. Hilf mir doch endlich. Warum, verdammt, tust du nichts?

»Ich glaub das alles nicht!« Ich drehe mich einen Moment weg vom Geschehen, da ich das Gefühl habe, mein Kopf platzt jeden Moment. Mir ist schwindlig, ich schluchze, dann wende ich mich wieder den feindseligen Gesichtern zu, die mich anstarren, als stünde ich vor dem Jüngsten Gericht. »Ich war die ganze Zeit da drin, da drin, und ihr wart weg!« Ich zeige wieder auf die Anstalt, ringe nach Luft, verschlucke mich dabei, huste. »Ich …«

Aber dann sacke ich auf die Knie. Und spüre endlich eine Hand auf meinem Rücken. Vanjo. Ich glaube, es ist Vanjo.

Ich schließe kurz die Augen, die Hand bleibt. Einatmen. Ausatmen. Die graue, verschwommene Fläche am Boden wird wieder schärfer, zieht sich auseinander zu kleinen Kieselsteinen. Wie ein Bild auf dem Handy, das zuerst verpixelt ist, weil es noch laden muss, und dann klar wird. Ich blinzle, erkenne jedoch, dass die Hand, die auf meinem Rücken liegt, nicht zu Vanjo gehört. Sie gehört zu Mark.

»Was für eine grässliche Schauspielerin du bist!« Es sind Alvas Worte. »Ich weiß ja nicht, wen du hier auf welche Seite ziehen willst, aber ich schwör dir, sobald wir aus diesem Wald raus sind, bist du dran!«

Immer noch schmerzt jedes ihrer Worte. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. »Hör auf!«

»Das ist alles so psycho!«, sagt Alva. »Ich hab kein’ Bock mehr. Es hört nicht auf, es hört einfach nicht auf!« Sie macht hektische kleine Schritte vor und zurück, keucht, die anderen reden auf sie ein. Dann wieder Schluchzen. Und durch das immer lauter und schlimmer werdende Getöse ertönt plötzlich Pauls Stimme: »STOPP!«

Zum ersten Mal verstummen wir alle und sehen zu ihm herunter. Er streichelt abwesend über Ricardas braunes Haar und blickt in ihr weißes Gesicht.

Ein erdrückendes Schweigen setzt ein. Was für grässliche Menschen sind wir nur, denke ich. Die Gänsehaut ist überall.

Paul schaukelt mit dem Oberkörper leicht vor und zurück, sein Brustkorb hebt und senkt sich so heftig, dass ich Angst habe, er bekommt wieder einen Herzanfall. Oder springt mir jede Sekunde an die Gurgel. »Könnt ihr mich kurz allein lassen?«, flüstert er, ohne den Blick dabei von ihr zu nehmen. »Bitte.«

Ich kann kaum hinsehen.

Henrike breitet ihre Arme aus, um uns anzudeuten, dass wir Platz machen sollen. »Kommt.«

Wir entfernen uns und geben Paul diese Minuten, um sich von seiner Freundin zu verabschieden. Die dichten Wolken werfen ein dunkles Grau auf sie herab.

Ich wage einen letzten Blick auf Ricardas Gesicht. Es ist bleich und starr. Wer tut so etwas?

Tag 6, 10:02 Uhr, Lungenheilanstalt, draußen.

»Kannst du mir mal bitte erklären, was passiert ist?«, frage ich Mark mit gesenkter Stimme und hake mich beim Gehen in seinen Arm ein. Ich zwinge mich, meine Atmung zu beruhigen und den Schwindel zu ignorieren, um diese wenigen Meter dafür zu nutzen, zu verstehen, was hier vor sich geht. Wir haben den Schuppen anvisiert, die anderen Camper bis auf Paul sind ein Stück vor uns.

»Ich war mit den anderen im Lager, solange ihr in der Anstalt wart.« Mark redet schnell, aber bestimmt. Wenigstens einer, der gerade funktioniert. »Tim hat draußen Wache gehalten, als er gesehen hat, wie du mit dem Stein Ricarda auf den Hinterkopf geschlagen hast und dann abgehauen bist, wohl zurück zur Anstalt. Kurz danach kamen die anderen raus und dann wieder du.«

Ich schüttle den Kopf. »Das kann nicht sein. Wen Tim da auch immer gesehen hat. Das war nicht ich.«

»Er scheint überzeugt davon zu sein«, sagt Mark.

»Was tun wir denn jetzt?« Auf halbem Weg bleibe ich stehen und blicke zu ihm auf. Aber Mark starrt weiter geradeaus. Ich kann sehen, wie es in seinem Kopf arbeitet. Wieso kann er mich nicht anschauen?

»Ich weiß es nicht«, sagt er streng.

Ich löse meinen Arm aus seinem. »Mark, du glaubst mir doch?«

Seine Augen schimmern. Mein Herz hämmert.

»Ja«, sagt er, und ich atme endlich aus. Doch ich habe Marks Zögern bemerkt. Sonst hat er auch nie gezögert. Mark nicht. Mark hat mich immer vor den anderen beschützen wollen, er …

Plötzlich dringen Rufe vom Schuppen zu uns.

»Scheiße!«, flucht er, und dann sehe auch ich es. Tim kommt mit vollbepackten Armen wieder aus dem Lager heraus. Er hat die restlichen Waffen geholt.

»Was zur Hölle tust du da?« Ich schließe die letzten Meter zu den anderen auf.

»Siehst du doch!«, sagt Tim, während er Theo ungefragt eine der Eisenstangen in die Arme drückt. »Ich verteile die Waffen.«

Und jetzt schwingt er mit einem der langen Knüppel in meine Richtung. Ich weiche erschrocken ein Stück zurück und halte abwehrend die Hände nach oben. »Das ist doch lächerlich!«

Tim schnaubt. »Ich will mich jedenfalls wehren können, wenn du den Nächsten ermordest!«

»Ich ermorde niemanden! Können wir nicht erst mal ganz normal miteinander reden?«

»Nur zu«, sagt er und richtet den Knüppel auf meine Brust. »Rede!«

»Jetzt nimm schon die Waffe runter, Mann!«, sagt jemand.

Ich drehe den Kopf nach rechts. Ich hätte erwartet, dass Mark mich verteidigt, oder zumindest gehofft, dass es Vanjo wäre, aber es ist tatsächlich Benny. Er steht Tim breitbeinig gegenüber, obwohl der sogar einen halben Kopf größer ist.

Die beiden funkeln sich an.

Dann, langsam, lässt Tim die Eisenstange sinken. Ich hole Luft und gebe Benny mit einem kurzen Nicken ein Danke zu verstehen. Er zieht Rotz hoch und spukt ihn neben die Feuerstelle. »Alter, das ist schlimmer als im Kindergarten mit euch!« Er lässt sich auf einen der Baumstämme sinken.

Die anderen halten immer noch sicheren Abstand zu mir. Die Einzigen, die näher an meine Seite gerückt sind, sind Vanjo, Mark, Henrike und Benny. Wobei Vanjo mich immer noch keines Blickes gewürdigt hat. Steht er unter Schock? Ist es, weil er Opa damals hat sterben sehen?

Ich presse meine Lippen zusammen und verstecke meine unruhigen Finger in den Taschen meiner Jacke. Vorsichtig lasse ich mich auf einem der Baumstämme nieder. Die letzten dunklen Rauchschwaden, die vom Feuer aufsteigen, kratzen in meinem Hals.

Stille ist eingekehrt, nicht mal ein Windhauch streicht übers Anstaltsgelände. Die Camper starren mich immer noch an, als stünde ich kurz vor meiner Verurteilung. Tim hat den Knüppel neben sich in den Boden gerammt, und er bewacht ihn wie ein Richter seinen Hammer.

Ich friere.

Theo ergreift das Wort. »Tim hat dich hier draußen gesehen, und jemand wurde ermordet. Ich will dich nicht mehr in meiner Nähe haben.«

Das sitzt.

Dass ausgerechnet er sich gegen mich stellt, hätte ich nicht erwartet.

»Ich sehe es wie Theo.« Alva rutscht auf der Bank näher zu Tim. Auch Julian drängt sich zu ihnen. Eine ganze Fraktion hat sich gegen mich verschworen. Es macht keinen Sinn, zu protestieren. Das ist mir nun klar.

Aber erklären kann ich mir nicht, was Tim da beobachtet haben will. Wen hat er gesehen?

Ein Mörder ist unter uns. Und ebenso wenig wie mir selbst würde ich es einem der anderen zutrauen. Ich schlucke. Ich muss irgendwas tun.

»Ihr wollt mir nicht glauben, okay. Aber ich will euch noch eine Sache sagen.« Meine Stimme bebt, ein Kloß drückt sich in meinem Hals weiter nach oben. Tim umgreift drohend den Knüppel neben sich, ich versuche, mich davon nicht irritieren zu lassen. »Ich bin dem Keuchenden Mann in der Anstalt begegnet, und er ist nicht unser Feind. Er wollte mich nicht angreifen … er … er wollte uns warnen, versteht ihr? Wir sind hier nicht sicher. ›Sie wird euch vernichten‹, hat er gesagt. Er will, dass wir uns im Wald verstecken und …« Ich stocke. Moment … Nun, wo ich es selbst ausspreche, ergibt alles einen Sinn. Sie wird euch vernichten.

Wer Sie auch sein mag. Ihr erstes Opfer ist gefallen. Es ist, als fasse eine kalte Hand in meinen Nacken. Die Bedrohung, die wir von Tag eins an diesem Ort gespürt haben, ist realer denn je. »Der Keuchende Mann hatte recht.« Ich sage es eher zu mir selbst, aber dann hebe ich den Kopf. »Jemand will uns vernichten. Und Ricarda war vielleicht nur die Erste.«

Für einen Augenblick ist es still.

»Sorry, ey, aber ich hab kein’ Bock mehr auf eure Voodoo-Geschichten.« Alva steht auf und rauscht in den Schuppen. Ich schaue ihr hinterher, öffne den Mund, schließe ihn dann wieder. Verdammt, ich bin es müde, mich rechtfertigen zu müssen.

»Ich werde jedenfalls auf den Keuchenden Mann hören. Wer noch, kommt mit mir in den Wald, bevor es zu spät dafür ist.«

Wenn die anderen wirklich denken, ich wäre zu einem Mord fähig, dann will ich vielleicht auch gar nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ich straffe die Schultern. Genau. Umdenken, Ira.

»Ich komme mit dir«, sagt Mark und greift nach meiner Hand. Ich blicke auf unsere verschränkten Finger. Endlich mobilisieren sich in meinem Inneren wieder Kräfte. Danke.

Tim verdreht die Augen. »War ja klar.« Er funkelt Mark finster an. »Macht, was ihr wollt, ich bleibe hier.«

»Ich auch«, sagt Theo.

Julian blickt verunsichert von Vanjo zu mir und von Tim wieder Richtung Schuppen. Er kaut auf seiner Lippe herum.

Komm schon, Julian. Komm schon. Ich weiß ganz genau, was seine Meinung über die Anstalt ist. Er spürt diese Gefahr, und er weiß eigentlich, dass ich recht habe. Aber schließlich bleibt sein Blick am Schuppen hängen, und mir wird klar, dass seine Angst größer ist.

»Tut mir leid, Ira«, sagt er, kann mir dabei nicht mal in die Augen blicken.

Ich seufze.

»Aber ich bin an deiner Seite«, erwidert Henrike. Wir nicken uns zu.

»Ich auch«, sagt Benny.

Also steht es fest: Vier auf meiner Seite. Vier auf Tims Seite. Ohne ein weiteres Wort verlassen wir die Feuerstelle, ich konzentriere mich darauf, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Merke ich vielleicht längst nicht mehr, was hier vor sich geht?

Ich habe wieder Gedächtnislücken. Es geht wieder los, mein Kopf spielt verrückt, ich werde verrückt. Der Keuchende Mann ist in der Anstalt vor meinen Augen verschwunden. Entweder ich bin nicht mehr zurechnungsfähig oder etwas sehr, sehr Merkwürdiges passiert hier.

Es hat keine Woche gedauert, um unsere Gruppe zu spalten. Jetzt, wo wir besser zusammenhalten müssten denn je.

Tim, Julian, Theo, Alva und Paul bleiben hier.

Vanjo.

Er hat bis jetzt keinen Ton von sich gegeben. Wie versteinert sitzt er dort. Ich gehe zurück zu ihm, lege meine Hand auf sein Knie. »Alles gut bei dir?«, flüstere ich.

So kenne ich meinen Bruder nicht. Bestimmt ist es wegen Opa. Ich weiß, wie traumatisch es damals für ihn war, unseren Großvater sterbend aufgefunden zu haben.

Ich presse betreten die Augen zusammen. Armer Vanjo. Ich bin da, sage ich in Gedanken zu ihm, doch dann erhebt er sich auf einmal.

»Ich werde kurz nach Paul sehen«, sagt er, und seine Stimme klingt, als würde er sie verstellen. So redet er nur, wenn er sich bemüht, höflich vor Leuten zu sein, die er eigentlich nicht leiden kann. Was ist nur los? Hat er es auch gesehen? Hat er gesehen, wie ich den Stein über Ricardas Kopf gehauen habe und wollte mich nur verteidigen? Aber er war doch in der Anstalt dabei, das kann doch gar nicht sein … jetzt verschwimmen schon wieder die Ereignisse. Es wäre nicht das erste Mal, dass Vanjo mich irgendwo gesehen hat, wo ich gar nicht war.

»Ist gut, wir warten auf dich«, sage ich.

»Ich werde nicht mit euch kommen.«

»Mhm?«

»Ich bleibe bei Alva und den anderen«, sagt er.

»Was meinst du?«

Jemand klopft mir auf die Schulter. »Jetzt nicht«, sage ich. Doch das Klopfen wird immer energischer. »Ira!«

»Was?!« Ich drehe mich genervt zu Mark um.

»Lass uns bitte schnell gehen«, sagt er, und ich folge seinem Blick ins Innere des Schuppens. Dort versucht Alva, Tim zu beruhigen, dem die Nerven wohl nun komplett durchgehen. Sie redet auf ihn ein, doch er stößt sie weg. Vermutlich ist es wirklich am besten, wenn wir verschwinden, bevor er ein weiteres Mal explodiert. Und da stampft Tim bereits aus dem Schuppen. »Verschwinde endlich!«, brüllt er. Spucketropfen fliegen aus seinem Mund, er rauscht auf mich zu. Seine Hände schnappen wie Pranken nach dem Kragen meiner Jacke, ehe ich überhaupt zu einer Regung fähig bin. »Warum hast du das getan?« Ich werde durchgeschüttelt. »WARUM?!«

»Los, weg hier!«, sagt Mark, während er mich von Tim befreit. Dann ein Schubsen und Gerangel. Weitere Beschimpfungen, die übers Gelände schallen.

Ich stolpere, gehorche dann. Moment. »Was ist mit Vanjo?«, frage ich und suche in dem ganzen Durcheinander nach seinem Gesicht. »Er muss mit uns kommen.«

»Er will nicht, Ira, wir müssen gehen«, sagt Mark drängend, wir steuern auf das Eingangstor zu.

Nein.

»Vanjo!«, rufe ich. Und endlich finden sich unsere Blicke. Komm, forme ich wortlos mit den Lippen, während ich weiter weggezerrt werde. Aber mein Bruder schüttelt den Kopf.

»Ich verstehe nicht …«, stammle ich. Eine dumpfe Leere breitet sich in mir aus. »Wieso tust du das? Vanjo, rede mit mir!«

Er schaut mich nur aus starren Augen an, die Arme hängen schlaff an seinem Körper herunter, während die anderen immer noch am Ausrasten sind. Der grüne Stoff seiner Bomberjacke flattert im Wind.

Um uns wird es plötzlich dunkel. Die Anstalt verwandelt sich in die Turnhalle. Die Laterne vor dem grauen Klotz sirrt. Von der Seite rauscht ein Auto heran. Die Wut. Der Schreck. Dann der Aufprall.

Tag 6, 12:03 Uhr, Moorwald.

Das ist das Ende.

Ich bin mitten im Dickicht des Waldes und laufe über den sumpfigen Boden, der meine Schuhe ansaugt. Das Moor wird mich verschlingen. Ich bin im Wettlauf mit den Bäumen, die ihre Äste nach mir ausstrecken. Sie spielen Fangen mit mir, und ich entkomme ihnen nur knapp. Ich mochte dieses Spiel noch nie. Die fanatischen Gesichter der Mitschüler und Mitschülerinnen, wenn sie mit gefletschten Zähnen riefen, ich hab dich!

Konnte man das Spiel als Gejagte denn überhaupt je gewinnen?

Ich rümpfe die Nase. Im Wald riecht es säuerlich. Der Untergrund ist ein einziger brauner Matsch. Wie konnten wir Vanjo nur dort zurücklassen?

Das hätte ich nicht akzeptieren dürfen. Ich hätte ihn deutlicher warnen müssen. Er ist in Gefahr. Sie alle sind dort in Gefahr. Bald wird Sie alle holen. Einen nach dem anderen. Es fühlt sich nicht richtig an, Zuflucht im Wald zu suchen. Nicht ohne meinen Zwillingsbruder. Als hätte uns jemand gewaltsam voneinander losgerissen. Aber so war es nicht.

Vanjo wollte nicht mit. Ich lege eine Hand um meine enge Kehle.

Seit einer ganzen Weile folge ich Benny, Mark und Henrike. Aber ich fürchte, wir sind schon viel zu tief ins Moor geraten. Überall verschimmeltes Geäst und faule Rinde. Die Bäume und Pflanzen gehen zugrunde. Es ist nicht anders als bei Menschen. Am Ende geht es immer ums Überleben.

Meine Bauchgegend schmerzt. Wir brauchen etwas zu essen. Irgendwann schaltet der menschliche Körper auf nur noch stumpfes Funktionieren um. Wenn alle Kraftreserven aufgebraucht sind, lässt das Denkvermögen nach.

Den anderen hinterher. Über die Wurzel, am Hügel vorbei, unter dem Ast hindurch. Immer den anderen hinterher.

Wenn ich mit der Zunge über meine Zähne fahre, fühlen sie sich rau an. Seit einer Woche konnte ich meine Zähne nicht mehr putzen. Wenigstens hat Benny aus dem Schuppen noch zwei unserer Rucksäcke mitgehen lassen. Sonst hätten wir nicht mal Wasserflaschen oder Schlafsäcke.

Manchmal reden Mark, Henrike und Benny etwas. Doch ich höre nicht wirklich zu. Sie fragen sich, wer Ricarda getötet hat. Aber doch keiner von uns.

Nein.

Nicht einmal Benny. Nicht einmal dem Kerl, der Marius ein Messer in den Bauch gerammt hat, würde ich diesen Mord zutrauen. Ich beobachte ihn von hinten. Selbst auf dem Weg durch den Wald, wo überall Stolperfallen aus Gestrüpp oder Wurzeln oder glitschigem Moos unseren Weg behindern, hat er die Hände lässig in die Hosentaschen geschoben und unterhält sich mit Henrike. Ich bin wirklich überrascht, dass er sich auf unsere Seite gestellt hat. Ein Friedensangebot?

Das wäre nicht seine Art. Er denkt nur anders. Er misstraut diesem Ort noch mehr als mir.

Es laut auszusprechen, wage ich jedoch nicht. Aber je besser ich Benny kennenlerne, desto mehr kann ich ihn leiden. Ob wir uns sogar angefreundet hätten, wenn ich nicht wüsste, dass er Marius’ Angreifer war?

Meine Muskeln brennen. Eine solche Strecke hätte mich früher nie erschöpft.

Der Wald lichtet sich. Nur kleine junge Bäume säumen unseren Weg. Das Gras sieht hier saftiger und grüner aus. Farn ragt wie Hunderte aufgefaltete Fächer aus dem Boden. Abrupt stoppen die drei vor mir ab. Sie murmeln nervös etwas vor sich hin. Henrike macht einen kleinen Schritt zur Seite, damit ich aufschließen kann.

»Ira, sieh doch!«, flüstert sie beinahe ehrfürchtig.

Mein Herz klopft. Ich sehe dort Erde … aufgehäufte Erde, etwa eineinhalb Meter lang und einen halben Meter breit. Auf der Spitze des klumpigen Erdhügels hat jemand ein Kreuz hineingesteckt. Es besteht aus zwei aneinandergebundenen Holzstücken. Mein Körper ist mit kaltem Schweiß bedeckt.

»Ist das … ein Grab?«, frage ich zögerlich.

Benny zuckt mit den Schultern. Henrike nickt stumm. Ich mache einen kleinen Schritt nach vorn und gehe in die Hocke, meine Knie geben beinahe nach. Ich betrachte das Grab von Nahem, ein merkwürdiges Gefühl packt mich.

Die Erde sieht sehr dunkel aus, als hätte sie gerade erst jemand mit einem Spaten aus dem Boden gehackt. Nur ein paar wenige Gräser stehen an den Seiten heraus. »Es sieht frisch aus, findet ihr nicht?« Ich wende mich den anderen zu, erschrecke vor dem Ausdruck in Marks Gesicht. Er ist völlig erstarrt.

Henrike zieht am Zipfel meiner Jacke, um mich wieder hochzuziehen und weiter weg vom Grab. Ein Schauer rieselt mir den Rücken hinab, einmal, zweimal. Als hätte ich für einen Augenblick meine komplette Körperbeherrschung verloren.

»Ist das nicht unheimlich?«, flüstert sie.

Benny wischt sich nervös übers Gesicht. »Zumindest ist es nicht älter als ein paar Wochen.«

Aber dann schüttelt Mark den Kopf, den Blick immer noch wie hypnotisiert auf dem Grab. »Nee, älter … ich glaube das sieht nur so aus.«

»Wie kommst du da drauf?«, fragt Benny.

Mark zögert, es ist, als wäre die Frage noch gar nicht bei ihm angekommen. Ich fasse mit meinen Fingern vorsichtig nach seinen. Er zuckt kaum merklich zusammen, blinzelt. Ich lege den Kopf leicht schräg. »Alles gut?«, frage ich leise.

Er nickt schwach. Sein Blick findet meinen, für einen Moment ist er noch woanders, dann drückt er meine Hand fester. »Ja«, sagt er und anschließend wieder an Benny gerichtet: »Keine Ahnung, nur ’ne Vermutung.«

Aber Benny hat die Brauen noch immer misstrauisch zusammengezogen.

»Sieht aus, als hätte sich jemand die Mühe gemacht, Verzierungen in die Stöcke des Kreuzes hineinzuschnitzen.« Ich bin froh, dass Henrike nun das Wort an sich reißt, sie überlegt kurz. »Fast … liebevoll, nicht wahr?«

»Aber eine Leiche hier mitten im Wald vergraben? Im einundzwanzigsten Jahrhundert?«, frage ich. »Wieso sollte das jemand tun?«

»Um die Leiche zu verstecken«, sagt Benny. »Um etwas zu vertuschen, wahrscheinlich. Mich schockt hier langsam gar nichts mehr.«

»Mich auch nicht«, erwidert Mark und seine Augen verfinstern sich. Ob er schon mal jemanden verloren hat?

Vielleicht hat ihn dieser Anblick getriggert. Ich würde ihn gern umarmen. Bestimmt hat das viel zu selten jemand getan. Wegschieben, Ira. Solches Denken kann ich mir gerade nicht erlauben. Und wieder packt mich ein Schauder. Henrike schmiegt sich an mich.

Dieses einzelne Grab, nah genug an der Anstalt, um es wiederfinden zu können, und dennoch so tief im Wald, dass es niemand zufällig entdeckt – es trifft etwas in uns.

»Ricarda ist tot, wir verstecken uns im Wald und finden ein frisches Grab?« Henrikes zarte Finger krallen sich in den bunten Stoff ihrer Jacke. »Es fühlt sich an, als würde uns der Tod verfolgen.«

»Als würde dieser Ort den Tod magisch an sich reißen«, füge ich hinzu.

»Das Gesetz der Anziehung.« Henrike blickt uns gedankenversunken an. »Schon mal davon gehört?«

Ich schüttle den Kopf.

»Es besagt, dass Gleiches auch Gleiches anzieht. Wie eine unsichtbare Verbindung. Gedanken, die ständig um etwas Negatives kreisen, erzeugen auch Negatives.«

»Okay, Mädels, jetzt kommt mal wieder runter«, sagt Benny. »Der ganze Scheiß hier trifft auch mich ziemlich hart. Aber ein random Grab mitten im Wald hat nichts mit irgendeinem Gesetz der Anziehung zu tun.«

»Moment. Ich erkläre es anders.« Henrike streicht sich eine lockige Strähne hinters Ohr. »Es geht um die innere Einstellung. So ähnlich wie beim Placeboeffekt. Wenn man an die Wirkung einer Pille glaubt, hilft sie, auch wenn in ihr nur Zucker enthalten ist. Es ist die Kraft deiner Gedanken. Wenn man an sich glaubt, schafft man Dinge. Wenn man jemanden anlächelt, lächelt der andere zurück. Die Schwingung, die du aussendest, kommt zu dir zurück. Viele nutzen dieses Prinzip für ihre persönliche Entwicklung. Sie visualisieren die schönen Dinge, die sie im Leben haben wollen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um Liebe und Partnerschaft, Gesundheit, Geld, Beruf oder Erfolg geht. Man zieht an, was man aussendet.«

Wir lassen ihre Worte einen Moment sacken. In Marks Stirn graben sich Falten. Sein typischer Nachdenk-Ausdruck, so hatte er schon während des Biologieprojekts auf die Karte gestarrt, um den richtigen Weg zu finden.

Benny fasst sich an den Kopf. »Sorry, Henrike, aber das ist wirklich hartes Gequatsche gerade. In Einzelfällen mag das ja hinkommen. Aber du kannst das nicht auf alles beziehen. Dann würde ja auch Karma existieren, und das würde wiederum bedeuten, dass wir alle schlechte Menschen sind. Sonst wären wir nicht in dieser Anstalt gelandet. Jeder Wissenschaftler würde dir sofort erzählen, dass es kein magisches Anziehungsphänomen oder so was gibt. Ehrlich.«

»Na ja, Fakt ist, es funktioniert«, schaltet Mark sich plötzlich ein. »Auch Gedanken sind neuronale Repräsentationen im Gehirn und senden energetische Frequenzen aus. Gesetze wie die Schwerkraft existieren ja auch. Wieso sollten keine Gesetze existieren, die auf geistiger Ebene stattfinden?«

Benny schaut immer noch skeptisch.

»Kennen wir das nicht sogar im Alltag? Da gibt es doch auch manchmal einen Perspektivenwechsel im Gehirn«, sage ich und mache eine drehende Handbewegung, um meiner Erklärung Ausdruck zu verleihen. »Also, du möchtest zum Beispiel bestimmte weiße Sneaker. Dann spazierst du durch die Stadt, und plötzlich fällt dir jeder Schuhladen auf. Überall sind die weißen Sneaker, selbst an den Passanten in der Fußgängerzone fallen sie dir auf. Du veränderst deinen Fokus und ziehst dadurch die Schuhe an. Je mehr Aufmerksamkeit du einer Sache schenkst, desto mehr Chancen und Möglichkeiten tun sich auf, das ist ja auch irgendwie logisch.«

»Schon«, sagt Benny. »Aber du redest da gerade von Schuhen. Wir reden hier von etwas viel, viel Größerem.«

»Wenn es im Kleinen funktioniert, kann es doch auch im Großen funktionieren«, sagt Henrike.

»Mikrokosmos, Makrokosmos«, füge ich hinzu und schenke Mark ein kleines Lächeln, das er erwidert. Als wäre diese Erklärung nur für uns beide bestimmt. Es erinnert mich an unsere Diskussion über Fraktale. An das Blatt, das er mir geschenkt hat. Meine Kopfhaut prickelt.

»Ist auch egal.« Benny schultert seinen Rucksack, blickt wieder finster zum Grab. »Jedenfalls kann das hier nicht von selbst hergekommen sein.«

Auch ich werfe einen letzten Blick auf das Grab. Der Geruch von Erde drängt sich in meine Nase, erinnert mich an die Tage, wenn ich Mama auf den Friedhof zu Opa begleitet habe. An das schwere Gefühl, das sich dort immer auf meine Schultern gesetzt und mich jedes Mal bis nach Hause verfolgt hat.

Den Glauben an Zufälle habe ich längst verloren. Dieses Grab ist ein weiteres Puzzleteil in diesem grausamen Spiel, in dem wir gefangen sind. Eine Warnung, auf der Hut zu sein.

Wer auch immer sich unter dieser Erde verbirgt, wenn er hier in diesen Wäldern liegt, scheint er kaum eines natürlichen Todes gestorben zu sein.

»Ich will hier weg«, flüstert Henrike.

Ich nicke, es fällt mir schwer, den Blick loszureißen. Am liebsten hätte ich das Kreuz aus Stöcken wieder tiefer in die Erde gesteckt. Es ist bereits etwas schief, vom Wetter mitgenommen. Der nächste Sturm wird es mit sich reißen. Aber dann sagt auch Benny, dass wir losgehen sollten, und wir lassen das Grab endlich hinter uns. Nur die seltsame Stimmung tragen wir weiter durch das Moor. Keiner von uns redet. Ich bin froh, dass die Geräusche unserer Schuhe die Stille des Waldes durchbrechen. Hier kann man nie wissen.

Benny und Henrike übernehmen für eine Weile die Führung. Wir kommen auf einen etwas breiteren Pfad. Alte überwucherte Reifenspuren sind auf dem Boden zu erkennen, bis sie wieder mit dem wilden Grün verschwimmen. Irgendwann verschwimmt es immer. Gedanken, Zeit, Wege. Ziele.

Tag 6, 13:53 Uhr, Moorwald.

Etwas Großes lugt zwischen zwei Bäumen hervor. Ich recke den Kopf. Ein Gestell, getarnt in olivgrünen Farben. Sieht aus wie … ein altes Fahrzeug?

Wir beschleunigen unsere Schritte. Unser Atem wird lauter. Tatsächlich. Der große Ast eines Baumes hat sich bereits über das vermooste Dach gelegt. Und auch unten um die Reifen herum hat die Natur ihr Werk getan.

Ich traue meinen Augen kaum, aber dort steht ein alter, verrosteter Jeep. Die grüne Plane, die nur noch halb über die Ladefläche gespannt ist, wird von einem Meer aus Flechten bedeckt. Das Auto wirkt unnatürlich groß. Aber vielleicht auch nur, weil wir schon lange nichts mehr so Weltliches gesehen haben.

»Fuck«, sagt Benny und schiebt sich die Kapuze vom Kopf. Mark tritt näher an das Fahrzeug heran. Unwillkürlich will ich Vorsicht rufen, aber da streicht er mit der Hand schon über die verrostete Fahrertür. Ich hole Luft. Es ist doch nur ein Auto, oder?

Ein gezacktes Symbol ist auf dem Blech zu erkennen. Könnte ein Stern sein? Marks Finger fahren nun genau über die verblassten Spitzen, die wohl einst in einem kräftigen Rot geleuchtet haben. Ich zucke innerlich zusammen, so als könne sich dieses Auto jeden Augenblick in ein Ungeheuer verwandeln. Entspann dich, Ira.

»Das muss ein altes Militärfahrzeug der Sowjets gewesen sein«, sagt Mark schließlich.

Und jetzt weiß ich, wieso mir dieses Symbol so bekannt vorkommt. »Der Stern der Roten Armee.«

Wir sehen uns alle verwundert an. Henrike hat die Arme fest um ihren Körper geschlungen, auch ihr ist nicht wohl bei dieser Sache. »Meinte Theo nicht sogar, dass die Anstalt früher ein Stützpunkt war?«

»Ja, dann ist das wohl wirklich aus DDR-Zeiten.« Benny fährt sich mit der Hand über sein kurz geschorenes Haar. »Komisch, dass die so ein Fahrzeug nicht geborgen haben, findet ihr nicht?«

Die runden, zersplitterten Scheinwerfer des Jeeps schielen mich wie Augen an. Aus dem Kühlergrill über der verbogenen Stoßstange hängt verwelktes Gestrüpp heraus. Mir kommt plötzlich die Assoziation eines bärtigen, strengen Gesichts in den Kopf. Wie in den animierten Filmen, wo die Autos anhand ihres Aussehens zu charakteristischen Figuren werden. Nur wirkt dieser Wagen nicht freundlich wie in einem Disney-Streifen, sondern eher wie aus einem tragischen Kriegsfilm, der mich mit einem zerschlagenen Gefühl zurücklässt und an dem ich noch nach Tagen zu knabbern habe.

»Schon seltsam, so ein Stück Geschichte zwischen all den Vorfällen um die Anstalt«, sagt Henrike.

»Und der beste Unterschlupf, den wir finden könnten«, bemerkt Mark nun sachlich.

Benny späht ins Innere der Fahrzeugkabine, beugt seinen Kopf gefährlich weit hinein. In meinem Nacken kribbelt es.

Der Jeep hat scheibenlose, breit ausgeschnittene Fenster und eine sehr tiefe Fahrertür, sodass wir mühelos hineinsteigen könnten. »Die Sitze im Inneren sind verdreckt, aber durch das Autodach relativ gut erhalten. Auf der Rückbank könnte es etwas kuschlig werden, aber reinpassen werden wir auf jeden Fall alle.« Bennys Stimme klingt aus dem Inneren gedämpft.

Mark inspiziert solange die Ladefläche des Jeeps. Dort hätten vermutlich noch mehr Leute Platz gehabt, doch die grüne Plane, die man dafür einst als Dach aufspannen konnte, ist so kaputt, dass wir sie nicht mehr als Überdeckung verwenden können. Außerdem ist der Boden der Ladefläche voll mit Erde, die durch den Regen matschig geworden ist.

Der Entschluss ist somit gefasst. Wir schlagen hier unser Lager auf und verbringen die Nacht im Fahrzeug. Ich versuche, gegen das innere Sträuben anzukämpfen. Es würde mir guttun, mich dort reinzulegen. Kurz die Augen schließen und alles vergessen.

Ich klettere also hinein, stoße mit der Hüfte gegen das rostige Lenkrad, wische mit dem Ärmel den Dreck vom Beifahrersitz. Henrike reicht mir die zwei Schlafsäcke herein, die wir aus dem Camp mitgenommen haben. Auf dem dunkelgrünen Armaturenbrett sind nur wenige Knöpfe und Regler. In der Frontscheibe ist ein kleines Loch, von dem sich weite spinnennetzartige Risse über die Scheibe ziehen. Ob das von einem Schuss stammt?

Wir regeln alles schnell und sachlich. Bald steht fest, dass Benny und Mark mit den Rucksäcken losgehen und nach etwas Essbarem suchen werden. Ich soll solange mit Henrike hierbleiben und mich ausruhen, ich sähe beunruhigend aus. Bestimmt wegen der Augenringe. Die bekomme ich sonst nie, aber wenn, dann sind sie dunkellila.

Ich protestiere nicht, lasse um mich herum alles geschehen. Allein den Kopf auf der Beifahrerlehne abzulegen, lässt mein System augenblicklich abstürzen. Nur noch am Rande muss ich an die Sowjets denken. An den Soldaten, der wohl genau hier gesessen haben muss, wo mein Körper jetzt das Lederpolster berührt.

Mein Magen krampft. Der Hunger ist plötzlich übermächtig. Als würden meine Organe mit ihm zusammenschrumpfen, jegliche Nährstoffe aufgebraucht. Ich hasse diese brutalen Intervalle. Scharfe Magensäure kommt mir die Speiseröhre hoch. Ich presse die Augen zusammen, bis der Krampf wieder abebbt. Verdammt. Wenn Benny und Mark nicht doch mal etwas Essbares finden, beiße ich bald in Baumrinde.

Henrike deckt mich mit einem der Schlafsäcke zu. Ihr lavendelartiger Eigengeruch, der noch an dem Stoff hängt, beruhigt mich. Der Krampf ist vorbei. Übrig bleibt ein Gefühl, das Muskelkater ähnelt.

Ich verändere nichts mehr an meiner Position. Es ist das erste Mal seit unserer Ankunft in der Anstalt, dass ich auf etwas Bequemem sitze. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Die Flucht vor dem Keuchenden Mann, Ricardas Leiche, Tims Ausraster, Vanjos Verrat. Aber ich will nun nicht mehr denken. Ich will einfach kurz nichts tun.

Meine Augen flattern. Dieser Erschöpfungszustand lässt alles surreal aussehen, fast wie im Film. Ich beobachte einen bunten Blattkäfer, der ein paar Zentimeter neben mir auf dem rostigen Schalthebel des Wagens hochkrabbelt. Seine winzigen Füße sind nicht dicker als ein Faden, und sein Panzer schimmert metallisch. Vor meinem blauen Schlafsack macht er halt. Vorsichtig tippt er mit einem schwarzen Füßchen den Stoff an, doch dann krabbelt er wieder davon. Verängstigt vom Unbekannten.

Ich schließe die Augen. Aber ob ich nur döse oder wirklich kurz schlafe, weiß ich nicht.

Henrike meint, ich wäre immer wieder kurz eingenickt. Sie sitzt auf dem Fahrerplatz und war die ganze Zeit bei mir. Ich habe nicht mal bemerkt, dass sie bis eben meinen Rücken gestreichelt hat. Für richtiges Schlafen bin ich trotzdem zu aufgewühlt. »Hast du eine Ahnung, warum Vanjo nicht mit uns gekommen ist?«, frage ich mit geschlossenen Augen.

»Leider nein, Ira. Es ging alles so schnell … ich verstehe es selbst nicht«, flüstert sie.

»Ich dachte, es wäre eine Phase.« Die Worte sprudeln jetzt aus mir raus, bevor ich sie überhaupt zu Ende gedacht habe. »So eine Phase, die jeder mal durchmacht. Die zum Erwachsenwerden gehört, nicht weiter dramatisch. Zuerst waren es nur kleine Rituale. Unsere Gute-Nacht-Nachrichten auf Whatsapp, die wir weggelassen haben. Dann gab es auch keine gemeinsamen Schulwege mehr, keine Lästerstunden über Mama und Papa. Die Lachanfälle, unsere dummen Witze über Tante Dunja, die nur wir verstehen. Und auf einmal hatten wir unterschiedliche Freunde, Vanjo ging nicht mehr zum Turnen, das viele Kiffen und Betrunkensein. Hätte ich es nicht hinnehmen dürfen? Vielleicht geht etwas in ihm vor, etwas, das ihn so sehr belastet, dass er es nicht aussprechen kann oder selbst nicht versteht. Stattdessen haben wir gestritten, und noch öfter gestritten, bis wir nur noch das Nötigste miteinander gesprochen haben und über andere Leute erfuhren, was im Leben des Zwillings passierte.« Ich atme lange aus. »Er ist so anders geworden. Trotzdem muss der alte Vanjo noch irgendwo da drin sein. Also, wie konnte er mir nicht glauben, dass ich nichts mit Ricardas Tod zu tun habe?« Ich schlage die Augen wieder auf und hebe etwas den Kopf. »Oder ist es wegen Alva?«

Henrike schürzt die Lippen. »Das glaube ich nicht. Meinst du wirklich, die beiden sind sich so nahegekommen?«

»Keine Ahnung.«

»Ich denke jedenfalls nicht, dass das der Grund ist«, sagt sie. »Es gibt bestimmt eine Erklärung für Vanjos Verhalten.«

»Wenn er mir gegenüber nur nicht so verschlossen wäre.«

»Das tut mir sehr leid, Ira. Ich hätte gerne einen Zwilling gehabt.« Sie hält inne und sieht versunken durch die verdreckte Frontscheibe. »Meine Geschwister sind alle sehr viel älter und wohnen nicht mehr zu Hause, daher war es schon immer schwer, eine richtig enge Bindung zu ihnen aufzubauen.«

Ich komme mir kurz etwas blöd vor. Hätte ich mehr auf sie eingehen sollen?

Doch dann schleicht sich ein interessierter Ausdruck auf ihr Gesicht zurück. »Welches Sternzeichen seid ihr eigentlich?«

»Schütze.«