The Woods 3. Die letzte Ankunft - Nova Hill - E-Book
SONDERANGEBOT

The Woods 3. Die letzte Ankunft E-Book

Nova Hill

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das atemlose Finale von "The Woods": Das düstere Geheimnis, das alle ins Verderben lockt ... Langsam kommt die Gruppe den Geheimnissen rund um die Anstalt auf die Spur. Eine entscheidende Rolle spielt dabei Marks verstorbene Mutter, eine Wissenschaftlerin. Mark möchte ihr Werk zu Ende führen und hat sich die Nervenheilanstalt für seine Forschungen und Experimente ausgesucht. Die Situation spitzt sich mehr und mehr zu – und schließlich kommt es zu einem packenden ShowDown. Schaffen die Jugendlichen es, ihre Konflikte beizulegen, um zu überleben?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Wer bist du, wenn du nicht du selbst bist?

 

Ein geliebter Mensch. Zwei Gesichter.

Bist du sicher, dass du das Richtige siehst?

Die Wahrheit kommt immer ans Licht.

Und manchmal ist sie schlimmer als alles,

was du dir je ausmalen könntest.

Mach dich bereit für den Kampf.

Er ist vielleicht dein letzter.

Ein Ort.

Ein Geheimnis.

Kein Entkommen.

 

Band 3 der hochspannenden Mystery-Reihe

Er machte den Eindruck eines Verwachsenen, doch konnte man nicht sehen, wo das Gebrechen saß. Er hatte ein widerwärtiges Lächeln; sein Benehmen gegen Utterson war eine Mischung von verbrecherartiger Furcht und Frechheit; er sprach mit einer heisern, flüsternden Stimme; alles dies mußte jedermann gegen ihn einnehmen; aber es war dennoch nicht genug, um diesen namenlosen Abscheu, diesen Widerwillen, diese Furcht zu erklären, die Utterson in seiner Gegenwart empfand.

 

Robert Louis Stevenson, Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Episode 1

Das Versprechen

Irina

Sechs Monate vor Tag 0, 10:00 Uhr, Geschlossene Psychiatrische Anstalt am Winkenberg, Behandlungszimmer.

»Wie fühlen Sie sich heute, Irina?«

Dr. Finn schlägt die Beine übereinander, auf denen er das Klemmbrett abgelegt hat. Der silberverchromte Kugelschreiber liegt zwischen seinen langen, schmalen Fingern. Kein Rumklackern, kein einziges Klicken.

Das macht mich schon beim Hinschauen nervös, ich kralle meine Fingernägel in die Stuhllehnen. Wer zur Hölle hält einen Kugelschreiber so still in den Händen?!

Die Luft hier drinnen ist verbraucht, und das Lederpolster des Sessels unter meinem Po noch warm von dem Patienten, der vor mir hier saß.

»Ich fühle mich nicht gut«, antworte ich schließlich. Genauso wie den Tag davor und den Tag davor und den anderen auch. So wie eigentlich alle Tage, seit mein Bruder von diesem Auto überfahren wurde.

In Dr. Finns Gesicht kann ich nicht mal ein minimales Zucken erkennen. Es ist anstrengend, den Blickkontakt zu halten. Ich muss kurz wegsehen, lasse die Augen durch das Behandlungszimmer schweifen. An der Wand hängen nichtssagende Gemälde von Landschaften. Über den alten Holzdielen liegt ein runder, gemusterter Teppich. Der geschwungene Glastisch mit Messingfüßen zwischen uns erinnert an ein abstraktes Designerstück, während die Bücherregale und der Schreibtisch im Rücken von Dr. Finn wieder aus dunklem, verschnörkeltem Holz sind.

»Sie wirken heute besonders gereizt«, antwortet Dr. Finn erst, als ich wieder zu ihm aufblicke und er sicher ist, dass ich nichts mehr zu meinem aktuellen Gefühlszustand hinzuzufügen habe. »Ist etwas vorgefallen?«

Ich schlucke.

Ja, das ist es. Es ist, verdammt noch mal, etwas vorgefallen. Aber wahrscheinlich würde man mir dann wieder sagen, dass es sich dabei nur um meine psychische Erkrankung handelt. Dass ich mir einbilde, dass Vanjo noch lebt. Davon sprechen die Psychiater doch die ganze Zeit. Irgendwann glauben sie noch, meine Wahnvorstellungen nehmen überhand, und fixieren mich ans Bett. So wie den aus Zimmer 108. Man hat solche Geschichten gehört.

»Es war nichts«, lüge ich und versuche dabei, extra nicht zu blinzeln, und dann erzähle ich von einem kleinen Streit mit meiner Zimmernachbarin Eva, schmücke die Geschichte etwas aus. Irgendwie muss ich diese Sitzung ja mit Inhalt füllen.

Dr. Finn hört aufmerksam zu, sieht dabei immer wieder nach unten, um irgendwelche Notizen auf sein Klemmbrett zu kritzeln. Sein graues Haar wird am Oberkopf lichter. Veranlagung? Er könnte Anfang vierzig sein, wirkt recht attraktiv. Helle Augen, weiße Zähne, ordentlich gekleidet. Unter dem weißen Kittel hat er sogar welche von diesen Hipster-Hosenträgern über dem Hemd. Dennoch ist Dr. Finn für mich nicht wirklich greifbar. Selbst nach über einem Jahr Therapie. Ob er überhaupt eine Familie hat? Ein Leben außerhalb der Wände dieser Anstalt?

Nachdem ich mit meinem Monolog über meine angeblich anstrengende Zimmernachbarin fertig bin, nickt er. Immer dieses langsame Nicken, danach das Gekrakel auf dem Papier. Sagen Sie mir doch einfach, was Ihnen durch den Kopf geht, Dr. Finn. Dass ich an einer Wahrnehmungsstörung leide? Dass ich die Dinge in meinem Kopf nicht richtig zuordnen kann? Dass sie auseinanderfallen?

Er sieht wieder von seinen Notizen auf. »Haben Sie von Ihrem Bruder geträumt?«

»Nein«, lüge ich erneut.

»Es ist gut, wenn die Träume weniger werden.«

»Wieso?« Ich kralle meine Finger tiefer in die gepolsterten Lehnen des Sessels. Das Leder hat an der Stelle schon mehrere helle Risse, sie fügen sich genau in die Form meiner Nägel. Aber das ist immer noch besser, als wenn ich sie in meine wunden Handballen drücke und die Haut dann aufreißt – so, wie ich das sonst mache, wenn ich unruhig werde.

»Irina.« Dr. Finn nimmt nun das Klemmbrett mit dem Stift von seinem Schoß und legt es vor sich auf den kleinen Glastisch, schaut mich wieder an, und all seine Aufmerksamkeit gehört jetzt nur mir. »Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss, einen solchen Verlust zu erleben. Zumal sich Zwillingspaare einander noch näher fühlen als vielleicht einem anderen Geschwisterteil, und deswegen mag es sich für Sie angefühlt haben, als wäre ein Teil von Ihnen gestorben. Nach traumatischen Ereignissen kann es vorkommen, dass sich Ihr Gehirn ein System zurechtlegt. Eines, in dem Ihr Bruder vielleicht noch lebt.« Seine rechte Braue hebt sich. Er sieht nahezu besorgt aus. »Aber Sie müssen verstehen, dass das nur eine Schutzreaktion Ihres Gehirns ist. Es will Sie vor diesen unerträglichen Belastungen abschirmen.«

Aufhören. Ich will das nicht wissen. Meine Finger rutschen von den Stuhllehnen, und ich muss sie verkrampft nach außen spreizen.

Dissoziative Störung.

Ich hasse diese Bezeichnung, sie macht mich wütend. Diese Psychologen glauben, Muster im Inneren der Menschen erkennen zu können, die dann in irgendwelche Kriterien aufgeteilt sind. Und weil ich ein paar dieser Kriterien erfülle, drücken Sie mir diese Diagnose auf. Das erscheint mir genauso wenig wissenschaftlich wie ein Tageshoroskop in einer Klatschzeitschrift. Das Innere eines Menschen ist doch komplett individuell.

»Entspannen Sie für einen Moment Ihre Finger«, sagt Dr. Finn und deutet auf meine Hände. »Eine Faust machen und dann wieder lösen.«

Er demonstriert es mir. Ich ahme seine Bewegungen nach, komme mir dabei vor wie ein Kind. Aber ich weiß, dass es hilft, um meine Finger wieder unter Kontrolle zu bringen. Er kennt das Problem mit diesem Tick. Ich will dann am liebsten, dass der Schmerz in meinen Handballen jeglichen anderen übertönt.

Dr. Finn lehnt sich zurück in seinen Stuhl. »Machen Sie die Übungen noch, die ich Ihnen beigebracht habe, wenn der Drang zu häufig da ist?«

Ich schnaube. Das Schweigen im Raum dehnt sich. Sogar das feine Ticken der winzigen Zeiger in seiner goldenen Armbanduhr kann ich hören. Ich habe keine Lust, ihm zu antworten.

»Na gut«, sagt Dr. Finn, und das ist meist das Stichwort, nach dem ich entlassen werde. »Heute ist vielleicht kein Tag, um über Ihren Bruder zu sprechen. Haben Sie denn die Hausaufgabe gemacht, die ich Ihnen das letzte Mal mitgegeben habe?«

»So halb«, sage ich gepresst. Ein klein bisschen Kooperation hat nie geschadet, um die Therapie erträglicher zu machen, aber diese Hausaufgaben sind grundsätzlich scheiße.

Dr. Finn ignoriert meinen Kommentar und fährt nach einer kurzen Pause fort. »Hat es denn funktioniert, die Was-wäre-wenn-Gedanken wegzulassen?«

Ich halte die Luft an. Was für eine dämliche Aufgabe. Ich soll aufhören, mich zu fragen, was gewesen wäre, wenn ich nicht mit Vanjo an jenem Abend vor der Turnhalle gestritten hätte.

Aber was ändert das schon. Denn es war eben kein zufälliger Unfall. Es war meine Schuld. Es war meine Schuld, dass das Auto meinen Bruder überfahren hat. Wenn ich ihn einfach in Ruhe gelassen hätte, dann …

»Irina?«

Der Punkt an der Wand, den ich seit einer Weile fixiert habe, beginnt zu flimmern. Mir ist ganz schwummrig. Ich reiße den Blick nur schwer wieder in Dr. Finns Gesicht. Es verschwimmt kurz. Zieht sich auseinander und dann wieder zusammen, bis es scharf wird. Ich presse die Augen für einen Moment fest zu. Das ist nicht gut.

»Hm?«, sage ich, würde aber am liebsten weiter abdriften.

»Sind Sie sicher, dass nichts vorgefallen ist?«

»Ja.«

»Sie wissen, dass ich nur mit dem arbeiten kann, was Sie mir anvertrauen.«

»Das weiß ich«, sage ich wie ferngesteuert, immer noch damit beschäftigt, meinen Blick zu fokussieren.

»Gut, dann berichten Sie mir einfach beim nächsten Mal, wie es Ihnen mit der Hausaufgabe ergangen ist.« Er erhebt sich, um mich aus seinem Zimmer zu begleiten.

»Okay.« Ich stehe ebenfalls auf, warte, bis der Schwindel weg ist, und folge ihm zur Tür. Doch das kann ich Ihnen bereits jetzt sagen, Dr. Finn, denke ich, und ein kribbelndes Gefühl steigt nun in mir empor. Ein Gefühl, von dem ich lange vergessen hatte, dass es existiert: Hoffnung.

Denn was wäre, wenn ich recht damit habe, dass mein Bruder noch lebt? Was wäre, Dr. Finn, wenn ich diese ganzen Monate über, die ich hier festsaß und auf diesem Sessel mit Ihnen gesprochen habe, mir rein gar nichts eingebildet oder dissoziiert habe?Wenn es tatsächlich einen Weg gibt, wie ich meinen Zwillingsbruder zu mir zurückholen kann? Meine Kopfhaut kribbelt.

Was wäre, wenn Vanjo nämlich gar nicht tot ist?

Sechs Monate vor Tag 0, 12:00 Uhr, Geschlossene Psychiatrische Anstalt am Winkenberg, Patientenzimmer Nowikow, Raum 217.

Ich lasse mich auf mein Bett sacken, es federt zurück. Jemand muss es frisch bezogen haben, während ich in der Sitzung war. Es riecht nach diesem sterilen Waschmittel, mit dem sie hier alles kochen. Genauso wie die graue Hose und das Hemd, das ich trage.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich beruhige. Ich spüre, wie heftig mein Puls geht. Wie das Blut durch meinen Körper pumpt. Warum bin ich so aufgeregt?

Schließlich weiß Dr. Finn nichts von meinem Vorhaben. Er kann vielleicht ahnen, dass mich etwas beschäftigt. Aber in meinen Kopf hineinsehen, das kann er zum Glück nicht. Das kann nur ich selbst.

Plötzlich klopft es an meiner Tür. Sie geht einen Spalt auf, es ist einer der jüngeren Pfleger. »Besuch für dich«, sagt er.

»Oh«, antworte ich.

»Er wartet am Empfang.«

»Danke, Michi.«

Er nickt mir grinsend zu. Seine Wangenknochen sind scharf geschnitten, die Nase ist gerade. Seine hellen Augen wie immer aufmerksam.

Michi ist dienstags und donnerstags auf unserem Stock. Er ist einer der wenigen, die ich leiden kann, und einer der wenigen, die mich duzen. Wir reißen manchmal Witze über die leitende Schwester. Keiner kann sie so gut nachmachen wie er. Was habe ich mich deswegen schon schlappgelacht.

»Bis später.« Er winkt zum Abschied und verschwindet wieder. Ich schlüpfe in meine Hausschuhe, straffe meinen Pferdeschwanz und zupfe meine Kleidung zurecht. Nach unten nehme ich selten den Fahrstuhl, sondern eile wie jetzt auch die Marmortreppen bis ins Erdgeschoss hinunter. Die Kronleuchter brennen, obwohl das Tageslicht durch die hohen Fenster in die Eingangshalle scheint. Man kann Fingerabdrücke auf dem schwarzen Klavier erkennen. Als hätte gestern jemand nach dem Mittagessen seine Hände nicht richtig gewaschen und Fettflecken von den frittierten Kroketten darauf verteilt.

Ein paar Meter neben dem Empfangstresen auf dem karmesinroten Teppich steht mein Besucher. Der hochgewachsene Junge in der Lederjacke und mit den dichten schwarzen Haaren dreht sich jetzt um. Der Blick seiner blauen Augen findet mich.

Ich komme vor ihm zum Stehen. »Hallo, Mark.«

»Hallo, Irina.«

Wir geben uns die Hand. Eine seltsame Aufregung erfasst mich. Nicht wegen seiner Erscheinung. Nein, ich bin gespannt, was er zu berichten hat.

Neben uns klingelt das Telefon am Empfang. Mehrere Ärzte in Kitteln laufen an uns vorbei. Ein Aktenschrank wird schwungvoll aufgerissen und wieder zugeschoben, dabei flattern die grünen Blätter der Calathea, die in einem Topf auf dem Hocker danebensteht.

»Es ist schönes Wetter heute, wollen wir draußen ein Stück spazieren gehen?«, fragt er.

Ich werfe einen letzten Seitenblick auf die beschäftigte Dame am Empfang, die jetzt hektisch in einer Akte herumsucht.

»Ja, gehen wir raus.«

Mark blickt auf meine Hausschlappen, in denen ich barfuß bin. Die Korkränder an den Fersen drücken sich bereits nach außen, so abgetragen sind sie. »Willst du dir noch andere Schuhe anziehen?«

Ich hebe ungläubig die Brauen. »Keine Ahnung, wann mich das letzte Mal festes Schuhwerk interessiert hat. Ich komme sowieso nicht weiter als bis zur Mauer des Geländes.«

»Klar, entschuldige«, sagt Mark und fährt sich durchs Haar.

Wir verlassen das Foyer. Die zwei großen Birken vor dem Hauptgebäude tragen Knospen. Früher habe ich mich über so was gefreut, da habe ich den Frühling geliebt, heute sind sie einfach da. Der Brunnen mit den zwei ineinandergeschlungenen Statuen plätschert vor sich hin. Wassertropfen spritzen aus dem Becken. Man will es uns in diesem Bau nett machen. Das dicke Eisentor, das ich in etwa zweihundert Meter Entfernung sehen kann, soll kaschiert werden.

Seien Sie nicht so zynisch, höre ich Dr. Finn sagen. Ja, er hat ja recht. Eine geschlossene Psychiatrie ist tatsächlich nicht so grauenvoll, wie ich es mir vorgestellt habe. Manchmal denke ich mir die Gitter weg, dann wirkt sie so normal wie jede andere Klinik auch. In der einen behandeln sie Magengeschwüre, in unserer eben die Köpfe. Trotzdem behagt mir dieser Ort nicht. Vor allem dann, wenn ich hinten bei den schweren Fällen auf Station 6 die Wachleute sehe, wie sie mit den muskulösen Dobermännern ihre Runde laufen. Für Sicherheit sorgen.

Ich steuere auf einen der äußeren Schotterwege zu. Nur vereinzelt sieht man grau gekleidete Patientinnen oder Patienten umherspazieren. Hin und wieder Angehörige. Sie sind schnell zu identifizieren. Fallen auf in ihrer Alltagskleidung.

Mark hat die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Wir gehen ein paar Schritte, bis wir außer Hörweite der anderen Spazierenden sind. Mein Puls ist inzwischen etwas runtergefahren.

Er kommt gleich zur Sache. »Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«

Wir laufen an einem Gärtner am Wegesrand vorbei, der noch mehr von den weißen Krokusblumen in die Beete pflanzt. Ich halte kurz inne. »Das habe ich. Wie ich dir schon bei unserem letzten Treffen gesagt hab, bin ich bereit, dir zu helfen.«

»Gut, ich hatte kurz Angst, du würdest mir doch nicht mehr glauben und abspringen«, sagt er.

Natürlich musste ich das erst mal sacken lassen. Schließlich ist Mark für mich nach wie vor ein Fremder, der vor einigen Wochen einfach so bei mir aufgetaucht ist. Und ich merke auch, dass er mir nur das Nötigste erzählt hat.

Was ich verstanden habe, ist, dass Mark aus einer anderen Realität kommt. Und dass in dieser Realität Vanjo noch lebt. Er wird meinen Bruder herbringen, aber nur, wenn ich ihm im Gegenzug Schutz biete. Ich bin seine Tarnung, damit er sich weiterhin in dieser geschlossenen Klinik als Besucher bewegen kann. Natürlich habe ihm nicht sofort geglaubt.

Wenn Mark diese Story Dr. Finn erzählt hätte, hätte der ihn direkt eingewiesen. Aber irgendetwas hat diesen verrückten Wissenschaftler zu mir geführt und mir bestätigt, was ich die ganze Zeit über gefühlt habe: Mein Zwillingsbruder lebt.

Trotzdem wollte ich einen Beweis haben, und den hat Mark mir gebracht. Er hat mir Aufnahmen auf seinem Handy gezeigt. Videos von Vanjo. Auf dem einen sieht man meinen Bruder, wie er auf dem Sportplatz hinter dem Winkenburger Schwimmbad Runden auf dem roten Tartan läuft. Es ist er, ganz eindeutig. Ich würde seinen Gang und die Art, wie Vanjo sich bewegt, von Milliarden anderen Menschen unterscheiden können.

»Also bist du nun meine Kontaktperson?«, versichert sich Mark, während wir weiter übers Gelände schlendern.

»Solange du dich an dein Versprechen hältst und mir Vanjo bringst.«

Er kneift die Augen zusammen, sein Gesicht ist jetzt genau der Sonne zugewandt. »Deswegen bin ich hier.«

Da ist wieder das Kribbeln, das ich vorhin in der Therapiesitzung gespürt habe. Ich sehe erwartungsvoll in sein symmetrisches, ja, schönes Gesicht.

»Ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie ich Vanjo hierherbringen kann. Zur Anstalt.«

»Wie?«, frage ich.

»Ein Schulprojekt.«

»Ein Schulprojekt?«

»Ja.« Mark sieht einmal über die Schulter, er zieht die Hände aus den Hosentaschen. Wir sind immer noch unbeobachtet. »Ich gebe mich als Biologiestudent aus und starte an Vanjos Schule ein Forschungsprojekt im Wald. Dann teile ich die Schülerinnen und Schüler in kleine Gruppen ein und führe sie auf eine vorbestimmte Route. Aber die Schilder für Vanjo werde ich manipulieren, sie werden ihn direkt zur Anstalt führen.«

In meiner Brust wird es eng. Vanjo. Mein Vanjo wird hierherkommen.

»Wann?«, frage ich und konzentriere mich wieder auf das Jetzt.

Mark fährt sich übers Kinn. »Ich brauche etwas Vorlaufzeit, um alles zu organisieren. Dann sind da noch die Sommerferien. Aber im Herbst, wenn das Projekt beginnt, wird es so weit sein. Bis dahin muss ich das Gelände genauer erforschen, um weitere Realitätsübergänge und deren Regelmäßigkeiten rauszufinden. Denn Vanjo wird dich nicht einfach so sehen können. Nur dort, wo deine und seine Welt zusammentreffen, verstehst du?«

»Schon«, sage ich gedehnt. Und dann steckt Mark seine Hände wieder in die Hosentaschen. Aus der rechten guckt ein kleines schwarzes Gerät mit einem Display heraus. Ich runzle die Stirn. »Was ist das?« Ich deute mit dem Finger auf das viereckige Ding, aus dem mehrere kleine Antennen herauszukommen scheinen.

Mark schiebt es hektisch in seine Jeans zurück. »Nichts.«

»Du weißt schon, dass ich dich auffliegen lassen kann, wenn du mir etwas verschweigst, das ich besser wissen sollte«, sage ich bissig und spüre meine pochenden Handballen.

»Ist nicht wichtig«, sagt er, doch seine angespannte Haltung entgeht mir nicht. Erneut scannt Mark die Umgebung. Wir sind noch immer außer Hörweite. Wobei einige Meter von uns entfernt ein Patient auf einer Holzbank am Wegesrand sitzt. Artur, ich kenne ihn. Ein älterer Mann mit irgendwelchen Lungenproblemen. Er ist nicht zu überhören, wenn er in einem der Gänge hinter mir läuft. Sein Keuchen sitzt mir dann jedes Mal im Nacken.

»Ich muss jetzt los«, sagt Mark. Seinen Daumen hat er immer noch in der Hosentasche mit dem Gerät eingehakt und verbirgt mir somit die Sicht darauf. Ob das die besondere Technologie ist, von der er mal gesprochen hat? Kommt er damit von seiner in unsere Welt und zurück?

»Na gut«, sage ich schließlich. »Dann haben wir einen Deal?«

Der groß gewachsene Kerl nickt aufrichtig.

Ich habe gar nicht gemerkt, dass wir angehalten haben. Mark und ich gehen eilig weiter über den Hof, an Artur vorbei, der seine altersbefleckte Hand zum Gruß hebt. Ich grüße mit nervösem Lächeln zurück, schaue dann zum Hauptgebäude der Klinik.

Herbst. Etliche Sitzungen werden dort drinnen bis zum Herbst auf mich warten. Sitzungen, in denen ich mein Vorhaben geheim halten und Mark vertrauen muss. Es fühlt sich noch ewig an bis dahin. Aber für Vanjo schaffe ich das. Für Ivana schaffe ich das.

Sechs Monate vor Tag 0, 18:47 Uhr, Geschlossene Psychiatrische Anstalt am Winkenberg, Gemeinschaftsraum.

Spielabende sind lächerlich. Nur eine weitere Maßnahme, um uns zu beschäftigen. Ich weiß, dass der aus Zimmer 108 genauso darüber denkt. Und trotzdem ist er jedes Mal anwesend. Wahrscheinlich, weil er sein ganz eigenes, persönliches Spiel daraus macht.

Sein Name ist Gerald. Er sitzt mir am Holztisch gegenüber, auf dem das Monopoly-Spielbrett aufgebaut ist. Er zieht das Papiergeld unserer Mitspielerin Lina über das Feld zu sich, während sich sein hageres Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Eins meiner Plastikhäuschen verrutscht dabei auf der ergatterten Schillerstraße, das ich dort auf dem gelben Balken platziert habe.

Lina rückt es wieder zurecht. Ihre Finger zittern leicht. Die Narben in Geralds Gesicht, die seltsame Symbole ergeben, verschrecken so manche Patienten hier.

Mich auch. Es waren damals sicher tiefe Schnitte in seiner Haut. Die Wunden scheinen nie richtig abgeheilt zu sein. Sie sind nicht weiß, so wie die paar Narben der Verletzungen, die ich mir damals beim Turnen zugezogen habe. Nein, sie sind leicht rötlich, teilweise lila. Als würden sie noch immer von innen bluten.

Ich zwinge mich, woanders hinzusehen. An den stucküberzogenen Außenwänden des Gemeinschaftsraums sitzen Pflegerinnen und Pfleger in weißer Kleidung, die die Spielabende leiten. Sie beobachten uns. Wenn ein Spiel ausartet – und es ist durchaus schon passiert, dass einer der Patienten handgreiflich wurde –, drücken sie den roten Knopf auf den kleinen schwarzen Pagern, die sie bei sich tragen. Dann kommt Verstärkung. Sie packen die Patienten mit gelernten Griffen und bringen sie raus. Was danach passiert, weiß ich nicht.

Ich habe bisher nur ein Mal ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht bekommen. Es war nach einem der lebhaften Träume, die von Vanjo handeln. Ich habe um mich geschlagen und geschrien, dass er mich braucht, dass ich hier raus und zu ihm muss. Nichts half, ich konnte mich einfach nicht beruhigen, bevor ich dann durch das verabreichte Mittel in einen benebelten Schlaf gesunken bin. Mein rechtes Augenlid zuckt, als ich daran zurückdenke. Das nervt. Es zuckt öfter mal. Da hilft auch das Magnesium nicht, das sie mir morgens in einem Glas Wasser auflösen.

Artur, unser vierter und letzter Mitspieler, ist an der Reihe. Erst vorhin haben wir uns draußen im Hof gesehen. Mit einer beeindruckenden Ruhe rückt er vier Felder vor und landet auf seiner eigenen Straße. Nichts passiert.

Gerald dreht den Kopf und fixiert mich. »Du bist dran.«

Bei seinen Worten jagt eine Gänsehaut meine Arme hinauf. Gerald selbst bezeichnet seine Narben als ein Kunstwerk. Andere glauben, die Symbole stehen für seine Opfer. Für jeden Mord eines. Man munkelt viel. Aber worüber soll man auch sonst reden, wenn man von der Außenwelt abgeschottet ist und diese Klinik das Einzige ist, was für einen existiert. Und dass Gerald früher auf Station 6 war, ist auch kein Geheimnis.

Diese Station liegt ein gutes Stück von den restlichen Gebäuden entfernt. Ich glaube, dort gibt es nicht mehr als zwanzig Betten. Doch die Patienten in dem Teil der Klinik sind wirklich unzurechnungsfähig. Sie sind vom Gericht eingewiesen worden, weil sie eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen. Unberechenbar, gewalttätig, psychotisch.

Der Trakt ist durch Stacheldrahtzaun, massive Türen und strengere Sicherheitsvorkehrungen abgeriegelt. Ich glaube nicht, dass Gerald wirklich Morde begangen hat, sonst hätte man ihn kaum wegen guter Führung dort entlassen und wieder hier zu uns anderen verlegt. Die Ärzte sprechen bei ihm von Autoaggression. Ich kann mir vorstellen, dass er einfach nur gelernt hat, seine gegen andere gerichteten Gewalttendenzen zu verbergen. Aber nur weil er länger unauffällig geblieben ist, muss das nicht heißen, dass er nicht trotzdem gefährlich ist.

Mir fällt ein kleiner roter Rand auf, der sich durch Geralds Hemd durchdrückt. Ob es frisches Blut ist? Ein Symbol, das er sich neu zugefügt hat? Er muss ein Messer geklaut haben, wie sonst …? Ich sollte nicht zu lange dort hinstarren, nehme die Würfel in die Hand, schüttle, werfe. Sie rollen nicht weit.

»Fünf«, sagt Gerald, der laut für mich zusammengezählt hat.

Ich rücke die Felder vor und komme auf eine Straße, die noch niemandem gehört. Ein kurzer Blick auf mein vorhandenes Spielgeld reicht, um zu realisieren, dass ich sie mir nicht leisten kann.

Das Monopoly-Spiel habe ich so gut wie verloren. Aber das juckt mich nicht. Ich bin in Gedanken noch bei dem Spaziergang mit Mark.

»Schlechter Tag heute, was?« Gerald starrt mich an. Seine Augen sind mit roten Äderchen übersät.

Auf seine Bemerkung gehe ich nicht weiter ein und reiche die Würfel an Lina weiter.

Da beginnt Gerald plötzlich zu lachen, entblößt gelbe Zähne. »Ich kenne dich, Kleine«, sagt er und malt mit seinem Zeigefinger Kreise in die Luft, genau auf der Höhe meiner Stirn. »Da arbeitet was in deinem hübschen Köpfchen.«

»Können wir einfach dieses Spiel zu Ende spielen?«, sage ich nüchtern, unterdrücke dabei jedoch ein immer stärker werdendes Unbehagen in mir. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Lina tiefer in ihren Stuhl sinkt.

»Aber natürlich, natürlich«, sagt Gerald amüsiert, und sein Kopf zuckt schließlich zu Artur.

Von Nahem wirkt dieser noch älter. Den tief liegenden Augen und den Falten nach zu urteilen, würde ich ihn auf mindestens siebzig schätzen. Etwa so alt, wie Opa geworden ist.

Er ist der Einzige, der noch eine Chance hat, Gerald in dieser Monopoly-Runde zu schlagen. Ich freue mich über die Ereigniskarte, die er gezogen hat und die ihm nun zu weiterem Spielgeld verhilft.

Die nächsten Runden verlaufen unspektakulär. Es kostet mich Mühe, mich überhaupt auf das Geschehen zu konzentrieren. Die klackernden Würfel, das Stimmengewusel von den anderen Tischen, irgendwo dazwischen das Trällern eines Radios – das alles strengt an. Ich schweife wieder ab. Gehe in Gedanken das Gespräch mit Mark durch.

Wie auch immer er diese Sache mit dem Schulprojekt hinkriegen will, ist mir egal. Er wird sein Versprechen halten, das zählt. Vanjo wiederzusehen, ist alles, was zählt. Ich habe gespürt, wie sehr Mark für seine Sache brennt. Diese Anstalt hat es ihm angetan.

»Du. Bist. Wieder. Dran.« Geralds raue Stimme dröhnt in meinen Ohren. Das gefällt mir nicht. Mit einem entspannten Spieleabend hat das nichts zu tun. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass bereits einer der Pfleger auf unseren Tisch aufmerksam geworden ist.

»Ist gut«, sage ich und will das hier nur hinter mich bringen, um mich einfach in mein Bett legen zu können. Meine Finger fühlen sich noch steif an von der Sitzung heute Morgen, ich habe Mühe, nach den Würfeln zu fassen.

Eine Zehn.

Nur knapp vor der Schlossallee von Gerald stoppe ich.

»Elf!«, sagt er spitz. »Eine Elf! Kannst du etwa nicht richtig zählen?« Verärgert schnappt er meine Figur und setzt sie lautstark ein Feld weiter auf seiner Straße ab. Mist. Ich muss besser aufpassen.

»Das macht tausendvierhundert, Schwindlerin.« Er streckt mir seine geöffnete Handfläche entgegen.

»Es war keine Absicht«, sage ich und suche meine letzten Scheine zusammen. Gerald schnappt sie mir gierig aus der Hand, er leckt sich mit der Zunge über die Oberlippe, als er die Noten nachzählt. »Ausrede«, murmelt er und sortiert das Papiergeld sorgfältig zu seinem Haufen.

»Es war wirklich keine Absicht. Ich habe nicht richtig aufgepasst.«

Er hat den Kopf noch über das Spielfeld gebeugt, schielt zu mir hoch. Das Funkeln in seinen Augen ist irre. Ich traue ihm alles zu. »Dann solltest du in Zukunft besser aufpassen.«

»Lass gut sein, Gerald.« Es ist nun Artur, der das Wort ergreift. Bisher hat er still, aber konzentriert dagesessen.

Gerald dreht den Kopf langsam zu ihm, fährt sich dabei noch mal mit der Zunge über die Lippen. »Das ist eine Sache zwischen mir und Irina, alter Mann.«

Artur röchelt. »Es ist nur ein Spiel.«

»So, ist es das?« Gerald scheint erst richtig in Fahrt zu kommen, die Angriffslust in seinen Worten ist kaum zu überhören. »Nur ein Spiel also. Wie interessant.«

Der Pfleger, der uns vorher noch beobachtet hat, ist jetzt abgelenkt und in ein Gespräch vertieft. Mist. Ich versuche dem Drang zu widerstehen, meine Fingernägel fest in meine Handballen zu drücken. Ruhig bleiben, dableiben, Irina.

Gerald gluckst, fixiert wieder mich. »Also, wenn das nur ein Spiel ist, dann ist es ja nicht so schlimm, wenn du nicht aufgepasst hast, richtig?«

»Hör auf«, ermahnt Artur ihn erneut.

»Schon gut«, sage ich und lege meine Hand kurz auf die Schulter des alten Herrn, sie bewegt sich unter seinem Keuchen mit.

Gerald beobachtet meine Geste mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Also.« Er zieht das Wort in die Länge. »Passt du besser auf, wenn es um Dinge außerhalb dieses Spiels geht?«

Mein Herz klopft. Was soll das heißen?

Am besten, ich gehe gar nicht erst auf ihn ein, greife nach den Würfeln. »Lasst uns fertig spielen.«

»Na, na, na. Du hast sowieso verloren, Schwindlerin. Zuerst aber sollst du noch meine Frage beantworten.« Er verengt die Augen zu schmalen Schlitzen, ich schaffe es kaum, ihn anzusehen. »Denkst du, ich habe nicht bemerkt, dass du so abwesend bist, seit dich dein neuer netter Freund besucht hat?«

Ich lasse die Würfel erschrocken los. Verdammt. Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. Woher weiß er von Mark? Beobachtet er mich etwa?

»Ihr solltet euer kleines Geheimnis hüten, wisst ihr.« Gerald grinst amüsiert. Er umklammert nun mit seinen langen, verkrusteten Fingern die Tischkante, sie erinnern mich an Tentakel, die sich festsaugen wollen. Und jetzt drückt er sich ganz hoch und beugt sich gefährlich nah zu mir rüber. Sein übel riechender Atem kommt mir dicht unter die Nase. Ich weiche ein Stück zurück. Mein Herzklopfen spüre ich nun bis in den Kopf. Wage es nicht, mir noch näher zu kommen. Fass mich nur ein Mal mit deinen ekligen Fingern an, und ich schlage Alarm.

»Es reicht!« Artur haut mit der Faust so kräftig auf unseren Tisch, dass die kleinen Plastikhäuschen umfallen und auf den Boden purzeln.

Lina zuckt heftig zusammen. Sogar das Stimmengewusel im Raum ist mit einem Mal versiegt. Alle Köpfe drehen sich zu uns um. Nur noch das Radio dudelt unbeirrt weiter. Aber selbst ich bin überrascht von dieser unerwarteten Wucht in dem Schlag des alten Mannes.

Er keucht, seine Brust unter dem Hemd hebt und senkt sich, die Faust immer noch geballt.

Gerald scheint unbeeindruckt, denn er zeigt nun mit dem Finger auf mich. »Du!«

Er will auf mich losgehen, schießt es mir durch den Kopf. Er will auf mich losgehen. Ich drücke die Fingernägel in meine Handballen, der Schmerz flutet bis hoch in meinen Arm. Doch dann eilt der Pfleger an unseren Tisch. »Was ist denn hier los?«, fragt er aufgebracht.

Gerald dreht den Kopf genervt zu ihm. »Was soll denn los sein?«

»Sie setzen sich jetzt erst mal wieder hin!«, fordert der Pfleger ihn auf und hält den Finger bereits warnend über den roten Knopf des Pagers.

Auffällig langsam lässt sich Gerald wieder auf seinen Stuhl nieder, lächelt brav. »Aber ich mache doch gar nichts, wir haben nur gespielt, nur gespielt.«

»Er denkt, ich hätte geschummelt, aber es war keine Absicht«, erkläre ich. Der Pfleger nickt mir zu.

»Schwindlerin! Schwindlerin!« Spucke tröpfelt aus Geralds Mund in meine Richtung.

Der junge Mann lässt jetzt nicht mehr mit sich verhandeln, er greift Gerald von hinten unter die Arme, hievt ihn hoch.

»Ist ja gut, ist ja gut. Ich hab mich doch nur über das Spiel geärgert«, sagt er kurz an den Pfleger gewandt, lässt sich dann jedoch ohne weiteren Widerstand abführen. »Ich weiß, was ihr vorhabt«, flüstert er noch in meine Richtung.

Mir schnürt es die Kehle zu. Was? Was hat er gesagt?

»Ich weiß, was ihr vorhabt«, raunt Gerald ein weiteres Mal zu mir. »Ich weiß es!«

Der Blick seiner weit aufgerissenen Augen klebt an mir, den ganzen Weg, den er durch den Aufenthaltsraum geführt wird, bis die Türen vor seinem irren Gesicht zuschwingen. Ich friere am ganzen Körper.

Der Tag vor Tag 0, 14:20 Uhr, Geschlossene Psychiatrische Anstalt am Winkenberg, draußen.

Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe hoch. Der Himmel ist bedeckt. Die Wipfel der Bäume haben ihr Grün verloren. Ein paar Laubblätter tänzeln knisternd über den Asphalt.

Endlich Herbst.

Es kribbelt in mir. Morgen, hat Mark gesagt, wird er Vanjo für mich herholen. Morgen um siebzehn Uhr wird er da sein und mich zu ihm bringen. Endlich ist es so weit.

Im vergangenen halben Jahr hat er mich in unregelmäßigen Abständen besucht. Ich habe ihn bei einigen seiner Streifzüge durch die Anstalt begleitet, viel sprach Mark dabei nicht mit mir. Aber ich habe den Teil meiner Abmachung eingehalten. Nun ist er an der Reihe.

Der Hof ist leer. Die meisten Patientinnen und Patienten haben sich in die nach Heizungsluft stinkenden Zimmer verkrochen. Ich ziehe draußen noch eine Runde und lasse mich von diesem kribbelnden Gefühl der Aufregung leiten. So viel Freude habe ich ewig nicht verspürt.

Das Drama mit Gerald am Spieleabend war schnell vergessen. Die leitende Schwester hat verordnet, dass er keinen Tisch mehr mit mir teilen darf. Vermutlich haben sie ihm auch ein Mittel verabreicht. An den ersten Tagen nach seinem kleinen Auftritt war Gerald nämlich besonders ruhig, mied die Nähe zu anderen Patienten. Aber natürlich würde er nichts tun, das ihn womöglich zurück auf Station 6 bringen könnte. So dumm würde er nicht sein.

Die Angst, dass Gerald jedoch wirklich etwas von meinem Geheimnis mit Mark wissen könnte, ist geblieben. Ich bin vorsichtiger geworden, habe mich brav dem System angepasst, um ihm kein weiteres Verdachtsmoment zu liefern.

Dr. Finn lobt mich. Tatsächlich ist auch der Tick mit meinen Handballen besser geworden. Nur heute, da fällt es mir wieder etwas schwerer. Aber sicherlich ist das nur die Aufregung. Ich laufe den Hinterhof in einem Bogen ab, aber dann wird es selbst mir zu frisch. Ich habe die Schultern wegen der niedrigen Temperaturen weit hochgezogen. Auch Artur ist zu einem kleinen Spaziergang hier draußen unterwegs. In letzter Zeit laufen wir uns öfter über den Weg. Ob er mich seit dem Monopoly beobachtet? Will er mich vor Gerald schützen?

Ich kann mich selbst verteidigen. Wir grüßen uns, ich höre sein Keuchen bis hier. Es schüttelt mich. Etwas zu schnell biege ich um die Ecke. Jetzt ist mir fast schwindelig. Mir wird das doch nicht alles über den Kopf wachsen?

Nein.

Atmen, Irina. Ich werde Vanjo wiedersehen, und darauf werde ich vorbereitet sein.

Ich steuere auf den Steinbrunnen zu, immer noch etwas unsicher auf den Beinen. Aber der Schwindel wird schon gleich vergehen. Vielleicht habe ich heute nur etwas zu wenig Wasser getrunken. Doch dann geht ein fieser Ruck durch mich hindurch. Alles flimmert. Das ist kein gutes Zeichen. Und jetzt verschiebt sich eins der Gesichter der umschlungenen Statuen. Vanjos Augen sehen mich daraus an. Fuck!

Ich presse die Lider fest zusammen, wische mir übers Gesicht. Als ich sie wieder öffne, ist Vanjos Antlitz verschwunden. Die Brunnenstatue sieht aus wie immer. Ein markanter, ausgemeißelter Gesichtsausdruck mit lockiger Frisur, wie man sie aus Geschichtsbüchern über die Renaissance kennt. Ich lasse die Schultern erleichtert sinken.

Das Morphen habe ich hinter mir. Dachte ich. So nenne ich es, wenn sich Gesichter plötzlich zu Vanjos verwandeln. Manchmal ist es kaum vorhersehbar. Erst wird mir komisch, dann beginnt alles leicht zu flimmern. So, wie wenn das Bild im Fernsehen für einen Moment hinterherhängt, bis es sich wieder neu zusammenfügt.

Hastig laufe ich zum Treppeneingang und drücke die breite Tür ins Innere des Gebäudes auf, werfe keinen Blick mehr zurück.

Drinnen fühle ich mich etwas sicherer. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir so eine geschlossene Psychiatrie ganz anders vorgestellt. Hier laufen keine Menschen herum, die merkwürdige Sätze vor sich hin murmeln, rumschreien oder an die Apokalypse glauben.

In der Regel sind die Patienten sehr, sehr liebe, einsame und ruhige Menschen. Eigentlich sind sie nur gebrochen vom Leben, Opfer vieler Schicksalsschläge und vom Leid gezeichnet.

Natürlich gibt es ein paar Ausnahmen. Dazu würde ich eindeutig Gerald zählen. Und manchmal … manchmal, wenn so was passiert wie gerade, wenn mein Sichtfeld flimmert und Gesichter morphen, dann frage ich mich, ob ich nicht auch zu den Ausnahmen gehöre. Man betrachtet mich vielleicht wie eine gewöhnliche Patientin. Doch bin ich von Station 6 überhaupt weit entfernt?

Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Das Morphen ist wie ein fremder, alter Besucher, der sich hin und wieder bei mir einnistet. Meistens kann ich ihn irgendwo in einem hinteren Zimmer meines Gehirns wegsperren. Aber allein die Erinnerungen an seine Besuche jagen mir schon Angst ein. Anfangs klopft er nur an, dann stemme ich mich gegen die Tür, halte ihn mit aller Kraft zurück. Doch manchmal, da bricht er einfach unkontrolliert aus, ich kann gar nichts tun. Dann kommt er einfach rein und verformt die Gesichter der Menschen zu Vanjos. Einmal war sogar der ganze Speisesaal voll von Vanjos Gesicht. Es drückt mir die Kehle zu, wenn ich daran denke. Ich falle immer wieder drauf rein.

Dr. Finn sagt, das sind dissoziative Schübe. Die ersten Monate nach dem Unfall waren sie richtig schlimm. Erst mit den Neuroleptika sind sie über die Zeit weniger geworden. Der letzte schlimme Schub ist sicher drei Monate her. Das eben am Brunnen, das war nur minimal.

Ich habe mir versprochen, nicht mehr so viel an das Morphen zu denken, das gibt dem nur Macht. Je öfter ich daran denke, desto schneller sucht es mich wieder heim.

Im Foyer trete ich meine Schuhe am Läufer ab. Man hat das Laub bereits bis zum roten Teppich hereingetragen. Hier drinnen staut sich die Wärme, sogar die Ränder der hohen Fenster sind beschlagen.

»Schönen Tag.« Die Dame am Empfangstresen lächelt mir zu. Es ist ihre antrainierte Höflichkeitsstimme. Die hat sie auch, wenn sie ans Telefon geht, normalerweise nervt sie mich, doch gerade bin ich einfach nur froh, dass dieser vertraute Klang mir wieder das Gefühl von Kontrolle gibt. Und die Gedanken an meine Schübe verdrängen.

»Gleichfalls«, sage ich in derselben freundlichen Stimmlage zurück. Sie lächelt irritiert.

Ich blicke auf die Wanduhr mit den römischen Zahlen hinter ihr, gleich fängt die nächste Gruppensitzung an. Mit dem Aufzug fahre ich in den zweiten Stock. Ich will mich noch mal umziehen. Im Flur werde ich plötzlich langsamer, halte schließlich an.

Da.

Gerald steht mit dem Rücken zu mir vor einem der vergitterten Fenster am Ende des Korridors. Der hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Vertieft blickt er nach draußen und murmelt etwas vor sich hin. Ich will es hören.

Vorsichtig schleiche ich mich näher. Mein Atem geht flach, ich zucke zusammen, als sich eine der Zimmertüren neben mir öffnet. Doch das Mädchen, das herauskommt, beachtet mich gar nicht. Dann ist der Flur bis auf Gerald und mich wieder leer. Es sind vielleicht drei Meter, die mich von ihm trennen, noch dicht genug an meinem Zimmer, sodass ich notfalls schnell darin verschwinden kann.

Ich spitze die Ohren. Ich muss einfach wissen, wie ernst ich seine Worte vom Monopoly-Spiel nehmen soll. Gerald könnte lange genug Patient hier sein, um so eine Schwelle entdeckt zu haben, von der Mark erzählt hat. Auffallen würde er mit einem solchen Geheimnis hier niemandem. Er wäre dann einfach schizophren. Wie Onkel Arno. Die Spaltung der Wahrnehmung in eine zweite Realität, so sagen es die Ärzte. Doch was, wenn beide Wirklichkeiten real sind?

Mein rechtes Augenlid zuckt. Tatsächlich kann ich Worte verstehen, ich bleibe dicht an der Wand.

»Schschschschsch«, macht Gerald. »Bald wird alles gut sein … ich spüre es in meinen Narben wie einen Wetterumsturz über dem Monsterauge. Morgen werde ich wieder rübergehen …«

Ich beuge mich noch ein kleines Stück weiter vor. Morgen rübergehen? Was meint er damit?

»… diese Spinner glauben mir alles, tsss. Diese hirnrissigen Marionetten. Aber ich brauche sie noch, ja.« Gerald hebt seinen Kopf etwas an. Ich zucke zurück, aber er hat mich nicht bemerkt, er hat lediglich sein Gesicht etwas weiter dem Himmel zugeneigt. »… sie helfen mir bei meiner Kunst. Unter dem Blutmond, ich sehe es vor mir, da werde ich es vollenden, ich muss alles vollenden. Dann wird sie nicht mehr traurig sein, nie wieder wird sie das sein. Am besten morgen schon, ja, wenn es wieder summt morgen …«

Jetzt schüttle ich den Kopf. Was tue ich denn da?

Ich kann diesen Blödsinn doch nicht ernst nehmen. Er ist hochgradig gestört. Das ist alles.

Ich beiße mir auf die Lippe, dann mache ich kehrt und verschwinde in meinem Zimmer. Die Tür lasse ich mit einem leisen Klicken ins Schloss fallen. Dieser Raum kommt mir noch kleiner vor als sonst. Hitze steigt mir in den Kopf, ich stütze mich mit einer Hand an der Wand ab. Kann es wirklich sein, dass Gerald mit rübergehen rübergehen in die andere Realität meint? In die, wo Vanjo auf mich wartet? Und warum morgen?

Morgen bringt Mark meinen Bruder zu mir. Mein Augenlid zuckt mehrmals hintereinander. Es muss ein Zufall sein. Bitte, das kann nur ein Zufall sein. Mir wird immer wärmer, meine Wangen glühen. Das ist nicht gut.

Tag 0, 17:17 Uhr, Geschlossene Psychiatrische Anstalt am Winkenberg, Patientenzimmer Nowikow, Raum 217.

Wo bleibt er nur?!

Es ist schon nach siebzehn Uhr, verdammt, Mark. Ich habe letzte Nacht kaum ein Auge zugemacht! Ungeduldig laufe ich die kurze Strecke zwischen Schrank und Bett vor und zurück. Du bist zu spät. Du hast gesagt, du holst mich ab. Du hast mir versprochen, dich an die Abmachung zu halten. Du hast gesagt, du bringst meinen Bruder zu mir. Ich blicke zu dem Bild von Vanjo auf meinem Nachttisch. Es war von seinem ersten Sieg bei einem Turnwettkampf. Mein Tick ist kaum mehr zu kontrollieren. Scheiße, Mark, ich kann nicht länger warten.

Ich kann schlecht atmen, reiße das Fenster auf und lasse frische Luft ins stickige Zimmer. Es hat seit Stunden in Strömen geregnet, gerade erst hat es etwas nachgelassen. Vanjo ist bestimmt ganz durchnässt. Hoffentlich friert er nicht. Hoffentlich fürchtet er sich nicht im Wald. Aber ich bin ja schon bald da, Vanjisco.

Es klopft an der Tür. Endlich!

Ich fahre augenblicklich herum. Oh Gott, ich bin so aufgeregt, reiße energisch die Tür auf, als mir vor Schreck das Wort im Hals stecken bleibt.

»… M-Mama? Papa?«

Das darf jetzt nicht wahr sein.

»Was macht ihr denn hier!?« Ich muss wohl ziemlich verdutzt in ihre Gesichter starren, denn Papas Stirn legt sich in Sorgenfalten. »Milaja, ist alles in Ordnung bei dir?«, fragt er auf Russisch, so reden sie meistens mit mir, und wie meistens, antworte ich dann auf Deutsch.

»Ich …«, stottere ich und kämpfe gegen meinen Tick an. »Ich … Ich habe einfach nur nicht mit euch gerechnet.«

Jetzt lächelt Papa wieder. Er tätschelt mir die Schulter. »Tut uns leid, dass wir dich so überfallen.«

Die beiden stehen immer noch im Türrahmen. Sie bringen etwas von diesem Zuhause-Duft mit. So riecht es, wenn man bei uns in den Eingangsflur reinkommt. Das macht mich irgendwie wehmütig.

Mamas Stimme klingt noch etwas zu hoch. »Möchtest du uns nicht hereinbitten?«

Ich zittere, als ich ihnen die Tür aufhalte. »Oh, na klar.«