Theater Theater 29 - Stefan Hornbach - E-Book

Theater Theater 29 E-Book

Stefan Hornbach

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Beschreibung

Stefan Hornbach »Schwalbenkönig«, Tracy Letts »Linda Vista«, Daniel Mezger »Edward Snowden steht hinterm Fenster und weckt Birnen ein«, Fiston Mwanza Mujila »Zu der Zeit der Königinmutter«, Yade Yasemin Önder »Kartonage«, Ewald Palmetshofer »Vor Sonnenaufgang«, Roland Schimmelpfennig »100 Songs«, Ferdinand Schmalz »jedermann (stirbt)«, Jen Silverman »Die Mitbewohnerin«, Katherine Soper »Wish List«, Robert Woelfl »Überfluss Wüste«.

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Seitenzahl: 823

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Theater Theater 29

Herausgegeben von Uwe B. Carstensen, Friederike Emmerling, Stefanie von Lieven, Barbara Neu und Bettina Walther

FISCHER E-Books

Inhalt

SchwalbenkönigPhilip ist schon vor [...]WheelerFigurenMottoErster AktErste SzeneZweite SzeneDritte SzeneVierte SzeneFünfte SzeneZweiter AktErste SzeneZweite SzeneDritte SzeneVierte SzeneFünfte SzeneSechste SzeneSiebte SzeneAchte SzeneNeunte SzeneEdward Snowden steht hinterm Fenster und weckt Birnen einEin Stückweit geht es [...]1. Self Portrait as a Fountain2. Social Engineering3. Interludium eins: Die Liebe4. Honey Trap5. Interludium zwei: Die Liebe6. ReenactmentAnmerkungZu der Zeit der KöniginmutterPersonenMonolog / Ouvertüre1. Zweistimmige Ballade in d-Moll2. Der Neue3. Dorfgeschichten4. Die Geschichte der KöniginmutterEpilogKartonagePersonenGegenwart ist die Zeit, [...]»die vergangenheit lässt dir [...]1 Zurückkommen heißt sich erinnern2 Im Karton3 Staubsaugerherz4 Dreckige Betten5 Marillen & Dämmerung6 Monolog für zwei7 Es rappelt im Karton8 Zungenküsse9 Das beste Abendbrot seit Jahren10 Jedem seine Richtung11 EndeVor SonnenaufgangHandelnde Personen1. AktSzene 1Szene 2Szene 3Szene 4Szene 52. AktSzene 1Szene 2Szene 3Szene 4Szene 53. AktSzene 1Szene 2Szene 3Szene 4Szene 5Szene 6Szene 7Szene 8Szene 9100 SongsPersonenProlog1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.Epilogjedermann (stirbt)Figurenvon schmählichem getierohne festung auch kein festgeschäftslos ist die menschliche naturein ungebetner gastvetternwirtschaftlichesder tod als spielmannder tod als mädchendann bleibts in der familieauf einer dunklen lichtungder tod als öffnung in der weltein trauertableauThe RoommatePersonen1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.Wish ListPersonenErste SzeneZweite SzeneDritte SzeneVierte SzeneFünfte SzeneSechste SzeneSiebte SzeneAchte SzeneNeunte SzeneZehnte SzeneÜberfluss WüstePersonen1234567891011121314151617181920212223242526272829303132Über die Autoren und ihre TheaterstückeStefan HornbachTracy LettsDaniel MezgerFiston Mwanza MujilaYade Yasemin ÖnderEwald PalmetshoferRoland SchimmelpfennigFerdinand SchmalzJen SilvermanKatherine SoperRobert WoelflQuellenhinweise und ErstaufführungsdatenWeitere Publikationen der Autorinnen und Autoren bei S. FISCHER und FISCHER Taschenbuch:

Stefan Hornbach

Schwalbenkönig

(Never walk alone)Klassenzimmerstück

Philip ist schon vor Beginn der Schulstunde im Klassenzimmer, unterhält sich mit der Lehrperson, gibt sich locker und freundlich. Sobald alle eingetrudelt sind, könnte die Lehrperson die Schulstunde damit eröffnen, ihn kurz als »besonderen Gast« anzukündigen, der nun von seinem Werdegang berichten wird, von seinem »Weg zum Erfolg« – oder Philip fragt einfach unvermittelt:

 

Soll ich einfach anfangen? Also, ich bin Philip. Manche von euch kennen mich vielleicht schon, also die, die sich für Fußball interessieren, denk ich mal. Und ich bin grade etwas … (äh) na ja, überrascht, weil ich – also, ich wurde angefragt, heute hier zu sein und, ja, so ein bisschen zu erzählen, und das Thema oder Motto sollte sein »Mein Weg zum Erfolg«, soweit ich weiß (stimmt das?) – und jedenfalls, also, ich hab jetzt gar nicht so ’nen Vortrag oder so was vorbereitet, weil; also, ich dachte eigentlich, dass wir so ganz locker in einer Runde sitzen und uns unterhalten und ihr mir Fragen stellt, aber jetzt hab ich grade von eurer*m Lehrer*in (der*dem Frau*Herrn [Name einfügen]) erfahren, dass ich erst mal ein bisschen was erzählen soll – meinen »Weg zum Erfolg«, nämlich, genau, und, ja, das mach ich natürlich gerne, klar; ich muss jetzt eben nur ein bisschen improvisieren, glaub ich. Aber das krieg ich hin. Also!

Also eigentlich muss ich jetzt nur das abrufen, was ich mal im Persönlichkeitstraining gelernt hab; das lernst du nämlich auch als Fußballer, wie du dich am besten verkaufst usw., also wie du Interviews gibst und so; kaum zu glauben eigentlich, dass Leute wie Poldi das ernsthaft mal gelernt haben.

So. Also. (Äh.) Ja. Wo fang ich an. Ja, genau, vielleicht am Anfang. Also! – ach, übrigens, wenn ich den hundertsten Satz mit Also anfange, dann dürft ihr mich gerne einfach mit Papierkügelchen oder Radiergummis oder so was abwerfen. Vielleicht kann ja auch jemand Strichliste führen. Also eine Also-Strichliste. Machst du das? Cool, danke. Sag Bescheid, wenn wir bei Hundert sind.

So. Mein Weg zum Erfolg! Fußballer wollte ich eigentlich schon werden, da war ich noch winzig, da war ich grade erst in der Grundschule, erste Klasse, da hat mein Vater mich zum ersten Mal mitgenommen ins Stadion. Der hat mich auf seine Schultern gesetzt, damit ich überhaupt was sehen kann. Für mich war das damals die totale Überforderung, aber eben auch so ein richtiges riesiges Fest, so was hatte ich vorher noch nie erlebt: Wie da alle zusammenhalten und ihre Mannschaft anfeuern, ihre elf besten Freunde, sich in den Armen liegen, singend, heulend, alle gemeinsam als 12. Mann; das hat mich komplett umgehauen. Und dann wollte ich natürlich auch so ’n Trikot haben. Aber das hat mir nicht gereicht. Ich wollte einer von den Elf werden. Also hab ich meine Eltern genervt, bis mein Vater mich im Verein angemeldet hat. Der fand das auch cool, der hat früher selbst mal gespielt, hobbymäßig. Und ich hab mir dann beim Training immer vorgestellt, dass wir in so ’nem riesigen Stadion spielen und angefeuert werden, das hatte ich damals schon vor Augen, dabei waren wir ja noch Zwerge. Aber so unrealistisch war das auch gar nicht, weil selbst bei den Zwergen schon geschaut wird, ob da der nächste Poldi oder Schweini dabei ist. Es gibt da so Scouts, das sind so Agenten, die grasen die Landschaft ab nach jungen Talenten. Wow, das hat sich gereimt. Will einer vielleicht noch so ’ne Reime-Strichliste führen? Du vielleicht? Vielleicht rappe ich den Rest auch einfach. Na ja. Also! Ah, verdammt!! Diese Scouts, die beobachten einen (jedenfalls) oft ’ne ganze Weile, ohne dass du es merkst. Wenn du Glück hast, wirst du zum Vorspielen eingeladen, wenn du noch mehr Glück hast, wirst du ins NLZ geholt, ins Nachwuchsleistungszentrum. Wobei Glück wahrscheinlich das falsche Wort ist. Da musst du schon extrem rausstechen, um da zu landen. Obwohl es von denen richtig viele gibt, die größeren Vereine haben eigentlich alle so eins, zur Nachwuchsförderung eben, und die, die von weiter her kommen, so wie ich damals, die wohnen da auch, also im Internat. Da fangen viele schon mit elf oder zwölf an, ich war mit 13 schon fast zu alt für den Einstieg. Mit 13 von zu Hause ausziehen, das ist natürlich krass. Erst fühlst du dich total cool und erwachsen, dann kriegst du Heimweh, wofür du aber überhaupt keine Zeit hast, und zugeben willst du das natürlich auch nicht. Damit musst du dann auch erst mal klarkommen, also, dass dein komplettes Leben einmal völlig umgekrempelt wird: Du musst noch früher aufstehen als eh schon, bist nur noch unter Jungs, die sich nebenbei auch noch mit Pickeln, Stimmbruch und Wachstumsschüben rumschlagen müssen; dein Tag, deine Woche, dein Leben ist plötzlich ganz genau durchgetaktet: Frühsport, Frühstück, Schule, Training, Mittagessen, Schule, Hausaufgaben, Training, Abendessen, Extratraining, am Wochenende finden dann auch noch Spiele statt. Du siehst deine Eltern eigentlich nur noch, wenn sie zu deinen Spielen kommen. Also, die sehen dich. Klar, das ist auch cool: Die kommen, um dich anzufeuern, und du spielst, als ginge es um dein Leben. Und zwar nicht nur, weil deine Alten extra angefahren kommen, sondern vor allem, damit du weiterkommst. Das lernst du nämlich auch ganz schnell: Dass du immer besser werden musst. Dass es nicht reicht, 100 Prozent zu geben. Das wird zu deiner Mission: Du musst lernen, deine 100 Prozent auszubauen. Ich meine: Wie viele Liegestütze schaffst du in einer Minute? Will das mal jemand ausprobieren? (Gibt es Freiwillige?) Du vielleicht? Wie viele schaffst du? Eher zehn oder eher 30? Probier’s mal aus – und dann probier morgen mal, doppelt so viele zu schaffen. (Das meinen Poldi & Co, wenn sie von 200 Prozent reden.) Klar, das klingt hart, das macht aber auch Spaß: Weil sich das ja auch geil anfühlt, die eigenen Grenzen zu überwinden. Der Weg zum Erfolg, der besteht ja quasi aus ganz vielen kleinen Erfolgssteinchen, der ist ja nicht einfach durchasphaltiert. Wenn du ein Tor geschossen hast, dann musst du immer gleich das nächste schießen wollen. Und wenn du nachlässt, wenn die anderen dich überholen, dann sitzt du eben ganz schnell auf der Ersatzbank. Und kurz drauf auf der Rückbank im Auto deiner Eltern, die dich nach dem vermasselten Spiel direkt wieder mit nach Hause nehmen in dein Kinderzimmerchen, wo du dann bis an dein Lebensende Gedichte schreiben und die dann dem*der Herrn*Frau [Name einfügen] widmen kannst. Oder deinen Idolen auf den (BRAVO-Sport-)Postern an deiner Kinderzimmerwand.

Mein großes Ziel war natürlich immer die Nationalelf – da wollen alle hin. Aber wenn du es schon mal in die Regionalliga oder 3. oder 2. Bundesliga oder vielleicht sogar 1. schaffst, also, eigentlich, wenn du es schaffst, dabeizubleiben, nicht rauszufallen, dann kannst du davon ausgehen, dass es ganz gut gelaufen ist für dich. Das Blöde ist nämlich, dass die meisten das gar nicht erst schaffen. Viele verletzen sich, andere kommen mit dem Druck nicht klar, aber selbst wenn du das hinkriegst, dann hört es ja nicht auf: Du musst dich immer wieder aufs Neue behaupten. Ganz oben spielt nur die Crème de la Crème, so hat das unser Schulleiter immer gesagt, da willst du natürlich dazugehören. Und wenn du dich einmal für den Profifußball entschieden hast, dann willst du auch nichts anderes mehr, dann wirst du alles dafür tun, immer wieder diesen Rausch zu erleben. Ich meine, wer von euch hat schon mal ein Tor geschossen? Oder die perfekte Vorlage? Oder in der allerletzten Sekunde ein gegnerisches Tor verhindert? (Keiner? Du vielleicht?) Wie fühlt sich das an? Wenn dich alle anfeuern, deinen Namen rufen. Da bist du dann der König, in dem Moment. Die lieben dich, und du hast dir diese Liebe verdient. Nach dem Gefühl wirst du süchtig.

Ja, und das ist natürlich schon auch geil, wenn man sich seinen Traum verwirklicht hat. (Darf ich das hier sagen, geil?) Na ja, aber der Weg ist ja auch immer irgendwie das Ziel, also, ich bin ja auch noch nicht am Ende angekommen; wie gesagt, viele kleine Steinchen, da kannst du eben auch mal stolpern oder vom Weg abkommen oder so. Ich weiß jetzt aber auch gar nicht, ob man daraus irgendwie was Kluges ableiten kann, also irgendwas, das ich euch mitgeben könnte, ’ne Moral oder Message oder so was, dann vielleicht: Kämpfe für deinen Traum? Gib nicht auf? (Gib niemals auf?) Was soll ich sagen? (Vor dem Spiel ist nach dem Spiel? Das Spiel dauert 90 Minuten? Das Runde muss ins Eckige?) Ich kann ja nur für mich sprechen. Versteht ihr. Ich hoffe, das geht jetzt nicht gegen den pädagogischen Dings, äh, Auftrag, oder am Thema vorbei oder so, aber ich kann ja ganz einfach nur für mich selbst sprechen, und bei mir hat’s eben geklappt. Mein Weg hat zum Erfolg geführt. Und bei vielen anderen eben … woandershin.

Ja. Und. Eigentlich. Also. Wenn ich jetzt ganz ehrlich sein soll. Soll ich? Ich versteh das jetzt mal als ein Ja. Wir haben ja noch bisschen Zeit, glaub ich. Oder? Wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich schon auch noch. Andere Ideen gehabt. Also. Ich meine, ich wollte das schon immer machen, klar, Fußball, das war mein Kindheitstraum. Aber, das ist ja auch ein Weg, den musst du einschlagen, solange du noch Kind bist; sonst wird das später auch nix mehr. Aber, ich meine, ich kann ja auch gar nicht wissen, was ich zum Beispiel mit 16, 17 gewollt hätte, also, ob ich da immer noch so fußballverrückt gewesen wäre. Weil, ich meine, damals, also, ich war ja wie gesagt erst 13, als das schon ernst geworden ist. Da geht es dann ja direkt schon um so was wie ’ne Karriere. Und du hast noch nicht mal richtig Bartwuchs. (Na gut, manche vielleicht schon.) Versteht ihr, was ich meine? Also. (Ups. Hast du ’nen Strich gemacht?) Meine Deutschlehrerin, das war die Frau Ruffing, die meinte zum Beispiel in der fünften Klasse schon, dass ich doch Journalist werden soll. Das hätte mir bestimmt auch Spaß gemacht: Sportjournalist, das wäre auch cool. Als Kind hab ich schon neben meinem Vater auf der Couch die ganzen Spiele kommentiert; das wäre auch was gewesen, Fußballkommentator. Kann ich ja auch immer noch werden, klar, die Fußballkarriere ist ja eh schnell vorbei. (Ich hab früher sogar wirklich heimlich Gedichte geschrieben, na ja, oder eben so Rap-Texte, klar, das war nur zum Spaß. Die waren aber gar nicht so schlecht, echt!) Aber, was ich meine: Sobald du in so einem Leistungszentrum bist, gibt es nur noch das eine große Ziel: der Nachwuchskicker der Nation zu werden. Und wenn das nicht klappt, ist das die absolute Katastrophe. Grade wenn du noch so jung bist. Da fängst du ja nicht einfach mal am nächsten Tag ’ne Banklehre an. Da musst du dann erst mal damit klarkommen, dein Lebensziel in den Sand gesetzt zu haben. Und was bist du dann noch wert? Was werden deine Eltern sagen, wenn du plötzlich wieder in der Tür stehst? Nur noch auf deinem Kinderzimmerchen hockst und FIFA zockst?

Meine Eltern haben mich immer total unterstützt. Na klar, die hatten auch Angst, als ich so früh ausgezogen bin, meine Mutter wollte auch ständig telefonieren und hat mich sooft es ging besucht. Die sind ja auch ein großer Teil meines Erfolgs, ohne die Unterstützung wäre das ja gar nicht – und der Stolz, der Stolz meiner Eltern, der hat mich auch immer motiviert und angetrieben. Mein Vater war gleich nach dem Trainer mein härtester Kritiker. Klar, da willst du natürlich auch nicht enttäuschen, das pusht dich auch total. Aber es war eben auch ’ne schöne Zeit, als das alles noch nicht ganz so existentiell war, als es beim Spielen vor allem um den Spaß gegangen ist; Fußball war für mich auch so ’ne Art Ausgleich, weil ich in der Schule eigentlich immer eher der Typ Einzelgänger war. Ich war jetzt kein MoF. Sagt man das noch? MoF? Mensch ohne Freunde? Ich meine, ich wurde immer respektiert. Bin aber auch nie wirklich aufgefallen. Ich hab mich auch nie so richtig für die anderen interessiert; ich bin nach der Schule lieber zum Training, irgendwann dreimal die Woche, irgendwann jeden Tag. Und da war ich dann schnell der Stärkste in der Mannschaft. Da konnte ich mir immer sicher sein, dass an mir keiner vorbeikommt. Dachte ich. Dann kam Timo.

Ich glaube, ich muss kurz von dem erzählen, weil der ist eigentlich sogar der Grund, weshalb ich überhaupt so weit gekommen bin. Ich erzähl das jetzt kurz, weil, also, Timo ist eben auch gleichzeitig so ’ne Art Gegenbeispiel. Der steht nämlich heute eben nicht hier und hält euch ’nen Vortrag, wie er das alles geschafft hat. Und der steht auch nicht hier, um euch zu erzählen, warum er das eben genau nicht geschafft hat. Oder gar nicht schaffen wollte. Das finde ich aber schon auch wichtig, also –

Timo heißt eigentlich Timothy, und der stand eines Tages einfach bei uns in der Klasse, das war in der sechsten. Und die Frau Ruffing, die hat ihn dann eben erst mal vorgestellt, als Timothy aus Ruanda, was, wie sie uns erklärt hat, ein Land ist in Afrika; viele dachten bis dahin ja, dass Afrika an sich nur ein einziges Land ist irgendwo weit weit weg; und dass der jedenfalls kein einziges Wort Deutsch spricht. Hat aber gar nicht gestimmt: Er hat dann nämlich direkt mal Hallo gesagt, was ja ein ganz guter Anfang war. Und die Frau Ruffing, die hat den dann direkt mal neben mich gesetzt, na ja, weil da eben ein Platz frei war. Was, wie gesagt, Stichwort Einzelgänger, eben auch seinen Grund hatte. Wahrscheinlich dachte die sich schon, dass uns das beiden nicht schaden würde, und ihr Plan ging auch komplett auf. Ich fand das nämlich total gut, dass der nicht gesprochen hat. Da ist mir nämlich aufgefallen, dass mich das oft extrem nervt, wenn einer dich die ganze Zeit vollquasselt mit seinem Kram. Also, ich weiß, dass ich genau das auch grade bei euch mache, und ich hoffe, dass eure*euer Lehrer*in nicht schon bereut, mich überhaupt eingeladen zu haben, weil ich hier langsam aber sicher vom Weg abkomme (vom Weg zum Erfolg), aber das eine hat eben auch mit dem anderen zu tun. Timothy und ich haben uns erst mal komplett ohne Worte verständigt, eher so mit Händen und Füßen, dann mit so comicartigen Kritzeleien im Unterricht, und nach ein paar Wochen konnte der dann eigentlich eh schon ziemlich gut Deutsch. Und obwohl wir die meiste Zeit miteinander abgehangen sind, hat Timothy nie so wirklich von sich erzählt; jedenfalls nicht, wo sein Vater abgeblieben ist, nicht von da, wo er herkam und wie die da gelebt haben, nicht, was er sein bisheriges Leben so getrieben hat, nicht, wer dieser Typ war, bei dem er mit seiner Mutter eingezogen ist; und ich hab dann auch nie so richtig nachgefragt.

Wir haben dann relativ schnell gecheckt, dass wir so telepathische Fähigkeiten haben, ja! (das war unsere geheime Superkraft). Und weil Timo, wie ich ihn dann schnell nannte, wahrscheinlich, weil ich faul war oder weil ich dachte, das würde ihn vielleicht schneller integrieren oder so, weil ich den jedenfalls überall mit hinschleppte und der mir aber auch so völlig selbstverständlich hinterherschlappte, weil der nämlich auch gar nicht nach Hause wollte – also, was ich sagen will: Es war klar, dass der früher oder später auch mit zum Training kommt. Und da hockte der sich dann erst mal ganz brav an den Spielfeldrand, aber der Trainer, der Herr Schneider, eigentlich so ein grummeliger Typ, der hat natürlich nachgefragt, wer das ist, die anderen Jungs wurden dann auch neugierig, und plötzlich fanden alle, dass Timo mitspielen soll. Vielleicht hatte der Schneider ja auch übersinnliche Fähigkeiten und wusste schon, dass in Timo so ’ne Art Ausnahmetalent schlummert. Was natürlich völlig. Wirklich völlig! Unwahrscheinlich war. Aber dass Timo, der sich dann auch erst mal kurz geziert hat, sieben! Also, kein Scheiß: Sieben! Tore schießen würde – und unser Keeper, der war jetzt zwar vielleicht kein besonderes Talent, also, der ist jetzt bei Real, also nicht bei Real Madrid, sondern da bei Real im Gewerbegebiet (hinter der Fleischtheke, glaub ich), aber der hat schon auch mal ’nen Ball gehalten. Sieben Tore! Damit hätte der Schneider auch nicht gerechnet. Und ich natürlich auch nicht. Und klar war ich stolz. Weil, ich hatte den ja mitgebracht. Ich hatte den ja quasi entdeckt. Und Schneider dachte sich vermutlich das Gleiche, nur eben von sich. Ich für meinen Teil musste dann relativ schnell kapieren, dass Timo ja auch ein eigener Mensch ist. Er war einfach ganz unabhängig von mir ein krasses Fußballtalent und würde bestimmt bald auf Postern in Kinderzimmern hängen. Ich meine, da hätte der hängen können. Müssen. Tut er aber nicht. Wird er auch nicht mehr.

Timos Talent war der einzige Grund, warum da überhaupt so ein Scout vorbeigeschaut hat, bei uns, das wussten wir auch, da gab es dann so Gerüchte, der Schneider hatte seine Kontakte spielen lassen, wie das eben so läuft. Und Timo hatte schon fast ein schlechtes Gewissen. Der hat das nämlich schon gecheckt, dass mich das auch irgendwie verrückt gemacht hat, dass der eindeutig, und das mein ich so, wirklich eindeutig der bessere Spieler war. Klar, auch ganz anders, vom Stil her: ich eher überlegt, genau beobachtend, dann aber kräftig nach vorn stoßend, mit ’nem starken linken Fuß. Aber immer kalkuliert. Und Timo völlig intuitiv, leichtfüßig, aber im richtigen Moment blitzschnell und überraschend. Trotzdem generell erst mal völlig entspannt, die gegnerischen Aktionen instinktiv im Blick, mit einer damals schon so weit fortgeschrittenen Technik, jetzt nicht feingeschliffen, aber doch so, als hätte der niemals irgendwas anderes gemacht in seinem bisherigen Leben. Klassischer Spielmacher, meinte der Schneider. Ich hab dann schon erst mal kurz überlegt, ob ich gleich freiwillig hinwerfen soll. Aber wahrscheinlich hätte Timo, die treue Seele, dann auch einfach direkt wieder aufgehört. Ich meine, wir waren ja beste Kumpels. Der hat mich sogar gefragt, ob er lieber nicht mehr mitkommen soll, aber das hätte ich ja auch niemals. Klar, ich hab dann schon auch mal gedacht, hätte ich ihn doch besser nie mitgenommen. Oder wenn er einfach nur zugeschaut hätte. Dann hätte der mich ganz einfach angefeuert und gut gefunden. Ich war sogar beleidigt, dass der mich nicht vorgewarnt hat (so: Hey, Vorsicht, ich bin voll der krasse Fußballer). Aber wie gesagt, ich hab den auch nie gefragt, was er da in Ruanda so getrieben hat, den ganzen Tag, ob die da vielleicht auch ’nen Fußball hatten. Für mich war klar, dass ich der bin, der dem anderen zeigt, wie alles funktioniert. Das hat sich dann fast so angefühlt, als hätte der mich vom Thron gestoßen. Aber dann haben wir uns ’nen Schwur geleistet, telepathisch. Wir haben nie drüber gesprochen, aber es gab den Moment, und an den erinnere ich mich gut, da hab ich Timo telepathisch geschworen, dass ich aufholen werde, dass ich auch so gut werden kann wie er. Dass wir gemeinsam stark sein werden, noch stärker. Und der hat das natürlich, wie das bei Telepathie eben so ist, sofort kapiert – oder zumindest irgendwie blöd gegrinst.

Ab da ging für mich dann das Extratraining los, meine Aufholjagd – vor Timo konnte ich das natürlich nicht verheimlichen. Und ich hatte auch keine Zeit zu verlieren, vielleicht kam der Scout ja schon am nächsten Wochenende vorbei – also spielten Timo und ich ab da nicht nur beim Training, sondern in jeder freien Minute: auf dem Schulhof, auf dem Schulweg sogar; jeder Tag wurde zum einzigen Match, und obwohl wir Verbündete waren, miteinander Verschworene, waren wir gleichzeitig auch ständige Gegner. Und ja, ich geb’s zu, Timo wurde auch so was wie mein heimlicher Lehrmeister. Ab da stand ich bei jedem Training extrem unter Strom, sah jedes Spiel als persönlichen Wettkampf. Zumindest gleichziehen, das wollte ich. Ich wollte wieder gesehen werden, vom Schneider, und auch ernst genommen. Und wer weiß, vielleicht würde ich ihn am Ende sogar doch noch überholen. Und irgendwann nach ’nem erfolgreichen Spiel spaziert der Schneider in die Kabine und verkündet vor versammelter Mannschaft, dass wir beide eingeladen worden sind, Timo und ich, zum Vorspielen beim Verein. Da hat Timo sich wie verrückt gefreut, und klar, ich mich auch, total; nur: Der hat sich gefreut, weil wir beide eingeladen waren. Und ich hab mich gefreut, weil ich es geschafft hatte. Ich hab dann versucht, das zu überspielen, aber der hat das sofort gecheckt. Da hat der mich so angeguckt. Und ich hab genau gehört, was der mir sagt, in meinem Kopf, ganz deutlich: Du bist immer nur so gut wie ich. Und ich bin immer nur so gut wie du.

Als wir zum Probetraining gefahren sind, hab ich mir dann auch noch was geschworen: Egal, was passiert. Wir sind ein Team. Egal, wer ausgewählt wird oder nicht – wir sind und bleiben Freunde. Timo war das eh klar, der wäre alleine vielleicht gar nicht da hingefahren. Und es war dann natürlich ausgerechnet Timo, der die Zusage bekommen hat. Der war von heute auf morgen wie ausgewechselt. Der konnte mich nicht mal richtig anschauen. Da wusste ich sofort, was los war. In der großen Pause hat er’s mir dann gesagt, und auch, dass er da nicht hingehen will, aufs Internat, ohne mich. (Obwohl er auch nicht gerne zu Hause war, bei dem Stiefvater.) Wir sind gar nicht mehr zurück in den Unterricht, wir sind den restlichen Tag übers Feld in den Wald und haben uns überlegt, ob wir nicht einfach abhauen sollten, was ja wirklich überhaupt gar keine Lösung für irgendeins unserer Probleme gewesen wäre. Als wir vorm Haus meiner Eltern standen, war’s dann schon dunkel. Ich hab Timo gesagt, dass er übernachten kann. Meine Mutter ist natürlich völlig ausgerastet, weil mittags schon die Schule angerufen hatte. Beim Abendessen, nachdem sich alle beruhigt hatten, hat sie dann erst verraten, dass auch jemand für mich angerufen hat. Das war die eine Möglichkeit, die ich nicht einkalkuliert hatte: dass wir beide ins NLZ geholt werden. Das war der absolute Jackpot, und wir waren die ganze Nacht hellwach, haben uns vorgestellt, wie das Leben weitergeht als riesiges Abenteuer, wie wir mal gemeinsam in der Nationalelf spielen, mindestens!, sind aufgekratzt durchs Zimmer gesprungen, haben uns gegenseitig als Fußballstars interviewt – und sind am nächsten Tag im Unterricht nebeneinander eingepennt.

Im Internat haben wir uns dann auch ein Zimmer geteilt, klar, wir fanden das supercool, ich dachte eigentlich auch, dass Timo froh sein müsste, von zu Hause weg zu sein, bis ich gecheckt habe, dass der generell kein Auge zumacht, nachts. Der hat einfach nicht geschlafen, der war immer wach, wenn ich selbst aufgewacht bin, und ich konnte auch nicht gut pennen, oben im Etagenbett. Vielleicht lag es einfach an der Umstellung. Im Training hat der trotzdem immer Top-Leistungen abgeliefert. Den anderen Jungs war er deshalb nicht so ganz geheuer, klar, da war auch Neid, die haben das ja auch schnell kapiert, dass an ihn keiner rankommt. Und Timo war zwar immer freundlich, quatschte aber auch nur im Notfall mit den anderen; als würde er dem Ganzen nicht trauen. Ich hab ihn dann auch mal gefragt, ob er seine Mutter vermisst oder so, ob er sich nicht wohlfühlt. Aber er hat dann einfach gefragt, ob er mal oben schlafen darf, im Etagenbett. Und ich dachte sogar kurz, ja, na klar, vielleicht war das ja das Problem. (Bisschen naiv, das weiß ich jetzt auch), ich für meinen Teil bin jedenfalls irgendwann eingepennt, davor hab ich versucht ihn abzulenken, die Geschichten weiterzuspinnen, von uns beiden in der Nationalmannschaft, aber ich konnte mich auch nicht die ganze Zeit kümmern. Ich wollte ja auch mal mit den anderen Kollegen quatschen. Von denen kamen dann auch paar blöde Sprüche gegen Timo. Als er beim Mittagessen dann endlich mal den Mund aufbekommen hat, meinte Deniz, das war einer von den ganz Coolen, nur so in meine Richtung: Hey Philip, hast du grade was gesagt, oder kann dein Schatten sprechen? Mein Schatten, der hat sich nix anmerken lassen, der verzog keine Miene, die anderen haben gelacht, ich vielleicht auch, kurz. War ja nur ein Witz. Dabei waren wir es ja, die in seinem Schatten spielten.

Ich erzähl das jetzt zu Ende, weil, vielleicht kann ich ja wirklich ein ganz gutes Beispiel abgeben; zum Beispiel dafür, wie man was wird, wenn man nur noch an sich denkt. Klingt fies? Wenn es dir wirklich um deinen Weg zum Erfolg geht, dann musst du eben auch für deinen Erfolg kämpfen. Und wenn es da etwas gibt, das dich. Irgendwie aufhält oder so. Dir im Weg steht. Dann musst du da eben dran vorbei. Dann musst du es vielleicht. Zurücklassen. Weitergehen. Logisch, oder.

Das geht so: Um 6.30 Uhr klingelt dein Wecker, nur, dass der Wecker jetzt aus den Lautsprechern kommt, der gleiche Song weckt dich jeden Morgen: You’ll never walk alone. Die Hymne. Der Lieblingssong vom Decker. Der Decker ist dein neuer Trainer. Der Decker ist ein Riese, ein Kraftpaket, als hätte der sich nach seiner Profikarriere im Kraftraum eingeschlossen. Der Decker ist auch dein neuer bester Freund, von da an. Alle anderen: Konkurrenz. Timo: dein Schatten, der ohne dich nie hier gelandet wäre, und du nicht ohne ihn. Du sagst ihm, er soll dir nicht mehr ins Ohr flüstern, vor den anderen, er soll dir nicht die ganze Zeit hinterherlaufen. Du bist nicht fies, du bist professionell. Du musst dich auf dich konzentrieren, du musst noch zulegen. Mit 14 bist du noch zu klein, zu schmal, schmächtig, du hängst dich nach dem Training an die Sprossen in der Halle, streckst dich aus, dehnst dich, zwei vier sechs Zentimeter werden doch noch drin sein. Du betest: Lieber Gott, an den ich nicht glaube, mach, dass ich wachse, dass ich mithalten kann, schnell, lass mich heranwachsen groß und stark, kräftig, lass mich perfekt sein. Timo ist perfekt: groß, athletisch, beweglich, trainiert. Wenn er vor dir steht, musst du zu ihm hochschauen, also gehst du ihm aus dem Weg. Jeden Abend drei rohe Eier. Drei rohe Eier, heimlich, du lässt sie aus der Küche mitgehen; wenn Timo nicht da ist, schlägst du sie in den Zahnputzbecher, runter damit. Liegestütze: erst 20, dann 30, 20 eng, 20 breit, später 30 eng, 30 breit, immer wieder, du schaffst die 50, 60, irgendwann, zitternd, machst zitternd weiter, bis du nicht mehr kannst. Du hörst auf, wenn du Schritte auf dem Flur hörst, könnte Timo sein, Timo drückt sich die meiste Zeit auf dem Zimmer herum, sitzt seine Zeit ab wie in einer Zelle, du versuchst ihn zu ignorieren, den Jungen mit den traurigen Augen, deinen besten Freund. Du willst so sein wie er. Du willst, dass es so ist wie früher und ihr euch halb totlacht, gemeinsam, vom Schulweg abkommt, über die Felder jagt, euch im Spaß umhaut, hinschmeißt, so festhaltet, bis einer sich nicht mehr bewegen kann, bis der andere Mitleid hat, bis ihr so erschöpft seid, dass ihr nicht mal mehr lachen könnt. Du sagst ihm, er soll dich nicht mehr so antatschen, vor den anderen. Du tust das auch für ihn. Er schläft noch immer nicht, der schläft einfach nicht. Das Bett über dir quietscht alle fünf Minuten, wenn er sich von einer Seite zur anderen dreht. Irgendwann wachst du auf, drei, vier Uhr, als er die Leiter runterklettert, im Dunkeln. Später, Stunden später, die du wach liegst, klettert er wieder nach oben. Der Wecker reißt dich aus deinen paar Stunden Schlaf: You’ll never walk alone. Decker kommt rein, Decker rennt durch alle Zimmer, wie jeden Morgen, aufstehen, los, Betten machen, Sachen wegräumen, jeden Tag Zimmerkontrolle, was liegen bleibt, verschwindet für immer. Beim Frühstück schaufelst du alles rein, was reinpasst, mittags genauso, so viel wie möglich, dann noch mehr, nur gutes Zeug natürlich, was anderes gibt’s auch nicht: Kartoffeln, Quark, Hähnchenbrust, Reis, ab jetzt nur noch All-You-Can-Eat. Die anderen checken das nicht; wie viele Portionen schaffst du, bis es einem auffällt; Timo hat dich im Blick, er kriegt alles mit. Du versuchst zu ignorieren, dass er deinen Blick sucht, dass er dich braucht, du kappst die telepathische Verbindung; Deniz meint: Hey Phil, habt ihr ’ne Beziehungskrise? Timo hockt nicht mehr neben dir beim Mittagessen. Hast du deinen Schatten verloren?, fragt Deniz, Timo steht auf, guckt ihn an: Ich heiße Tim. Und geht seiner Wege.

Mit Tim gab es noch weniger zu besprechen als mit Timo. Keine Ahnung, wer dieser Tim sein sollte. Er war noch immer der Favorit, die große Hoffnung von Decker. Der musste sich nicht mal anstrengen, der hatte aber einfach keinen Bock. Der hörte komplett auf zu reden, nahm nur noch Kommandos entgegen, führte Befehle aus, fast widerwillig, fast so, als würde man ihn dazu zwingen. Als hätte der sich vorne am Eingang selbst abgegeben. Das fiel nicht mal jemandem auf, dass der komplett verstummt war. Der guckte nicht mal mehr. Einmal, nachts, als es wieder über dir quietscht, versuchst du es, da sagst du zum ersten Mal seinen neuen Namen ins Dunkel hinein, sagst: Tim? Stille. Tim? Nichts. Irgendwann wieder Quietschen, dann die Leiter. Tim?

Da weißt du schon, dass es nicht am Heimweh liegt, dass es kein Kindheitstrauma ist, das ihn nicht schlafen lässt; du weißt als Einziger Bescheid. Du musst dich aber um dich selbst kümmern, deinen neuen Körper formen, Muskeln aufbauen, den Plan erfüllen. Die Panik vor dem Wiegen, du zählst die Tage, die Kalorien. Dreißig Jungs in Unterhosen, einer nach dem anderen tritt auf die Waage. Körperfettanteil. Muskelmasse. Dein Kopf pocht. Als du an der Reihe bist, sacken dir die Knie weg. Respekt, sagt Decker, Wärme überkommt dich, Erleichterung – Ziel erreicht. Aber ab jetzt musst du aufpassen, Philip, da schlägt der dir seine flache Hand auf die Hüfte, nicht, dass du ansetzt; also, weitermachen.

Ab da: Bisschen weniger All-You-Can-Eat, noch mehr Extratraining.

Irgendwann, so mit 15, als Tim schon ungefähr allen Vereinen aufgefallen war, da fing der an, die Schwalbe zu machen. Die Schwalbe machst du, wenn im Zweikampf nichts mehr geht und nicht mal dann, um ’nen Freistoß für dein Team rauszuschlagen. Du hängst deinem Gegner ein Foul an, Täuschungsmanöver. Das gibt Gelb, wenn der Schiri das checkt, und der ist ja nicht blind oder blöd oder beides. Die Schwalbe spannt ihre Flügel auf, Tim reißt seine Arme hoch, lässt sich fallen. Einmal kriegt er gratis dazu ’nen Schuh in die Fresse. Ziel erreicht. Tim hat das aber nicht für die Mannschaft gemacht. Anfangs vielleicht. Aber dann wurde es auffällig. Der hat sich damit ’nen Namen gemacht: Schwalbenkönig. Der hat gelbe Karten gesammelt, bis es zur Sperre gereicht hat. Bis er nur noch auf der Bank sitzen musste und abwarten, bis es vorbei ist. Da hat sich der Decker mit Tim in der Kabine eingeschlossen, wir anderen mussten raus. Decker hat gebrüllt wie so ’n Tier, wie so ’n Vater, der seinen Sohn verloren hat. Und als Tim dann wirklich auf der Bank saß, da hab ich ein Tor gemacht in der 89. Minute, den Ausgleich, nicht mit links, sondern mit dem Kopf, da war ich der Held, da war ich wieder angefixt, da wusste ich, wofür ich gekämpft hab und dass es sich gelohnt hat, so hart zu kämpfen, da hat sich alles eingelöst, da kamen alle an und haben mich gefeiert, da war ich wieder der König, da ist der Decker am Spielfeldrand in die Luft gesprungen, und hinter ihm Tim, Blick zum Boden, abwesend. Da dachte ich, der Junge hat sich aufgegeben. Und mich schon lange. Und ich ihn noch länger. Da wurde ich auch wütend, wie beschissen das alles gelaufen ist. Das muss dann nach dem Spiel gewesen sein, da haben die mich in der Umkleide noch gefeiert, bis auf Tim eben, der hat nur sein Zeug aus dem Spind geholt. Und Deniz, der Idiot, hat ihm dann so ’nen Spruch gedrückt, so was wie: Hey Timmy, bist du froh, dass du nicht mehr mit uns duschen musst? Hast du Angst, dass wir uns noch mehr von dir abgucken, Schwalbenschwänzchen? Eine Sekunde später steht Tim unter der Dusche, drückt Deniz gegen die Wand, holt aus, ich halte seinen Arm fest. Er schlägt nach hinten aus, ich knall gegen die Wand. Nichts passiert. Nur die Party war vorbei. Und Tims Karriere eigentlich auch. Obwohl wir dichtgehalten haben, sogar Deniz. Aber Tim war schon klar, dass es so nicht weitergeht.

Kurz drauf kam er zu spät zum Training. Fünf Minuten. So was ließ Decker ihm aber nicht mehr durchgehen. Tim musste sprinten. Decker trainiert ganz normal mit uns weiter, nur, dass Tim die Seitenlinie entlangrennt wie so ’n Verrückter. Decker hat ihn erst wieder beachtet, als Tim angehalten hat. Weitermachen. Das war sein Lieblingswort: Weitermachen. Vielleicht war das auch das Fiese beim Decker, dass er selbst dann noch freundlich klang. Tim hat’s versucht, hat sich weitergeschleppt, stolpert, wir trainieren weiter. Irgendwann hat Tim dann die Schwalbe gemacht. Hat sich fallen lassen. Nur, dass es diesmal kein Täuschungsmanöver war, der war am Ende. Der stemmt sich dann auch noch mal hoch, fliegt aber direkt wieder hin. Decker zieht ihn nach oben. Kannst du nicht mehr? Tim hätte nicht mal antworten können, wenn er gewollt hätte. Dann dreht Decker sich zu uns: Los, ihr seid dran. Tim starrt auf den Boden, Decker drückt sein Kinn nach oben: Schau’s dir an. Die machen das für dich. Das ist deine Mannschaft. Deniz war einer der Ersten, die nicht mehr konnten. Aufhören war aber verboten, du musst immer weitermachen. Ich bin gerannt und gerannt, ich hab Tims Blick gespürt, und dass es ihm leidtut, dabei tat es mir ja leid. Ich bin gerannt, als ging es um mein Leben. Oder das von Tim. Als könnte ich noch irgendwas retten. Ich bin gerannt, bis es mir hochgekommen ist. Da hab ich einfach alles vollgekotzt. Bin noch mit der Fresse reingeflogen in die Kotze. Dann Deckers Schuhe nah vor meinem Gesicht, ich seh nur noch verschwommen. Gut so, meint der, ganz freundlich, und weitermachen. Du musst immer weitermachen, wenn du was werden willst. Und das Training geht weiter. Und ich mach weiter. Ich mach immer weiter. Von da an war ich Deckers bester Freund, und er meiner, mein Lehrmeister – und Foltermeister. Alles nur zu meinem Besten. Das Beste oder nichts, das hat der auch gerne gesagt. Und Tim war abgeschrieben.

Tim war dann auch weg. Der Schrank in seinem Zimmer war leer. Kein kleiner Zettel, kein Abschied, nichts. Der Schwalbenkönig hat die Flatter gemacht. Und ich immer weiter. Alle haben einfach weitergemacht; keiner hat gefragt, alles wie immer:

Jeden Morgen um 6.30You’ll never walk alone du kannst es nicht mehr hören du kriegst es nicht mehr aus dem Schädel Aufstehen Betten machen Frühsport Frühstück Schule Training Mittagessen Schule Hausaufgaben Training Abendessen Extratraining Persönlichkeitstraining wo willst du hin wo sind deine Schwachstellen du musst sie finden und eliminieren search & destroy du musst durchhalten immer weitermachen du kannst es nicht mehr hören at the end of the storm is a golden sky du musst strammstehen and the sweet silver song of a lark strammstehen nicht anlehnen die Arme nicht verschränken es gibt kein Ja, aber, Ja, aber ist eine Krankheit Kranke werden aussortiert nur noch Ja – nie mehr Aber, die Schuld wird ab jetzt nur noch bei dir selbst gesucht wenn der Trainer sagt der Ball ist eckig dann ist der Ball eckig hast du das verstanden Ja, aber – runter Liegestütze im Kopf singst du dein Lieblingslied: You’ll never walk alone du musst noch besser werden am Ende spielt nur noch die Crème de la Crème am Ende der goldene Himmel der süße Silbergesang einer gottverdammten Lerche was auch immer das Beste oder nichts nur die Besten kommen in den Himmel du willst dazugehören zur Extrasahne du bist auserwählt du musst dich nur konzentrieren zum Nachtisch gibt es Beerentraum jeden zweiten Tag diese Grütze du kannst sie nicht mehr sehen Beerentraum du schaufelst ihn ferngesteuert in dich rein diesen Traum du weißt nicht mehr ob es dein Traum ist nachts träumst du nichts mehr du liegst wach wo ist Tim du musst ihn vergessen das Bett quietscht nicht mehr über dir er klettert nicht mehr zu dir runter doch es bleibt nicht lange leer ein 13jähriger zieht ein du lässt ihn spüren dass er unerwünscht ist ab jetzt geht es nur noch um dich ab jetzt wirklich wer braucht schon einen Schatten du vergisst alle, die du vermisst, du versuchst es zumindest; aus Schatten tritt man höchstens heraus. Du rufst nicht mehr zu Hause an, deine Mutter macht sich Sorgen, dein Vater behauptet, du bist jetzt erwachsen, du versuchst dich nicht zu fragen, wie es Tim gehen könnte, was er jetzt macht, in welchem Bett er schläft. Nur einmal, da liegt er wieder bei dir, nachts, sein Gesicht nah an deinem, hält dir den Mund zu, starrt dich mit großen Augen an, presst sich an dich, drückt dich nach unten, du bist wie gelähmt, als du aufwachst, ist er verschwunden. Jede Nacht denkst du an ihn, jede. Du wirst 16, 17, Pickel im Gesicht, und alle haben nur noch eins im Kopf: Sex. Nur du nicht, du lässt dich nicht ablenken, du trägst Scheuklappen, du machst Karriere. Alles, was es gibt, ist Fußball: Kein Sex keine Frauen kein Alkohol keine Zigaretten kein erster Joint nicht mal Schokolade nichts!, du drückst alles weg, weitermachen, immer weitermachen, du holst dir deinen Kick beim Spielen, du wirfst dich rein, du willst nicht mehr runterkommen, vom Rausch, du spürst dich, wenn du spielst, nur noch wenn du spielst, das Runde muss ins Eckige, keiner schießt wie du, mit links, du wirst Torschützenkönig, dein Erfolg spricht sich rum, du lässt alle hinter dir, du kannst die anderen nicht mehr sehen Idioten du kannst ihre Witze nicht mehr hören und lachst so laut du kannst Täuschungsmanöver! unter der Dusche drehst du dich weg jeden Tag Schwanzvergleich, du vermeidest! Körperkontakt. Du bist der neue Tim, dein Schatten so groß, dass die anderen darin spielen, einmal machst du die Schwalbe, Freistoß, du bist der neue Schwalbenkönig am Fußballhimmel. Unter der Dusche, fragt Deniz vor den anderen: Na, Philboy, hast du schon ein neues Schwälbchen? Du drehst dich zu ihm, einen Schritt auf ihn zu, sagst ruhig, ganz leise, ganz freundlich: Du bist leider nicht mein Beuteschema, Deniz. Ich steh auf Gewinnertypen. Auf dem Fernsehbildschirm im Gemeinschaftsraum die Nationalelf, sie frühstücken Nutellabrote, du könntest losheulen oder lachen, eins von beidem, du schaltest aus.

So hab ich einfach immer weitergemacht. Und jetzt steh ich hier und halte euch ’nen Vortrag. Mein Weg zum Erfolg. Ja, auf meinem Konto sieht’s ganz gut aus. Ich hab ’ne schöne große Penthouse-Wohnung mit Dachterrasse und Wohnküche, da lerne ich gerade, wie man für sich alleine kocht. Von mir mal abgesehen haben es nur wenige von den Jungs geschafft. Ziemlicher Aufwand, so ein Nachwuchsleistungszentrum, da wird jahrelang gesiebt, und am Ende bleib ich übrig. Deniz ist irgendwann rausgeflogen, der wurde mit ’ner Kippe erwischt. (Der Idiot.) Na klar, Rauchen tötet. Mein Weg zum Erfolg ging über Leichen. Und Tim, den hab ich nie wiedergesehen. Das hätte ich euch jedenfalls vor zwei Wochen noch erzählt.

Letzte Woche stand er nach dem Spiel am Hinterausgang. Da waren dann erst mal keine Schuldgefühle, bei mir, da war ’ne Freude, dass der lebt und dass der auch gesund aussieht. Ja, ich hab mich nie gemeldet, einmal wollte ich, aber dann – jedenfalls steht der plötzlich da und grinst wie ganz früher, nur irgendwie erwachsen geworden und ganz entspannt und auch noch so cool gekleidet, und bevor ich irgendwas (Entschuldigendes) sagen könnte, telepathiert der mir: Lass stecken, ist okay. Und ich zurück: danke.

Wir sind dann essen gegangen, er hat Bier getrunken, ich alkoholfrei wie immer, und dann hab ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben gefragt: Wie geht’s dir, Tim?

Und er: Ich heiße Timothy. Und dann fängt der an zu erzählen, ich glaub, ich hab den noch nie so viel reden hören. Dass er ganz erfolgreich ist, dass er studiert hat, Jura, dass er in Frankfurt sitzt, in so ’ner großen Kanzlei, dass ihm das aber auch schon wieder alles zu eng wird, dass ihn ja noch so viel anderes Zeug interessiert. Und während der so redet, da muss ich dran denken, wie ich dem früher alles gezeigt hab, damals, wie wir trainiert haben zu zweit auf dem Sportplatz im Winter, die ersten Schneeflocken fallen vom Himmel, ich strecke meine Zunge raus, um ein paar zu erwischen, aber Timothy starrt nur nach oben, streckt seine Hand aus, glotzt, lacht, und ich kapiere, dass der das noch nie gesehen hat, Schnee. Und was ich von dem gelernt hab. Und wo ich gelandet bin, seinetwegen. Und ich überlege nicht zum ersten Mal, ob es nicht auch irgendwie anders gegangen wäre. Ich denke an unseren Schwur.

Als Timothys Handy aufleuchtet, ist da auf dem Display so ein Bild von ihm, und, das war halt nicht zu übersehen, in seinem Arm so ein gutaussehender Typ, bisschen kleiner als er, dunkle Haare, 3-Tage-Bart, Sonnenbrille. Timothy merkt natürlich, dass ich gucke. Da waren wir in New York, erzählt er. Da fliegen wir nächste Woche auch wieder hin, wir ziehen quasi um. Meld dich doch mal, wenn du zufällig da bist.

Und ich denk an Timo, der nachts nicht schlafen kann, der nachts in mein Bett klettert, jede Nacht. Herzklopfen. Wie sich sein Atem langsam beruhigt. Ich sag zu ihm: Alles ist gut, irgendwann schläft er ein, aber nur, wenn ich ihn festhalte. So geht das jede Nacht. Auch als wir nicht mehr geredet haben, nachts lag der bei mir. Vielleicht konnten wir ja auch deshalb nicht mehr reden. Die Nächte waren wichtiger, als sich vor den anderen in Schutz zu nehmen. Täuschungsmanöver. Da kamen schon Sprüche, aber so richtig haben die das nie gecheckt. Dass das mehr war, dass das wertvoll war, mit uns. Ich musste das auch erst wieder lernen, alleine schlafen. Klappt immer noch nicht so gut.

Und ich frag ihn wieder nicht, als wir da zusammensitzen. Ob er überhaupt jemals. Fußballer werden wollte. Ob er noch spielt, manchmal. Ob er nur meinetwegen mitgekommen ist, aufs Internat. Was da bei ihm abgegangen ist, damals, wie er das alles. Wahrgenommen hat. Auch das mit uns. Ob er das einfach nicht ausgehalten hat. Nicht zu sich stehen zu können, nur heimlich, nachts, mit mir. Timothy fragt aber. Telepathisch, aber ich kann’s genau hören, ganz deutlich: Wie ist das für dich, Philip. Auf Kerle zu stehen und gleichzeitig mit ihnen auf ’m Platz?

Wie ist das eigentlich. Nicht zu wissen, wer man eigentlich ist oder sein will, weil man immer nur auf den Erfolg hingearbeitet hat. Weil man gar nicht wissen konnte, was wirklich wichtig ist. Ob man überhaupt sein darf, wer man eigentlich ist. Wer man ist? Wer ich bin. Keine Ahnung. Der ich sein will. Oder der ich sein muss. Sein soll. Muss ich das nicht sogar? Sein, der ich bin? Und als Timothy in sein Auto steigt, da wird mir klar, dass ich nichts weiß über mich, fast gar nichts, woher auch. Dass Timothy vermutlich mehr weiß über mich als ich. Und dass es keinen gibt auf der Welt, der mir jemals näher gekommen ist als dieser eine Mensch.

Wie ist das: Auf Kerle zu stehen und gleichzeitig mit ihnen auf ’m Platz? Ganz ehrlich? Ein Spiel dauert 90 Minuten, das Runde muss ins Eckige. Und wir sind elf Freunde. Ich meine, ich hab wirklich kein Problem damit, dass manche von denen ’ne Freundin haben. (Mir wollten sie auch schon eine andrehen, aber das wird leider nichts.) Also, im Ernst! Das Geheimnis meines Erfolges? Das war doch das Thema, oder Frau*Herr [Name einfügen]? Dass ich es bis hierhin geschafft habe, ohne aufzufliegen? Vielleicht war es ja die Schwalbe. Täuschungsmanöver, klar, aber auch ’ne gute Übung: sich einfach mal fallen lassen. Ganz easy und entspannt. Und wissen: Davongeflogen ist noch keiner. Vielleicht wird der Aufprall hart, aber du kommst sicher auf. Und dann stehst du auf und machst weiter. Da hat der Decker eigentlich ja recht gehabt: einfach immer weitermachen.

Du hast bestimmt ’n Smartphone, oder? Gib mal ein: You’ll never walk alone. Mach mal so laut wie möglich. (Los, wer’s zuerst schafft, gewinnt irgendwas.) Ist schon Pause? Auf die paar Minuten kommt’s jetzt auch nicht mehr an, los:

Das Lied dauert nur ein paar Minuten

When you walk through a storm

Ein Spiel dauert das ganze Leben

Hold your head up high

Die Wahrheit liegt auf dem Platz

And don’t be afraid of the dark

Oder irgendwo da draußen

At the end of the storm

Nach dem Spiel ist vor dem Leben

Is a golden sky

Das war ’ne Schwalbe, keine Lerche

And the sweet silver song of a lark

Eine Schwalbe macht noch keinen Elfmeter

Walk on through the wind

Elf Freunde hätten wir sein sollen

Walk on through the rain

Sein können

Though your dreams be tossed and

Elf oder 20 oder wenigstens zwei

blown

Seid Freunde, versucht es

Walk on walk on with hope in your

Seid wer auch immer ihr sein wollt

heart

Das ist gar nicht so einfach

And you’ll never walk alone

Wenn ihr mich fragt.

You’ll never walk alone

Anmerkung

Die Umgangssprache Philips versteht sich als Vorschlag, sie darf gerne so angepasst werden, dass der jeweilige Schauspieler sie leichter über die Lippen bekommt.

Der Name und das Geschlecht der anwesenden Lehrperson, auf die Philip immer wieder verweist, sind zu jeder Vorstellung anzupassen.

Es könnte lohnenswert sein, Strategien für den Umgang mit eventuellen Zwischenfragen von Schüler*innen zu entwickeln, auch solchen, die sich auf die behauptete Realität der Figur beziehen. Die Erfahrung aus bisherigen Inszenierungen zeigt, dass die Behauptung, es handle sich NICHT um eine Theateraufführung, sondern tatsächlich um den Vortrag eines jungen Profifußballers, problemlos von den Schüler*innen aufgenommen wird. Hier wäre zu überlegen, ob die Klasse vorab darüber informiert werden sollte, dass es sich um ein Theaterstück handelt.

Es wurde bewusst auf eine konkrete Verortung verzichtet, wodurch die Geschichte leichter an den jeweiligen Spielort anzupassen ist. Gleichzeitig ist zu beachten, dass der Text sich kritisch mit sportlicher Nachwuchsförderung auseinandersetzt, indem er Szenen erzählt, die zwar größtenteils auf wahren Begebenheiten beruhen, diese jedoch beispielhaft an frei erfundenen Figuren, also fiktionalisiert, in einem Leistungszentrum eines Fußballvereins durchspielt. Ob, auch im Hinblick hierauf, ein Ortsbezug hergestellt werden soll oder eben nicht, muss im jeweiligen Produktionsteam entschieden werden. Es ist nicht Ziel des Stücks, einzelne real existierende Vereine exemplarisch herauszugreifen und anzuklagen.

 

Ganz herzlich danke ich Marcus Urban (Verein für Vielfalt in Sport und Gesellschaft e.V.) und denen, die lieber nicht namentlich genannt werden möchten.

Tracy Letts

Wheeler

(Linda Vista)Deutsch von Anna Opel

Figuren:

WHEELER, 50 Jahre alt

PAUL, 50 Jahre alt

MICHAEL, Mitte 50

ANITA, Mitte 30

MINNIE, Anfang 20

MARGARET, 50

JULES, Ende 30

Ort:

Verschiedene Orte in San Diego.

Fünfzig ist ein gefährliches Alter – für jeden Mann, aber ganz besonders für einen, der, wie ich, gern mal ein sinkendes Schiff besteigt. Fünfzig zu sein fühlt sich so an, als überquere man eine stark befahrene Straße und habe auf halbem Weg, mitten im Gewimmel, vergessen, wo’s langgeht. Als würde man in einem dunklen, voll möblierten Zimmer rumstolpern, voller Angst, das Licht einzuschalten, weil man die Kakerlaken, die man bis dahin nur gerochen hat, dann sieht.

Mit fünfzig hat ein Mann viel zu sagen, aber niemand hört zu. Seine Ängste klingen unglaubwürdig, weil sie so neu sind, vielleicht nur erfunden. Sein Körper warnt ihn, führt ihn an der Nase herum, er hat Zahnschmerzen, sein Magen krampft – und kahl wird er auch. Der Pickel hier könnte Krebs sein, Verdauungsprobleme Anzeichen für den Infarkt. Leise Ermüdung erfasst ihn; er weiß genau, dass er alt sein sollte, dabei fühlt er sich jung. Ist weder eins noch das andere, nur zu Tode erschrocken. Bei seinen Freunden dasselbe, keine Aussicht auf Rettung. Es ist übel, so alt zu sein, der Ausgangspunkt außer Reichweite und keine Aussicht auf Wunder. Fängt er an, die leeren Jahre zu zählen, vor seiner Brust, kriegt er Lust, etwas anzustellen oder zu beten. Erfolg sei eklig und verderblich, sagen die Erfolgreichen – nur die Versager hören zu. Den Ekel kennen sie auch, nur ohne die Scheine. Und dann ist ihm klar: Das Schandeck steht unter Wasser, mit fünfzig schwimmt er los und strandet auf einer kleinen Insel, von der es keine Rettung gibt, bloß unterschiedliche Arten, unterzugehen.

 

Paul Theroux

Well the danger on the rocks is surely past

Still I remain tied to the mast

Could it be that I have found my home at last,

Home at last

Walter Becker & Donald Fagen

Erster Akt

Erste Szene

Wheelers neue Wohnung. Wheeler und Paul.

 

WHEELER

Danke.

PAUL

Viel hast du ja nicht.

WHEELER

Weißt du, was ich sage, wenn ich beim Umzug helfen soll?

PAUL

Was?

WHEELER

»Nein.«

PAUL

Beim nächsten Mal vielleicht nicht.

WHEELER

Weißt du, was ich nicht sage? »Mein Bruder hat ’nen blauen Fleck am Schwanz, und ich fahr ihn jetzt zum Arzt.«

PAUL

Du hast keinen Bruder.

WHEELER

Ich lüge nicht, darum geht’s; drauf geschissen. Wollen wir was zu essen holen? Vom Mexikaner? Ich geb einen aus.

PAUL

Geht nicht, Margaret und ich haben noch was vor.

WHEELER

Und was?

PAUL

So ’n Abendessen mit irgendwelchen Leuten. Alte Freunde von Margaret. Sind zu Besuch.

WHEELER

Schlafen die bei euch?

PAUL

Nur heute. Sind morgen auf ’ner Hochzeit eingeladen. Wir gehen essen. In Die Palme.

WHEELER

Klingt gut.

PAUL

Ist laut da. Ganz okay. Nicht schlecht. Es sind alte Freunde, wir haben nicht mehr viel gemeinsam. Manchmal gehen uns die Themen aus.

WHEELER

Das nervt. Deshalb sind neue Freunde besser als alte.

PAUL

Findest du?

WHEELER

Hast du doch auch gerade gesagt, man wird älter und ändert sich, und mit den alten Freunden hat man nichts mehr gemein. Warum ewig daran festhalten? Ist ja nicht Familie. Man sollte alte Freunde öfter mal gegen neue austauschen.

PAUL

Schon mal was von Loyalität gehört?

WHEELER

Kommt ganz drauf an. Loyalität gegenüber Ideen ist besser als Loyalität gegenüber Leuten.

PAUL

Nein. Das glaubst du?

WHEELER

Klar. Wenn du Leuten gegenüber loyal bist, liegst du irgendwann im Zelt neben Hitler.

PAUL

Und er war nicht gut im Zelten.

WHEELER

Oder? Erstaunlicherweise ein sehr unordentlicher Mensch.

PAUL

Bei diesen Leuten stört mich besonders eins, die sind echt konservativ in puncto Politik.

WHEELER

Sag ich doch.

PAUL

Es macht so viel … viele Themen umschiffen wir besser.

WHEELER

Verstehe. Die Herrenrasse zum Beispiel. Aber du kennst das ja, auf der Arbeit hast du ja dauernd mit solchen Leuten zu tun.

PAUL

Du würdest dich wundern, wie wenig wir im Rathaus über Politik reden. Aber die… Hoffentlich kommt die Sprache nicht auf Obama.

WHEELER

Diese rassistischen Schwuchteln.

PAUL

Natürlich geben die nicht zu, dass sie ihn aus rassistischen Gründen derart verabscheuen. Die tun so, als ginge es um seine Politik.

WHEELER

Man hätte mehr Achtung vor ihnen, wenn sie’s direkt sagten: »Ich kann Obama nicht ausstehen, weil ich die Schwarzen hasse.« Ich hab aufgehört, bei so was höflich zu bleiben. Ich glaub nicht mehr dran, dass man mit solchen Leuten ’nen gemeinsamen Nenner findet.

PAUL

Ja, oder?

WHEELER

Gemeinsamer Nenner? Da gibt’s nichts, was man gemeinsam nennen könnte. Die sind so unterbelichtet, die denken, Dinosaurier und Menschen hätten parallel existiert. Mit denen soll ich ’nen gemeinsamen Nenner finden? »Nein, mein Lieber, Sie sind halt ein Idiot, mit Ihnen will ich lieber nichts gemein haben. Ich bleib mal schön hier bei mir und Sie ganz da drüben, da, wo die Idioten sind.«

PAUL

Genau. Und dann – –

WHEELER

Echt jetzt, letzte Woche war ich mit ’ner Frau aus, und während dem Essen kam raus, dass sie aus ’ner großen Militärfamilie stammt, also alle sind bei der Armee gewesen, alle männlichen Familienmitglieder, und ich so: »Toll, dass sie gedient haben« oder so, und dann noch: »Nur blöd, dass diese überflüssigen Scheißkriege kein Ende nehmen, blöd, dass all diese Schwachmaten ohne ’nen triftigen Grund gestorben sind.« Und sie labert mich voll, von wegen Wie ein Mann hinter den Auslandseinsätzen der Regierung stehen. Ich so: »Ich hab doch gerade gesagt ›toll, dass sie gedient haben‹. Ich wär dafür, dass diese Typen nicht wegmüssen und grundlos sterben. Die sollen da draußen in der Bucht vor Anker liegen und ihre beknackten Manöver abhalten und von mir aus Liegestütze machen. Ihr seid doch diejenigen, die allem misstrauen, was von der Regierung kommt. Warum fahrt ihr dann so auf diese Kriege ab? Was glaubt ihr, wer sich die ausdenkt?«

PAUL

Und wie bist du da wieder rausgekommen?

WHEELER

»Zahlen!«

PAUL

Ja, kann ich mir vorstellen.

WHEELER

Ich hätte mir fast den Arsch wundgelogen, um sie ins Bett zu kriegen. »Ich liebe den Antiterrorkrieg, er ist noch viel aufregender als der Antidrogenkrieg.« Diese Frau, ach. Sie ist so wunderschön. Wie Ali MacGraw.

PAUL

Wow.

WHEELER

Ja. Ja.

PAUL

Wie Ali MacGraw in Goodbye, Columbus?

WHEELER

Mehr wie Ali MacGraw in Convoy.

PAUL

Öh, mit Dauerwelle?

WHEELER

Nein, sie hat keine Dauerwelle.

PAUL

In Convoy hatte Ali MacGraw ’ne Dauerwelle.

WHEELER

Ich weiß. Aber die Frau hat keine Dauerwelle.

PAUL

Wie kann sie dann wie Ali MacGraw in Convoy sein?

WHEELER

Die Essenz. Die Essenz von Ali MacGraw in Convoy.

PAUL

Komisch, wenn du sagst Ali MacGraw in Convoy, dann mal ich mir vor allem die Dauerwelle aus.

WHEELER

Mal sie dir halt nicht aus.

PAUL

Ich kapier das nicht, warum musste Ali MacGraw sich ’ne Dauerwelle verpassen lassen? Glattes braunes Haar war ihr Markenzeichen.

WHEELER

Nein, das war der schiefe Schneidezahn. Das glatte braune Haar war nur ein Merkmal, der schiefe Schneidezahn war ihr Markenzeichen.

PAUL

Du weißt, dass sie sexsüchtig war.

WHEELER

Echt? Woher weißt du das?

PAUL

Weiß jeder. Sie hat’s in ihrer Autobiographie geschrieben.

WHEELER

Du hast Ali MacGraws Autobiographie gelesen?

PAUL

Nein.

WHEELER

Sie war sexsüchtig? Das macht mich fertig.

PAUL

Warum das?

WHEELER

Weil ich nie sexsüchtige Frauen treffe. Noch nie hab ich ’ne sexsüchtige Frau getroffen. Wo war ich, als Ali MacGraw süchtig nach Sex war?

PAUL

Du warst ungefähr neun Jahre alt.

WHEELER

Sei nicht kleinlich. Es geht ums Prinzip.

PAUL

Egal wie alt, Wheeler, es ist nicht gesagt, dass sie auf dich abgefahren wäre.

WHEELER

Ist das nicht der Witz bei Sexsüchtigen? Sie sind dafür bekannt, dass sie nicht wählerisch sind.

PAUL

Und trotzdem ist nicht gesagt, dass die Extremversion einer Sexsüchtigen auf dich steht.

WHEELER

Und das soll ’ne Sucht sein? Also echt. »Sexsüchtig.« Gibt’s so was überhaupt?

PAUL

Ich glaub schon.

WHEELER

Echt? Ich mein, neuerdings nennen die alles Sucht, was wir maßlos tun, aber ist es deshalb gleich ’ne Sucht?

PAUL

Kommt darauf an, wie du– –

WHEELER

Ich hab da mal ’ne Frage. Eigentlich ja nicht, weil ich die Antwort kenne. Als du ein Junge warst, hast du da nicht die ganze Zeit gewichst?

PAUL

Klar.

WHEELER

Also? Mit dreizehn warst du wichssüchtig!

PAUL

Bin ich immer noch.

WHEELER

Bingo.

Lässiges High five.

Vielleicht hat Ali MacGraw einfach gern gevögelt. Müssen wir sie deshalb kriminalisieren?

PAUL

Ich kriminalisiere sie nicht. Und ich hab sie auch nicht sexsüchtig genannt.

WHEELER

Hast du doch.

PAUL

Sie hat sich selbst sexsüchtig genannt.

WHEELER

Dann ist sie zu streng mit sich. Vielleicht sollte sie sagen: »Hi, ich bin Ali MacGraw, und ich vögel gern rum.«

PAUL

Früher mal.

WHEELER

»Hi, ich bin Ali MacGraw, und ich hab früher mal gern rumgevögelt.«

PAUL

Und wo sagt sie das noch mal, in der Werbung?

WHEELER

Ja, sie ist in ’nem Werbeclip für Papierhandtücher. »Hi, ich bin Ali MacGraw, und ich hab früher gern mal rumgevögelt, und wenn ich Papierhandtücher benutze, nehm ich die von Brawny.«

PAUL

Das ergibt keinen Sinn. Was hat übermäßiges Vögeln mit Papierhandtüchern zu tun?

WHEELER

Sie ist ’ne prominente Werbestimme. Das Talent muss nicht zum Produkt passen. Erinnerst du dich an Joe DiMaggio und Mr. Coffee? »Hi, ich bin Joe DiMaggio, ich hab ’nen Schlag-Durchschnitt von 32,5 %, hab neunmal die World Series gewonnen, und wenn ich Kaffee trinke, mach ich ihn in diesem billigen Plastikscheißding.«

PAUL

Neunmal die World Series? Echt jetzt?

WHEELER

O ja. Scheiß Yankees.

PAUL

Und du glaubst, seine Lorbeeren als Yankee beeindrucken die kaffeetrinkende Öffentlichkeit mehr, als dass er Marilyn Monroe flachgelegt hat?

WHEELER

Ooh.

PAUL

Also angenommen, du wärst Joe DiMaggio.

WHEELER

Okay, das nehm ich gern mal an.

PAUL