Den Hund überleben - Stefan Hornbach - E-Book

Den Hund überleben E-Book

Stefan Hornbach

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Beschreibung

Wie es weitergeht, wenn es nicht mehr weiterzugehen scheint – ein bewegendes Debüt von Stefan Hornbach. Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung.

Sebastian sollte überall sein, aber nicht in seinem alten Kinderzimmer, nicht in diesem Neubaugebiet irgendwo in Deutschland. Er sollte in seiner WG sein, er sollte an der Uni sein, er sollte mit seiner besten Freundin Su zusammen andere Jungs kennenlernen und einfach leben. Aber alles kommt anders: Drei Tumore sind in seinem Körper, zwei davon faustgroß. Die Chemotherapie muss so schnell wie möglich beginnen und Sebastian zieht wieder zu seinen Eltern ... Eine starke Geschichte über Freundschaft und Familie, über Jungsein und Krankheit. Stefan Hornbach legt ein mitreißendes Debüt vor, das so selbstverständlich und bewegend von Existenziellem erzählt, wie es nur selten zu lesen ist.

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Über das Buch

Sebastian sollte überall sein, aber nicht in seinem alten Kinderzimmer, nicht in diesem Neubaugebiet irgendwo in Deutschland. Er sollte in seiner WG sein, er sollte an der Uni sein, er sollte mit seiner besten Freundin Su zusammen andere Jungs kennenlernen und einfach leben. Aber alles kommt anders: Drei Tumore sind in seinem Körper, zwei davon faustgroß. Die Chemotherapie muss so schnell wie möglich beginnen und Sebastian zieht wieder zu seinen Eltern ... Eine starke Geschichte über Freundschaft und Familie, über Jungsein und Krankheit. Stefan Hornbach legt ein mitreißendes Debüt vor, das so selbstverständlich und bewegend von Existenziellem erzählt, wie es nur selten zu lesen ist.

Stefan Hornbach

Den Hund überleben

Roman

Carl Hanser Verlag

Für meine Schwester

In Erinnerung an Susanne und Ferdinand,die sich selbst überlebten

»Solange sich so viel militärische Übertreibung an die Beschreibung und Behandlung von Krebs heftet, ist sie eine besonders ungeeignete Metapher für die Friedliebenden.«

SUSAN SONTAG, KRANKHEIT ALS METAPHER

Papagei

In einem Secondhandshop im Marais probierte ich ein Jeanshemd nach dem anderen an, die meisten waren mir zu groß. Su fotografierte mich mit ihrem Handy, vor dem einzigen Spiegel im Laden hatte sich ein Touristenpaar aufgebaut. Ich weiß nicht, ob es die Hemden waren, die mir nicht gefielen, oder meine Posen auf den Fotos.

Lass uns gehen, sagte ich, doch Su kletterte ins Schaufenster und zog einer Puppe das Jeanshemd aus.

Es passte perfekt. Ich betrachtete mich im Spiegel, der endlich frei geworden war.

Na los, sagte Su, nimm es mit.

Dann warf sie mir noch ein in Gelb, Rot und Türkis gebatiktes T-Shirt über die Schulter, das ich hässlich fand, aber trotzdem kaufte. Das Jeanshemd behielt ich gleich an.

Später, als wir in einem Park am Louvre lagen, holte Su das Batik-Shirt aus meinem Jutebeutel und entdeckte unter dem Muster ein Herz-Symbol, auf der Rückseite prangte in roter Schrift: Jesus loves you. Sie knüllte es zusammen und benutzte es als Kopfkissen. Ich riss mir ein Stück Baguette ab, schmierte geschmolzenen Camembert darauf und dachte laut darüber nach, ob die Redewendung leben wie Gott in Frankreich von jemandem erfunden worden sein könnte, der an einem sonnigen Tag im April in einem Park am Louvre gelegen und Baguette mit Camembert in sich hineingestopft hatte.

Wow, raunte Su, jetzt komm ich mir wieder vor wie eine Touristin.

Bald bist du mich ja wieder los, sagte ich.

Quatsch, sagte sie schnell, bleib bitte einfach für immer, okay?

Sie versicherte mir mehrfach, ich könne ganz im Ernst … auf jeden Fall … ohne Probleme … solange ich wolle … bei ihr bleiben. Sie müsse mir schließlich auch noch alle Leute vorstellen, die sie in nicht einmal einem Semester so gut kennengelernt hatte, dass sie bereits von Freunden sprach. Von den beiden Jungs, die, wie Su so beiläufig wie möglich erwähnte, in einer offenen Beziehung lebten, zeigte sie mir Fotos auf ihrem Handy, damit ich begriff, dass ich sie wirklich dringend kennenlernen musste. Sie sahen genau gleich aus, gleich schön, und unterschieden sich nur durch den schmalen Oberlippenbart, den einer von beiden trug. Sie sahen glücklich aus.

Glaubst du, mir würde so ein Schnauzer stehen?

Meinst du den Hund oder das im Gesicht?

Beides.

Bastian, ich finde, du kannst einfach alles tragen.

Su warf mir das Batik-Shirt über den Kopf und legte ihren an meine Schulter. Die Sonne schien durch den Stoff vor meinem Gesicht, es leuchtete rot und türkis.

Am späten Nachmittag machten wir Fotos mit dem Eiffelturm im Hintergrund. Su mit dem Handy, ich mit der alten Olympus-Kamera, die ich in meinem Reiserucksack wiedergefunden hatte. Auf dem Display von Sus Blackberry konnte man ihn leicht übersehen, den Turm zwischen unseren Köpfen. Ich ließ mir nicht anmerken, dass ich ihn gerne aus nächster Nähe bestaunt hätte. Auch Notre-Dame sah ich nur aus einiger Entfernung. Am liebsten wäre ich gleich noch ins Disneyland gefahren, für ein Foto mit Goofy vorm Dornröschenschloss.

Auf Leihrädern rasten wir in halsbrecherischem Tempo durch die halbe Stadt, Su immer vorneweg, mitten durch den Feierabendverkehr, in riskanten Manövern wichen wir Autos aus. Su fuhr über eine rote Ampel, ich bremste kurz ab, trat dann aber doch noch in die Pedale, als gäbe es das gelbe Trikot zu gewinnen. Im letzten Augenblick kam ein Taxi zum Stehen, der Fahrer schrie mir durchs offene Fenster nach, hupte, doch ich war schon weitergefahren, mit vom Fahrtwind tränenden Augen und einem Kribbeln im ganzen Körper, als hätte ich genauso gut davonfliegen können. Oder eben draufgehen.

Sonntags wachte ich gegen Mittag in Sus Bett auf, das sich aus einer Neunzigerjahre-Schrankwand klappen ließ. Die Wohnung war winzig und die Wände so dünn, dass es sich anhörte, als blubberte der Kaffee in der Espressokanne nicht auf dem Herd, sondern neben mir auf dem Nachtschränkchen.

Su saß mit Brille am Küchentisch vor ihrem Laptop, mit einem dicken Buch, Medizin, das sie aber sofort zuschlug, als ich in Jogginghose und Batik-Shirt die Küche betrat.

Guten Morgen, Jesus Freak!, rief sie.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und nahm die Kanne vom Herd. Su fing gleich von den beiden Jungs an, die ihr geschrieben hatten, dass sie am Nachmittag auf einen Hausboot-Rave gehen würden. Das Boot lag nur einen Sonntagsspaziergang zum nördlichen Ufer der Seine entfernt. Sie hatte sogar schon eine Tasche gepackt. Zum vielleicht ersten Mal trank ich meinen Kaffee schwarz, mit viel Zucker, so wie Su, und nahm die Zahnbürste mit unter die Dusche. Als es an der Badezimmertür klopfte und Su von draußen fragte, ob sie kurz reinkommen dürfe, blieb mir fast das Herz stehen.

Klar!, rief ich, trat mit einem Fuß aus der Dusche, entriegelte die Tür, sprang schnell wieder zurück, zog gleichzeitig den Vorhang zu und drehte mich zur Wand.

Sofort stellte ich das Wasser wieder an, es wurde abwechselnd extrem heiß oder so kalt, dass es schmerzte. So schnell ich konnte, brauste ich mich ab. Drehte das Wasser aus, um zu hören, ob Su noch am Waschbecken stand.

Alles klar?, fragte sie in die Stille.

Klar!, rief ich erneut, stellte das Wasser wieder an und ließ es über meine Füße laufen, bis Su ihre Kontaktlinsen eingesetzt und das Badezimmer verlassen hatte.

Noch in der Dusche trocknete ich mich ab und versuchte, das Handtuch so um meine Hüfte zu binden, dass es hielt.

Im Schlafzimmer durchwühlte ich meinen Rucksack nach einer Unterhose, aber da war keine mehr.

Du kannst auch gern meine Sachen anziehen, bot Su an, die hinter mir stand, ich hatte sie nicht kommen hören.

Ich weiß nicht, ob mir deine Unterwäsche passt, sagte ich.

Su zog eine Schublade auf, holte eine karierte Boxershorts hervor, warf sie mir zu und blieb noch einen Augenblick im Türrahmen stehen.

Ach so, sorry, sagte sie und ging nach draußen.

Die Tür ließ sie offen.

Es war der letzte Tag vor meiner Abreise. Auf der Straße blinzelte ich gegen die Helligkeit an. In der Sonne war es schon fast zu warm, doch sobald sich eine Wolke vor sie schob, wurde es auf der Stelle zu kühl. Wir waren schon eine Weile an der Seine entlangspaziert, in einiger Entfernung konnten wir das Hausboot ausmachen. Die Schlange, die sich bereits davor gebildet hatte, bemerkten wir erst, als wir an ihrem Ende angekommen waren. Wir beschlossen, uns gar nicht erst einzureihen, die Musik schallte ohnehin zu uns herüber. Su setzte sich an die Kaimauer und ließ ihre Beine über dem Wasser baumeln. Es ging nur ein paar Meter hinunter, doch im ersten Moment konnte ich mich kaum dazu überwinden, mich zu ihr zu setzen. Sie tippte auf dem Handy herum, während ich vorsichtig in die Hocke ging, mich auf beiden Händen abstützte, nach vorn rutschte und schließlich langsam ein Bein nach dem anderen über die Mauer streckte. Su schrieb den Boys, wie sie die beiden nannte, wobei ich zuerst Beaus verstanden hatte, was aber auch gut passte. In der Schlange hatte sie die zwei nicht entdeckt, und das Boot war voller junger, schöner, tanzender Boys und Beaus, manche in Tanktops, andere mit freiem Oberkörper, als wäre der Sommer ausgebrochen. Aus ihrer Tasche holte Su einen Plastikeimer voll Couscous-Salat, dann eine Ein-Liter-Flasche, die sie, wie ich beim ersten Schluck bemerkte, mit sehr viel Gin und etwas Tonic gefüllt hatte. Es gab nur eine Gabel, weshalb wir in der folgenden halben Stunde wie einstudiert Eimer und Gabel gegen die Flasche tauschten, bis wir so satt waren, dass nur noch die Flasche zwischen uns kursierte.

Eine gute Stunde später war sie komplett und der Eimer immerhin zur Hälfte geleert. Su beobachtete einen großen, hageren Mann mit tätowierten Armen und blondierten Haaren, der allein gegenüber an der Reling stand und die zweite Zigarette in Folge rauchte.

Schaut er dich an oder mich?, fragte Su.

Hat er geschaut?, fragte ich.

Was meinst du, wollen wir uns auch blondieren?

Oder wir lassen uns tätowieren, schlug ich vor, vielleicht den Eiffelturm?

Oh ja, rief Su, oder ein Baguette!

Es ist Sonntag, fiel mir ein.

Zum Glück, dachte ich, wahrscheinlich hätte ich alles mitgemacht.

Sus Handy vibrierte auf der Steinplatte neben ihr. Die Boys schrieben, dass sie gar nicht erst losgegangen seien, weil sie ganz unerwartet gestritten hätten und sich nun dringend wieder versöhnen müssten.

Wie auch immer, sagte Su und stand auf. Ich muss pinkeln.

Leicht schwankend lief sie in Richtung Gebüsch.

Ich krabbelte einige Meter vom Wasser weg, um mit ausreichend Sicherheitsabstand aufzustehen.

Lass uns an Land bleiben, sagte Su, als sie wiederkam, ich hab eh das Gefühl, ich bin auf einem Boot.

Wir hielten uns aneinander fest, was die Schlangenlinien nur verlängerte, in denen wir halb zum Spaß, halb unfreiwillig weiterzogen. Schon an der nächsten Straßenecke blieben wir stehen. Su kramte in ihrer Tasche, sie war sich sicher, ihr Blackberry verloren zu haben, das sie erst seit ein paar Tagen hatte. Während sie aufgeregt suchte, wurde mir kotzübel. Nach kurzer Zeit fand Su nicht nur das Handy, sondern auch eine Tüte mit halb zerquetschten Macarons, die sie mir vor die Nase hielt. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, als sie mir ungefragt ein türkisgrünes in den Mund schob. Pistazie. Sofort musste ich husten, ein warmer, brennender Saft kam mir hoch, der nach Couscous schmeckte, ich schluckte ihn runter. Von immer stärker werdenden Bauchkrämpfen heimgesucht, versuchte ich, möglichst normal weiterzugehen, und Su fing an, mich beiläufig nach meinen Lovestories auszufragen, als hätte sie sich zuvor nur nicht getraut. Dabei wurde sie immer nachdrücklicher, fast angriffslustig. Von allein würde ich ja nichts erzählen, beschwerte sie sich, und wir würden uns doch auch schon eine Weile kennen, immerhin einige Semester lang. Erwartungsvoll grinste sie mich an.

Ich dachte darüber nach, ob Su mich attraktiv finden könnte. Ob es ein Missverständnis zwischen uns gab, von Anfang an — oder zumindest, seit ich zu Besuch war und wir uns das Bett teilten. Was womöglich zwischen uns passiert wäre, hätte ich ihr in den letzten beiden Nächten nicht den Rücken zugedreht. Ich überlegte, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihr zu schlafen.

Na ja, fing ich an, so richtige Liebesgeschichten kann man das eigentlich alles nicht nennen. Eher einzelne, sich manchmal wiederholende Begegnungen.

Du meinst Sexdates, sagte Su.

Nein, sagte ich, oder doch, vielleicht auch. Aber ich hab meine Prinzipien, also — ich gehe jetzt nicht gleich mit jedem ins Bett. Ich muss erst mal Vertrauen aufbauen, ein Stück weit.

Mein Magen oder mein Zwerchfell oder beide verkrampften. Je mehr ich redete, desto kurzatmiger wurde ich, desto heftiger schmerzten die Krämpfe.

Su schien es nicht aufzufallen, sie fragte fröhlich weiter: Hast du eigentlich jemals mit einer Frau geschlafen? Interessiert dich das gar nicht? Und was für ein Verhältnis hast du zu deiner Prostata? Stimuliert dich das, ich meine, bist du schon mal gekommen, weil dich jemand gefickt hat? Könntest du dir rein theoretisch auch vorstellen, von einer Frau penetriert zu werden?

Ich antwortete, so gut ich konnte, bis es mir so dermaßen den Magen umdrehte, dass ich unvermittelt stehen blieb.

Alles gut?, fragte Su.

Mir blieb die Luft weg, mein Mund war wie ausgetrocknet, kurz wurde mir schwarz vor Augen.

Hörst du mich?, fragte Su.

Ich versuchte, mich zu setzen, konnte nicht, sie stützte mich, noch so ein Stoß, wie kurze Blitze, dann ging es wieder.

Su fing an, Erstdiagnosen zu stellen, als wäre ich eine Medizinprüfung, die sie zu bestehen hatte, und schlug schließlich vor, ich solle mir doch einen oder mehrere Finger so tief wie möglich in den Hals stecken.

Ich drehte mich von ihr weg, lehnte mich gegen eine Hauswand, ein langer Spuckefaden hing mir aus dem Mund und wurde immer länger. In meinem Bauch rumorte es heftiger, ich schloss die Augen und sah mich selbst in einem zähflüssigen Brei aus Baguette-Camembert-Kaffee-Couscous-Gin-Pistazien-Macaron versinken, der mich warm umschloss und langsam verschluckte. Alles begann sich zu drehen, ich riss die Augen auf, musste aufstoßen, spuckte ein erbärmliches Häufchen Speichel aus, drehte mich zu Su, die ihre Hand auf meine Schulter gelegt hatte, und erklärte ihr in für mich erstaunlich direktem Ton, dass ich so schnell wie möglich eine Kloschüssel bräuchte.

Für den restlichen Nachhauseweg benötigten wir allerdings eine halbe Ewigkeit, nicht nur, weil ich nur sehr langsam gehen konnte, sondern auch, weil Su mich bis zur Haustür dafür auslachte, dass ich mich seit meiner Ankunft nicht getraut hatte, ihr Klo zu benutzen.

Sus Badezimmer war kaum größer als ein Pappkarton, auch die Wände wirkten nicht dicker. Als sie mich nach einer Weile von draußen fragte, ob alles okay sei, klang es, als stünde sie direkt vor mir, was sie ja gewissermaßen auch tat. Egal, ob sie in die Küche ging oder ins Schlafzimmer, mit einem Fuß stand sie eigentlich immer vor der Badezimmertür.

Kannst du Musik anmachen?, rief ich von drinnen.

Entspannungsmusik?, fragte Su in normaler Lautstärke.

Irgendeine Musik!

Nach gut zwanzig Minuten Air und Björk, laut aufgedreht, entriegelte ich die Tür.

Su lag auf dem Bett, ich legte mich zu ihr, dicht neben sie, rollte mich zusammen, sie kraulte mir den Kopf, machte die Musik leiser.

Kannst du mal meine Stirn fühlen?, fragte ich. Ist die warm?

Su beugte sich über mich, legte ihre Stirn an meine.

Vielleicht ein bisschen, sagte sie.

Ich schloss die Augen, schlief nach wenigen Atemzügen ein und wachte erst wieder auf, als es schon dunkel war.

Verpennt setzte ich mich an den Küchentisch.

Geht’s dir besser?, fragte Su und holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank.

Kopfschmerzen hatte ich, noch immer war mir etwas übel.

Mir geht’s super, sagte ich.

Su öffnete die Weinflasche und schenkte uns ein, zündete eine Kerze an, dann eine Zigarette, die wir uns teilten, am offenen Küchenfenster, rote Gauloises. Beim ersten Zug ekelte ich mich, dann ging es.

Irgendwann leuchtete Sus Handy auf, die Boys schickten ein Selfie, auf dem einer von beiden mit dem Kopf am nackten Hintern des anderen lehnte. Es war ein ausgesprochen schöner Hintern. Sie schrieben, dass sie später noch rausgehen würden, zu einer Party in einem Park. Dass wir doch auch kommen sollten, absolument, und Su beschloss, dass wir noch hingehen würden, ohne mich gefragt zu haben. Sie leerte ihr Glas, drehte die Musik lauter und sang mit: I’m in love with your brother, zog sich bis auf BH und Unterhose aus und ganz in Schwarz wieder an. Vor dem Spiegel im Badezimmer malte sie zuerst sich, dann auch mir einen Lidstrich, gab mir einen Kuss auf die Wange, ich, noch immer im Jeanshemd, sprühte mich mit ihrem Parfum ein.

Eine Viertelstunde später saßen wir in einem Bus, nicht ahnend, dass es der falsche war. Bis Su es bemerkte, waren wir ungefähr am anderen Ende der Stadt angelangt.

Wir stiegen aus, warteten auf den Bus in die Gegenrichtung, der sich aber Zeit ließ, Su fluchte leise, mittlerweile war es kalt geworden. Eine knappe Stunde nachdem wir aufgebrochen waren, standen wir schließlich wieder dort, wo unsere Reise begonnen hatte, gerade mal zwei Straßen von Sus Wohnung entfernt. Am liebsten hätte ich vorgeschlagen, wieder nach Hause zu gehen. Doch Su studierte bereits die Fahrpläne, lief weiter Richtung Kreuzung und ich hinterher. An der Ampel hielt ein Taxi, Su klopfte gegen die Scheibe. Wir stiegen ein und rasten ein weiteres Mal quer durch die Stadt.

Als wir endlich den Park erreichten, der in einer verlassenen Seitenstraße lag, waren wir wieder so gut wie nüchtern. Es fühlte sich an wie mitten in der Nacht. Wir waren nicht einmal sicher, ob es sich um den richtigen Park handelte, weil nichts auf eine Party hindeutete. In unregelmäßigen Abständen ragten alte Laternen empor, die schummriges Licht auf den Kiesweg warfen. Su griff nach meiner Hand. Noch einmal überlegte ich vorzuschlagen, lieber umzukehren. Doch nach wenigen weiteren Metern war Musik zu hören, zuerst leise, dann mit jedem Schritt lauter, bis wir den alten, beleuchteten Pavillon entdeckten, der zur Party-Location umfunktioniert worden war. Noch draußen teilten wir Sus letzte Zigarette, beobachteten durch die beschlagenen Scheiben das Treiben im Innern. Gerade wollten wir reingehen, da blickte Su auf ihr Handy, die Boys hatten geschrieben, diesmal ohne Selfie. Sie seien jetzt doch zu müde und würden es heute nicht mehr schaffen.

Ist doch egal, sagte Su und lächelte mich an.

Drinnen lief La Isla Bonita, wir warfen unsere Jacken in eine Ecke, wieder nahm Su mich an die Hand. Der Pavillon bestand nur aus Theke, DJ-Pult und Tanzfläche, wir quetschten uns an feuchten T-Shirt-Rücken vorbei. Su verschwand Richtung Bar, ich sah mich um. Mein Blick blieb an einem Mann hängen, der zu mir schaute, mit dunklen Haaren und Sieben-Tage-Bart. Mitte dreißig, kariertes Hemd, nur ein paar Meter entfernt. Ich drehte mich nach Su um und stand direkt vor einem anderen, jünger, aber größer als ich, mit schulterlangem Haar. Wie ich trug er ein Jeanshemd. Ich versuchte zu lächeln, er erwiderte meinen Blick, da musste ich wegschauen. Mir war klar, dass ich niemanden ansprechen würde, schon gar nicht auf Französisch.

Su kam mit zwei vollen Gläsern zurück, Gin Tonic, ich nahm gleich mehrere große Schlucke. Sie fing an zu tanzen, und ich nickte und bewegte mich immerhin irgendwie zur Musik. Zwischendurch suchte ich den Blick des Jeanshemd-Boys, doch er war nicht mehr hinter mir. Noch einmal drehte ich mich um, suchte die tanzende Menge nach ihm ab, konnte ihn aber nirgends entdecken. Wieder fing der Mann im Karohemd meinen Blick ein, wieder schaute er mich direkt an. Su bemerkte es sofort, zwinkerte mir zu. Ich versuchte, ihn bestmöglich zu ignorieren und einfach zu tanzen, doch als ich mich ein weiteres Mal nach dem Boy im Jeanshemd umsehen wollte, tanzte der Karohemd-Typ direkt neben mir. Su zog mich an sich, woraufhin er noch näher kam. Ich spürte eine Hand an meiner Schulter, dann Sus Lippen auf meinen, als schlagartig die Musik stoppte und das Licht anging.

Su und ich schauten uns an, und der Mann, der im Hellen ein paar Jahre älter aussah, erklärte, dass heute Sonntag sei, die Party war vorbei. Wir tranken aus. Knapp 15 Minuten nachdem wir den Pavillon betreten hatten, verließen wir ihn wieder.

Draußen stellte der Unbekannte sich als Adrien vor, Su mich als Bastian, ich sagte: Je m’appelle Sébastien et je ne parle pas français.

Adrien erklärte wiederum auf Französisch, dass sein Englisch miserabel sei. Ungefragt verteilte er Zigaretten, blaue Gauloises, die mir zu stark waren. Ich rauchte trotzdem eine, während wir zwischen weiteren Partygästen den Weg zurück durch den Park nahmen, der um Mitternacht schloss.

Es begann zu regnen, zuerst nur leicht, dann dicke Tropfen. Adrien streckte seine Hände in die Luft und fing an zu singen, Umbrella, was zuvor auf der Party gelaufen war, und erzählte, abwechselnd auf Französisch und in schlechtem Englisch, dass die einzigen deutschen Worte, die er kenne, Ich liebe dich, Regenschirm und Papagei seien, weil er als Kind ein Lied gelernt hatte, das offenbar von Papageien und Regenschirmen handelte. Weder Su noch ich hatten irgendeine Ahnung, welches Lied er meinen könnte. Ein letztes Mal schaute ich mich nach dem Jeanshemd-Boy um, er blieb aber verschwunden. Am Wegesrand entdeckte Adrien zwei Erpel, lief auf sie zu, die beiden watschelten davon, er hinterher, wie ein Kind, als hätte er noch nie zuvor welche gesehen. Sie flüchteten in einen Tümpel, Adrien klatschte in die Hände und rief immer wieder: Ich liebe dich! Papagei! Regenschirm!

Er führte einen kleinen Tanz auf, wieder fing er an zu singen, under my umbrella, ella, ella, eh eh, um dann in Ella, elle l’a überzugehen.

Einen Moment lang dachte ich darüber nach, ihn loszuwerden, doch Su, die sich gut amüsierte, versuchte zwischen uns zu vermitteln, dolmetschte, nachdem Adrien bewiesen hatte, dass sein Englisch wirklich ziemlich miserabel war.

An der Straße wollten wir uns verabschieden. Doch Adrien machte keine Anstalten, sich von uns abzuwenden und davonzulaufen. Gemeinsam gingen wir weiter, und bei jedem Taxi, das vorbeikam, winkte, rief und hüpfte Adrien so engagiert, dass ich ihn verdächtigte, die restliche Nacht über mit uns durch Paris spazieren zu wollen. Ich war überrascht, als tatsächlich ein Wagen anhielt. Adrien öffnete die hintere Tür und krabbelte ins Innere. Ich schaute zu Su.

Los, sagte sie, steig ein.

Wir nahmen Adrien in unsere Mitte. Während der Fahrt schienen Su und er sich gut zu unterhalten, sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und ließ sie dort, Adrien griff danach und hielt sie fest. Sein Bein lehnte an meinem, was mir gefiel. Ich schloss die Augen. Mir wurde schwindelig. Ich stellte mir vor, wie wir zu dritt in Sus Bett landen würden. Wie die beiden übereinander herfielen, ich selbst zum Zuschauer würde, wie das Bett, das Schlafzimmer, die Wohnung zu klein wäre für uns drei. Mir keine andere Wahl bliebe, als mitzumachen. In meiner Vorstellung riss ich die Druckknöpfe meines Jeanshemds mit einem Mal auseinander, und es gäbe ein Geräusch wie zerplatzende Luftpolsterfolie.

Das Taxi hielt vor der schmalen Gasse, die zu Sus Wohnung führte. Su öffnete die Autotür, ich wollte auch aussteigen, da sagte sie: Ruf mich an, wenn du wieder wach bist, okay?

Sie schlug die Tür hinter sich zu.

Adrien lächelte, er wusste Bescheid. Ich lächelte zurück. Plötzliche Aufregung hatte mich aus meiner Müdigkeit gerissen.

Nach einer Weile hielt das Taxi vor einem großen Wohnhaus. Der Regen war stärker geworden, wir rannten die letzten Meter zur Haustür. Adrien führte mich durch ein vielversprechendes Treppenhaus bis ganz nach oben, unters Dach. Seine Wohnung war mehr eine Kammer, gerade mal eine Matratze, eine schmale Küchenzeile und ein Badezimmer in der Größe einer Zugtoilette fanden darin Platz. Es roch nach getragenen T-Shirts und alter Asche. Adrien öffnete ein kleines Fenster, nur einen Spalt breit, Regen prasselte auf die Dachziegel. Die einzige Lichtquelle war eine Schreibtischlampe, sie stand auf dem Boden neben der Matratze. Wegen der Schräge war es kaum möglich, aufrecht zu stehen, über der einzigen Sitzgelegenheit, einem Klappstuhl, hingen Klamotten, also setzte ich mich auf die Matratze. Adrien spülte schnell zwei der Gläser aus, die sich zwischen schmutzigen Tellern und Tassen stapelten. Er griff nach einer Flasche Rotwein, die offen auf dem Kühlschrank stand, und schenkte mir ein, sich selbst nur den letzten Schluck, woraufhin ich ihm wiederum etwas aus meinem Glas einschenken wollte, was er aber ablehnte. Er machte sich einen Spaß daraus, in Zeichensprache mit mir zu kommunizieren, die er im Zweifel durch englische Satzbrocken ergänzte. Ich nickte meistens einfach, fragte nur notfalls nach. Wir stießen an, er sagte Cheers, ich erst Cincin, dann noch schnell Santé, nahm einen Schluck. Adrien stellte sein Glas ab, legte eine Hand auf meinen Arm, kam näher, unsere Lippen trafen sich, er schmeckte nach Zigarette. Gleich darauf lagen wir, er riss an meinem Jeanshemd, die Druckknöpfe knallten, es klang nur entfernt nach zerplatzender Luftpolsterfolie. Er küsste meinen Hals, dann immer weiter abwärts. Sein Bart stachelte, jedes Mal, wenn seine Lippen mich berührten, zuckte ich zusammen. Ich drückte seinen Kopf von mir weg. Adrien zog mir die Hose runter, an meinen Füßen blieb sie hängen, ich setzte mich auf, um sie ganz loszuwerden. Erst da bemerkte ich, dass ich noch Sus karierte Boxershorts trug, schnell warf ich sie mit meinen Socken ins Dunkel. Nackt lag ich vor ihm, Adrien streifte sein Hemd über den Kopf, so gefiel er mir besser, sein dunkles Haar, das dicht von der Brust über den kleinen Bauch führte bis zur eng sitzenden schwarzen Shorts, die ich nach unten zog. Adrien streckte sich über den Rand der Matratze, verlor kurz das Gleichgewicht, fiel fast auf mich drauf. Im nächsten Moment hielt er ein Kondom in der Hand, schaute mich an. Ich weiß nicht, wie ich ihn angeguckt habe, aber er, über mir kniend, riss die Verpackung auf. Aus irgendeinem Impuls heraus drehte ich mich auf den Bauch, hörte, wie Adrien sich in die Handfläche spuckte. Ich schloss die Augen und atmete aus, als er versuchte, in mich einzudringen. Zuerst vorsichtig, dann ruckartig, beim ersten Stoß ein Stechen, es fuhr mir in die Magengrube, tief und dumpf, ich hielt den Atem an, verkrampfte. Streckte eine Hand nach hinten aus und drückte sie gegen Adriens Bauch. Er machte langsamer, ich versuchte, mich zu entspannen, gleichmäßig zu atmen.

Noch am Nachmittag hatte ich behauptet, dass ich nur mit jemandem schlafen würde, dem ich auch vertraute. Vielleicht vertraute ich Adrien auch. Oder es war mir egal. Mir war jedenfalls klar, dass ich ihn nicht wiedersehen würde.

Mitten in der Nacht wachte ich auf, wusste für einen Moment nicht, wo ich war, suchte den Weg zur Toilette. Im Dunkeln versuchte ich, das Dachfenster zu schließen, ohne dabei auf Adrien zu treten. Legte mich wieder zu ihm, sofort nahm er mich in den Arm. Hielt mich fest, drückte sich an mich. Nach einer Weile des Wachliegens versuchte er, ohne irgendein Wort gesagt zu haben, ein weiteres Mal in mich einzudringen. Im ersten Moment wollte ich ihn abwehren, ließ ihn dann aber. Erst als ich ihn in mir spürte, fragte ich mich, ob er ein Kondom benutzte. Er bewegte sich schneller, schnaufte in mein Ohr, legte eine Hand um meinen Hals, kurz dachte ich, er würde zudrücken. Ich bewegte mich nicht, blieb still, gab kein Geräusch von mir. Adrien stöhnte auf, drückte sich fest an mich, dann ließ er mich los. Ich konnte spüren, wie es zwischen meinen Oberschenkeln klebte. Noch einmal stand ich auf, lief zum Klo, auf dem Weg stieß ich eins der Gläser um, tastete nach der Klopapierrolle.

Als ich wieder bei ihm lag, griff Adrien mir zwischen die Beine, ich nahm seine Hand und legte sie an meine Brust.

Einmal wurde ich von seinem Schnarchen wach, befreite mich aus der festen Umarmung. Mein Rücken war schweißnass, die Bettdecke überließ ich Adrien.

Nur wenige Stunden später wachte ich wieder auf, Sonnenlicht fiel durchs Dachfenster und blendete mich. Ich schaute auf mein Handy und erschrak, es war schon kurz vor elf. Sofort stand ich auf, suchte Sus Boxershorts, fand sie auf einem staubigen Zeitschriftenstapel, griff nach dem Jeanshemd, knöpfte es zu, den dritten Tag in Folge, diesmal nachlässig.

Adrien lag da, nackt in die Bettdecke verknotet, blinzelte gegen die Sonne, drehte sich auf den Rücken, strampelte sich frei. Jetzt, im Tageslicht, fielen mir erst seine Sommersprossen auf, die roten und weißen Haare zwischen den dunklen an seinem Kinn, die Fältchen um die Augen, da kam er mir wie Mitte vierzig vor. Er streckte sich aus, gähnte und sagte Bonjour. Stand auf, nahm eine der Zeitschriften und schrieb etwas hinein, riss die Seite heraus, faltete sie zu einem kleinen Brief und steckte ihn in die Brusttasche meines Hemds.

Im Türrahmen und immer noch nackt küsste Adrien mich, länger, als ich wollte, da machte ich mich los. Er rief mir hinterher: Au revoir, Papagei!

Ich rannte die Stufen nach unten.

Um zwölf fuhr meine Mitfahrgelegenheit, ich rief Su an. Sie klang munter und fragte, wie meine Nacht verlaufen sei. Ich verkündete, dass sie alles, was ich ihr am Vortag über meine Prinzipien erzählt habe, getrost wieder vergessen könne, dass ich in diesem Moment aber nicht einmal wisse, wo ich überhaupt sei und wie ich am schnellsten zu ihr komme. Mit dem Handy am Ohr lief ich in irgendeine Richtung. In einiger Entfernung konnte ich eine Metro-Station erkennen, Opéra. Auf dem Weg dorthin kam ich am alten Operngebäude vorbei.

Okay, sagte Su, du nimmst die Neun bis République, da steigst du um in die Acht und fährst noch eine Station bis Oberkampf. Weißt du den Türcode noch?

Ich stieg die Stufen hinab zur Metro, versuchte, mich auf dem Plan zurechtzufinden, löste mit meinem letzten Kleingeld eine Fahrkarte, ein weißgekachelter Schlauch führte mich runter zur Bahn, die schon bereitstand. Eine Sekunde bevor die Türen sich schlossen, sprang ich hinein.

Im Kopf ging ich immer wieder die letzte Nacht durch, wie es dazu gekommen war. Nicht einmal Zeit für eine Dusche hatte ich gehabt, ich fühlte mich schmutzig, doch gleichzeitig erleichtert. République, las ich, und im letzten Moment stieg ich aus. Sus Blick kam mir in den Sinn, kurz bevor sie die Tür des Taxis zugeschlagen hatte. Oberkampf. Um halb zwölf erreichte ich die Passage, die zu Sus Pappkarton-Wohnung führte.

Su empfing mich mit meinem bereits gepackten Rucksack in der Haustür und rief, dass wir direkt weitermüssten, ich ihr auf dem Weg aber alles haarklein erzählen müsse.

War es schön?, fragte sie. Hätte ich dich lieber nicht allein lassen sollen?

Ich erzählte ihr nur die halbe Wahrheit.

Um Punkt zwölf standen Su und ich an der verabredeten Straßenecke, doch es war kein dunkelblauer Ford Fiesta in Sicht.

Die Postkarten!, rief ich und fand sie leicht zerknickt in der Innentasche meines Parkas.

Bereits am ersten Tag in Paris hatte ich sie gekauft, doch weder geschrieben noch abgeschickt.

Das kann ich doch machen, schlug Su vor. Mach ich gerne! Wir warteten noch ein paar Minuten, ich versuchte, den Fahrer zu erreichen, der nicht ranging, also stellte ich mich gedanklich schon darauf ein, erst mal in Paris zu bleiben. Mein Seminar sausen zu lassen und die Vorlesungen, alle Termine zu verpassen, oder gleich das gesamte Semester. Vielleicht könnte ich wirklich erst mal bei Su unterkommen, dachte ich. Die Postkarten selbst schreiben, Französisch lernen, die Boys treffen und mir vielleicht auch so einen Oberlippenbart stehen lassen. Den Boy im Jeanshemd wiedersehen, zufällig. Da bog der Ford Fiesta um die Ecke, Frankfurter Kennzeichen. Ein großer, schlaksiger Mann stieg aus und entschuldigte sich für die Verspätung.

Su drückte mich zum Abschied, ich wollte sie auf die Wange küssen, doch sie küsste mich auf den Mund. Ich sprang ins Auto, sie winkte von draußen.

Wir nehmen die Nationalstraße, dauert also ein bisschen länger, sagte der Fahrer, dessen Namen ich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr wusste.

Nachdem wir Paris hinter uns gelassen hatten, kamen wir durch halb verlassene Dörfer. Zwischendurch fragte er mich, ob ich ihn vielleicht ablösen könne, ich behauptete, gar keinen Führerschein zu haben. Wir hielten am Rande einer kleinen Ortschaft.

Rauchst du?, fragte der Fahrer und bot mir eine Zigarette an, doch mir war noch flau im Magen.

Ich fragte, ob es okay wäre, wenn ich mich nach hinten setzen würde. Erst von dort aus fiel mir beim Blick in den Rückspiegel auf, dass meine Augen noch leicht geschminkt waren.

Alles gut bei dir?, schrieb Su. Sag Bescheid, wenn du angekommen bist! Und schick mir die Adressen für die Postkarten!

Die Karte mit dem Notre-Dame-Motiv war für Oma, den Eiffelturm würden meine Eltern bekommen. Ich überlegte, an wen ich die dritte Karte schicken könnte.

Die dritte Karte ist für dich, schrieb ich Su, Paris bei Nacht.

Die restliche Fahrt verbrachte ich damit, dem Fahrer möglichst knapp zu antworten und selbst keine Fragen zu stellen.

War das vorhin deine Freundin?

Ja.

Führt ihr eine Fernbeziehung?

Ja.

Studierst du?

Hm.

Und was?

Medizin.

Das war das Erste, was mir einfiel. Ich hoffte, dass er nicht weiter nachfragen oder sich auskennen würde.

Und in welche Richtung willst du mal gehen?

Mal schauen. Weiß noch nicht.

Draußen färbte die untergehende Sonne die Landschaft erst orange, dann rosa. Abgesehen von einem Medizinstudium konnte ich mir bei dem Anblick so einiges vorstellen: ins Ausland zu gehen, vielleicht auch nach Paris oder nach Barcelona oder wenigstens nach Wien, für ein Semester. Oder mein Studium abzubrechen, bereits zum zweiten Mal, diesmal Germanistik. Gießen zu verlassen, diese hässliche hessische Stadt. Oder zu bleiben, im Buchladen zu fragen, ob sie noch jemanden bräuchten.

Erst mal chillen, das lass ich mir in meinen Grabstein meißeln, hatte Su gesagt, als wir mit Crêpes vorm Centre Pompidou saßen, Nuss-Nougat-Creme auf ihre weißen Jeans getropft war.

In meinem Rucksack fand ich eine Tupperbox mit dem restlichen Couscous-Salat und einer Gabel. Der Couscous schmeckte bereits etwas säuerlich, doch ich war halb verhungert und aß alles auf. Erst später fand ich die Tüte mit den zerquetschten Macarons, die ich nicht anrührte.

An meinem Handgelenk konnte ich noch Spuren von Sus Parfum riechen. Auf den Druckknöpfen meines Jeanshemds stand klein CK, was eine Abkürzung war für den Markennamen, der auf dem Waschzettel stand: City Kids. Ich trug die größte Kindergröße, war 24 Jahre alt und fühlte mich zu allem bereit, zum ersten Mal.

In mein Nokia-Tastentelefon tippte ich eine Nachricht an Su, für die ich so lange brauchte, dass ich zwischendurch immer wieder aus dem Fenster schauen musste, weil mir schlecht geworden war.

Liebe Su, schrieb ich, schreib auf die Postkarte an dich: Liebe Su, Paris ist wunderschön, so wie du. Umso blöder, dass ich schon kurz vor Frankfurt bin. Als Kind hab ich mir vorgestellt, dass, während du durch einen Tunnel fährst, draußen alles umgebaut wird und du genau dort rauskommst, wo du reingefahren bist. Ich bin nicht sicher, ob das Sinn ergibt, aber wir sind jetzt durch einige Tunnel gefahren, und mich tröstet der Gedanke, dir dadurch wieder etwas näher gekommen zu sein.

Einer, der einzog

Sie haben da eine Geschwulst, sagte der Radiologe, und ich wunderte mich, dass er eine sagte, nicht ein.

Dass es die Geschwulst sein sollte, nicht das.

Geschwulst, das sei nur ein anderes Wort für Wucherung, sagte er noch.

Oder: Bittschön!, kurz vorher, als er mich aus dem Wartebereich in sein Sprechzimmer lotste. Immer wieder: Bittschön!, mit weit ausgestrecktem Arm, Bittschön, bittschön!, dirigierte er mich in einen kleinen weißen Raum, wies auf den Stuhl vor einem Schreibtisch, hinter dem er Platz nahm.

Auf dem Tisch ein Monitor, flach, eine mausgraue Tastatur, vorm Fenster Jalousien, an der Wand weiße Flächen zum Einklemmen der Aufnahmen, von mir hing da nichts. Am Arztkittel ein Namensschild, das ich kurz überflog, doch im nächsten Augenblick vergaß ich den Namen wieder, ich glaube, ich las Geschwulst, aber das konnte ja nicht sein.

Eine Geschwulst, das sei eigentlich nur ein anderes Wort für Tumor.

Tumor, sprach ich nach, versuchte zu verstehen, blickte wieder auf das Namensschild oder direkt in die Augen des Arztes, die aber noch auf der Schreibtischplatte ruhten, zu lange, um mich nicht bereits weiter verunsichert zu haben, ein Tumor, soufflierte ich, flüsterte ich ihm zu, und er nahm dankbar an.

Ja, ein Tumor, wiederholte er, aber das muss nichts Schlimmes heißen. Schließlich gebe es auch gutartige Tumoren, erklärte er, es könne sich zum Beispiel um einen Blutschwamm handeln.

Ich wunderte mich, dass er Tumoren sagte, nicht Tumore. Er schaute kurz auf die Uhr an seinem Handgelenk.

Ein Tumor, sagte ich erneut, weil ich nichts begriff. Was muss ich jetzt machen?

Das müssen wir herausfinden, sagte er, wir, fast so, als hätten wir den Tumor gemeinsam. Wie Sie hier sehen können, da drehte er den Monitor etwas in meine Richtung, ist Ihr Tumor bereits relativ groß.

Alles, was der Arzt sagte, klang ein wenig relativ.

Ich versuchte, mich zu konzentrieren, starrte auf den Bildschirm, auf eine dunkle Masse, die mir nichts beschrieb, da kannte ich mich nicht mehr aus. Das sollte wohl ich sein, doch ich erkannte mich nicht, nichts, wusste nicht, was Tumor war und was Herz, bis der Radiologe mit der Spitze seines Kugelschreibers auf etwas deutete, das wie ein Fleck aussah, der mir nicht weiter aufgefallen wäre.

Das hier ist Ihre linke Nebenniere. Oder das, was noch von ihr übrig ist.

Muss ich jetzt operiert werden?, fragte ich.

Alles Weitere besprechen Sie bitte mit Ihrem Hausarzt, der wird Sie auch ins Krankenhaus überweisen.

Muss ich meine Eltern anrufen?, fragte ich.

Sie stehen gerade unter Schock, befand der Radiologe. Sie gehen jetzt erst mal nach draußen, schnappen kurz frische Luft, dann rufen Sie Ihren Hausarzt an. Ihr Hausarzt ist ein guter Arzt, schließlich auch Internist.

Man kannte sich.

Mein Hausarzt, sagte ich, hielt diesen — Tumor vor einem halben Jahr für eine dritte Niere.

Der Radiologe schaute kurz ungläubig zu mir, dann wieder auf seinen Tisch.

Sie rufen gleich da an oder gehen direkt dorthin, sagte er, die Bilder gebe ich Ihnen mit. Und wenn Sie sich beruhigt haben, rufen Sie Ihre Eltern an.

Ich erschrak, als der Drucker unter dem Schreibtisch zu stottern begann. Der Arzt griff nach dem Bericht, unterschrieb und steckte ihn in ein Kuvert.

Ein Tumor, sind Sie sich sicher?, fragte ich ein letztes Mal.

Es besteht kein Zweifel, sagte der Radiologe. Und, damit ich es endlich kapierte: Er ist faustgroß.

Kurz saß ich noch da, der Arzt reichte mir den Umschlag, stand auf, ich machte es ihm nach. Er öffnete die Tür, streckte mir eine Hand hin, sagte: Alles Gute.

Ich nahm meine Jacke von der Garderobe, ging vorbei am Wartebereich, wo weitere saßen, Ältere, Dickere, sagte noch Tschüss zu der Frau an der Anmeldung, doch sie antwortete nicht. Oder hatte ich ihr nicht geantwortet?

Im Fahrstuhl drückte ich irgendeinen der Knöpfe, unten im Innenhof schien die Sonne, als wäre ein ganz normaler Tag. Ich las das Datum auf dem Handydisplay, machte ein paar Schritte Richtung Bahnhof, als hätte ich davonfahren wollen, wenn ja, wohin? Zurück nach Paris. Und dann? Erst zwei Tage zuvor war ich von dort zurückgekommen.

Ich blieb stehen. Setzte mich auf eine der Bänke, so weit abseits wie möglich, so, dass mich keiner sehen konnte, wie ich dort kauerte, für einen Moment in mich zusammenfiel, wie ich hinabgestoßen wurde in mich selbst. Schwindel überkam mich, mir wurde schlecht, ich hielt die Hände vors Gesicht, Tränen liefen hinein, dabei war ich nicht traurig. Ich ballte beide Fäuste, presste die Augenlider zusammen, schüttelte den Kopf, musste gähnen, alles geriet durcheinander. Also stand ich auf. Wischte die Hände an der Hose ab, griff nach meinem Telefon. Suchte die Nummer vom Hausarzt, die ich längst abgespeichert hatte.

Die vertraute Stimme der Arzthelferin meldete sich am anderen Ende. Ich sagte zu ihr: Ich komme jetzt vorbei.

Wie bitte?

Ich komme jetzt vorbei. Meine dritte Niere ist ein Tumor.

Ein was?

Ein Tumor.

Ich hörte mich das sagen, als wäre es bereits eine ausgemachte Wahrheit, die ich verstanden hatte, der ich zumindest Glauben schenkte, die ich auf irgendeine absurde Weise bereitwillig annahm.

Ja, kommen Sie vorbei.

Gut zwanzig Minuten zu Fuß, über den Bahnübergang, dann immer geradeaus, am Klinikum entlang, durch die Sonne, Aprilsonne. Dass ich mein Fahrrad vor der radiologischen Praxis stehen gelassen hatte, fiel mir erst nach der Hälfte des Weges auf. Beim Überqueren der Straße hätte ich beinahe ein Auto übersehen — oder der Autofahrer mich.

Dann stand ich beim Hausarzt vor der Anmeldung. Dahinter erkannte ich das Gesicht zu der Stimme, mit der ich gerade noch telefoniert hatte. Der ich bereits das Codewort durchgegeben hatte, das mir von nun an eine besondere Behandlung zugestehen sollte: Meine dritte Niere war ein Tumor.

Auch ich wurde erkannt und gleich ins Sprechzimmer gesetzt. Die Arzthelferin wirkte angespannt. Leise, als wollte sie größtmögliche Diskretion wahren, versicherte sie mir, dass der Herr Doktor sich gleich persönlich um mich kümmern werde. Klar, wer sonst?

Durch die Fenster fiel trotz gutem Wetter kaum Licht, dicke Vorhänge aus olivgrünem Samt fingen es ab, eine mit Leitz-Ordnern vollgestopfte Regalwand und ein massiver Schreibtisch aus dunklem Holz taten ein Übriges. Auf dem Tisch stand ein beigefarbener, altertümlich wirkender Computerbildschirm. Die Luft war staubig, kaum ein Geräusch war zu hören, nur Telefonklingeln zwischendurch, dumpfes Getuschel, der Herr Doktor ließ sich Zeit. An der Wand hingen Fotos von seinen Kindern, Junge, Mädchen, Junge. Ich versuchte, sie in den verschiedenen Altersstadien auseinanderzuhalten, sortierte die Söhne, beide mit Sommersprossen, einer mit Locken, die er sich später abgeschnitten haben muss. Die Tochter, schätzte ich, war die älteste von den dreien. Auf einem Bild stand sie in einem langen Abendkleid neben ihrem Vater und war schon einen guten Kopf größer als er. Er trug Anzug und sah aus, als wäre er sehr stolz auf sie.