Theologie der Caritas -  - E-Book

Theologie der Caritas E-Book

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Beschreibung

In seinem akademischen wie außerakademischen Wirken waren dem Psychologen und Theologen Heinrich Pompey stets die theologischen Quellen und Wurzelgründe des helfenden und heilenden Handelns der Kirche und ihrer Caritas ein Herzensanliegen. Dieser Band versammelt insbesondere die Beiträge seiner Kollegen und Kolleginnen, Schüler, Freunde und Weggefährten zu einer Tagung zu seinem 80. Geburtstag im November 2016. Alle Beiträge widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven und Fragerichtungen einer Theologie der Caritas als einer Theologie, die dem Menschen dient und dazu Menschen wie Kirche hilft, sich als Nächste "der Armen und Bedrängten aller Art" (Gaudium et spes 1) zu erweisen. Hinzu kommt ein Beitrag zum Werk und Wirken Heinrich Pompeys. Mit Beiträgen unter anderem von Klaus Baumann, Paul Josef Kardinal Cordes, Giampietro Dal Toso, Markus Enders, Gisbert Greshake, Ralf Haderlein, Helmut Hoping, Klaus Kießling, Ursula Nothelle-Wildfeuer, Rainer Marten, Eberhard Schockenhoff, Weihbischof Paul Wehrle.

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31

Studien

zur Theologie und Praxisder Caritas und Sozialen Pastoral

Herausgegeben vonKlaus Baumann und Ursula Nothelle-Wildfeuer

Begründet vonHeinrich Pompeÿ undLothar Roos

Band 31

Klaus Baumann (Hg.)

unter Mitarbeit von Daniela Blank und Karin Jors

Theologie der Caritas

Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient

Festschrift für Heinrich Pompeÿ aus Anlass seines 80. Geburtstages

echter

Bibliografische Informationder Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2017© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburgwww.echter.de

ISBN978-3-429-04345-2978-3-429-04914-0 (PDF)978-3-429-06334-4 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Grußworte

Vorwort des Herausgebers

Grußwort von Prälat Dr. Giampietro Dal Toso, Sekretär des Päpstlichen Rates Cor unum, Vatikan

Grußwort von Msgr. Bernhard Appel, Diözesan-Caritasdirektor, Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes für die Erzdiözese Freiburg

Grußwort von Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch

Grußwort von Prälat Dr. Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg

Einleitung

Klaus Baumann

Theologie der Caritas – ein verheißungsvolles offenes Arbeitsfeld

Philosophische Grundlagen und Perspektiven

Rainer Marten

Die Deutung gelingenden Lebens als des maßgeblichen Humanum

Markus Enders

Die Struktur-Analogie zwischen göttlicher und menschlicher Caritas

Systematisch-theologische Grundlagen und Perspektiven

Eberhard Schockenhoff

Die Liebe als Freundschaft des Menschen mit Gott

Gisbert Greshake

„Deus Caritas est“: Trinitätsglaube und kirchlich-caritatives Handeln

Paul Josef Kardinal Cordes

Deus caritas est. Die Redaktionsgeschichte der ersten Enzyklika Papst Benedikts XVI. als Anstoß caritastheologischer Optionen

Giampietro Dal Toso

Ekklesiologische Perspektiven kirchlicher caritas

Helmut Hoping

Eucharistie und Caritas. Das Christentum als Religion der Liebe

Praktisch-theologische Grundlagen und Perspektiven

Ursula Nothelle-Wildfeuer

Zur Theo-logik der christlichen Sozialethik

Klaus Kießling

Diakonische Spiritualität. Mit Empathie und compassio zu weltkirchlicher Solidarität in Stellvertretung

Marc Feix

Die Caritas im französischen Kontext

Peter Fonk

Institutionelle Transformationsprozesse: Ethische Herausforderungen des Caritasmanagements zwischen Nächstenliebe und Wirtschaftlichkeit

Rainer Gehrig

Die Annahme des Anderen. Beziehungstheologische Aspekte im diakonischen Gespräch in spanischen Caritasorganisationen. Eine Fallstudie

Weihbischof em. Paul Wehrle

Theologie der Caritas. Eine Predigt

Heinrich Pompeÿ

Caritastheologische Resonanzen. Zur Tagung „Theologie der Caritas. Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient“

Angaben zur Autorin und zu den Autoren

Vorwort und Grußworte

Vorwort des Herausgebers

Am 20. November 2016 durfte Heinrich Pompeÿ seinen 80. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass organisierte der Arbeitsbereich Caritaswissenschaft und christliche Sozialarbeit der Theologischen Fakultät an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, den er selbst von 1988 bis 2002 und nach seinem Eintritt in den „Ruhestand“ vertretungsweise bis September 2004 leitete, in enger Abstimmung mit dem Jubilar das Symposium „Theologie der Caritas. Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient“. Die vorliegende Festschrift für Heinrich Pompeÿ zum 80. Geburtstag versammelt die Vorträge des Symposiums und ergänzt sie um eine Einleitung, Beiträge von Moderatoren der Sessionen, die Predigt der Eucharistiefeier und (chronologisch geordnet) Grußworte zur Tagung und beim Abendempfang. Die Vorträge wurden von der Autorin und den Autoren für die Publikation leicht bearbeitet, ohne dabei den Vortragscharakter aufzuheben.

Als Herausgeber möchte ich allen herzlich für ihr Mitwirken an der Tagung und an der Verwirklichung der Festschrift danken. Mit Freude und Stolz danke ich den Doktoranden, Studierenden und Freunden der Caritaswissenschaft, die sich großherzig für das Gelingen der Tagung durch ihre Mithilfe und Unterstützung einsetzten. Besonderer Dank geht an meine akademischen Mitarbeiterinnen Daniela Blank MA und Karin Jors MA für ihre umsichtige und effektive Koordination in der Durchführung des Symposiums und ihre Mitwirkung in der Redaktion der Festschrift, unterstützt von den studentischen Hilfskräften Ann-Kathrin Konn und Sylvie Lohrer.

Dem Echter-Verlag und seinem Lektor Heribert Handwerk danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit – auch im Rahmen der Herausgabe der von Heinrich Pompeÿ und Lothar Roos begründeten Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral“, in der nun auch diese Festschrift erscheint. Die Tagung und das Erscheinen dieses Bandes wurden mit ermöglicht durch eine substanzielle finanzielle Unterstützung von Seiten der Erzbischof Hermann Stiftung, für die ich auch an dieser Stelle ausdrücklich Dank sagen möchte.

Nun ist zu hoffen, dass die hier versammelten Beiträge ihre Leserinnen und Leser finden und zur weiteren Entwicklung, Diskussion und Vertiefung einer Theologie der Caritas anregen – zu einer Theologie (und Praxis), die in der Sendung Christi den Menschen in all ihren Nöten und Bedrängnissen (vgl. GS 1) dient.

Freiburg, 01. März 2017

Klaus Baumann

Grußwort von Prälat Dr. Giampietro Dal Toso, Sekretär des Päpstlichen Rates Cor unum, Vatikan

Meine Damen und Herren,

Sie alle möchte ich heute mit meinem persönlichen Gruß erreichen. Für mich ist es eine besondere Ehre und Freude, Sie, sehr geehrter, lieber Herr Professor Pompeÿ, im Zusammenhang mit diesem wichtigen Kongress zu Ihrem 80. Geburtstag zu beglückwünschen. Ich tue es in meiner Aufgabe – noch einige Wochen – als Sekretär des Päpstlichen Rates Cor unum. Wir haben ja als Abteilung des Vatikans unter anderem die Aufgabe, die katholischen Hilfsinstitutionen und –organisationen zu orientieren. Und zu dieser Orientierung gehört auch die theologische Inspiration. Ich habe immer auf die beispielhafte Verbindung aufmerksam gemacht, die hier in Freiburg schon seit über 80 Jahren besteht, wo die praktische Arbeit vom Deutschen Caritasverband von der Reflexion eines caritaswissenschaftlichen Stuhls an der theologischen Fakultät begleitet wird. Gerade die Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Professor, hat uns sehr geholfen, das Anliegen der Caritas-Theologie besser zu verstehen und zu verbreiten. Über ihre nationalen Verdienste hinaus möchte ich deshalb heute insbesondere auf Ihre internationale Tätigkeit hinweisen: Korea, St. Petersburg in Russland, Murcia in Spanien und Olomouc in der Tschechei, um nur einige zu nennen. Durch Ihre Tätigkeit an diesen Orten, durch Ihre vielen Studenten, auch durch die Mitarbeit mit uns am Vatikan, haben Sie weit über die Grenzen Deutschlands hinausgewirkt. Haben Sie dafür unseren herzlichen Dank. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass Sie in diesem Einsatz auch von Ihrer Frau Gemahlin begleitet und unterstützt wurden. Auch das ist wichtig, weil niemand für sich allein sein kann.

Zuletzt darf ich Ihnen die Grüße und die Glückwünsche von zwei römischen Persönlichkeiten überbringen, die Sie kennen und schätzen. Es sind Papst Benedikt und der Präfekt der Glaubenskongregation, Kard. Müller. Damit zeigt sich, dass uns die Universalkirche verbindet. Die Arbeit des Einen gereicht zum Wohl des Ganzen. Danke für Ihren Beitrag und ad multos annos.

Grußwort von Msgr. Bernhard Appel, Diözesan-Caritasdirektor, Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes für die Erzdiözese Freiburg

Eminenz, Exzellenzen, Spectabilis, Professores, Doktores, Prälaten,

Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,

sehr geehrter, lieber Herr Professor Pompeÿ,

sehr geehrte Frau Pompeÿ,

sehr geehrte Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmer,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre und Freude, dass ich Sie in Freiburg, der Hauptstadt der Caritas, begrüßen und ein Wort des Dankes und der Gratulation an unseren verehrten Jubilar, Prof. Dr. Heinrich Pompeÿ, richten darf.

Dass Freiburg die Hauptstadt der Caritas ist, dazu trägt neben dem Sitz des Deutschen Caritasverbandes und weiterer drei eigenständiger Caritasverbände, dem Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg, dem Caritasverband Freiburg-Stadt, dem Caritasverband für den Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald sowie der Katholischen Hochschule und weiterer Akademien, auch der Lehrstuhl für Caritaswissenschaft an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität entscheidend bei.

Es kommen Studierende aus aller Welt nach Freiburg nicht nur des zeitlosen Prof. Schauinsland wegen, sondern auch, weil es solche Einrichtungen wie den Lehrstuhl für Caritaswissenschaft und Professoren wie Heinrich Pompeÿ und Klaus Baumann hier gibt.

Und so sind wir in Freiburg stolz auf diesen Lehrstuhl und die damit verbundenen Möglichkeiten akademischer Lehre und Forschung zum Thema Caritaswissenschaft. So möchte ich zuerst unserem lieben Jubilar, Herrn Prof. Dr. Heinrich Pompeÿ, zu seinem runden Geburtstag herzlichst gratulieren und beste Wünsche für ihn aussprechen. Ich verbinde damit den großen Dank im Namen der ganzen Caritasfamilie für seine langjährige Tätigkeit am Lehrstuhl und für die gute Zusammenarbeit mit den Freiburger Caritasverbänden.

Gerne erinnere ich mich an viele gewinnbringende Begegnungen und Gespräche mit Herrn Professor Pompeÿ, auch an Gruppen aus Korea, die er zu uns in den Verband brachte und denen wir den Aufbau der Caritas in Deutschland und in der Erzdiözese Freiburg vorstellen durften.

Als Diözesan-Caritasdirektor danke ich Herrn Prof. Pompeÿ für seine jahrelange Mitarbeit im Vorstand und dann Aufsichtsrat eines caritativen Fachverbandes, der AGJ, des Fachverbandes für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg, der sich um Suchtkranke, Obdachlose und suizidgefährdete Menschen kümmert.

Dieses langjährige Engagement zeigt, dass es Herrn Prof. Pompeÿ immer sehr wichtig war, den Kontakt zur caritativen Basisarbeit nicht zu verlieren, authentisch von Mitarbeitenden an der Basis zu erfahren und zu wissen, wie es alkohol- und drogenabhängigen, wie es obdachlosen Menschen geht und was ganz konkret für sie getan wird.

So freue ich mich sehr über die zweitägige Tagung „Theologie der Caritas. Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient.“

Ich freue mich auf interessante Vorträge und besonders den Vortrag von Paul Josef Kardinal Cordes heute am frühen Abend an unserer Universität.

Ich wünsche der gesamten Tagung viel Zuspruch, einen guten Verlauf und allen Referierenden und Teilnehmenden, viel Freude und Gewinn.

Grußwort von Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch1

Sehr geehrter, lieber Herr Professor Pompeÿ

werte Frau Pompeÿ,

verehrter, lieber Mitbruder Eminenz Paul Josef,

werte Festgäste!

Zu den vielen tragenden Aussagen des Neuen Testaments, die mich jedesmal mehr als nachdenklich machen, gehört der Satz im 1. Johannesbrief: „Wir wissen, dass wir vom Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben.“ (1 Joh 3,14). Bruderliebe – der Weg vom Tod in das Leben:

Seit Sie, verehrter Herr Professor Pompeÿ, im Jahr 1988 den Lehrstuhl für Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit an unserer Theologischen Fakultät übernommen haben, gehört es zu Ihren professionellen Aufgaben, Menschen diesen Weg in das Leben zu lehren und ihnen aufzuzeigen, was es heißt und was es für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft bedeutet, den Weg der Nächstenliebe und der Solidarität zu gehen.

Ich bin überaus dankbar, dass wir an unserer theologischen Fakultät den Lehrstuhl für Caritaswissenschaft haben. Er ist nicht nur ein „Alleinstellungsmerkmal“ unserer Universität, er ist zugleich eine programmatische Aussage dazu, dass das Evangelium und die Theologie dem Leben dienen und den Menschen zugewandt sind – und das aus der Mitte des Evangeliums.

Herr Kardinal Cordes hat uns vorhin in seinem öffentlichen Vortrag nicht nur die Redaktionsgeschichte der für die christliche Liebestätigkeit grundlegenden Enzyklika „Deus caritas est“ Papst Benedikts dargelegt, sondern uns auch neu deren Bedeutung vor Augen geführt. Es gibt für uns Christen keine größere und tiefere Aussage über Gott als die: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16). Die Auslegung und Entfaltung dieser Aussage und deren Anwendung auf das Leben ist zu Ihrer Lebensaufgabe, lieber Herr Professor Pompeÿ, geworden. Sie haben sie mit vollem und breitem Engagement wahrgenommen und nicht nur all Ihre Kraft, Sie haben Ihr Herz eingebracht und haben damit ausgestrahlt weit über Freiburg hinaus: Nicht nur in den Osten Europas, in die Slowakei, nach Kroatien und St. Petersburg, sondern auch in den Süden nach Spanien, ja bis auf andere Kontinente.

So gelten Ihnen nicht nur meine herzlichen Glückwünsche zu Ihrem achtzigsten Geburtstag, den sie vor vier Tagen feiern durften, sondern vor allem mein herzlicher Dank für Ihr großes, fruchtbares und nachhaltiges Wirken als Professor. Ich stehe mit Respekt und Hochachtung vor Ihrer Lebensleistung und der breiten Ausstrahlung Ihres vielfältigen Engagements. Mein Gebet und meine guten Wünsche begleiten Sie weiterhin. Möge Gott Ihnen noch viele gesegnete Jahre voller Gesundheit und Schaffenskraft schenken.

1 Am 24.11.2016 beim Empfang im Priesterseminar Collegium Borromaeum.

Grußwort von Prälat Dr. Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg1

Sehr geehrter, lieber Herr Prof. Dr. Pompeÿ,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

es freut mich sehr, dass Sie mir die Möglichkeit geben, anlässlich Ihres 80. Geburtstages, Herr Prof. Pompeÿ, für den Deutschen Caritasverband das Wort zu ergreifen. Ist doch die Verbindung zwischen dem Arbeitsbereich Caritaswissenschaft an der Universität Freiburg und dem Deutschen Caritasverband traditionell sehr eng.

Auf der Homepage des 1925 gegründeten Instituts lässt sich dazu lesen: „Es stellt seither am Standort der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes ein Freiburger Spezifikum dar und hat zum Ziel, ‚der wissenschaftlichen Forschung und dem Unterricht auf dem Gebiete der Caritas‘ (§1 der Institutssatzungen im Gründungsjahr) zu dienen.“2 In diesem Selbstverständnis leisteten die unterschiedlichen Lehrstuhlinhaber und damit auch Sie wichtige Arbeit für ein umfassenderes Verständnis der Sozialen Arbeit aus christlich-katholischer Perspektive. Wie wichtig gerade Lorenz Werthmann dem Gründer des Deutschen Caritasverbandes diese wissenschaftliche Durchdringung war, zeigt sich daran, wie er die zentralen Aufgaben des noch jungen Deutschen Caritasverbandes umschrieb: Organisieren, Studieren und Publizieren.

So trägt die Tagung zum Anlass Ihres Geburtstages den passenden Titel: „Theologie der Caritas. Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient.“ In Ihrem Wirken wurde für mich immer wieder deutlich, dass Theologie nicht bei sich stehen bleiben darf, will sie dem Glauben als ihrem Gründungsimpuls treu bleiben. Dies wurde mir während meines pastoraltheologischen Studiums Ende der 70iger Jahre in Würzburg deutlich, als ich Ihnen das erste Mal in den Vorlesungen und Übungen zur Pastoralpsychologie begegnet bin. Ihnen ging es immer um den Menschen und damit um das, was ihn in seinem Leben trägt, unterstützt und ihm damit dient.

Dazu gehört aber auch das Ringen um die entscheidenden Grundlagen und Perspektiven, von denen aus eine Theologie der Caritas auch für die Einrichtungen und Dienste der verbandlichen Caritas zu betreiben ist. Diesen Debatten mit meinem Doktorvater Rolf Zerfaß und seinen Schülern haben Sie sich immer gestellt und diese selbst engagiert geführt. Bei allen Unterschieden aber wäre es Ihnen nie in den Sinn gekommen, andere Meinungen und die dahinter stehenden Personen zu diffamieren. Sind doch gerade die Debatte und das Argumentieren notwendig, um im Sinne des Horizonts vom Reich Gottes eine Caritastheologie zu entwickeln. Denn „der Mensch ist der Weg der Kirche“ wie der Hl. Papst Johannes Paul II. sagte – und das gilt auch für die Theologie.

Wie notwendig eine theologische Durchdringung caritativer Arbeit und ihrer Grundlagen ist, zeigt sich dieser Tage für mich in der nach wie vor aktuellen Flüchtlingssituation. Selten hat ein Thema gesellschaftlich so stark polarisiert. Christlicher Einsatz für den Nächsten ist davon nicht ausgenommen. So wird beispielsweise die Rede vom christlichen Abendland dazu missbraucht, Menschen auszuschließen oder diejenigen zu diskreditieren, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Gerade der christlich motivierten Flüchtlingshilfe wurde in den letzten Monaten immer wieder allein gesinnungsethisches und damit wirklichkeitsfremdes Handeln vorgeworfen. Dabei ist der häufig bemühte Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik letztlich ein Scheinwiderspruch, der Gefahr läuft, instrumentalisiert zu werden. Ist doch jedes Handeln von der Spannung zwischen Idealen und realen Konsequenzen geprägt. Und jede Übernahme von Verantwortung ist auf die Rückbindung an Werte und damit auf eine Gesinnung angewiesen. Eine polemische Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist daher gerade bei diesem Thema völlig unangemessen, weil sie dazu benutzt wird, politisches Handeln von ethischen Anforderungen loszusprechen.

Eine Theologie der Caritas, die dem Menschen dient, muss sich also auf gesellschaftliche Diskussionen genauso einlassen wie auf theologische Debatten oder Fachdiskussionen im Bereich der Sozialen Arbeit.

Dafür, dass Sie lieber Herr Prof. Pompeÿ, dies immer wieder um Gottes und der Menschen willen bis heute tun, sei Ihnen persönlich und im Namen des Deutschen Caritasverbandes ausdrücklich gedankt. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag und Gottes Segen!

1 Am 24.11.2016 beim Empfang im Priesterseminar Collegium Borromaeum.

2 https://www.theol.uni-freiburg.de/disciplinae/ccs/fachprofil/geschichte1; Zugriff am 09.11.16.

Einleitung

Theologie der Caritas – ein verheißungsvolles offenes Arbeitsfeld

Klaus Baumann

Das Symposium zum 80. Geburtstag von Heinrich Pompeÿ trug wie diese Festschrift den Titel „Theologie der Caritas. Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient“. Es bringt ein Herzensanliegen des Jubilars auf den Punkt. Die verschiedenen Beiträge zeigen Facetten eines offenen Arbeitsfeldes für die Theologie in ihren verschiedenen Teildisziplinen, angefangen von philosophischen Fragebereichen über die biblische, historische, systematische bis hin zur praktischen Theologie. „Caritas“ stellt ein stimulierendes Querschnittsthema für alle theologischen Disziplinen dar.

Die Caritaswissenschaft als eigene Disziplin ist selbst in der praktischen Theologie angesiedelt und bietet ein konsequent interdisziplinäres Selbstverständnis und Arbeitsprogramm. Dazu gehört die eigenständige Aufnahme unterschiedlichster philosophischer und theologischer Ansätze und Beiträge, ihre Weiterentwicklung und Vertiefung wie auch das Aufwerfen neuer Fragen und Perspektiven in kommunikativer Wechselwirkung mit den mannigfachen Gestalten der Verwirklichung der Sendung der Kirche in ihrer „Caritas“. Die Frage, was den Menschen dient, besonders „den Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et spes [GS] 1), stellt das entscheidende erkenntnisleitende Interesse für die Caritaswissenschaft dar. Das gilt auch für ihr Interesse innerhalb der Theologie. Dieses erkenntnisleitende Interesse ist nicht diffus und vage, sondern wird im Licht und Geist der Person, Sendung und Botschaft Jesu Christi, kurz: des Christusereignisses, und in präziser Wahrnehmung von Armut und Not konkretisiert. Die Wahrnehmung von Armut und Not ist ganz im biblischen Sinne einer präferentiellen Option für die Armen empathischparteilich. Angesichts dieser Aussagen mag als Desiderat für diesen Band zu Recht das Fehlen eines biblisch-exegetischen Beitrages angemerkt werden.

„Theologie der Caritas“ stellt ein offenes Arbeitsfeld mit dem Bedarf vielfältiger Grundlagenforschung dar, interdisziplinär innerhalb der Theologie und gleichursprünglich inter- und transdisziplinär im Dialog mit den verschiedenen, je nach Fragestellung involvierten Bezugswissenschaften wie Soziale Arbeit und Rechtswissenschaften, Human- und Sozialwissenschaften, Medizin und Pflegewissenschaft, Wirtschafts- und Umweltwissenschaften. Die Beiträge dieses Bandes erheben nicht den Anspruch, das theologische Feld abzustecken oder gar abzuschreiten; sie alle wollen und können mit ihren jeweiligen Perspektiven und Akzenten jedoch „zu denken geben“ und weitere Vertiefungen und Diskussionen anregen. Heinrich Pompeÿ beginnt selbst damit und formuliert gegen Ende dieses Bandes „Resonanzen“, welche die einzelnen Beiträge in ihm ausgelöst haben. Mit Rücksicht auf diesen Resonanzraum des Jubilars gehe ich selbst in dieser Einleitung nicht näher auf die einzelnen Beiträge ein.

Papst Benedikt XVI. fasste die Sendung der Kirche am Ende seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ (Dce) in die Kurzformel „Sendung im Dienst der Liebe“ (Dce 42). Zwar ist diese Enzyklika das erste lehramtliche Dokument solchen Ranges mit genau diesem thematischen Fokus. Sie hat jedoch ihre Vorgeschichte – unmittelbar im Kontext der Vorarbeiten, Entwicklungen und Hindernisse, die Paul Josef Kardinal Cordes mit seiner intimen Kenntnis der Etappen und Vorgänge aufgrund seines Wirkens als damaliger Präsident des Päpstlichen Rates Cor unum in diesem Band detailliert darlegt.1

Mittelbar liegt die Vorgeschichte der Enzyklika in den Entwicklungen organisierter Caritas-Arbeit besonders seit dem 19. Jahrhundert und der bald erkannten Notwendigkeit, die Lebendigkeit des Einsatzes zusammen mit der fachlichen Kompetenz von ihren theologisch-spirituellen Wurzeln her zu schützen und zu fördern. Das Erkennen dieser Notwendigkeit wurde zum entscheidenden Impuls für die Gründung des Instituts für Caritaswissenschaft an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg am 03.04.19252 auf Initiative und mit Unterstützung des Deutschen Caritasverbandes durch ihren damaligen Präsidenten Benedict Kreutz (1879-1949)3. Auf evangelischer Seite folgte zwei Jahre später die Gründung des „Berliner Instituts für Sozialethik und Wissenschaft der Inneren Mission“4. Beide universitären Institute wurden wegen ihres offenkundigen Widerspruchs zur NS-Volkswohlfahrt 1938 von der NS-Regierung aufgehoben bzw. unterdrückt. Beide wurden nach dem II. Weltkrieg wieder errichtet, das Institut in Freiburg schrittweise schon ab 1945, während das Berliner Institut nach einem längeren Klärungsprozess 1954 seinen Nachfolger im Diakoniewissenschaftlichen Institut an der Universität Heidelberg fand.

Die Notwendigkeit, die Lebendigkeit und Qualität der Caritas-Arbeit von ihren theologisch-spirituellen Wurzeln her zu schützen und zu fördern, wurde mit dem gesellschaftlichen Wandel und Wachstum in den Feldern der Sozialen Arbeit und der Gesundheitsversorgung in und nach dem II. Weltkrieg bis heute nicht geringer, im Gegenteil.5 Wie dies heute und morgen aber geeignet geschehen kann, ist eine offene Frage und Herausforderung6 zumal unter den „flüchtigen“7 Bedingungen, Möglichkeiten und Zwängen einer (post- oder spät-) modernen, pluralen und säkularen Gesellschaft, zu der die Gläubigen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Hilfesuchenden, die Kirche und ihre Caritas auf je ihre Weise selbst gehören. In keinen anderen als mitten in diesen Bedingungen, Möglichkeiten und Herausforderungen des „Heute“ hat die Kirche ihre Sendung als Diakonie zu leben.8

Dabei kann „Diakonie“ durchaus als Synonym für „Caritas“ aufgefasst werden, wie dies häufig in praktisch-theologischen Texten geschieht. Wenn die Kirchenkonstitution des II. Vatikanums, Lumen gentium (LG), „diaconia“ als Oberbegriff für die drei Wesensvollzüge der Verkündigung, der Liturgie und der Caritas verwendet (so LG 29), qualifiziert dies die gesamte vollmächtige Sendung der Kirche von Gott her in der Logik der Sendung Jesu als diaconia „für uns Menschen und zu unserem Heil“, also in der Logik der agape=caritas des dreieinen Gottes, d.h. in der Liebe, die Gott zu den Menschen und seiner Schöpfung hat. Benedikt XVI. sah hierin die notwendige Einheit des ersten und zweiten Teils seiner „Antrittsenzyklika“9 und zeigte auf, wie sehr die drei Wesensvollzüge der Kirche einander brauchen (vgl. Dce 25), um den Auftrag, die Sendung der Kirche zu verwirklichen.

Wenn nun die Caritas theologisch tatsächlich als ein Wesensvollzug der Kirche verstanden wird, ohne die sie nicht sein kann – im Unterschied zu Melanchthons und Martin Luthers Auffassung, dass die Kirche dort ist, wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“10 –, dann ist erstaunlich, wie wenig dieser Wesensvollzug theologisch Gegenstand im Curriculum des kanonischen Theologiestudiums (nach Sapientia Christiana) und (nicht zuletzt) der Pastoral- und Priesterausbildung ist. Die Aussage, dass die Caritas ein Querschnittsthema für alle curricular etablierten theologischen Fächer darstellt bzw. darstellen könnte (wenn sie denn konsequent wahrgenommen und behandelt würde), wirkt dann nur wie eine Beschwichtigung, die von der klaffenden Lücke abzulenken sucht.

Selbst ohne zentrale römische Vorgaben könn(t)en die Bischofskonferenzen diesbezüglich ihre Spielräume stärker nutzen und die Studierenden in ihrer intrinsischen Begeisterung für die Nachfolge Jesu „caritas-theologisch“ so weiterqualifizieren, dass die „Hierarchie der Wahrheiten“ (vgl. II. Vatikanum, Unitatis redintegratio 11) des christlichen Glaubens und Lebens nicht aus dem Blick gerät vor lauter Zersplitterung in theologische Einzelfragen, die innerhalb ihres jeweiligen Kontextes selbstverständlich ihre wissenschaftliche Berechtigung behalten.

Das erste und wichtigste jedoch ist die im Volk Israel immer deutlicher erfahrene und in Jesus Christus menschgewordene Liebe Gottes zu uns Menschen, der die Menschen aller Völker, Zeiten und Kulturen in ihrem Innersten beruft, diese Liebe anzunehmen und ihrerseits so zu beantworten, wie Jesus Christus uns geliebt hat (vgl. Joh 13,34; 15,12). Mit anderen Worten: Das wichtigste sind nach den Worten Jesu „Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue“ (Mt 23,23), nicht religiöse Ge- und Verbote, kultische Normen oder moralische Vorschriften. Diese sind nachrangig, sollen erfahr- und erkennbar Ausdruck und Entfaltung dieses Wichtigsten sein und dürfen nicht wie ein geschlossenes System für sich stehen, losgelöst und unabhängig davon, Gott mit allen Kräften zu lieben und die Nächsten wie sich selbst (vgl. Mk 12,28-34 parr).

Die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe übernimmt das Christentum von Israel. Sie wird christologisch transformiert und universalisiert durch die konkrete Anschauung ihrer „innovativen“ Realisierung im irdischen Leben und Wirken, Leiden und Sterben Jesu von Nazareth. Die Selbstoffenbarung Gottes als „die Liebe“ (vgl. 1 Joh 14,8.16) und seiner Barmherzigkeit (vgl. Ex 34,6; Mt 5,48) und die universale anthropologische Hinordnung aller und jedes Menschen, darauf in der Kraft des Heiligen Geistes (vgl. Röm 5,5) in Freiheit und Hingabe zu antworten, gehören zusammen. Mit anderen Worten, die Sehnsucht und Hinordnung jedes und aller Menschen auf persönliche Erfüllung im Geliebtwerden und Lieben findet ihr Ziel diesseits und jenseits der Todesschranke in dem Gott, der die Liebe ist.

Die absolute Priorität dieser theo-logischen Botschaft war offenkundig das zentrale Anliegen der Enzyklika Deus caritas est (vgl. Dce 1) und durchzieht ebenso das Wirken von Papst Franziskus. Die völlige Erstrangigkeit der Liebe, wie der Apostel Paulus sie formulierte (vgl. 1 Kor 13; Gal 5,14 u.a.) hatten und haben in westlichen Gesellschaften der letzten Jahrzehnte viele Getaufte verstanden, die sich enttäuscht von der Kirche abwandten, weil sie ihr so gar nicht zu entsprechen schien, sondern festgefahren in Sackgassen theologischer Nebenfragen, moralischer Gängelungen und rechtlicher Verhärtungen. Die demgegenüber „neue“, klare Prioritätensetzung durch Papst Benedikt und nicht weniger durch Papst Franziskus (im Sinn der „Hierarchie der Wahrheiten“; vgl. Evangelii gaudium; Amoris laetitia) scheint Widerhall in den vielen Getauften zu finden, die ungeachtet ihrer Schwierigkeiten mit der „offiziellen Kirche“ dem treu blieben und bleiben wollen, was sie religiös und spirituell über bzw. von Jesus von Nazareth erfahren hatten. In dieser Prioritätensetzung liegt die Verheißung authentischer Erneuerung und Reform der Kirche11 mit dem Ziel, dass sie ihre diakonische Sendung als Sakrament, d.h. „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1), glaubwürdiger und wirkungsvoller lebt.

Es ist nicht verwegen, darin eines der wichtigsten Motive allen (caritas-) wissenschaftlichen Arbeitens Heinrich Pompeÿs für eine Theologie der Caritas auszumachen.12 Das Feld ist offen und verheißungsvoll. Auch die Beiträge dieses Bandes zeigen das eindrucksvoll. Und: Es gibt viel zu tun.

Bibliographie

Bauman, Zygmunt, Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003.

Baumann, Klaus, Caritaswissenschaft: Ihre Ursprünge und Aktualität, in: Caritas 2016. neue caritas-Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 2015, 139-145.

Confessio Augustana Artikel 7: Von der Kirche, zitiert nach https://www.ekd.de/glauben/grundlagen/augsburger_bekenntnis.html (zuletzt überprüft 31.01.2017).

Cor unum (Hg.), „Deus caritas est“. Dokumentation des Internationalen Kongresses über die christliche Liebe, Vatikan 2006.

Cordes, Paul Josef Kardinal, Drei Päpste – Mein Leben, Freiburg 2014.

Ebertz, Michael N./Segler, Lucia, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg 2016.

Eidt, Ellen/Eurich, Johannes, Art. Diakoniewissenschaft, in: Friedrich, Norbert / Baumann, Klaus et al. (Hgg.), Diakonie-Lexikon, Göttingen 2016, 121-123.

Haslinger, Herbert, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009.

Hentschel, Anni, Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, Neukirche-Vluyn 2013.

Müller, Philipp, Joseph Ratzinger und das Zweite Vatikanische Konzil – eine pastoraltheologische Perspektive, in: Trierer Theologische Zeitschrift 125, 2016, 265-284.

Pompeÿ, Heinrich, Caritas theology – theological foundations and shape of the church’s charitable ministry. in: Dal Toso, Giampetro/Pompeÿ, Heinrich/Gehrig, Rainer/Doležel, Jakub, Church Caritas ministry in the perspective of Caritas-theology and Catholic social teaching Olomouc 2015, 31-90.

Reber, Joachim, Spiritualität in sozialen Unternehmen. Mitarbeiterseelsorge –spirituelle Bildung – spirituelle Unternehmenskultur, Stuttgart 2009.

Sigrist, Christoph/Rüegger, Heinz (Hgg.), Helfendes Handeln im Spannungsfeld theologischer Begründungsansätze, Zürich 2014.

Zeil, Petra, Jeder Mensch ist uns der Liebe wert: Benedict Kreutz als zweiter Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Würzburg 2016.

1 Einige verstreute Hinweise gibt er dazu auch in seinem autobiographischen Werk: Paul Josef Kardinal Cordes, Drei Päpste – Mein Leben, Freiburg 2014.

2 Vgl. Klaus Baumann, Caritaswissenschaft: Ihre Ursprünge und Aktualität, in: Caritas 2016. neue caritasJahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 2015, 139-145.

3 Petra Zeil, Jeder Mensch ist uns der Liebe wert: Benedict Kreutz als zweiter Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Würzburg 2016.

4 Vgl. Ellen Eidt, Johannes Eurich, Art. Diakoniewissenschaft, in: Norbert Friedrich, Klaus Baumann et al. (Hgg.), Diakonie-Lexikon, , Göttingen 2016, 121-123.

5 Vgl. jüngst die Befunde der sog. „Würzburg-Studie“: Michael N. Ebertz, Lucia Segler, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg 2016.

6 Vgl. u.a. Joachim Reber, Spiritualität in sozialen Unternehmen. Mitarbeiterseelsorge - spirituelle Bildung - spirituelle Unternehmenskultur, Stuttgart 2009, und den Beitrag von Klaus Kießling in diesem Band.

7 Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003.

8 Vgl. Anni Hentschel, Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, Neukirche-Vluyn 2013; Herbert Haslinger, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009.

9 Vgl. seine Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses von Cor unum vor der Publikation der Enzyklika Deus caritas est am 24. Januar 2006, abgedruckt in: Cor unum (Hg.) „Deus caritas est“. Dokumentation des Internationalen Kongresses über die christliche Liebe, Vatikan 2006, 7-10, hier: 9: „Mir ging es jedoch gerade um die Einheit der beiden Themen, die nur dann richtig zu verstehen sind, wenn sie als ein einziges gesehen werden.“

10 Confessio Augustana Artikel 7: Von der Kirche, zitiert nach https://www.ekd.de/glauben/grundlagen/augsburger_bekenntnis.html (zuletzt überprüft 31.01.2017). Die Erwähnung dieser ekklesiologischen Differenz möge hier genügen. Vgl. Christoph Sigrist, Heinz Rüegger (Hgg.), Helfendes Handeln im Spannungsfeld theologischer Begründungsansätze, Zürich 2014.

11 Vgl. Philipp Müller, Joseph Ratzinger und das Zweite Vatikanische Konzil – eine pastoraltheologische Perspektive, in: Trierer Theologische Zeitschrift 125, 2016, 265-284.

12 Vgl. u.a. Heinrich Pompeÿ, Caritas theology – theological foundations and shape of the church’s charitable ministry. in: Giampetro Dal Toso, Heinrich Pompeÿ, Rainer Gehrig, Jakub Doležel, Church Caritas ministry in the perspective of Caritas-theology and Catholic social teaching Olomouc 2015, 31-90.

Philosophische Grundlagen und Perspektiven

Die Deutung gelingenden Lebens als des maßgeblichen Humanum

Rainer Marten

I.

Eine der großen Fragen griechischer Philosophie war, ob es für sinnlich-geistiges Weltverhalten, also für alles, was unter Beobachten, Erfahren, Erkennen und Wissen fällt, etwas wirklich Festes und Verbindliches gibt, oder ob alles dem Ungefähr ausgesetzt ist, dem Meinen, Fürwahrhalten, Sichtäuschenlassen. Gibt es Bleibendes und Unveränderliches, das für jeden menschlichen Zugriff das Selbe ist? Gibt es bleibend Wirkliches? Gibt es Wahrheit? Das ist eine Frage der theoretischen Philosophie. Die entsprechende Frage der praktischen Philosophie, die sich nicht an die Lebenswelt, sondern an den Menschen selbst richtet, fragt, ob der Mensch ein Selbst hat, ob er selbsthaft sein kann, oder ob Mächtigeres ihn und sein Leben in der Hand hat, er also eigentlich nichts ist, nichts, was für sich selbst bestehen, nichts, was zu sich selbst stehen kann.

Die paulinische und johanneische Christologie gibt Grund daran zu zweifeln, dass der Mensch selbsthaft ist. Zuvor hatte schon Aristoteles einen Menschen gedacht, der nicht eigentlich Mensch und somit als Mensch eigentlich nichts ist: den Sklaven. Der sei zwar Mensch von Natur, aber nicht seiner selbst, sondern Mensch eines Anderen.1 Paulus versteht das für sich nicht anders. Er erklärt sich als Sklave Christi Jesu. Das ist ernst gemeint. Kein Wunder, dass er in seinem Leben und Sterben nicht sich gehört, sondern „des Herrn ist“ (tou kyriou esmen, Dominisumus).2 Das aber heißt für den Apostel: „ich lebe nicht mehr als ich selbst, sondern Christus lebt in mir“.3 Sie sehen, es ist nicht leicht, vor christlichen Theologen und Christusgläubigen über das Humanum zu sprechen, wenn einer das Wort hat, der sich nicht als christlicher Philosoph versteht, sondern schlicht als Philosoph. Nur so nämlich weiß er sich frei in seinem Nachdenken.

Der Mensch, in dem Christus lebt, ist nicht als Mensch, sondern als Christ selbsthaft, und dies nicht kraft seiner selbst, sondern durch die Gnade Christi. Paulus deutet den Sprung, den der Glaube vom Alten zum Neuen Testament macht, als den vom „ersten Adam“ zum „letzten Adam“, vom irdischen ersten Menschen, der ein beseelter Leib ist, zum zweiten Menschen, der vom Himmel kommt. Das ist ein ganz anderer Mensch, der nicht leibhaft lebt, sondern als Leben schaffender Geist.4 Der Mensch des Alten Testaments hat einen irdischen Leib und wird wieder zu Erde, der Mensch des Neuen Testaments hat in seiner Vollendung einen geistigen Leib (sôma pneumatikon) und hat seinen letzten Ort für immer im Himmel, wenn nicht ein letztes Gericht ihn mit seiner pneumatischen Natur für immer dem unlöschbaren Feuer (pyr asbestos) überantwortet. Aber schon zeit seines leiblichen Lebens ist es Gott, der den Gläubigen erhält,5 nicht er selbst, weil er sein lebendiges Selbst in Christus hat, nicht in sich selbst. Mit seinem anrührenden Wort von den Vögeln des Himmels verweist Christus auf die, die sich nicht nach Menschenart um die Erhaltung des Lebens sorgen, „und der himmlische Vater ernähret sie doch“. Selbsterhaltung wird zu einem Begriff der Aufklärung (Thomas Hobbes). Wer nicht mehr glaubt, dass Gott die Sonne scheinen lässt und so durch Wärme und Gedeihenlassen für den Erhalt des Menschen sorgt, der ist auf sich selbst angewiesen.

Nein, so leicht ist Selbsthaftigkeit, die wirklich die des Menschen wäre, auch bei Philosophen nicht nachzuweisen. Dass das, was als Humanum gedacht ist, weit eher nach einem Divinum aussieht, lässt sich von Aristoteles bis Kant verfolgen. Für Aristoteles ist der Mensch das vernunftbegabte Lebewesen, fähig, sich untereinander über das Zuträgliche und Abträgliche, Gerechte und Ungerechte zu verständigen. Die tätige Vernunft aber gilt ihm als das Göttliche am Menschen, das für das eigentliche Menschsein zu nehmen ist.6 Zwar sieht er als Ontologe und Biologe Selbsterhaltung positiv, die aber als das natürliche Werk, sich in seiner Art fortzuzeugen, das eines unteren, nicht das des göttlich-vernünftigen Seelenteils ist.7 Damit ist „Selbst“-Erhaltung Sache einer Naturkraft, nicht aber die des Selbst. Der Mensch selbst ist Vernunft, die ausgerechnet als das, was am meisten Mensch ist (malista anthrôpos), sein Göttliches sein soll.8

Dass das Divinum das eigentliche Humanum ist, wird von Kant nicht ebenso klar gesagt, aber nicht weniger so gedacht. Der leibhaftige Mensch, der Mensch, wie er erscheint, ist nicht wirklich Mensch, wenn es nach reiner Vernunft und gutem, weil vernünftigen Willen geht. Der leibhafte Mensch sei „nur eine Erscheinung seiner selbst“, nicht also der Mensch selbst.9 Der Mensch als Person hat keinen Leib. Der leibhaftige Mensch ist „Sache“ und damit Instrumentalisierbares, nicht Zweck an sich selbst. Das muss man erst einmal auf sich wirken lassen: Keiner von uns hier ist er selbst, es gelänge denn einem, als reine Vernunft präsent zu sein. Das aber ist, wie ich vorweg verrate, nicht möglich, da es keine Vernunft gibt, die nicht emotional gebunden wäre.

Nein, dass auch Philosophen das menschliche Selbst in höhere Regionen verlegen, als der lebendige Mensch sie bewohnt, macht die Entselbstung des Gläubigen bei Paulus nicht zugänglicher, zumal diese ihren Höhepunkt erst in seiner Theologie der Gerechtigkeit und der Liebe findet. Ich beschränke mich hier auf die Liebe. Wieder begegnen wir dem Sprung vom Alten zum Neuen Testament, durch den der Mensch zu etwas ganz anderem wird, als wir sind. Wie Paulus auf den Geist setzt und gegen das Fleisch Stellung bezieht, verbannt er aus dem Gläubigen, in dem Christus lebt, alles Erotische. Das Wort der Genesis, das der Zusammengehörigkeit von Mann und Frau die Würde des Humanum gibt, „und die Zwei werden ein Fleisch sein“,10 wird von Paulus zitiert, um zu demonstrieren, dass dem Menschen, der nicht Geist, sondern Fleisch ist, nichts als sündenhafte Hurerei bleibt. Der Mann, der einer Frau anhängt, hängt als Hurer einer Hure an. Für Paulus lässt das „ein Fleisch“ keine andere Deutung zu. Wer dagegen dem Herrn anhängt, der ist mit ihm „ein Geist“ (hen pneuma). Sind Zwei ein Fleisch, dann sind sie eine Sünde, ein Abfall vom Herrn. Der Gläubige hat kein Fleisch, hat unmöglich Verlangen nach einem anderen Menschen. Sein fleischloser Leib ist Tempel des Geistes Christi, ist also, anders als das Fleisch, nichts selbsthaft Eigenes. Der selbsthafte Mensch kann nur sündhaft sein. Der Leib eines Gläubigen dagegen ist erst gar nicht für den Eros disponiert. Hier fällt das Wort, dass die dem Herrn anhängen, nicht sich selbst gehören (ouk este heautôn). Der pneumatische Leib, der den Gläubigen mit dem Geist Christi einen Geist sein lässt, ist von göttlicher Selbsthaftigkeit. Fleisch und Geist, wie Paulus bekräftigt, liegen unversöhnlich miteinander im Streit,11 ja er wagt das Bild, dass alles Fleisch mit seinen Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt gehöre.12

Das ist keine gute Ausgangslage, um einem Humanum Gestalt zu geben, dass kein Divinum ist. Soll, ja muss denn ein Humanum, werden Theologen und Gläubige fragen, nicht ein Divinum sein? Nun ist es Grundsatz monotheistischer Religionen „Der Mensch ist nicht Gott“. Allmacht und Ohnmacht sind nicht vermittelbar. Wer es mit dem Buch Hiob hält, weiß, dass alles Recht bei Gott ist und selbst der gerechteste Mensch kein Recht hat, mit Gott zu rechten. Als das Hiob spät, aber nicht zu spät einsieht und sich in Staub und Asche vor dem einzigen Rechthaber niederwirft, erhält er alles doppelt zurück, was Gott ihm zur Strafe genommen, nur die Kinder an gleicher Zahl, freilich schöner. Nein, wie es der Theologe will und womit sich selbst Philosophen befreunden: Die Grenze hält nicht. Heißt es im Gilgameschepos, dass Götter sich die Unsterblichkeit allein vorbehalten, Gilgamesch also bei allem Unsterblichkeitsbemühen nicht mehr erreichen konnte, als Herr im Totenreich zu werden,13 so denkt, glaubt und hofft Paulus anders. Für ihn steht als Ziel das „von Angesicht zu Angesicht“, ja die Vereinigung mit Gott fest. Einem Humanum, das seinen Namen verdient, ist damit à-Dieu gesagt.

Begegnen Menschen einander, dann ist in der Regel Selbstsein im Spiel. Bei der Nächstenliebe, in die Paulus die göttliche Gesetzgebung zusammenfasst14, ist das nicht der Fall. Sie lässt keine Selbsthaftigkeit zu, sondern verlangt unterwürfigen Gehorsam: Sie ist die Erfüllung des Gesetzes (plêrôma oun nomou hê agapê). Wie Gott den Gläubigen nicht selbsthaft rechten lässt, so lässt er ihn auch nicht selbsthaft lieben. Gott, der den Menschen zuerst geliebt hat15, wodurch er ihn dazu bewegt, Gott zu lieben, schenkt in seiner Liebe dem Menschen keine Selbsthaftigkeit, im Gegenteil: Hoti theos agapê estin, quoniam Deus caritas est, „denn: Gott ist Liebe“16 – der dem Johannesevangelium zugetane Briefschreiber, der durch die Idee des liebenden Gottes der Gemeinde ein Vorbild für das Miteinander geben will, predigt ihr damit Gegenliebe zu Christus, nicht Menschenliebe. Der Nächste ist hier christlich gesehen: Ihn zu lieben fordert, in ihm den Geist Christi zu lieben. Auch die Liebe zu sich „selbst“ gilt keiner eigenen Herrlichkeit, sondern dem „Herrn“. Bereits im Alten Testament ist Nächstenliebe als liebende Fürsorge für die Geringsten (penestatoi) und Ärmsten ausdrücklich Ehrung Gottes.17 Ist für Kant die Würde des Menschen dadurch gegeben, dass es seine Wesensbestimmung ist, selbsthaft vernünftig zu sein, dann für den Gläubigen durch den ihm einwohnenden Geist Christi. Beide haben keinen Zugang zu der Einsicht, dass Menschenwürde praxisdefinit ist, d.h. dass sie nur dort wahr wird, wo Menschen einander als Menschen behandeln, schätzen und eben würdigen. Die Vorstellung ist zu verabschieden, Würde sei ursprünglich Mitgift jedes Einzelnen – entweder rein durch seine Kreatürlichkeit oder durch seine Vernunftbestimmtheit. Nein, dazu bedarf es der zwei und drei.

Das durch die Tora in die Glaubenswelt eingebrachte Gesetz der Nächstenliebe fordert eine dem Geist Gottes dienende Liebe. Sie folgt keiner Gesellschaft und Gemeinschaft verpflichtenden Rationalität, sondern ist Sache des gläubigen Herzens.18 Als Bild kann ihr das Verhältnis von Mutter und Kind dienen, nicht das von Mann und Frau. Paulus‘ berühmtes Wort „aber die Liebe ist die größte unter ihnen“19 ist nicht zu Hochzeitspaaren gesprochen. Nächstenliebe ist geschlechtsindifferent, wenn doch ihre Taten als Gesetzeserfüllung den gläubigen Geist fordern. Gilt ihre Zuwendung auch Gebrechlichen und Hinfälligen, so ist sie in erster Linie eine geistige. Doch von der Liebe zwischen Mann und Frau trennt sie noch mehr als die in ihr dominante gläubige Geistigkeit. In der geschlechtlichen Indifferenz liegt auch schon, dass sie im Verhältnis zum Anderen keine selbsthafte Zweiheit bildet. So provokant das für Sie klingen mag: Nächstenliebe ist solipsistisch. Allein Gott kann für den Gläubigen selbsthaft sein. Handelt Nächstenliebe in göttlichem Geiste, dann im Auftrag des einen Selbst. Es ist die wunderbare Sicht des Glaubens, die in den Anderen nichts Andersartiges, sondern Gleichartiges sieht. Brüder und Schwestern in Christo. Genau das unterbindet die Ausbildung selbsthafter Alterität.

Alle einseitig dem Geist verpflichtete Menschendeutung kann nur eine auf den Einzelnen ausgerichtete sein. Soll ein Mensch Anderen gegenüber vernünftig handeln, dann verlangt Kant von ihm, das rein um des Vernunftgesetzes willen zu tun, ohne jede Gefühlsbegleitung. Philanthropie ist für ihn der Tod aller Moralität, weil sein Sittengesetz das reine Selbsterhaltungsgesetz der Vernunft ist. Er könnte das Paulus und jenem Briefschreiber abgeschaut haben. Es geht um ein Höherem verpflichtetes Tun, als es das lebensteilige Gelingen ist. Ich weiß, ich rede damit an der Praxis christlicher Gemeinden vorbei, und ich tue das bewusst. Als Philosoph betreibe ich nicht Feldforschung, verfolge ich nicht Interessen einer empirischen Soziologie, sondern halte ich mich an den christlichen Geist, wie er in den für ihn verbindlichen Schriften vorgezeichnet ist.

II.

Als Philosoph, der sich interdisziplinär umgesehen hat, behaupte ich, dass Menschwerdung eins ist mit Selbstwerdung. Um ein Selbst werden und sein zu können, bedarf es des Umgangs mit anderen Selbsten. Sind für den, der dem „Herrn“ folgt, Glaube, Liebe, Hoffnung die Wegzehrung, dann für den, der auf dem Wege der Bildung des Selbst ist, leibhafte Lebendigkeit, Geselligkeit und Geschlechtlichkeit. Heißt das Motto zum 1. Kapitel von De imitatione Christi des Thomas a Kempis „Folge Christus nach und lerne verschmähen, was vergänglich ist“20, dann könnte für den sein Selbst Bildenden das Motto lauten: „Lerne dich selbst zu sehen im Anderen“.

Wir kommen nicht mit einem Selbst auf die Welt. Der Neugeborene ist ohne Selbstsein. Es ist die Mutter, gerne auch die eindeutige Bezugsperson, die ihn mit Selbstsein belehnt. Für den Säugling ist der erste Schritt in Richtung der Bildung eigenen Selbstseins das Sichselbstkennenlernen, seine Selbstwahrnehmung. Die aber ist nur möglich durch das In-Resonanz-Kommen mit Anderen. Ein einfaches Beispiel: Der Andere öffnet den Mund, der Säugling ahmt das nach und öffnet ebenfalls den Mund. Ich erspare es uns, Näheres von dem zu erzählen, wie das Selbst sich dadurch bildet, dass Einer seinen Körper durch Spiegelung kennen und regulieren lernt, seine Gefühle und alles, was das Selbst ausmacht, das nie etwas Fertiges ist, sondern ständig im Umgang mit anderen Selbst dazugewinnt.

Das Wissen, dass Selbstsein sich dem Einander verdankt, ist alt. Ich habe schon früh Aristoteles mit dem erstaunlichen Wort zitiert: „Wenn wir unser Gesicht sehen wollen, sehen wir in den Spiegel, wenn uns selbst, auf den Freund, denn er ist, wie wir sagen, das andere Ich (heteros egô).“21 Gott dagegen, wie er bemerkt, kann keinen Freund haben, weil er autark ist,22 ein indirekter Beweis dafür, dass wir zu unserem Glück nicht autark sind, sondern zur Bewährung unseres Selbst Andere brauchen. Wir alle, die zu geistigem Austausch und zur Würdigung eines Menschen hier zusammengekommen sind, beweisen durch unsere selbsthafte Präsenz, leibhaft wie geistig, dass wir das Bedürfnis haben, einander zu brauchen und füreinander fruchtbar zu sein. Bevor ich auf den dritten Fundus unserer Selbsthaftigkeit eingehe, auf die Geschlechtlichkeit, muss ich Sie an etwas Wichtiges erinnern: Wir alle, die wir hier als gelungenes Selbstsein Gegenwart teilen, sind Künstler, genauer gesagt, Lebenskünstler, wobei ich dem Wort eine Bedeutung gebe, die ihm seine übliche Banalität nimmt.

Dank Lebenskunst agieren wir in einer höheren Lebenswirklichkeit, als es die der Lebenserhaltung und –bewältigung ist. Lebenskünstlerisch gelingt es, ohne darum selbstherrlich zu werden, uns auf der Ebene zu wissen, die das Humanum in Aussicht stellt. Der vorgegebenen Thematik des Vortrags kann ich nur gerecht werden, wenn ich von der selbstlosen Rede „Ich bin bloß ein Mensch“ zur selbsthaften wechsle: „Ich bin sogar ein Mensch“. Läßt Jahwe, wie beim Propheten Hosea zu lesen, gegenüber dem Volk Israel, seinem hurerischen Weib, Gnade vor Recht ergehen – hier paaren sich unerforschliche Gerechtigkeit und unerforschliche Liebe –, dann lautet die Begründung des erstaunlichen Tuns: „deswegen bin ich Gott und nicht Mensch“ (dihoti theos egô eimi kai ouk anthrôpos).23 Das vom Wechsel von feurigem Zorn zu barmherziger Liebe überraschte Volk ist der auf Distanz gehaltene Mensch. Gehört nun zum Menschen Selbstsein, dann hat er auch das Recht zu sagen: „deswegen bin ich Mensch und weder Halbgott noch Gott“, ohne damit die Möglichkeit jüdischer und christlicher Religiosität zu verneinen. Doch dazu später ein Wort.

Der erste schöpferische Akt des Lebenskünstlers besteht darin, sich selbst und das eigene Leben ernst zu nehmen. Damit verwandelt sich alles, was als Banalität des Lebens, seines Auslebens und seiner Bewältigung vorgegeben sein mag. Der Ernst nimmt dem Leben nicht die Freude, im Gegenteil. Jetzt erst, auf der Ebene der Lebenskunst, erhält es in allen seinen Zügen einen sonst unbekannten Glanz. Es hat seine Zufälligkeit verloren. Ich bin mir selbst wichtig geworden und mit mir die Anderen. Wer sagen kann „Ich bin mir selbst notwendig und mit mir mein Leben“, wer damit schon mitsagt, „Mir sind die Anderen und ihr Leben notwendig“, der hat sich von jedem Fatalismus befreit, vom Gefühl der Belanglosigkeit von allen und jedem. Das Leben ist jetzt ein gesteigertes, und dies in allem Tun und Empfinden, Erfahren und Ergehen. Wer die Querelen kennt, den Gedanken zu rechtfertigen, dass Gott ein Ens necessarium ist, der ahnt, was es bedeutet, sich als lebenskünstlerisch Agierender notwendig zu wissen. Auf neue Art ist Leben das kostbare Gut geworden, das ja nicht zu verschleudern, sondern fruchtbar zu machen ist. Der Lebenskünstler, von dem ich rede, fragt nicht, was er vom Leben haben, wie er in ihm auf seine Kosten kommen, sondern, was er ihm geben kann. Mit dieser Frage ist er auf dem Weg des menschlichen Gelingens angelangt, den die leibhaftige und gesellige Lebendigkeit als den der Lebensteilung vorzeichnet. Wer sein Leben ernst nimmt, nimmt das des Anderen unmöglich weniger ernst. Wer sich selbst nötig geworden ist, dem sind es auch die Anderen, mit denen das Leben zu teilen ist. Das Ich und das Du, das Mein und das Dein verschränken sich; sie bedingen einander. Das Teilen beginnt mit so Einfachem wie dem Teilen von Sichten. Für Aristoteles gehört zum aistanesthai notwendig das synaisthanesthai.24 Was für eine belebende Freude ist es, den Blick auf Natur und Kunst zu teilen! Die gewohnte Alltäglichkeit des Sehens ist überhöht. Sichten zu teilen ist eine der großen und bedeutenden Spielarten der Lebenskunst, die sich nicht weniger im Teilen von Tisch und Bett, von Sichsorgen und Verantwortung Tragen bewährt.

III.

Der Mensch, der sogar ein Mensch ist, ist sich ein Rätsel. Die alte Menschenfrage „Woher und wohin, warum und wozu?“ kann auch er nicht beantworten, ja er lebt davon, sie nicht beantworten zu können. Das Leben mit seinem Geborenwerden, Aufwachsen, Lieben, Leben Weitergeben, Altern und Sterben – das stellt dem Menschen immer neu die Frage nach sich selbst. Besonders seine Endlichkeit erweist sich als Schatzbewahrer des Nichtwissens. Der Mensch braucht sein Geheimnis: Es gibt ihm die Chance, die Unbeantwortbarkeit der Frage, die er sich selbst ist, zu gestalten. Das ist die Stunde der Poesie, nicht zuletzt der religiösen, die dem Menschen Glaubenstatsachen und -wahrheiten vor Augen stellt, voll von Sinngebung und Befeuerung des Gemüts. Damit ist die Möglichkeit gegeben, selbsthaft Religiosität auszutragen, und zwar in dem Bewusstsein, ein Mensch zu sein und zu bleiben, ein Mensch, der sich nicht auf sich selbst als Einzelner entwirft, sondern als leibhaft Lebendiger sich in Lebensteilung mit Anderen übt.

Erste Züge des Humanum zeichnen sich ab. Es ist ein Werk menschlichen Künstlertums, verdankt sich also der Fähigkeit des Menschen, sich seines Lebens so anzunehmen, dass er es steigert und ihm eine Wirklichkeit verleiht, die um einen Himmel über der liegt, die selbsternannte Ratgeber suggerieren, wenn sie uns erzählen, wie wir als Einzelne am meisten vom Leben haben können. Das Glück in sich und bei sich selbst zu suchen – im eigenen Leib oder in der eigenen Seele -, das ist der Weg ins Selbstische, das selbsthaftes Gelingen gefährdet, ja unmöglich macht. Seit Adam Smith25 ertönt dieser Ruf: „Sei selbstisch, wenn du auf der Gewinnerseite sein willst!“ Es ist die Freiheit des Liberalismus, die sich darin als gegeben und gewährleistet versteht, dass der Einzelne seine, und nur seine Interessen verfolgen kann. Wer nichts als sie im Sinn habe, sei durch eine „unsichtbare Hand“ geführt, die aus praktischer Blindheit für Andere das Gemeinwohl entspringen lasse.26 Die Maxime „Sei selbstisch!“ ist in der Verfassung der USA in die Form „Pursuit of Happiness“ gebracht, selfishness, der Tod des Humanum, als garantiertes Verfassungsrecht. Dieses Verfassungswort gibt dem Vitalismus recht und verbrieft als bürgerliches Grundrecht das Recht des Stärkeren. Findet Wissenschaft für menschliches Selbst das Wort Fluidum, dann passt dies Bild auch für das Humanum: Es ist nichts, das jemals zu etwas Festem und Bleibenden gerinnt. Ständig ist es in Entwicklung begriffen. Das ist für die grundständige Ungerechtigkeit unter Menschen bedeutsam, für diese Ungleichheit als Ausgangslage des Lebens und Handelns. Der Kampf für den Ausgleich ist jeden Tag neu zu führen. Es ist der Kampf gegen die Pervertierung des Selbsthaften ins Selbstische, der Kampf gegen das unbehinderte Recht des Stärkeren.

Unter den geschichtlich gewachsenen Ungleichheiten ist die von Arm und Reich von einsamer Dominanz. „Denn Arme habt ihr allezeit (pantote) bei euch“27 – das ist kein einfacher Sachverhalt. Schon Aristoteles spricht von zu Armen und zu Reichen.28 Diese Auswüchse sind nicht hinnehmbar. Zu Reiche ruinieren die politische Gemeinschaft. Das Zulassen, ja systemische Hervorbringen verwahrloster Armut unterbindet die Möglichkeit, dass Arm und Reich das Leben gelingend miteinander teilen. Beider Zu-sehr ist politisch unmöglich zu machen. Bestrebungen jedoch, alle gleich arm bzw. gleich reich zu machen, verfolgen schlechte Utopien. Nun kommt ein gewagter neuer Gedanke: Die Ungleichheit von Arm und Reich, soweit kein Zu-sehr vorliegt, bleibt erhalten, aber das Unrecht, das grundständig in ihr mitgegeben ist, wird aufgehoben und in einen Rechtszustand umgewandelt.

Das Verhältnis von Arm und Reich, in dem, zumindest latent, das ungerechte Recht des Stärkeren herrscht, kann, so mein Gedanke, allein dadurch den Rechtsstatus erlangen, dass beide Seiten aufeinander zugehen, um sich gegenseitig als die anzuerkennen, die sie sind. Gibt es erst einmal im gegenseitigen Einverständnis das Recht, arm zu sein, und das Recht, reich zu sein, so dass Arme und Reiche füreinander gleicherweise im Recht sind, dann ist, bei bleibender Ungleichheit, doch eine Balance hergestellt. Kommt es jetzt zur Konfrontation, wenn Einer beim Anderen etwas erreichen will, dann ist das kein feindlicher, sondern ein guter Streit, eine eris agathê, wie Hesiod sagt. Das verändert auch die Verhältnisse von Helfenden und Hilflosen, Starken und Schwachen. Sie sind, pränormativ, Rechtsverhältnisse geworden. Um ein prägnantes Beispiel zu geben: Der Demente hat ein Recht auf Demenz, was besagt, dass mit dem Recht auf Fürsorge auch eine pränormative Pflicht übernommen wird. Nachdem Demenz durch ihre Häufigkeit zur Lebensform geworden ist, bedarf es keines Mitleids gegenüber den Dementen, um hilfreich für sie tätig zu werden. In dem Recht auf Demenz ist auch das Recht eingeschlossen, nächste Angehörige nicht mehr zu erkennen. Mit der Gewinnung des Rechtszustandes ist eine Entmystifizierung verbunden. Wer jetzt noch von Schicksal spricht, von unverdientem oder verdientem, ja gar von Strafe, muss das selber verantworten – als Poet.

Nun habe ich zum Recht der Armen und Schwachen, arm und schwach, und zum Recht der Reichen und Starken, reich und stark zu sein, noch eine theologische Frage: Ist das Gnade-vor-Recht-ergehen-Lassen, wie es in Hosea und im Römerbrief vorgeführt wird, ein Vorrecht und also Recht Gottes, oder etwas Außerrechtliches, was nach Belieben und Willkür schmeckte? Auch Menschen haben ja die Gelegenheit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Die Anrede „Gnädigste“ ist veraltet, aber Herrscher haben, angemaßt oder verfassungsgemäß, das Recht der Begnadigung. Was ist es wohl, was dann bei ihnen die Entscheidung herbeiführt: Kalkül, Mitleid, Vorurteil? Meine Frau und ich haben schon früh bei Gottfried Benn die letzten Zeilen des späten Gedichts „Menschen getroffen“ geschätzt:

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,woher das Sanfte und das Gute kommt,weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.29

Das Recht, selbsthaft Mensch zu sein, das sich im Recht auf Reich- und Arm-, Stark- und Schwachsein spiegelt, kann vor keinem Gericht erstritten werden. Um zu bestehen und wirksam zu werden, bedarf es Kräfte im Menschen, die in der Kraft zum Guten geeint sind. Menschliche und göttliche Güte – ja, das ist die Grundlage für alles, was der Mensch für sich als sein Gelingen bestimmen und erfahren kann. Wie jüdische und christliche Religiosität das Humanum als Divinum deutet, verdankt sich dieses den Menschen übersteigende Gelingen der Güte Gottes. Für diese Güte steht in Seputaginta und Neuem Testament das Wort für Mitleid und Erbarmen. Doch diese Güte kommt nicht aus einem absoluten Gemüt, sondern aus einem mit den Gläubigen verbundenen, da sie sich als Antwort versteht auf das Gebrauchtsein ihrer selbst. Dazu erhält sie in beiden Religionen eine Metapher, die sich auf Menschliches stützt: Die mitleidige, barmherzige, gnädige, liebende Güte ist die des Vaters zu seinen Kindern.30 Dem entnehme ich einen höchst bedeutsamen Hinweis: Güte, wie sie für ein gelingendes rechtliches Divinum und auch Humanum Grundlage ist, hat ihren Ursprung im Familiären: im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Diese Güte ist Praxis, keine einseitige Regung. Wie Gott die Sünder braucht, um Gnade erweisen zu können, und die Sünder den von Sünden erlösenden Gott, so die Eltern die Kinder, um ihre Elternliebe entfalten zu können, und die Kinder die Elternliebe, um ins Leben zu finden.

IV.

Ist Arm und Reich die dominante gesellschaftlich gewachsene Ungleichheit, dann Mann und Frau die dominante durch Natur gegebene. Die Ungleichheit des Geschlechts ist es, die den Menschen unrevidierbar, die geringen Ausnahmen bestätigen es, die eine und die andere Natur sein lässt. Doch diese natürliche Zweiheit läßt sich nicht isoliert festhalten. Bereits prähistorisch ist die Ungleichheit von Mann und Frau immer auch eine gesellschaftlich gewachsene. Wieder geht es um Herrschaft: um die Ungleichheit von Herrschenden und Beherrschten. Sind im Verhältnis von Arm und Reich die Reichen in der Regel die politisch und gesellschaftlich Herrschenden, dann im Verhältnis von Mann und Frau die Männer, sei es in familiärer Gemeinschaft, sei es in der Gesellschaft. Hat im gesellschaftlichen Leben der Reiche, wie er sich selbst versteht, das bessere Leben, so im gemeinschaftlich geteilten der Mann, wie er sich selbst versteht, die höhere Verantwortung. Arme, die sich nicht ideologisch um ihren bon sens bringen lassen, halten ihr Leben für schlecht, Frauen, wie sie die kulturelle Entwicklung der Gemeinschaft prägt, halten sich für subaltern. Bereits die Genesis nimmt sich der gesellschaftlich gewachsenen Ungleichheit von Mann und Frau an und bestimmt die Frau als Hilfe (boêthos) für den Mann.

Paulus geht einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er von der kulturellen Entwicklung der Gemeinschaft absieht, und den von Natur gegebenen Unterschied theologisch überhöht: „Der Mann ist Abbild und Abglanz Gottes, die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau ab, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann.“31 Wäre Paulus der anderen Version der Schaffung des Menschen in der Genesis gefolgt, hätte er feststellen müssen, dass beide gleicherweise Menschen sind: „und er schuf den Menschen (auton), und er schuf sie (autous) männlich und weiblich.“32 Doch er geht noch einen Schritt weiter in die falsche Richtung, wenn er den Mann mehr teilhaben lässt am Göttlichen als die Frau. Entsprechendes findet sich noch bei Kant, wenn er dem Mann Erhabenheit zuspricht, der Frau nur Schönheit, die nicht zureicht, um das Sittengesetz praktizieren zu können.

Die gesellschaftlich gewachsene Ungleichheit von Mann und Frau setzt die Frau, mit oder ohne ideologische Unterstützung, ins Unrecht. Gendertheoretiker nutzen diese Ungleichheit, um eine natürliche für nicht gegeben zu erklären. Der biologische Unterschied würde sich nicht auf Kognition, Fühlen und Verstehen auswirken,