Theologie des Neuen Testaments - Udo Schnelle - E-Book

Theologie des Neuen Testaments E-Book

Udo Schnelle

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Beschreibung

Dieser Band stellt umfassend die Theologie des Neuen Testaments auf dem Stand der internationalen Forschung dar. Dem grundlegenden Abschnitt zur Verkündigung Jesu folgen umfangreiche Kapitel über Paulus, die Logienquelle, die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte, die Deuteropaulinen, die johanneische Literatur u. a. Dabei werden in jedem Kapitel Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie behandelt. Der Band ist nicht nur ein wissenschaftlich fundiertes Grundlagenwerk, sondern durch Inhalt und Struktur auch fächerübergreifend und für allgemein Interessierte attraktiv.

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Seitenzahl: 1838

Veröffentlichungsjahr: 2016

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utb 2917

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Udo Schnelle

Theologie des Neuen Testaments

Dritte, neubearbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Prof. Dr. theol. Udo Schnelle, o. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät in Halle. Veröffentlichungen: Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, 21986; Einführung in die neutestamentliche Exegese, 82014; Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, 1987; Wandlungen im paulinischen Denken, 1989; Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, 1991; Neuer Wettstein II (mit G.Strecker), 1996; Das Evangelium nach Johannes, 52016; Neuer Wettstein I/2, I/1.1, I/1.2, 2001.2008.2013; Paulus. Leben und Denken, 22014; Einleitung in das Neue Testament 82013; Die Johannesbriefe, 2010; Die ersten 100 Jahre des Christentums, 22016; Aufsätze.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

© 2016, 2014, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Titelbild: Die Apostel Petrus, Paulus und Johannes; Kunstsammlung der Theologischen Fakultät Halle.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: Hubert & Co, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

UTB-Nr. 2917ISBN 978-3-8463-4727-0 (UTB-Bestellnummer)

Vorwort

Ziel dieser Theologie des Neuen Testaments ist es, umfassend die Vielfalt und den Reichtum der neutestamentlichen Gedankenwelt darzustellen. Jede Schrift/jeder Autor des Neuen Testaments blickt aus der je eigenen Perspektive auf das gemeinsame Zentrum Jesus Christus und gerade diese Multiperspektivität eröffnet Glaubenswelten und ermöglicht neues Denken und Handeln.

Zu danken habe ich Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn (Mainz), der einzelne Kapitel des Buches gelesen hat und wertvolle Hinweise gab; zu danken habe ich ferner Herrn wiss. Ass. Markus Göring (Halle) und Herrn stud. theol. Martin Söffing (Halle) für ihre Hilfe bei den Korrekturarbeiten.

Halle, im August 2007

Udo Schnelle

Vorwort zur 3. Auflage

Die 3. Auflage stellt eine durchgängige Neubearbeitung dar, d.h. konkret: Völlig neu sind die Kapitel 3.10.1 (Die Konflikte bis zur Passion), 6.8.6 (Eschatologie und Kosmologie) und 14. (Rück- und Ausblick: Neutestamentliche Theologie als Interpretation der Vielfalt des einen Gottes). Erweitert wurden die Abschnitte 3.1 (Die Frage nach Jesus), 4.5 (Religionsgeschichtliche Kontexte), 6.3 (Pneumatologie), 12.2.1 (Präexistenz und Inkarnation) und 12.8 (Eschatologie). Außerdem finden sich durchgängig kleinere Einfügungen, Ergänzungen oder Änderungen in fast allen Textabschnitten und in den Fußnoten. Zu allen Abschnitten wurde aktuelle Literatur ergänzt und ich habe mich wiederum bemüht, die internationale Diskussion zu berücksichtigen.

Halle, im Mai 2016

Udo Schnelle

Hinweis zu den Literaturangaben

Wenn die Literatur in abgekürzter Form nachgewiesen wird, findet sich der vollständige Erstnachweis immer im Literaturblock des betreffenden Abschnittes oder in den Anmerkungen desselben Unterabschnittes. Sonst erfolgt der Nachweis an Ort und Stelle oder es wird auf den Abschnitt des Erstnachweises verwiesen (s.o./s.u.). Theologien des Neuen Testaments werden ohne späteren Rückverweis nur im Abschnitt 1 vollständig angeführt. Die Abkürzungen entsprechen den Verzeichnissen der TRE, des EWNT und des Neuen Wettstein.

Inhalt

1

Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

1.1

Das Entstehen von Geschichte

1.2

Geschichte als Sinnbildung

1.3

Verstehen durch Erzählen

2

Der Aufbau: Geschichte und Sinn

2.1

Das Phänomen des Anfangs

2.2

Theologie und Religionswissenschaft

2.3

Vielfalt und Einheit

2.4

Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung

3

Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

3.1

Die Frage nach Jesus

3.1.1

Jesus in seinen Deutungen

3.1.2

Kriterien der Frage nach Jesus

3.2

Der Anfang: Johannes der Täufer

3.2.1

Johannes der Täufer als historische Gestalt

3.2.2

Jesus und Johannes der Täufer

3.3

Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich

3.3.1

Der eine Gott in der Verkündigung Jesu

3.3.2

Das neue Gottesbild

3.4

Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes

3.4.1

Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben

3.4.2

Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes

3.4.3

Das Reich Gottes in Gleichnissen

3.4.4

Das Reich Gottes und die Verlorenen

3.4.5

Reich Gottes und Mahlgemeinschaften

3.5

Ethik im Horizont des Reiches Gottes

3.5.1

Schöpfung, Eschatologie und Ethik

3.5.2

Die ethischen Radikalismen Jesu

3.5.3

Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu

3.6

Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes

3.6.1

Das kulturgeschichtliche Umfeld

3.6.2

Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu

3.6.3

Jesus von Nazareth als Heiler

3.7

Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos

3.7.1

Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes

3.8

Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten

3.8.1

Gesetzestheologien im antiken Judentum

3.8.2

Jesu Stellung zur Tora

3.8.3

Jesus, Israel und die Heiden

3.9

Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet

3.9.1

Jesus als endzeitlicher Prophet

3.9.2

Jesus als Menschensohn

3.9.3

Jesus als Messias

3.10

Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang

3.10.1

Die Konflikte bis zur Passion

3.10.2

Verhaftung, Prozess und Kreuzigung

3.10.3

Jesu Verständnis seines Todes

4

Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie

4.1

Jesu vorösterlicher Anspruch

4.2

Die Erscheinungen des Auferstandenen

4.3

Erfahrungen des Geistes

4.4

Die christologische Lektüre der Schrift

4.5

Religionsgeschichtliche Kontexte

4.6

Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel, Formeln und Traditionen

5

Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission

5.1

Die Hellenisten

5.2

Antiochia

5.3

Die Stellung des Paulus

6

Paulus: Missionar und Denker

6.1

Theologie

6.1.1

Der eine und wahre Schöpfergott

6.1.2

Der Vater Jesu Christi

6.1.3

Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln

6.1.4

Gottes Offenbarung im Evangelium

6.1.5

Das neue Gottes-Bild

6.2

Christologie

6.2.1

Transformation und Partizipation

6.2.2

Kreuz und Auferstehung

6.2.3

Rettung und Befreiung durch Jesus Christus

6.2.4

Jesu Christi stellvertretender Tod ‚für uns‘

6.2.5

Sühne

6.2.6

Versöhnung

6.2.7

Gerechtigkeit

6.3

Pneumatologie

6.3.1

Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens

6.3.2

Die Gaben des Geistes

6.3.3

Vater, Sohn und Geist

6.4

Soteriologie

6.4.1

Das neue Sein ‚mit Christus‘/‚in Christus‘

6.4.2

Gnade und Rettung

6.5

Anthropologie

6.5.1

Der Leib und das Fleisch

6.5.2

Sünde und Tod

6.5.3

Gesetz

6.5.4

Glaube

6.5.5

Freiheit

6.5.6

Weitere anthropologische Begriffe

6.6

Ethik

6.6.1

Teilhabe und Entsprechung

6.6.2

Das neue Handeln

6.7

Ekklesiologie

6.7.1

Ekklesiologische Grundbegriffe

6.7.2

Strukturen und Aufgaben

6.7.3

Die Gemeinde als sündenfreier Raum

6.8

Eschatologie

6.8.1

Teilhabe am Auferstandenen

6.8.2

Die Endereignisse

6.8.3

Das Gericht

6.8.4

Israel

6.8.5

Tod und neues Leben

6.8.6

Eschatologie und Kosmologie

6.9

Theologiegeschichtliche Stellung

7

Die dritte Transformation: Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

7.1

Der Tod von Gründergestalten

7.2

Die Verzögerung der Parusie

7.3

Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde

7.4

Der Aufstieg der Flavier

7.5

Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

8

Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen

8.1

Die Logienquelle als Proto-Evangelium

8.1.1

Theologie

8.1.2

Christologie

8.1.3

Pneumatologie

8.1.4

Soteriologie

8.1.5

Anthropologie

8.1.6

Ethik

8.1.7

Ekklesiologie

8.1.8

Eschatologie

8.1.9

Theologiegeschichtliche Stellung

8.2

Markus: Der Weg Jesu

8.2.1

Theologie

8.2.2

Christologie

8.2.3

Pneumatologie

8.2.4

Soteriologie

8.2.5

Anthropologie

8.2.6

Ethik

8.2.7

Ekklesiologie

8.2.8

Eschatologie

8.2.9

Theologiegeschichtliche Stellung

8.3

Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit

8.3.1

Theologie

8.3.2

Christologie

8.3.3

Pneumatologie

8.3.4

Soteriologie

8.3.5

Anthropologie

8.3.6

Ethik

8.3.7

Ekklesiologie

8.3.8

Eschatologie

8.3.9

Theologiegeschichtliche Stellung

8.4

Lukas: Heil und Geschichte

8.4.1

Theologie

8.4.2

Christologie

8.4.3

Pneumatologie

8.4.4

Soteriologie

8.4.5

Anthropologie

8.4.6

Ethik

8.4.7

Ekklesiologie

8.4.8

Eschatologie

8.4.9

Theologiegeschichtliche Stellung

9

Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt

9.1

Die soziale, religiöse und politische Entwicklung

9.2

Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches, literarisches und theologisches Phänomen

10

Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

10.1

Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit

10.1.1

Theologie

10.1.2

Christologie

10.1.3

Pneumatologie

10.1.4

Soteriologie

10.1.5

Anthropologie

10.1.6

Ethik

10.1.7

Ekklesiologie

10.1.8

Eschatologie

10.1.9

Theologiegeschichtliche Stellung

10.2

Der Epheserbrief: Raum und Zeit

10.2.1

Theologie

10.2.2

Christologie

10.2.3

Pneumatologie

10.2.4

Soteriologie

10.2.5

Anthropologie

10.2.6

Ethik

10.2.7

Ekklesiologie

10.2.8

Eschatologie

10.2.9

Theologiegeschichtliche Stellung

10.3

Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem

10.4

Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit

10.4.1

Theologie

10.4.2

Christologie

10.4.3

Pneumatologie

10.4.4

Soteriologie

10.4.5

Anthropologie

10.4.6

Ethik

10.4.7

Ekklesiologie

10.4.8

Eschatologie

10.4.9

Theologiegeschichtliche Stellung

11

Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

11.1

Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden

11.1.1

Theologie

11.1.2

Christologie

11.1.3

Pneumatologie

11.1.4

Soteriologie

11.1.5

Anthropologie

11.1.6

Ethik

11.1.7

Ekklesiologie

11.1.8

Eschatologie

11.1.9

Theologiegeschichtliche Stellung

11.2

Der Jakobusbrief: Handeln und Sein

11.2.1

Theologie

11.2.2

Christologie

11.2.3

Pneumatologie

11.2.4

Soteriologie

11.2.5

Anthropologie

11.2.6

Ethik

11.2.7

Ekklesiologie

11.2.8

Eschatologie

11.2.9

Theologiegeschichtliche Stellung

11.3

Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes

11.3.1

Theologie

11.3.2

Christologie

11.3.3

Pneumatologie

11.3.4

Soteriologie

11.3.5

Anthropologie

11.3.6

Ethik

11.3.7

Ekklesiologie

11.3.8

Eschatologie

11.3.9

Theologiegeschichtliche Stellung

11.4

Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch Tradition und Gegnerpolemik

12

Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

12.1

Theologie

12.1.1

Gott als Vater

12.1.2

Das Wirken des Vaters im Sohn

12.1.3

Gott als Licht, Liebe und Geist

12.2

Christologie

12.2.1

Präexistenz und Inkarnation

12.2.2

Die Sendung des Sohnes

12.2.3

Die ‚Ich-bin-Worte‘

12.2.4

Christologische Titel

12.2.5

Kreuzestheologie

12.2.6

Die Einheit der johanneischen Christologie

12.3

Pneumatologie

12.3.1

Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger

12.3.2

Der Heilige Geist als Paraklet

12.3.3

Trinitarisches Denken im Johannesevangelium

12.4

Soteriologie

12.4.1

Begriffliches

12.4.2

Prädestination

12.5

Anthropologie

12.5.1

Der Glaube

12.5.2

Das ewige Leben

12.5.3

Die Sünde

12.6

Ethik

12.6.1

Das Liebesgebot

12.6.2

Narrative Ethik

12.6.3

Die Ethik des ersten Johannesbriefes

12.7

Ekklesiologie

12.7.1

Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger

12.7.2

Die Sakramente

12.7.3

Die Jünger

12.7.4

Sendung und Mission

12.8

Eschatologie

12.8.1

Die Gegenwart

12.8.2

Die Zukunft

12.9

Theologiegeschichtliche Stellung

13

Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

13.1

Theologie

13.2

Christologie

13.3

Pneumatologie

13.4

Soteriologie

13.5

Anthropologie

13.6

Ethik

13.7

Ekklesiologie

13.8

Eschatologie

13.9

Theologiegeschichtliche Stellung

14

Rück- und Ausblick: Neutestamentliche Theologie als Interpretation der Vielfalt des einen Gottes

15

Autorenregister

1Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

Theologien des Neuen Testaments

H.J. HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I.II, hg. v. A.Jülicher/W.Bauer, Tübingen 21911; R.BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O.Merk, Tübingen 91984; H.CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, hg. v. A.Lindemann, Tübingen 41987; K.H. SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments I-IV, Düsseldorf 1968–1976; W.G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen 31976; L.GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, Göttingen 31978; J.JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 31979; W.THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I.II.III, Münster 1981. 1998. 1999; H.HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II.III, Göttingen 1990. 1993. 1995; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II, Göttingen 1992. 1999; A.WEISER, Theologie des Neuen Testaments II: Die Theologie der Evangelien, Stuttgart 1993; J.GNILKA, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg 1994; K.BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 21996; B.S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel I.II, Freiburg 1994. 1996; G.STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F.W. Horn, Berlin 1996; G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000; F.VOUGA, Une théologie du Nouveau Testament, Genf 2001; F.HAHN, Theologie des Neuen Testaments I.II, Tübingen 32011; U.WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments I.II.III.IV, Neukirchen 2002.2003.2005; K.NIEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments, Wien 2003; I.H.MARSHALL, New Testament Theology, Downers Grove 2004; PH. F.ESLER, New Testament Theology. Communion and Community, Minneapolis 2005; F. J. MATERA, New Testament Theology. Exploring Diversity and Unity, Louisville 2007; J. D. G. DUNN, New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009.

Eine Theologie des Neuen Testaments muss zweierlei leisten: 1) Die Gedankenwelt der ntl. Schriften erheben und 2) sie im Kontext gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnisses zur Sprache bringen. Sie partizipiert gleichermaßen an verschiedenen Zeitebenen; es gilt, das Vergangene zu vergegenwärtigen, zu explizieren und ihm einen zukunftsrelevanten Status zu verleihen. Damit ist die ntl. Theologie eingebunden in die Frage nach der bleibenden Bedeutung vergangenen Geschehens und somit immer ein Teil der Geschichtswissenschaften. Sie hat teil an der geschichtstheoretischen Debatte und muss nach dem Wesen und der Reichweite historischen Erkennens fragen. Indem sie dies tut, befindet sie sich bereits innerhalb wissenschaftstheoretischer Erwägungen, wie Vergangenheit/Geschichte und damit auch Wirklichkeit entstehen und welche Kategorien dabei eine zentrale Rolle spielen. Wirklichkeit ist nicht jenseits menschlicher Deutungsleistungen zu erfassen, die das Geschehene innerhalb von Erfahrungswelten kanalisieren und ihm in unterschiedlicher Weise Bedeutung zuschreiben. Diese Zuschreibungsprozesse sind immer auch Sinnbildungen, denn sie zielen als Vergewisserung, Erweiterung oder Neuaufbruch immer auf gültige Orientierung. Sie vollziehen sich stets als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn, d.h. Deutungskraft zur Orientierung innerhalb der Lebenszusammenhänge verleihen soll1. Sinn ist dem menschlichen Sein eingeprägt und erwächst aus Ereignissen, Erfahrungen, Einsichten, Denkprozessen und Deutungsleistungen und verdichtet sich zu Konzeptionen, die inhaltlich eine zeitübergreifende Perspektive für zentrale Lebensfragen bieten, narrativ präsentiert werden können und in der Lage sind, normative Aussagen zu formulieren und kulturelle Prägungen zu entwickeln2. Die Sinn-Kategorie3 ist in besonderer Weise geeignet, die Welt des Neuen Testaments und die Gegenwart miteinander in Verbindung zu setzen. Die Wirklichkeit war und ist zu jeder Zeit durch ständige Sinnbildungsprozesse gekennzeichnet, wobei die religiöse Sinnbildung als ein zentrales Element kultureller Sinnbildung immer auch an parallelen Sinnbildungsprozessen (in der Politik, Philosophie, Kunst, Dichtung, Wirtschafts- und Sozialstruktur) partizipiert. In der griechisch-römischen Antike wurden auf den Gebieten der Religion, Philosophie, Kunst, Politik und Naturwissenschaften ebenso Sinnbildungsleistungen erbracht wie in der Gegenwart. Das Leben ist immer eine Sinnverwirklichung, so dass es nicht um die Frage geht, ob Menschen Sinnbildungen vornehmen, sondern welche Ressourcen, Struktur, Qualität und argumentative Kraft sie aufweisen.

Für eine ntl. Theologie ist der Sinnbegriff von großer Bedeutung, denn er vermag Göttliches und Menschliches miteinander zu verbinden, indem er die Sinnstiftung Gottes in Jesus Christus und ihre Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments gleichermaßen erfasst. Das Neue Testament als Basisurkunde des Christentums ist eine Sinnbildung mit einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte. Das frühe Christentum entfaltete sich in einem multi-kulturellen Umfeld mit zahlreichen attraktiven religiösen und philosophischen Konkurrenzsystemen4. Es gelang ihm, auf dem Fundament der im Neuen Testament vielfältig erzählten Jesus-Christus-Geschichte ein Sinngebäude zu entwerfen, zu bewohnen und ständig auszubauen, das menschliches Leben im Ganzen zu gründen, zu festigen und zu strukturieren vermochte. Dieses Sinngebäude verfügte offenbar über eine große Deutungskraft und es muss das Ziel einer Theologie des Neuen Testaments sein, die Grund-Elemente dieser Deutungskraft zu ermitteln und darzustellen. Die Sinn-Kategorie als hermeneutische Konstante verhindert dabei eine Verengung auf historistische Faktenfragen, denn es kommt darauf an, wie die ntl. Überlieferungen historisch angeeignet und theologisch erschlossen werden können, ohne ihren religiösen Gehalt und ihre sinnbildende Kraft zu zerstören. Auf die Wahrheitsfrage wird dabei nicht verzichtet, denn Wahrheit ist verbindlicher Sinn. Ziel ist nicht ein entkerntes christliches Haus, sondern die Erfassung seiner Architektur, der tragenden Decken und Wände, der Türen und Treppen, die Verbindungen schaffen und der Fenster, die Ausblicke ermöglichen. Zugleich eröffnet die Sinn-Kategorie der Theologie als einer führenden Sinnwissenschaft die Möglichkeit, auf der Basis ihrer maßgeblichen Überlieferung mit anderen Sinnwissenschaften in einen kritischen Diskurs zu treten.

1.1Das Entstehen von Geschichte

Jesus von Nazareth ist eine Gestalt der Geschichte und das Neue Testament ein Zeugnis der Wirkungsgeschichte dieser Person. Wenn auf einer solchen Basis mit 2000 Jahren Abstand eine Theologie des Neuen Testaments geschrieben wird, zeigen sich unausweichlich die Grundprobleme historischen Fragens und Erkennens. Wie entsteht Geschichte/Historie5? Was passiert, wenn in der Gegenwart ein Dokument der Vergangenheit mit einem Zukunftsanspruch interpretiert wird? Wie verhalten sich historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwärtigen Verstehenszusammenhang des Historikers/Exegeten zueinander6?

Interesse und Erkenntnis

Das klassische Ideal des Historismus, nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen7 ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat8. Die Gegenwart verliert mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist9. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant von der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt10. Die eigentliche Zeitstufe des Historikers/Exegeten ist immer die Gegenwart11, in die er unentrinnbar verwoben ist und deren kulturelle Standards das Verstehen des gegenwärtig Vergangenen entscheidend prägen. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt12. Jeder Mensch hat und pflegt Denkgläubigkeiten. In jedes Bild der Welt, das ich mir mache, ist ein Bild meiner selbst eingezeichnet! Zudem sind auch die Verstehensbedingungen selbst, speziell die Vernunft und der jeweilige Kontext, einem Wandlungsprozess unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich not-wendigerweise ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das historische Erkennen bestimmen. Jede wissenschaftliche Disziplin führt apriorische Axiome mit sich, die historisch entstanden sind. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des Gewesenen, sondern hat selbst eine Geschichte, nämlich die Geschichte des Schreibenden. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjektes fordert eine Reflexion über seine Rolle im Erkenntnisprozess, denn das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘ als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben13. Dieser Begriff dient vielmehr als literarische Strategie nur dazu, die eigene Position als positiv und wertneutral zu deklarieren, um so andere Auffassungen als subjektiv und ideologisch zu diskreditieren. Das Erkenntnisobjekt kann nicht vom erkennenden Subjekt getrennt werden, denn das Erkennen verändert immer auch das Objekt. Das im Erkenntnisvorgang gewonnene Bewusstsein von Realität und die vergangene Realität verhalten sich nicht wie Original und Abdruck14. Deshalb sollte nicht von ‚Objektivität‘, sondern von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘ historischer Argumente gesprochen werden15. Schließlich sind jene Nachrichten, die als historische ‚Fakten‘ in jede historische Argumentation einfließen, in der Regel auch schon Deutungen vergangenen Geschehens. Bereits mit Sinn Versehenes wird notwendigerweise einer weiteren Sinnbildung unterzogen, um so Geschichte zu bleiben. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ‚an sich‘ ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen16 vergangener Ereignisse. Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Geschichte wird nicht rekonstruiert, sondern unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Das verbreitete Bewusstsein, die Dinge nur ‚nachzuzeichnen‘ oder zu ‚re-konstruieren‘ suggeriert eine Kenntnis des Ursprünglichen, die es in der vorausgesetzten Art und Weise nicht gibt. Geschichte ist auch nicht einfach identisch mit Vergangenheit, vielmehr immer nur eine gegenwärtige Stellungnahme, wie man Vergangenes sehen könnte. Deshalb gibt es keine ‚Fakten‘ im ‚objektiven‘ Sinn, sondern innerhalb historischer Konstruktionen bauen Deutungen auf Deutungen auf. Es gilt: „es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.“17

Das Vorgegebene

Zugleich gilt aber: Der Bezug auf das Geschehene wird damit keinesfalls aufgegeben, sondern die Bedingungen seiner Realisierung werden reflektiert. Nicht die Welt und das Leben sind eine Konstruktion, wohl aber unsere Anschauungen über sie. Es geht nicht um die Entlarvung, sondern um die Beschreibung der Grundstruktur von Wirklichkeit. Konstruktion meint nicht etwas Willkürliches oder aus sich selbst Begründbares, sondern ist an Methoden und Realitätsvorgaben gebunden. Die Sachgehalte von Quellen müssen in einen sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht werden und innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses diskutier- und rezipierbar bleiben18. Alle menschlichen Aussagen sind immer eingebunden in vorgegebene allgemeine Wirklichkeits- und Zeitvorstellungen19, ohne die Konstruktion und Kommunikation nicht möglich sind. Es gibt zweifellos eine Realität, die vor, neben und nach, vor allem aber unabhängig von unserer Wahrnehmung und Beschreibung existiert. Einem Stück Papier einen Wert als Geld zuzuerkennen, ist eine Handlung, bei der wir durch Zuschreibung erst Wirklichkeit stiften, während das Licht auch dann scheint, wenn man sich nicht darüber verständigt. Jeder Mensch ist genetisch vor-konstruiert und ständig sozial-kulturell ko-konstruiert. Reflexion und Konstruktion sind immer nachfolgende Akte, die sich auf etwas Vorgegebenes beziehen, so dass jede Form von Selbstgewissheit nicht in sich selbst ruht, sondern jeweils den Bezug auf etwas Vorausliegendes benötigt, das es begründet und ermöglicht. Schon die Tatsache, dass die Frage nach Sinn möglich ist und Sinn gewonnen werden kann, verweist auf eine „unvordenkliche Wirklichkeit“20, die allem Sein vorausgeht und ihm den Wirklichkeitsstatus verleiht. Grundsätzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrunde liegende Geschehen erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben Realitätsanspruch erheben kann wie die ihr zugrunde liegenden Ereignisse.

Sprache und Wirklichkeit

Zu diesen erkenntnistheoretischen Einsichten kommen sprachphilosophische Überlegungen. Geschichte ist immer sprachlich gestaltete Vermittlung; Geschichte existiert nur, insofern sie zur Sprache gebracht wird. Der Mensch ist ein erzählendes und darin deutendes Kulturwesen, man kann vom homo narrans sprechen. Auch historische Nachrichten werden erst durch die semantisch organisierte Konstruktion des Historikers/Exegeten zu Geschichte. Dabei fungiert die Sprache nicht nur zur Bezeichnung des Gedachten und dadurch zur Wirklichkeit Erhobenen, sondern die Sprache bestimmt und prägt jene Wahrnehmungen, die zu Geschichte organisiert werden. Es gibt für Menschen keinen Weg von der Sprache zu einer unabhängigen außersprachlichen Wirklichkeit, denn Wirklichkeit ist für uns nur in und durch Sprache präsent. Geschichte ist somit nur als sprachlich vermittelte und gestaltete Erinnerung zugänglich. Sprache wiederum ist kulturell bedingt und unterliegt einem ständigen gesellschaftlichen Wandel, so dass es nicht verwundert, wenn historische Ereignisse zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kultur- und Wertekreisen abweichend konstruiert und bewertet werden. Die Sprache ist weitaus mehr als bloße Abbildung der Wirklichkeit, denn sie reguliert und prägt den Zugang zur Wirklichkeit und damit auch unser Bild von ihr. Zugleich ist Sprache aber auch nicht die Wirklichkeit, denn sie bildet sich wie im Verlauf der Menschheitsgeschichte insgesamt bei jedem Menschen im Rahmen seiner biologischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung erst heraus und wird von diesem Prozess entscheidend und jeweils unterschiedlich beeinflusst. Die ständige Veränderung der Sprache ist ohne die sie bedingenden verschiedenen sozialen Kontexte nicht erklärbar21, d.h. der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem muss beibehalten werden, wenn man die Realität nicht aufgeben will.

Fakten und Fiktion

Geschichte ist somit immer ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten22. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzusammenhang zu schaffen; erst durch die Herstellung historischer Erzählzusammenhänge werden die Fakten das, was sie für uns sind23. Dabei müssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘24, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. Indem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen25. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte26. Es gibt nur potentielle Fakten, denn es bedarf der Erfahrung und der Deutung, um das Sinnpotential eines Geschehens zu erfassen27. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der Fakten28. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, ermöglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse. Die figurative Ebene ist für die historische Arbeit unerlässlich, denn sie entfaltet den präfigurierenden Plan der Interpretation, der die gegenwärtige Auffassung von der Vergangenheit bestimmt. Damit ist der 2. Teil der Überlegungen erreicht: Der notwendig und unausweichlich konstruktive Charakter von Geschichte ist immer Teil einer Sinnbildung.

1.2Geschichte als Sinnbildung

Menschliches Sein und Handeln zeichnet sich durch Sinn aus29. Es lässt sich keine menschliche Lebensform bestimmen, „ohne auf Sinn zu rekurrieren. Es macht Sinn, Sinn als Grundform menschlichen Daseins zu verstehen.“30 Schon die kulturanthropologische Unabweisbarkeit von Transzendenzvollzügen des Menschen mit sich selbst und seiner soziokulturellen Lebenswelt hat notwendigerweise Sinnbildungen zur Folge31. Sinnbildung ist nicht etwas Eigenmächtiges, sondern unausweichlich, notwendig und natürlich. Zudem wird der Mensch immer schon in Sinnwelten hineingeboren32, Sinn ist unabwendbar, die menschliche Lebenswelt muss sinnhaft gedacht und erschlossen werden, denn nur so ist Leben und Handeln in ihr möglich33. Jede Religion ist als Sinnform ein solcher Erschließungsvorgang, somit auch das frühe Christentum und die in ihm entwickelten Theologien. Konkret vollzieht sich dieser Erschließungsvorgang als historische Sinnbildung. Historischer Sinn konstituiert sich aus den „drei Komponenten Erfahrung, Deutung und Orientierung.“34 Aus der Faktizität eines Ereignisses lässt sich noch nicht seine Sinnhaftigkeit ableiten; es bedarf der eigenen Erfahrung, dass ein Ereignis Sinnpotential enthält.

Sinn und Identität

Sinnbildung ist immer mit Identitätsangeboten verbunden35; Sinnbildung gelingt nur, wenn sie überzeugende Identitätsangebote macht. Menschen gewinnen Identität vor allem dadurch, dass sie ihrem Leben eine dauerhafte Orientierung geben, die die vielfältigen aktuellen Wünsche und Absichten in einen stabilen, kohärenten und intersubjektiv vertretbaren Zusammenhang bringt. Identität wird in einem ständigen Prozess, im steten Wechselspiel zwischen positiver Bestimmung des Selbst und Differenzerfahrungen gebildet36. Identitäten entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern vorhandene Identitäten werden aufgenommen, transformiert und einem Neuen zugeführt, das als Identitätssteigerung empfunden wird. Deshalb kann Identität nie statisch aufgefasst werden, sie ist Teil eines ständigen Umbildungsprozesses; „als Einheit und Selbigkeit des Subjekts“ ist Identität „nur als Synthesis und Relationierung des Differenten und Heterogenen denkbar.“37 Die Unterschiedenheit zur Umwelt, die Erfahrungen an eigene und fremdgesetzte Grenzen zu stoßen, sowie die positive Selbstwahrnehmung bestimmen gleichermaßen die Identitätsbildungsprozesse. Auch kollektive Identitäten bilden sich aus der Bearbeitung von Differenzerfahrungen und Gemeinsamkeitsgefühl. Dabei spielen Symbole eine entscheidende Rolle, denn erst mit ihrer Hilfe können kollektive Identitäten hergestellt und erhalten werden. Sinnwelten müssen sich im profanen Wirklichkeitsbereich artikulieren können und ihre Inhalte kommunizierbar halten. Dies vollzieht sich zu einem erheblichen Teil durch Symbole, deren lebensweltliche Funktion darin besteht, eine Brücke „von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen“38 zu schlagen. Speziell bei der Bearbeitung der ‚großen Transzendenzen‘39 wie Krankheiten, Krisen und Tod kommt Symbolen eine grundlegende Funktion zu, denn sie gehören einer anderen Wirklichkeitsebene als ihre Träger an und können die Verbindung mit dieser Ebene leisten. Symbole sind eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung. Identitätsbildung ist somit immer eingebunden in einen komplexen Prozess der Interaktion zwischen dem einzelnen und/oder kollektiven Subjekt, seiner Differenz- und Grenzerfahrungen, seinen positiven Selbstzuschreibungen, seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Die jeweiligen Bestimmungen von Identitäten vollziehen sich notwendigerweise durch Sinnwelten, die als soziale Konstruktionen Deutungsmuster bereitstellen, um die Wirklichkeit sinnhaft zu erfahren40. Sinnwelten sind zu Zeichen objektivierte und damit kommunizierbare Vorstellungen von Wirklichkeit. Sinnwelten legitimieren soziale Strukturen, Institutionen, Rollen u.a.m., d.h. sie erklären und begründen Sachverhalte41. Zudem integrieren Sinnwelten jene Rollen zu einem sinnvollen Ganzen, in denen Einzelpersonen oder Gruppen agieren. Sie stiften synchrone Kohärenz und stellen zugleich eine diachrone Verortung, indem sie den einzelnen und/oder die Gruppe in einen übergreifenden Geschichts- und damit Sinnzusammenhang einordnen. Religion bildet die symbolische Sinnwelt schlechthin42, denn weitaus mehr als das Recht, philosophische Entwürfe oder politische Ideologien erhebt sie den Anspruch, die eine Wirklichkeit zu repräsentieren, die alle anderen Wirklichkeiten übersteigt: Gott bzw. das Heilige. Auch für die Postmoderne gilt: Religion ist keine Illusion, sondern eine zukunftsträchtige psychische Realität! Als umfassende, dem Menschen jeweils vorgegebene Wirklichkeit vermag die Religion eine Sinnwelt zu bieten, die vor allem mit Hilfe von Symbolen den Einzelnen wie die Gruppe in die Gesamtheit des Kosmos einordnet, die Phänomene des Lebens deutet, Handlungsanweisungen bietet und schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnet43. Wenn sich Geschichte als Sinn- und Identitätsbildung etabliert, stellt sich die Frage nach dem Modus dieses Vorganges.

1.3Verstehen durch Erzählen

Ein historisches Ereignis ist an sich noch nicht sinnträchtig und identitätsbildend, sondern sein Sinnpotential muss erst erschlossen und aufrechterhalten werden. Es bedarf der Überführung ungeregelter Kontingenz in „eine geregelte, bedeutsame, intelligible Kontingenz.“44 Dies leistet die Erzählung als grundlegende narrative Sinnbildungsleistung45, denn sie baut jene Sinnstruktur auf, die eine Bewältigung historischer Kontingenz ermöglicht46. Sie ist die Form, in der sich das Innerste artikulieren kann und zugleich das Äußere eine Gestalt findet. Die Erzählung konstituiert Zeit und verleiht dem Einmaligen Dauer, wodurch Rezeption und Traditionsbildung überhaupt erst ermöglicht werden. Die Erzählung relationiert in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht, „sie plausibilisiert ex post facto, was mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit so kommen mußte.“47 Eine Erzählung stiftet Einsicht, indem sie neue Zusammenhänge schafft und den Sinn des Geschehens hervortreten lässt. Die Verarbeitung religiöser Erfahrungen vollzieht sich in zweifacher Weise, nämlich in/durch Erzählungen und Rituale(n)48. Religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen lösen Sinnbildungsprozesse aus, die in Erzählungen und Rituale49 und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein. Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, die ungeregelte Kontingenz von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen.

Funktionen der Erzählung

Die erste und grundlegende Funktion der Erzählung besteht darin, durch Temporalisierung Wirklichkeit zu konstituieren50. Erzählungen geben der Wirklichkeit eine besondere qualifizierte Ordnung, indem sie die Kommunikation dieser Wirklichkeiten überhaupt erst möglich machen51. Eine weitere Funktion von Erzählungen besteht in der Wissensbildung und Wissensvermittlung. Erzählungen berichten, beschreiben und erklären Geschehnisse, vermehren das Wissen und bilden ein Weltbild, an dem sich Menschen orientieren können. Durch Relationierung setzen Erzählungen in Beziehung und stellen kausale Verknüpfungen her, die das Verstehen ermöglichen52. Oppositionen werden aufgebrochen und Beziehungen neu bestimmt, so zwischen dem Absoluten und dem Endlichen, dem Zeitlichen und Ewigen, dem Leben und dem Tod.

Ein besonderes Leistungsmerkmal von Erzählungen ist die Bildung, Präsentation und Stabilisierung von Identität. Erzählungen stiften und verbürgen einen Sinnzusammenhang, der durch Identifikationen zur Identitätsbildung führt. Durch Erzählungen werden Erinnerungen hervorgerufen und transportiert, ohne die es keine dauerhafte Identität geben kann. Insbesondere in Erzählungen bearbeitete kollektive Erfahrungen rufen bei den Subjekten Identifikation hervor, die in Handlungs- und Lebensorientierungen übergehen. Die Orientierungsbildung gehört zu den grundlegenden praktischen Funktionen von Erzählungen. Durch Erzählungen werden Handlungsmöglichkeiten eröffnet oder verschlossen, sie strukturieren den Handlungsraum von Menschen. Erzählungen haben deshalb auch immer eine normative Dimension, sie sollen ethische Orientierungsleistungen bringen. Die Vermittlung von Werten und Normen, das Angebot oder die Revision von Standpunkten gehören zu den weiteren Funktionen von Erzählungen. Indem Erfahrungen und Erwartungen, Werte und Orientierungen durch Erzählungen vermittelt werden, bildet sich ein ethisches und pädagogisches Bewusstsein heraus. Wenn die Angebote von Erzählungen aufgegriffen und geteilt werden, schaffen sie die Basis für übereinstimmende Urteile und eine gemeinsame Welt, die durch soziales Handeln hergestellt wird. Erzählungen erfüllen soziokulturelle Verbindungsfunktionen und legen die Basis für ein gemeinsames Handeln in der Gegenwart und eine vergleichbare Zukunftsperspektive.

Zugleich liefern Erzählungen die Basis für Traditionsbildungen, deren Teil sie selbst sind, indem sie Kontinuität herstellen und sicherstellen, dass Informationen, Deutungsleistungen, Verhaltensformen und Werte durch die Zeit hindurch weitergegeben werden.

Erzählung und Erzählungen im frühen Christentum

Der grundsätzlich konstruktive Charakter historischer Sinnbildung ist bei den ntl. Autoren offenkundig: Sie errichten Sinnwelten, die auf der Basis von Erzähleinheiten, Schlüsselbegriffen und Symbolen den Glaubenden ihre Stellung in der Welt aufschlüsseln, Lebensgestaltungen eröffnen, ethische Modelle anbieten und den Blick über den Tod hinaus ermöglichen. Erzählen bezieht sich immer auf Erinnerungen, um so Zeiterfahrungen zu deuten. Die Erinnerung ist der maßgebliche Bezug auf die Erfahrung von Zeit. Die Jesus-Christus-Erzählungen der ntl. Schriften sind selbst Ausdruck eines Erinnerungsprozesses und sie bilden ein Geschichtsbewusstsein, indem sie die Sinnhaftigkeit des Handelns Gottes mit Jesus von Nazareth für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft proklamieren. Durch Erzählen wird bei allen Autoren ein innerer Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektiven hergestellt, so dass in der Rezeption das Geschehen bewahrt werden kann. Ereignisse werden präsentiert und geformt und so zu narrativen Sinnbildungsleistungen. Die Konstruktion von Zeit- und Sachzusammenhängen ist unabdingbar an narrative Akte gebunden.

All diese Funktionen der Erzählung machen deutlich, dass eine Unterscheidung zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen nicht trägt. Weil das erinnernde Erzählen immer auf das Verstehen und Handeln der Menschen in der Gegenwart orientiert ist, fließen notwendigerweise in jeder Erzählung fiktionale und nicht-fiktionale Elemente zusammen. Die Alternative ‚historischer Jesus‘ – ‚Christus des Glaubens‘ verbietet sich daher schon erzähltheoretisch, denn einen Zugang zu Jesus von Nazareth kann es nicht jenseits seiner Bedeutung für die Gegenwart geben. Erzähltheoretisch gilt: Es gibt den historischen Jesus nicht ohne den kerygmatischen Christus und den kerygmatischen Christus nicht ohne den historischen Jesus; vielmehr existiert eine gegenseitige Verwiesenheit. Erst die Erzählung eröffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistungen, wie sie in allen ntl. Schriften vorliegen.

Dies gilt sowohl für die mündliche als auch schriftliche Erzählung, die innerhalb des frühen Christentums nicht als Gegensätze aufgefasst werden dürfen, sondern über längere Zeit nebeneinander bestanden und sich gegenseitig befruchteten. Zugleich setzte die mit Paulus nachweislich beginnende und mit den Evangelien sich weiter profilierende Schriftlichkeit der Erzählung neue Akzente. Das Medium der Schrift entlastet von der (emotionalen) Unmittelbarkeit der Kommunikation und schafft somit eine Distanz zwischen den Inhalten von Geschichte und der Kommunikation von und durch Geschichte. Diese Distanz ermöglicht Denk-, Interpretations- und Transformationsleistungen, erlaubt Verfremdungseffekte, die alle für das Beschreiben, Erfassen, Transportieren und Rezeptieren von Ereignissen unentbehrlich sind. Die Schriftlichkeit entlastet das Gedächtnis, sie fixiert Ereignisse und entflechtet sie aus unmittelbaren Handlungsvorgängen, wodurch der nötige Freiraum für Objektivierungsleistungen und Interpretationen entsteht. Indem die Erzähler zu Autoren werden und die Leser/Hörer die Möglichkeit kritischer Rezeption erhalten, eröffnet sich die Möglichkeit, durch Erklärungsarrangements, begriffliche Fixierungen und moralische Appelle normative Deutungen zu etablieren.

Nachzeitigkeit als Prae

Wir besitzen keine Aufzeichnungen von Jesus oder von unmittelbaren Zeugen seines Auftretens, sondern nur Zeugnisse etwas späterer Zeit53. Dies ist keineswegs ein Mangel, denn die Nachzeitigkeit54 des Erinnerns bedeutet keinen Erkenntnisverlust, weil die Bedeutung eines Geschehens sich grundsätzlich erst im Rückblick vollkommen erschließt. Das Vergangene existiert immer nur als gegenwärtige Aneignung und wird im Kontext gegenwärtiger Identität immer wieder wahrgenommen und erschlossen. Nur innerhalb eines solchen anhaltenden Prozesses gibt es überhaupt Erkennen des relevant Vergangenen und nur so wird Vergangenes kommunizierbar und erschließt sich in seiner Bedeutung. Die Distanz der Nachzeitigkeit schafft den Raum für neue Denk- und Transformationsleistungen, um die Metaphorik herauszubilden, die den Gehalt eines Ereignisses trägt und Verstehen ermöglicht. Dabei wird sich zeigen, wie kreativ und vielfältig, treffend und bleibend die nachträglichen Erzählungen der Jesus-Christus-Geschichte im Neuen Testament sind.

Fazit

Was bedeuten diese grundlegenden Überlegungen zum Entstehen von Geschichte, zum historischen Erkennen als Sinnbildungsleistung und zur Erzählung als primäre Erfassungs-, Darstellungs- und Kommunikationsform geschichtlicher Ereignisse für eine Theologie des Neuen Testaments?

1) Die Theologie insgesamt und damit auch die Theologie des Neuen Testaments befindet sich keineswegs in einem erkenntnistheoretischen Minus, sondern alles Erkennen ist perspektivische und standortgebundene Konstruktion. Jede Wissenschaft hat ihren eigenen Gegenstand; bei der Theologie insgesamt ist es Gott als tragender und letzter Grund allen Seins, bei der Theologie des Neuen Testaments sind es die Zeugnisse des Neuen Testaments über das Handeln dieses Gottes in Jesus Christus.

2) Die Theologie des Neuen Testaments hat wie alle anderen Wissenschaften teil an der vorgängigen Sinnhaftigkeit allen Seins, die wissenschaftliches Fragen und Erkennen als Sinnbildungsleistungen überhaupt erst ermöglicht.

3) Die Sinn-Kategorie ist in besonderer Weise geeignet, die Arbeit der ntl. Autoren zu erfassen, zu interpretieren und in ihrer gegenwärtigen Bedeutsamkeit darzustellen. Sie löst in keiner Weise den Theologie-Begriff ab55, sondern stellt ihn in einen weiteren hermeneutischen Kontext, um so weiterhin theologisches Verstehen zu ermöglichen.

4) Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar; sie wurden von den ntl. Autoren in unterschiedlicher Weise erbracht, indem sie die Jesus-Christus-Geschichte aus ihrer je eigenen Perspektive und in ihrer je eigenen Art für ihre Gemeinde erzählten.

5) Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments ist es, diese Sinnbildungsleistungen zu erfassen und in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Dimensionen darzustellen, um so eine sachgemäße Rezeption in der Gegenwart zu gewährleisten.

1 Zum geschichtstheoretischen Sinnbegriff vgl. J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, in; ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, (9–41) 11; zum vielschichtigen Sinnbegriff insgesamt vgl. E. LIST, Art. Sinn, HRWG 5, Stuttgart 2001, 62–71.

2 Vgl. J. RÜSEN/K.-J.HÖLKESKAMP, Einleitung: Warum es sich lohnt, mit der Sinnfrage die Antike zu interpretieren, in: Sinn (in) der Antike, hg. v. K.-J. Hölkeskamp/J. Rüsen/E. Stein-Hölkeskamp/H. Th. Grütter, Mainz 2003, (1–15) 3: „Ein Sinnkonzept lässt sich folgendermaßen definieren: Es ist ein plausibler und verlässlich beglaubigter reflektierter Bedeutungszusammenhang der Erfahrungs- und Lebenswelt und dient dazu, die Welt zu erklären, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und Handeln zweckhaft zu leiten.“

3 Das Wort Sinn leitet sich von dem indogermanischen Stamm sent- ab: eine Richtung nehmen, einen Weg gehen; im geistigen Sinn verbinden sich damit lat.: sentio (fühlen, wahrnehmen), sensus („Gefühl, Gesinnung, Meinung“), sententia (Meinung); althochdeutsch: sin (Sinn), sinnan (trachten, begehren); vgl. dazu J. POKORNY, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch I, Bern/München 1959, 908.

4 Vgl. dazu die Textsammlung bei M.HOSSENFELDER, Antike Glückslehren, Stuttgart 1996.

5 Zur Terminologie: Unter Geschichte/geschichtlich verstehe ich das Geschehene, unter Historie/historisch die Art und Weise, wie danach gefragt wird. Die Historik ist die Wissenschaftstheorie der Geschichte; vgl. dazu H.-W.HEDINGER, Art. Historik, HWP 3, Darmstadt 1974, 1132–1137. Es gibt Geschichte immer nur als Historie, zugleich muss aber zwischen beiden Begriffen unterschieden werden, weil die wissenschaftstheoretischen Fragestellungen der Historie nicht einfach identisch sind mit dem, was Menschen in der Vergangenheit unter Geschehenem verstanden.

6 Vgl. dazu J. RÜSEN, Historische Vernunft, Göttingen 1983; DERS., Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen 1986; DERS., Lebendige Geschichte, Göttingen 1989; H.-J.GOERTZ, Umgang mit Geschichte, Reinbek 1995; CHR. CONRAD/M.KESSEL (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994.

7 L. V. RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 21874, in: L. v. Ranke’s Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe Bd.33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“

8 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 130f.

9 Vgl. U. SCHNELLE, Der historische Abstand und der heilige Geist, in: ders. (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin 1994, 87–103.

10 Vgl. J.G. DROYSEN, Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977 (= Nachdruck 1857/1882), 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“

11 Vgl. P. RICOEUR, Zeit und Erzählung III, München 1991, 225: „Die erste Art, das Vergangensein der Vergangenheit zu denken, besteht darin, ihr den Stachel der zeitlichen Distanz zu nehmen.“ Derartige Gedanken sind natürlich nicht neu; vgl. einen bei Claudius Aelianus, Variae Historiae 14, 6, überlieferten Ausspruch des Sokrates-Schülers Aristippos (425–355 v.Chr.): „Denn nur der gegenwärtige Augenblick gehöre uns, wie er sagte; weder das, was man vorab tut, noch das, was man erwartet. Das eine sei nämlich vergangen, von dem anderen sei ungewiß, ob es geschehen werde.“

12 Vgl. J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, (45–113) 45: „Repräsentationen von Ereignissen und Entwicklungen liefern keine mimetischen Abbilder einstiger Geschehnisse, sondern an Deutungs- und Verstehensleistungen gebundene Auffassungen eines Geschehens. Solche Auffassungen werden aus der Perspektive einer Gegenwart von bestimmten Personen gebildet, sind also von deren Erfahrungen und Erwartungen, Orientierungen und Interessen unmittelbar abhängig.“

13 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 130–146.

14 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, Stuttgart 2001, 29.

15 Vgl. dazu J. KOCKA, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: W.J. Mommsen/J. Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 469–475.

16 Zum Deutungsbegriff vgl. J. LAUSTER, Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, 9–30; vgl. ferner U. SCHNELLE, Offenbarung und/oder Erkenntnis der Vernunft? Zur exegetischen und hermeneutischen Begründung von Glaubenswelten, in: Chr. Landmesser/A. Klein (Hg.), Offenbarung – verstehen oder erleben?, Neukirchen 2012, 119–137.

17 J.G. DROYSEN, Historik, 69. Über geschichtliche Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Betrachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen transponieren.“

18 Mit diesen Überlegungen wird trotz des unausweichlich konstruktiven Charakters der Geschichtsbildung die häufig zu beobachtende Selbstermächtigung der historischen Forschung gegenüber den zu erforschenden Gegenständen zurückgewiesen. Zur Kritik an postmodernen, radikal konstruktivistischen Beliebigkeitstheorien vgl. J. RÜSEN, Narrativität und Objektivität, in: ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln/Weimar 2002, 99–124; DERS., Kann gestern besser werden?, Berlin 2003, 11f: „Wenn die Geschichte in der bewegten Zeit unserer Gegenwart ständig zur Disposition steht, so werden wir, die Deutenden, von ihr also immer schon disponiert. Wir, die wir sie ‚konstruieren‘, sind als diese Konstrukteure vorab immer schon von ihr konstruiert worden“; G.DUX, Historisch-genetische Theorie der Kultur, Weilerswist 2000, 160: „Der blinde Fleck im logischen Absolutismus, wie wir ihn im postmodernen Verständnis der Konstruktivität und der ihm affinen Systemtheorie kennengelernt haben, besteht darin, die Konstruktivität nicht ihrerseits einem systemischen Bedingungszusammenhang unterworfen zu haben.“

19 Diesen Aspekt beton L.Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, 44: „Gäbe es nicht die relative Stabilität des kategorialen Apparats temporaler Grundmuster, so ließen sich verschiedene Geschichtsbilder historisch überhaupt nicht miteinander in Beziehung setzen. Erst die relative Konstanz temporaler Kategorien ermöglicht den historischen Abgleich inhaltlich differenter Geschichtsbilder.“

20 Vgl. J.RÜSEN, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v. J. Schröter/A. Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31: „Was macht Sinn wirksam? Schon die Einprägung der Wirklichkeit in das historische Denken hinein ist ein Sinngeschehen, ein Geschehen, in dem historischer Sinn generiert wird. Ohne diese seine unvordenkliche Wirklichkeit könnte er das historische Denken nicht so in den mentalen Operationen des Geschichtsbewusstseins bestimmen, wie es zur Erfüllung seiner kulturellen Orientierungsfunktion notwendig ist. … Die Unvordenklichkeit dieses Sinnes als Element lebensweltlicher Wirklichkeit des menschlichen Leidens und Handelns – das schließt säkulares und religiöses Denken vorgängig zusammen. Die Religion gibt dieser Unvordenklichkeit eine eigene Sinnqualität. Ihr gegenüber hält sich das säkulare historische Denken zurück, aber letztlich schöpft es aus ähnlichen Sinnquellen.“

21 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, 50f.

22 Vgl. E. CASSIRER, Versuch über den Menschen, Hamburg 1996, 291: „Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis.“

23 Vgl. CHR. LORENZ, Konstruktion der Vergangenheit, 17ff.

24 ‚Fiktion‘ bezeichnet nicht einfach im umgangssprachlichen Sinn die Negation der Wirklichkeit, sondern ist in einem funktional-kommunikativen Sinn gemeint und kommt damit der ursprünglichen Bedeutung von ‚fictio‘ nahe: Bildung, Gestaltung. Vgl. W.ISER, Der Akt des Lesens, München 31990, 88: „Wenn Fiktion nicht Wirklichkeit ist, so weniger deshalb, weil ihr die notwendigen Realitätsprädikate fehlen, sondern eher deshalb, weil sie Wirklichkeit so zu organisieren vermag, daß diese mitteilbar wird, weshalb sie das von ihr Organisierte selbst nicht sein kann. Versteht man Fiktion als Kommunikationsstruktur, dann muß im Zuge ihrer Betrachtung die alte an sie gerichtete Frage durch eine andere ersetzt werden: Nicht was sie bedeutet, sondern was sie bewirkt, gilt es nun in den Blick zu rücken. Erst daraus ergibt sich ein Zugang zur Funktion der Fiktion, die sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklichkeit erfüllt.“

26 Vgl. die problem- und forschungsgeschichtlich orientierten Überlegungen bei H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, 16ff; ferner M. MOXTER, Erzählung und Ereignis, in: J.Schröter/R.Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, (67–88) 80: „Schon aufgrund ihrer zeitlichen Distanz ist die Erzählung gegenüber dem Ereignis überschüssig.“

27 Dieser konstruktive Zug des Erkennens trifft auch für die Naturwissenschaften zu. Konstruktivität und Kontextualität bestimmen die Fabrikation von Erkenntnis, die Naturwissenschaften sind immer eine interpretierte Rationalität, die zunehmend in den Sog externer politischer und ökonomischer Interessen gerät; vgl. dazu K. KNORR-CETINA, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt 1991.

28 Vgl. H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 87: „Nicht die reine Faktizität konstituiert also eine ‚historische Tatsache‘, sondern ihre Bedeutsamkeit, die sich erst nach und nach einstellt und die einem Ereignis, das sonst ohne viel Aufhebens in der Vergangenheit versunken wäre, eine besondere Qualität verleiht. Nicht zu seiner Zeit, sondern erst nach seiner Zeit wird aus einer bloßen Tatsache eine historische Tatsache.“

29 Vgl. dazu grundlegend A.SCHÜTZ, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Tübingen 1974.

30 G.DUX, Wie der Sinn in die Welt kam und was aus ihm wurde, in: K.E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung, Reinbek 1997, (195–217) 195.

31 Vgl. dazu A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, Frankfurt 31994, 139–200. Sie gehen von der unbestreitbaren Alltagserfahrung aus, dass die Welt jede individuelle Existenz notwendigerweise immer überschreitet und deshalb die Existenz ihrerseits ohne Transzendenzen nicht lebbar ist: Wir leben in einer Welt, die vor uns war und nach uns sein wird. Die Wirklichkeit entzieht sich zum allergrößten Teil unserem Zugriff und das Dasein des Anderen mit seiner bleibenden Fremdheit ruft die Frage nach unserem Selbst hervor.

32 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion – Gesellschaft – Transzendenz, in: H.-J.Höhn (Hg.), Krise der Immanenz, Frankfurt 1996, (112–127) 114: „Sinntraditionen transzendieren die Nur-Natürlichkeit des Neugeborenen.“

33 Vgl. J. RÜSEN, Was heißt: Sinn der Geschichte, in: K.E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung, Reinbek 1997, (17–47) 38.

34 Vgl. a.a.O., 36.

35 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991, 93, wonach die Weltansicht als Sinnmatrix den Rahmen bildet, in dem menschliche Organismen Identität ausbilden und dabei ihre biologische Natur transzendieren.

36 Zum Begriff der Identität vgl. B.ESTEL, Art. Identität, HRWG III, Stuttgart 1993, 193–210; J.STRAUB (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, Frankfurt 1998; A. ASSMANN/H.FRIESE (Hg.), Identitäten, Frankfurt 21999.

37 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz, in: J.Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, (15–44) 39f.

38 A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, 195.

39 Vgl. dazu a.a.O., 161–177.

40 Zum Begriff der Sinnwelten vgl. P. L. BERGER/TH. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 172000, 98ff.

41 Vgl. a.a.O., 66.

42 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, 108.

43 Vgl. P. L. BERGER, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt 1988, 32: „Sie (sc. die Religion) gibt den zerbrechlichen Wirklichkeiten der sozialen Welt das Fundament eines heiligen realissimum, welches per definitionem jenseits der Zufälligkeiten menschlichen Sinnens und Trachtens liegt.“

44 P. RICOEUR, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1985, 14.

45 Vorausgesetzt wird ein weiter Erzählbegriff, der nicht auf bestimmte literarische Gattungen fixiert ist. Ausgehend von der grundlegenden Einsicht, dass Erfahrung von Zeit narrativ bearbeitet werden muss, liegt es nahe, „die Erzählung als eine bedeutungs- oder sinnhafte bzw. Bedeutung oder Sinn stiftende Sprachform aufzufassen. Dies soll heißen: Schon die narrative Form menschlicher Selbst- und Weltthematisierungen verleiht Widerfahrnissen und Handlungen Sinn und Bedeutung – unabhängig vom jeweiligen Inhalt der erzählerischen Präsentation“ (J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit [s.o. 1.1] 51f); zu einem weiten Erzählbegriff vgl. auch R. BARTHES, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt 1988, 102ff.

46 Vgl. J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz (s.o. 1.2), 26f; D. FULDA, Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, in: F. Jaeger/B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften I, Stuttgart 2004, 251–265.

47 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz (s.o. 1.2), 30.

48 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion-Gesellschaft-Transzendenz (s.o. 1.2), 120.

49 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar 1999, 15: „Als Handlungen, die auf Wiederholung angelegt sind, konstituieren Riten Dauer, indem sie das Identische im Wandel hervorheben. Sie tilgen Zeit nicht, sondern konstituieren sie, indem sie Kontinuitäten schaffen.“

50 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition, 4: „Durch Zeitkonstruktionen werden Sinnhorizonte entworfen“.

51 Vgl. J. STRAUB, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie einer historischer Sinnbildung, in: J.Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, Frankfurt 1998, (81–169) 124ff.

52 Vgl. dazu K. J. GERGEN, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein, in: J.Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, a.a.O., 170–202.

53 Jesus von Nazareth befindet sich dabei in guter Gesellschaft, denn auch von Sokrates gibt es keine schriftlichen Überlieferungen; für Dio Chrysostomus, Or 55, 8f, ist dies kein Mangel, sondern Ausweis der überragenden Persönlichkeit des Sokrates.

54 E. REINMUTH, Neutestamentliche Historik, ThLZ.F 8, Leipzig 2003, 47–55, gebraucht den Begriff ‚Nachträglichkeit‘.

55 So aber der Vorwurf von P.-G. KLUMBIES, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments (s. u. 2), 137. Klumbies will den Theologie-Begriff vor allem für die „neutestamentlichen Volltheologen“ reservieren, also Paulus und Johannes.

2Der Aufbau: Geschichte und Sinn

G.STRECKER (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975 (wichtige Aufsatzsammlung); L.GOPPELT, Theologie, 52–62; W.THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I, 21–53; H.HÜBNER, Biblische Theologie I, 13–36; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 1–39; U.WILCKENS, Theologie I, 1–66; F.HAHN, Theologie I, 1–28; C.BREYTENBACH/J.FREY (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007; P.-G. KLUMBIES, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015.

Mit der Bestimmung der Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments verbindet sich die Frage nach ihrer Durchführung: Welcher Ausgangspunkt wird gewählt? Vor allem: Ist die Verkündigung des historischen Jesus Voraussetzung oder Bestandteil einer Theologie des Neuen Testaments? Wie verhalten sich die theologische und die religionswissenschaftliche Sicht zueinander? Ist eine Beschränkung auf den Kanon möglich und sinnvoll? In welcher Weise wird die Frage nach Vielfalt und Einheit ntl. Theologie aufgenommen? Diese notwendigen Fragen zur internen Struktur einer Theologie des Neuen Testaments werden im Folgenden behandelt und münden in einen eigenen Ansatz: Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung.

2.1Das Phänomen des Anfangs

Der Zugang zu einem Thema ist immer eine heuristische Setzung; jedem Anfang wohnt die Verheißung inne, den Weg zu definieren, der den Hörern und Lesern gewiesen wird. Dies gilt für die ntl. Schriften ebenso wie für Theologien des Neuen Testaments.

Das Modell der Diskontinuität

Rudolf Bultmann (1884–1976) beginnt seine Theologie mit einem Programmsatz: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst. Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“1 Bultmann zieht damit die Konsequenz aus der Leben-Jesu-Forschung des 19.Jh., deren widersprüchliche Ergebnisse bereits von Martin Kähler (1835–1912) mit der Unterscheidung zwischen dem ‚sogenannten historischen Jesus und dem geschichtlichen, biblischen Christus‘ überwunden werden sollten. Kähler unterscheidet einerseits zwischen ‚Jesus‘ und ‚Christus‘, andererseits zwischen ‚historisch‘ und ‚geschichtlich‘. Unter ‚Jesus‘ versteht er den Mann aus Nazareth, unter ‚Christus‘ den von der Kirche verkündigten Heiland. Mit ‚historisch‘ bezeichnet er die reinen Fakten der Vergangenheit, mit ‚geschichtlich‘ das, was bleibende Bedeutung besitzt. Seine Grundthese lautet: Jesus Christus ist für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern; nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Kähler hält es historisch nicht für möglich und dogmatisch für verfehlt, den historischen Jesus zum Ausgangspunkt des Glaubens zu machen. „Der Glaube hängt gewiß nicht an einem christologischen Dogma. Allein ebenso wenig darf dann der Glaube abhängen von den unsicheren Feststellungen über ein angebliches zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird.“2 Bultmann konnte diese gleichermaßen exegetische, dogmatische und erkenntnistheoretische Position bestens mit dem historischen Skeptizismus der von ihm selbst wesentlich bestimmten formgeschichtlichen Forschung kombinieren. Wir haben keine Aufzeichnungen von Jesu Hand, vielmehr kennen wir ihn nur aus den Evangelien, die nicht Biographien, sondern Glaubenszeugnisse sind. Sie enthalten viel sekundäres, umgeformtes Gut, das zu einem erheblichen Teil erst nachösterlich in den Gemeinden entstanden ist. Es gilt radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewande kennen; es ist nicht möglich, wirklich hinter das nachösterliche Kerygma zurückzukommen. „Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren.“3 Die Verkündigung Jesu ist somit eine der Voraussetzungen ntl. Theologie neben anderen. Weitere Faktoren können genauso wichtig sein, etwa die Ostererlebnisse der Jünger, der Messiasglaube des Judentums und die Mythen der heidnischen Umwelt.

Bultmann sieht wie Kähler in den Bemühungen um den historischen Jesus ein unlösbares und unfruchtbares Unternehmen; wie Kähler ist Bultmann der Meinung, dass der Glaube nicht auf unsicheren historischen Vermutungen gegründet werden darf. Deshalb muss sich die ntl. Theologie von der bereits bei Paulus und Johannes vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und der nachösterlichen Christusverkündigung, dem Kerygma, leiten lassen4.

Das Modell der Kontinuität

Zwar ist es nicht möglich, im neuzeitlichen Sinn eine Biographie Jesu zu schreiben, dennoch gibt es zwingende Gründe, eine Theologie des Neuen Testaments mit einer Darstellung der Verkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth beginnen zu lassen: 1) Zuallererst sind es die Quellen selbst, die eine Beschränkung auf die nachösterliche Verkündigung verbieten. Jeder Vers der Evangelien zeigt, dass ihre Autoren den Ursprung des Christentums nicht im Kerygma, sondern im Auftreten des Jesus von Nazareth sehen. Im Vergleich mit anderen Bewegungen ist der durchgehende Bezug auf die Person Jesu auffallend; in einem sehr hohen Maß dient die Jesusüberlieferung überhaupt nur dazu, die Person Jesu herauszustellen. Ebenso verweist die nachösterliche Christusverkündigung auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück. Sie bezieht sich durchgängig auf ein historisches Ereignis und ist in ihrem Kern (1 Kor 15, 3b.4a: „gestorben … und begraben“) die Deutung eines historischen Geschehens.

2) Aus erzähltheoretischer Sicht ist eine Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma ebenfalls nicht durchführbar (s.o. 1.3). Auch R.Bultmann konnte eine Verbindung zwischen beidem nicht gänzlich leugnen, reduzierte aber die Bedeutsamkeit des Jesus von Nazareth für das Kerygma auf das ‚Daß‘ seines Gekommenseins5. Eine solche Minimierung auf einen völlig abstrakten Kern macht eine Rezeption unmöglich6. Das bloße ‚Daß‘ eines Gekommenseins ist in seiner Unanschaulichkeit weder vermittel- noch rezipierbar; es kann nicht erzählt, allenfalls konstatiert werden! Die Vielfalt nachösterlicher Jesus-Christus-Erzählungen lässt sich ohne eine Verbindung zum Reichtum der vorösterlichen Erzählwelt nicht erklären.

3) Schließlich lässt sich aus sinntheoretischer Sicht zeigen, dass eine Alternative ‚historischer Jesus – Kerygma‘ nicht möglich ist und deshalb aufgegeben werden sollte. Bereits die Verkündigung des Jesus von Nazareth kann in umfassender Weise als Sinnbildung verstanden werden. Jesus interpretierte das gegenwärtige Heils- und Gerichtshandeln Gottes neu und stellte es in eine einzigartige Verbindung zu seiner Person. Jesu Selbstverständnis kann nicht von dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch einzelner Titel abhängig gemacht werden, sondern sein Auftreten und sein Anspruch lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluss zu, das er selbst seiner Person eine einzigartige Würde im Endzeithandeln Gottes zuschrieb. Jesu Sinnbildung stellt den Ausgangspunkt und die Grundlage jener Sinnbildungen dar, die wahrscheinlich schon vor Ostern einsetzten und sich nach Ostern unter veränderten Verstehensbedingungen fortsetzten7. Einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen einem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch gefüllten Kerygma hat es nie gegeben!8

Dem Modell der Kontinuität sind mit unterschiedlicher Begründung vor allem J.Jeremias, L.Goppelt, W.Thüsing, P.Stuhlmacher, U.Wilckens und F.Hahn verpflichtet. Jeremias arbeitet mit dem Modell ‚Ruf Jesu – Antwort der Gemeinde‘; Goppelt wählt den Terminus des ntl. ‚Erfüllungsgeschehens‘ zu seinem hermeneutischen Ausgangspunkt; Thüsing entwickelt ein hochkomplexes System der ‚Rückfrage nach Jesus‘, das in der Theozentrik Jesu den Ausgangspunkt und den inneren Kern aller ntl. Theologie erblickt; Stuhlmacher arbeitet im Rahmen einer ‚Biblischen Theologie‘ die Traditions- und Bekenntniskontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus; Wilckens sieht in der Wirklichkeit des einen Gottes die Einheit der (biblischen) Theologie und Hahn schließlich wählt den Offenbarungsbegriff zur Kennzeichnung der Kontinuität des Handelns Gottes (s.u. 2.3).

Ostern markiert weder den Anfang noch eine völlig neue Qualität von Sinnbildungen innerhalb der mit Jesus von Nazareth einsetzenden neuen Geschichte Gottes, denn Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott ist vor und nach Ostern gleichermaßen die Basis aller Aussagen (s.u. 4)9. Zweifellos ist eine Unterscheidung zwischen vor- und nachösterlich sachgemäß, wenn damit die unterschiedlichen Zeitebenen, Sachanforderungen und Theologiekonzepte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sie rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer grundlegenden Diskontinuität, denn das Wirken und die Wirkungen Jesu stehen am Anfang der Theologie des Neuen Testaments und sind zugleich ihr Kontinuum.

2.2Theologie und Religionswissenschaft

W.WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in: G.Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2.1), 81–154; J.SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, BThZ 16 (1999), 3–20; H.RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 189, Stuttgart 2000; G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s.o. 1), 17–44; I.U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 4–20; A.FELDTKELLER, Theologie und Religion, Leipzig 2002; R. V. BENDEMANN, „Theologie des Neuen Testaments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VuF 48 (2003), 3–28.

William Wrede (1859–1906) bestimmte in seiner Programmschrift von 1897 die Aufgabe des historisch orientierten Exegeten so: „Ein reines, uninteressiertes Erkenntnisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muß ihn leiten.“10 Er darf sich weder am Kanonbegriff noch einer anderen dogmatischen Konstruktion orientieren. Gegenstand seiner Arbeit muss die gesamte frühchristliche Literatur sein, die als Zeugnis einer gelebten Religion zu lesen ist. Deshalb lautet der für die Sache passende Name: „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“11 In der gegenwärtigen Diskussion gewinnt die Position von Wrede im Kontext neuzeitlicher Theologiekritik, Toleranzbewusstseins und Methodenpluralismus wieder an Bedeutung12. H.Räisänen knüpft ausdrücklich an Wrede an und postuliert unter Aufgabe der Kanonsgrenzen eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums, die „nüchterne Informationen vom Charakter, Hintergrund, und der Entstehung der Frühgeschichte des Christentums“13 liefern soll. Es geht dabei um eine ausschließlich historische Arbeit, philosophisch-theologische Fragen werden ausdrücklich erst in einem zweiten Arbeitsgang erörtert. Als oberstes Ziel einer solchen Darstellung gilt die Fairness, sowohl gegenüber den ntl. Autoren als auch den konkurrierenden religiösen Systemen