Theoretisch perfekt - Sophie Gonzales - E-Book

Theoretisch perfekt E-Book

Sophie Gonzales

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Beschreibung

Darcys Ratschläge in Sachen Beziehungen: auf den Punkt. Ihr eigenes Liebesleben: eine einzige Katastrophe.

Jeder weiß: Wer Hilfe in Sachen Liebe benötigt, wendet sich an Spind 89. Was niemand weiß: Hinter den anonymen Ratschlägen steckt Darcy Phillips. Und so soll es, wenn es nach Darcy geht, auch bleiben. Doch dann wird Darcy ausgerechnet von Alexander Brougham – seines Zeichens Schwimm-Ass und heißester Typ der Schule – beim Leeren des Spinds erwischt. Darcy will unbedingt verhindern, dass ihre geheime Identität auffliegt. Denn wenn herauskommt, dass sie hinter dem Spind steckt, könnten einige Dinge ans Licht kommen, auf die sie nicht gerade stolz ist. Und die Chancen stehen mehr als gut, dass Darcys beste Freundin und heimlicher Schwarm Brooke nie wieder ein Wort mit ihr wechseln würde. Damit Brougham Darcys Geheimnis für sich behält, bleibt ihr also nichts anderes übrig, als seinen persönlichen Dating-Coach zu spielen. Das Ziel? Broughams Ex-Freundin zurückgewinnen. Was soll da schon schiefgehen?

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Seitenzahl: 513

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SOPHIE GONZALES

THEORETISCH

PERFEKT

Aus dem Englischen von Doris Attwood

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenPERFECTONPAPER Copyright © 2021 by Sophie Gonzales Published by arrangement with St. Martin’s Press. All rights reserved. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Perfect on Paper« bei Wednesday’s Books, an imprint of St. Martin’s Publishing Group, New York Übersetzung: Doris Attwood Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung eines Motivs von © AdobeStock (savanno) sh · Herstellung: AW Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-27685-0V001www.cbj-verlag.de

Für Mum und Dad, die mir die Schönheit von Worten gezeigt haben, als ich noch ganz klein war, und die meine Hand gehalten haben, als ich mich in Geschichten verliebte.

EINS

Alle in der Schule wissen über Spind 89 Bescheid, den Spind rechts unten, am Ende des Korridors, in der Nähe der Chemieräume. Er wurde schon seit Jahren nicht mehr vergeben. Eigentlich hätte er jemandem aus der Schülerschaft zugewiesen werden müssen, damit er mit Büchern, Papieren und vergessenen, von Schimmel befallenen Tupperdosen vollgestopft werden konnte.

Aber stattdessen scheint stille Einigkeit darüber zu herrschen, dass Spind 89 einem höheren Zweck dient. Wie sollte man sonst die Tatsache erklären, dass jedes Jahr, wenn wir alle unsere neuen Stundenpläne und Spindkombinationen bekommen und die Spinde 88 und 90 ihren neuen vorübergehenden Besitzern zugewiesen werden, Spind 89 wieder mal leer bleibt?

Wobei: »Leer« ist in diesem Fall vielleicht nicht das richtige Wort. Denn obwohl er niemandem zugeteilt ist, beherbergt Spind 89 am Ende fast jeden Tages mehrere Umschläge mit praktisch identischem Inhalt: zehn Dollar – oft in Form eines einzelnen Scheins, manchmal auch aus sämtlichem Kleingeld zusammengekratzt, das der Absender auftreiben konnte – und einen Brief – manchmal getippt, manchmal handgeschrieben, manchmal von verräterischen Tränenflecken verschmiert – mit einer E-Mail-Adresse am Ende.

Es ist ein großes Mysterium, wie die Umschläge dort hineinkommen, denn nur ganz selten kann man jemanden dabei beobachten, wie er oder sie einen der Briefe durch die Lüftungsschlitze steckt. Aber es ist ein noch viel größeres Mysterium, wie diese Umschläge eingesammelt werden, weil noch nie irgendjemand beim Öffnen des Spinds beobachtet wurde.

Praktisch alle haben eine andere Theorie dazu, wer den Spind unterhält. Ist es ein Lehrer ohne Hobbys? Eine ehemalige Schülerin, die die Vergangenheit nicht loslassen kann? Ein Hausmeister mit großem Herzen, der sich nebenbei ein bisschen was dazuverdient?

Das Einzige, worin sich wirklich alle einig sind, ist: Wenn du Beziehungsstress hast und einen Brief durch einen der Lüftungsschlitze von Spind 89 steckst, bekommst du innerhalb einer Woche von einem anonymen Absender eine E-Mail mit guten Ratschlägen. Und wenn du klug genug bist, diese Ratschläge auch zu befolgen, dann sind deine Beziehungsprobleme gelöst, garantiert, oder du kriegst dein Geld zurück.

Und ich muss den Leuten ihr Geld nur sehr selten zurückgeben.

Zu meiner Verteidigung muss ich hinzufügen: Bei den wenigen Fällen, die nicht von Erfolg gekrönt waren, hat der oder die Briefeschreiber: in entscheidende Informationen ausgelassen. Zum Beispiel letzten Monat, als Penny Moore mir geschrieben hat, weil Rick Smith in einem Instagram-Kommentar mit ihr Schluss gemacht hat: Sie hatte rein zufällig vergessen, zu erwähnen, dass er das getan hatte, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie immer an denselben Tagen wie sein älterer Bruder die Schule geschwänzt und sich die ganze Zeit mit ihm rumgetrieben hatte. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Penny niemals geraten, Rick am nächsten Tag in der Mittagspause wegen des Kommentars zur Rede zu stellen. Was passiert ist, hat sie sich selbst zuzuschreiben. Zugegebenermaßen war es ziemlich befriedigend, mitzuerleben, wie Rick in der Kantine vor der versammelten Schule eine dramatische Lesung ihrer Nachrichten an seinen Bruder zum Besten gab. Trotzdem wäre mir ein Happy End lieber gewesen. Weil ich das alles tat, um anderen Menschen zu helfen. Und um zu wissen, dass ich die Welt zum Positiven verändern konnte – aber auch, und in diesem speziellen Fall vielleicht sogar größtenteils –, weil es mir richtig wehtat, zehn Dollar in Pennys Spind werfen zu müssen, weil sie zu stolz gewesen war, zuzugeben, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Das Problem war, dass ich mich und meine Beziehungsexpertise, wenn Penny allen erzählt hätte, dass sie ihr Geld nicht zurückbekommen hatte, nicht hätte verteidigen können.

Weil niemand weiß, wer ich bin.

Okay, nicht im wortwörtlichen Sinne. Eine Menge Leute wissen, wer ich bin. Darcy Phillips. Elfte Klasse. Dieses Mädchen mit den schulterlangen blonden Haaren und der Lücke zwischen den Schneidezähnen. Die beste Freundin von Brooke Nguyen und Mitglied im Queer-Club der Schule. Die Tochter von Ms Morgan aus Naturwissenschaft.

Was sie jedoch nicht wissen, ist, dass ich auch das Mädchen bin, das nach dem Unterricht noch in der Schule rumhängt, während seine Mom im Labor aufräumt, nachdem längst alle verschwunden sind. Das Mädchen, das sich heimlich ans Ende des Flurs zu Spind 89 schleicht, die Kombination eingibt, die sie schon seit Jahren auswendig kennt – seit die Spindliste eines Abends für einen kurzen Moment unbeaufsichtigt auf dem Schreibtisch der Schulsekretärin lag –, und die Briefe und Geldscheine einsammelt wie Steuern. Das Mädchen, das seine Nächte damit verbringt, die Geschichten von Fremden mit unvoreingenommenen Augen zu betrachten, bevor es über den anonymen E-Mail-Account, den es sich in der Neunten zugelegt hat, sorgfältig verfasste Antworten verschickt.

Sie wissen es nicht, weil es niemand in der Schule weiß. Ich bin die Einzige, die mein Geheimnis kennt.

Oder zumindest war ich das. Exakt bist zu diesem Moment.

Aber ich hatte das ungute Gefühl, dass sich dies schon sehr bald ändern würde. Denn obwohl ich den Korridor erst vor zwanzig Sekunden auf potenzielle Nachzügler oder Teile des Lehrkörpers überprüft hatte, wie ich es immer tat, war ich mir zu dreizehntausend Prozent sicher, dass ich gehört hatte, wie sich jemand geräuspert hatte, gar nicht so weit entfernt von verdammt noch mal direkt hinter mir.

Während ich bis zum Ellenbogen in einem sehr unverschlossenen Spind 89 steckte.

Mist.

Noch während ich mich umdrehte, war ich optimistisch genug, das Beste zu hoffen. Mit ein Grund dafür, warum ich einer Enttarnung so lange hatte entgehen können, war die überaus günstige Lage des Spinds direkt am Ende der Sackgasse des L-förmigen Korridors. In der Vergangenheit war es schon ein paar Mal ziemlich knapp gewesen, aber das Geräusch der zuschwingenden schweren Eingangstüren hatte mich noch immer früh genug gewarnt, um sämtliche Beweise zu verstecken. Es konnte mich überhaupt nur jemand überraschen, wenn er aus der Notausgangstür kam, die von der Schwimmhalle hierherführte – und so spät am Tag ging niemand mehr schwimmen.

Dem Aussehen des sehr nassen, hinter mir stehenden Typen nach zu urteilen, war ich in dieser Hinsicht jedoch einer fatalen Fehleinschätzung unterlegen. Offenbar ging wohl doch jemand so spät am Tag noch schwimmen.

Na, scheiße auch.

Ich kannte ihn. Oder zumindest wusste ich, wer er war. Sein Name war Alexander Brougham, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ihn alle nur Brougham nannten. Er war in der Zwölften, einer der besten Freunde von Finn Park und dem übereinstimmenden Urteil aller nach einer der heißesten Typen an der St. Deodetus.

Aus der Nähe betrachtet war für mich sofort offensichtlich, dass dieses Urteil völlig inkorrekt war.

Broughams Nase sah aus, als wäre sie irgendwann mal übel gebrochen gewesen, und seine marineblauen Augen waren fast so weit aufgerissen wie sein Mund, was ein ziemlich interessanter Look war, weil seine Augen von Natur aus schon ziemlich glupschig aussahen. Nicht goldfischmäßig, sondern eher aus der Glupschkategorie »Meine Lider tun ihr Bestes, um meine Augäpfel komplett zu verschlucken«. Und, wie bereits erwähnt, war er so nass, dass sein ohnehin dunkles Haar schwarz aussah und sein T-Shirt in feuchten, durchsichtigen Flecken an seiner Brust klebte.

»Warum bist du denn klatschnass?«, fragte ich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, um die Briefe zu verstecken, während ich mich vorsichtig gegen Spind 89 lehnte, um ihn hinter mir zuzumachen. »Du siehst aus, als wärst du in den Pool gefallen.«

Dies war höchstwahrscheinlich eine der wenigen Situationen, in denen ein triefnasser, vollständig bekleideter Teenager, der nach Schulschluss in einem Korridor der Schule stand, nicht der Elefant im Raum war.

Er guckte mich an, als hätte auf der ganzen Welt noch nie jemand etwas Dämlicheres von sich gegeben. Was mir unfair vorkam, angesichts der Tatsache, dass ich nicht diejenige war, die tropfend durch die Schulflure stapfte.

»Ich bin nicht ›in den Pool gefallen‹. Ich bin ein paar Bahnen geschwommen.«

»In deinen Klamotten?« Ich versuchte, die Briefe unter meinen Rock zu schieben, ohne meine Hände zu bewegen, was sich jedoch entschieden schwieriger gestaltete, als ich erwartet hatte.

Brougham blickte auf seine Jeans hinunter. Ich nutzte seine kurze Abgelenktheit, um die Briefe in den Gummibund meiner Strumpfhose zu stopfen. Im Nachhinein betrachtet fürchtete ich zwar, dass ihn das wahrscheinlich eher nicht davon überzeugen konnte, dass ich Spind 89 gerade nicht durchwühlt hatte, aber im Augenblick war komplettes Leugnen alles, was ich hatte.

»So nass bin ich doch gar nicht«, fand er.

Heute musste das erste Mal sein, dass ich Alexander Brougham sprechen hörte, denn bis zu diesem Moment hatte ich keine Ahnung gehabt, dass er einen britischen Akzent hatte. Jetzt verstand ich auch seine offensichtlich universelle Anziehungskraft: Oriella, meine Lieblings-YouTuberin, hatte diesem Thema mal ein komplettes Video gewidmet. Menschen, die in der Vergangenheit bei der Wahl ihrer Partner stets ausschließlich guten Geschmack bewiesen hatten, schienen unter Sinnesverwirrung zu leiden, sobald ein Akzent ins Spiel kam. Mal ganz abgesehen von dem unübersichtlichen Durcheinander, welche Akzente in welchen Kulturkreisen als sexy galten und warum, konnte man sie im Allgemeinen als Mutter Naturs Art bezeichnen, uns zu sagen: »Pflanz dich mit dem oder der da fort – ihr Genpool scheint verdammt vielfältig zu sein.« Ganz offensichtlich gab es nur wenige Dinge, die Menschen so schnell anturnten wie die unterbewusste Gewissheit, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mit einem Blutsverwandten flirteten.

Glücklicherweise durchbrach Brougham die Stille, als ich nichts erwiderte. »Ich hatte keine Zeit, mich richtig abzutrocknen. Ich war gerade fertig, als ich dich hier draußen gehört hab. Ich dachte, wenn ich mich durch den Notausgang schleiche, erwische ich vielleicht die Person, die hinter Spind 89 steckt. Und das habe ich auch.«

Seine Miene wirkte triumphierend, so als hätte er einen Wettbewerb gewonnen, von dem mir erst jetzt klar wurde, dass ich daran teilgenommen hatte.

Und ganz nebenbei bemerkt, war das mein allerunliebster Gesichtsausdruck.

Seit exakt diesem Moment.

Ich zwang mich zu einem nervösen Lachen. »Ich hab ihn nicht geöffnet. Ich hab einen Brief eingeworfen.«

»Ich hab aber gerade gesehen, wie du ihn zugemacht hast.«

»Ich hab ihn nicht zugemacht, ich bin nur, äh … ein bisschen dagegengestoßen, als ich den Brief reingesteckt hab.«

Cool, Darcy, manipuliere und verunsichere den armen britischen Schüler ruhig weiter.

»Doch, hast du. Und du hast einen Stapel Briefe rausgeholt.«

Nun, ich hatte die ganze Scharade schon so weit getrieben, die Briefe in meine Strumpfhose zu stopfen, da konnte ich die Sache auch genauso gut bis zum bitteren Ende durchziehen, richtig? Ich streckte meine leeren Hände aus, die Handflächen nach oben. »Ich hab keine Briefe.«

Er sah tatsächlich ein bisschen verwirrt aus. »Wo hast du … Aber ich hab sie gesehen.«

Ich zuckte mit den Schultern und setzte eine Unschuldsmiene auf.

»Du … Hast du sie dir in die Strumpfhose gesteckt?« Sein Tonfall klang nicht wirklich anklagend, sondern eher nach »verblüffter Herablassung«, wie jemand, der sein Kind sehr geduldig fragte, warum genau es der Ansicht war, Hundefutter würde einen ausgezeichneten Snack für zwischendurch abgeben. Es führte allerdings nur dazu, dass ich noch mehr auf stur schaltete.

Ich schüttelte den Kopf und lachte ein wenig zu laut. »Nein.« Die Hitze in meinen Wangen verriet mir, dass mein Gesicht mich Lügen strafte.

»Dreh dich um.«

Ich lehnte mich, vom Rascheln von Papier begleitet, gegen die Spinde und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Ecke eines der Umschläge bohrte sich unangenehm von hinten in meine Hüfte. »Ich will mich nicht umdrehen.«

Er schaute mich an.

Ich schaute ihn an.

Nein, er kaufte mir das keine Sekunde lang ab.

Wenn mein Gehirn richtig funktioniert hätte, hätte ich irgendetwas gesagt, um ihn auf die falsche Fährte zu locken, aber unglücklicherweise wählte es just diesen Moment aus, um in Streik zu treten.

»Du bist diejenige, die den Spind betreibt«, sagte Brougham so selbstsicher, dass ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, es noch weiter abzustreiten. »Und ich brauche wirklich deine Hilfe.«

Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, was passieren würde, falls ich irgendwann mal enttarnt wurde. Hauptsächlich, weil ich es vorzog, mir keine allzu großen Sorgen darüber zu machen. Aber wenn man mich gezwungen hätte, zu raten, was die Person tun würde, die mich erwischte, dann hätte ich mich wahrscheinlich für »mich beim Rektor melden« oder »es allen in der Schule erzählen« oder »mir vorwerfen, ich hätte ihr Leben mit meinen miesen Ratschlägen zerstört« entschieden.

Aber das hier? Das hier war gar nicht so bedrohlich. Vielleicht würde ja doch alles gut gehen. Ich schluckte schwer in dem Versuch, den Kloß in meinem Hals weiter nach unten in Richtung meines wild hämmernden Herzens zu bugsieren. »Hilfe wobei?«

»Dabei, meine Ex-Freundin wieder zurückzubekommen.« Er hielt nachdenklich inne. »Oh, und ich heiße übrigens Brougham.«

Brougham. Ausgesprochen BRO-em, nicht Brock-ham. Der Name war leicht zu merken, weil er völlig falsch ausgesprochen wurde, was mich schon nervte, seit ich ihn zum ersten Mal gehört hatte.

»Ich weiß«, erwiderte ich leise.

»Was nimmst du pro Stunde?«, fragte er und zupfte das feuchte Shirt von seiner Brust, um ein wenig Luft darunter zu lassen. Es klebte jedoch sofort wieder fest auf seiner Haut, als er den Stoff losließ. Hab ich’s nicht gesagt? Klatschnass.

Ich wandte den Blick von seinen Klamotten ab und ließ seine Frage sacken. »Wie bitte?«

»Ich will dich anheuern.«

Da war er wieder mit seinem seltsamen Geld-gegen-Gefallen-Vorschlag. »Als …?«

»Als Beziehungscoach.« Er blickte sich um und senkte seine Stimme auf ein Flüstern. »Meine Freundin hat letzten Monat mit mir Schluss gemacht, und ich will sie wieder zurück, aber ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll. Das Ganze lässt sich nicht einfach mit einer E-Mail wieder reparieren.«

Na, wenn der Typ mal keinen Sinn fürs Dramatische hatte. »Ähm, hör mal, es tut mir echt leid, aber ich hab wirklich keine Zeit, für jemanden den Coach zu spielen. Ich mache das nur als kleines Hobby vor dem Schlafengehen.«

»Womit bist du denn so beschäftigt?«, fragte er ruhig.

»Ähm, Hausaufgaben? Freunde? Netflix?«

Er verschränkte die Arme. »Ich zahle dir zwanzig Dollar die Stunde.«

»Mann, ich hab doch gesagt …«

»Fünfundzwanzig. Und eine Erfolgsprämie von fünfzig Dollar, wenn ich Winona wieder zurückgewinne.«

Moment mal.

Wollte dieser Typ mir ernsthaft sagen, dass er mir fünfzig Dollar zahlen würde, steuerfrei, wenn ich nur zwei Stunden dafür aufwandte, ihm Tipps zu geben, wie er ein Mädchen zurückgewinnen konnte, dass sich schon mal in ihn verliebt hatte? Das fiel definitiv in meinen Kompetenzbereich. Was bedeutete, dass mir auch die Erfolgsprämie von fünfzig Dollar so gut wie sicher war.

Es könnte das leichteste Geld sein, das ich jemals verdient hatte.

Während ich noch darüber nachdachte, fügte er hinzu: »Ich weiß, dass du deine Identität geheim halten willst.«

Ich kehrte wieder in die Realität zurück und kniff die Augen zusammen. »Was soll das denn bitte heißen?«

Er zuckte mit den Schultern, das Inbild der Unschuld. »Du schleichst heimlich nach Schulschluss durch die leeren Korridore, und keiner hat eine Ahnung, dass du diejenige bist, die auf die Briefe antwortet. Es gibt einen Grund dafür, dass du nicht willst, dass alle wissen, wer du bist. Man muss nicht Sherlock Holmes sein, um das zu kapieren.«

Also doch. Ich hatte es geahnt. Ich hatte doch gleich gewusst, dass mein Bauch aus gutem Grund »Gefahr« gebrüllt hatte. Er bat mich nicht um einen Gefallen – er erklärte mir, was er von mir wollte, und warf ganz nebenbei ein, warum es eine wirklich miese Idee wäre, wenn ich mich weigerte, es zu tun. So beiläufig wie nur was. Eine Blinzle-und-du-verpasst-sie-Erpressung.

Ich ließ meine Stimme so ruhig wie möglich klingen, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich ein giftiger Unterton einschlich. »Und lass mich raten: Du würdest mir gerne dabei helfen, sicherzustellen, dass das auch so bleibt. Darauf läuft diese ganze Sache doch hinaus, oder?«

»Na ja, ja. Genau.«

Er schob die Unterlippe vor und seine Augen weiteten sich. Meine eigenen Lippen verzerrten sich, als ich ihn anfunkelte, und jegliches Wohlwollen, das ich ihm vielleicht entgegengebracht hatte, verpuffte innerhalb einer Sekunde. »Wow, das ist so rücksichtsvoll von dir.«

Brougham wartete mit ausdrucksloser Miene darauf, dass ich noch etwas hinzufügte. Als ich es nicht tat, ließ er eine Hand in der Luft kreisen. »Also … was denkst du?«

Ich dachte eine Menge Sachen, aber es wäre bei keiner von ihnen klug gewesen, sie gegenüber einem Typen, der mir gerade gedroht hatte, laut auszusprechen. Welche Optionen boten sich mir? Ich konnte Mom nicht erzählen, dass mir jemand drohte. Sie hatte keine Ahnung, dass ich hinter Spind 89 steckte. Und ich wollte wirklich, wirklich nicht, dass alle herausfanden, dass ich es war. Ich meine, allein die unangenehme Tatsache, dass ich so viele persönliche Dinge über alle wusste … Nicht mal meine engsten Freunde hatten eine Ahnung, dass ich hinter dem Spind steckte. Ohne meine Anonymität wäre mein Beziehungsratschlagsgeschäft am Ende. Und es war das Einzige, was ich jemals wirklich zustande gebracht hatte. Das Einzige, was wirklich irgendjemandem nutzte.

Und … Gott, dann war da noch diese ganze Brooke-Geschichte von letztem Jahr. Wenn Brooke jemals herausfand, was ich getan hatte, dann würde sie mich hassen.

Sie durfte es nicht herausfinden.

Ich spannte den Kiefer an. »Fünfzig im Voraus. Fünfzig, wenn es funktioniert.«

»Hand drauf?«

»Ich bin noch nicht fertig. Für den Anfang einigen wir uns auf maximal fünf Stunden. Falls du mich noch länger willst, liegt die Entscheidung bei mir, ob ich weitermache.«

»Ist das alles?«, fragte er.

»Nein. Wenn du gegenüber irgendjemandem auch nur ein einziges Wort über diese Sache verlierst, dann erzähle ich allen, dass du dich für ein Geschenk an die Frauenwelt hältst, es aber null draufhast und deshalb eine persönliche Beziehungsberaterin brauchtest.«

Es war eine schwache Drohung und noch nicht mal annähernd so kreativ wie ein paar der Beleidigungen, die mir sonst noch eingefallen wären, aber ich wollte ihn nicht zu sehr anstacheln. Es huschte tatsächlich eine Gefühlsregung über sein leeres Gesicht, so flüchtig, dass sie mir beinahe entging, aber sie war ohnehin schwer zu definieren. Waren seine Augenbrauen ein Stück nach oben gewandert? »Na, das war zwar unnötig, ist hiermit aber zur Kenntnis genommen.«

Ich verschränkte die Arme. »Ach, war es das?«

Wir standen einen Moment lang schweigend da, während ich meine Worte noch einmal Revue passieren ließ. Sie hatten bissiger geklungen, als ich es beabsichtigt hatte, auch wenn Bissigkeit hier durchaus nicht unangebracht war. Er schüttelte den Kopf und kehrte mir langsam den Rücken zu. »Weißt du, was? Vergiss es einfach. Ich dachte nur, du wärst vielleicht offen für einen Deal.«

»Warte, warte, warte.« Ich eilte an ihm vorbei und stellte mich vor ihn, die Hände erhoben. »Tut mir leid. Ich bin offen für einen Deal.«

»Bist du sicher?«

Oh, um Himmels willen, wollte er mich etwa dazu zwingen, ihn anzuflehen? Es erschien mir zwar total unfair, dass ich seine Erpresserbedingungen ohne die geringste Gegenwehr oder jeglichen patzigen Kommentar akzeptieren sollte, und ich mochte ihn deswegen mit jeder Sekunde weniger, aber ich würde es tun. Was immer er von mir verlangte, ich würde es tun. Ich musste die Situation nur unter Kontrolle halten. Ich nickte entschlossen und er zog sein Handy heraus.

»Na dann. Gut. Ich bin jeden Morgen vor der Schule zum Training im Schwimmverein und montag-, mittwoch- und freitagnachmittags haben wir Trockentraining. Dienstags und donnerstags schwimme ich hier im Pool. Gib mir deine Nummer, damit wir alles organisieren können, ohne dass ich dir in der Schule hinterherjagen muss, okay?«

»Du hast ›bitte‹ vergessen.« Verdammt, das hätte ich nicht sagen sollen. Aber ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Ich riss ihm das Smartphone aus der Hand und speicherte meine Nummer darin ab. »Hier.«

»Ausgezeichnet. Ach, wie heißt du eigentlich?«

Ich versuchte noch nicht mal, mein Lachen zu unterdrücken. »Weißt du, normalerweise finden die Leute heraus, wer ihr Gegenüber ist, bevor sie irgendwelche ›Deals‹ eingehen. Oder läuft das bei euch in England etwa anders?«

»Ich komme aus Australien, nicht aus England.«

»Das ist aber kein australischer Akzent.«

»Als Australier kann ich dir versichern, dass er das sehr wohl ist. Es ist nur keiner, den man üblicherweise hört.«

»Es gibt mehr als einen?«

»Es gibt doch auch mehr als einen amerikanischen Akzent, oder? Dein Name?«

Oh, verflucht noch … »Darcy Phillips.«

»Ich schick dir morgen ’ne Nachricht, Darcy. Hab noch einen wunderschönen Abend.« Dem Ausdruck nach zu urteilen, mit dem er mich betrachtete – die Lippen zusammengepresst und das Kinn erhoben, während sein Blick nach unten wanderte –, hatte er unsere erste Unterhaltung in etwa so sehr genossen wie ich selbst. Ich versteifte mich angesichts dieser Erkenntnis. Was hatte er für ein Recht, mich nicht zu mögen, wenn er der Grund dafür war, dass unsere Begegnung so angespannt verlaufen war?

Er steckte sein Handy wieder in seine feuchte Hosentasche – drohender Kurzschluss hin oder her –, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Ich starrte ihm noch einen Moment lang nach und ergriff dann die Gelegenheit, die Briefe aus ihrem sehr unangenehmen Versteck nahe meines Slips zu ziehen und sie in meinen Rucksack zu stopfen. Gerade noch rechtzeitig, weil Mom keine zehn Sekunden später um die Ecke bog. »Da bist du ja. Bist du startklar?«, fragte sie und ging bereits wieder den leeren Korridor hinunter, wo das Klappern ihrer flachen Absätze von den Wänden widerhallte.

Als ob ich jemals nicht startklar war. Wenn sie endlich ihren ganzen Kram zusammengepackt, ihre E-Mails beantwortet und nebenbei noch ein paar Arbeiten korrigiert hatte, war ich meistens die letzte Schülerin, die diesen Bereich der Schule verließ – alle anderen waren längst weg oder auf der anderen Seite des Gebäudes und trieben sich im Kunstraum oder auf dem Sportplatz rum.

Na ja, zumindest alle außer Alexander Brougham, wie es schien.

»Wusstest du, dass so spät noch Schüler hier sind und die Schwimmhalle nutzen?«, fragte ich Mom und beeilte mich, zu ihr aufzuschließen.

»Na ja, für das Schwimmteam der Schule ist gerade Nebensaison, deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass besonders viel los ist, aber ich weiß, dass sie Schülern offen steht und dass sie sich bei Vijay einen Pass abholen können, solange er im Büro ist. Darc, könntest du Ainsley eine Nachricht schicken und sie bitten, die Spaghettisoße aus dem Gefrierschrank zu nehmen?«

Mit Vijay meinte Mom Coach Senguttuvan. Mit das Seltsamste daran, auf dieselbe Schule zu gehen, an der die eigene Mutter arbeitete, war es, dass ich die Vor- und Nachnamen sämtlicher Lehrer kannte und ständig aufpassen musste, dass mir im Unterricht oder wenn ich mit meinen Freunden redete, kein Ausrutscher passierte. Ein paar von ihnen kannte ich praktisch schon mein Leben lang. Es mag vielleicht nicht allzu kompliziert klingen, aber die Tatsache, dass John regelmäßig einmal im Monat zu uns zum Essen und zu den Geburtstagspartys meiner Eltern kam, dass wir seit fünfzehn Jahren bei ihm zu Hause Silvester feierten und dass ich mich in Mathe dann plötzlich umstellen und ihn Mr Hanson nennen musste, war, als würde ich mit meinem Ruf Minesweeper spielen.

Ich schickte meiner Schwester eine Nachricht mit Moms Anweisungen, während ich mich auf dem Beifahrersitz niederließ. Zu meiner Freude wartete eine ungelesene Nachricht von Brooke auf mich:

Ich will diesen Aufsatz nicht schreiben.

Bitte zwing mich nicht, diesen Aufsatz zu schreiben.

Wie üblich, wenn ich eine Nachricht von Brooke bekam, hatte ich das Gefühl, dass die Gesetze der Schwerkraft für mich einen Herzschlag lang nicht mehr galten.

Sie hatte ganz offensichtlich an mich gedacht, anstatt ihre Hausaufgaben zu machen. Wie oft schweifte sie in Gedanken zu mir ab, wenn sie ihren Tagträumen nachging? Wanderten sie auch noch zu jemand anderem oder war ich etwas Besonderes?

Es war so schwer, einzuschätzen, wie sehr ich hoffen durfte.

Ich schickte ihr eine kurze Antwort:

Du schaffst das! Ich glaube an dich.

Ich schick dir heute Abend meine Notizen, falls du glaubst, das hilft?

Mom summte vor sich hin, während sie vom Parkplatz rollte, unfassbar langsam, so als hätte sie Angst, sie könnte unerwartet auftauchende Schildkröten überfahren. »Wie war dein Tag?«

»Ziemlich ereignislos«, log ich. Es war am besten, die ganze »Ich wurde engagiert und erpresst«-Sache nicht zu erwähnen. »Ich hab mich in Soziologie mit Mr Reisling über Frauenrechte gestritten, aber das ist normal. Mr Reisling ist ein Arschloch.«

»Ja, er ist ein Arschloch.« Mom sinnierte einen Moment lang und warf mir dann einen scharfen Blick zu. »Erzähl niemandem, dass ich das gesagt hab!«

»Ich werde es bei der Versammlung morgen nicht auf die Tagesordnung setzen.«

Mom blickte mich von der Seite an und auf ihrem runden Gesicht breitete sich ein warmes Lächeln aus. Ich war bereits dabei, es zu erwidern, doch dann fielen mir Brougham und die Erpressung wieder ein, und es erstarb. Mom bemerkte es jedoch nicht. Sie war zu sehr auf die Straße konzentriert und bereits in ihre eigenen Gedanken versunken. Ein Vorteil davon, einen notorisch abgelenkten Elternteil zu haben, ist, dass man keine neugierigen Fragen beantworten muss.

Ich konnte nur hoffen, dass Brougham mein Geheimnis wirklich für sich behalten würde. Das Problem war allerdings, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was er für ein Mensch war. Großartig. Ein Typ, den ich noch nicht mal richtig kannte und über den ich nicht das Geringste wusste, besaß die Macht, mein kleines Nebengeschäft zu zerstören – von meinen persönlichen Beziehungen ganz zu schweigen. Wenn das nicht das Potenzial hatte, eine Panikattacke auszulösen.

Ich musste mit Ainsley reden.

ZWEI

Hi Spind 89,

also, meine Freundin treibt mich echt in den Wahnsinn. Sie hat keinen Schimmer, was das Wort Freiraum bedeutet!! Wenn ich es malWAGE, mich einen Tag lang nicht bei ihr zu melden, bombardiert sie mich förmlich mit Nachrichten. Meine Mom meint, dass ich sie nicht dafür belohnen soll, dass sie sich wie ein Psycho aufführt, deshalb warte ich immer bis zum nächsten Tag, bevor ich ihr antworte, damit sie kapiert, dass ich noch weniger mit ihr reden will, wenn sie mir solchen Stress macht. Und wenn ich ihr dann antworte, kommen von ihr plötzlich nur noch Ein-Wort-Nachrichten, und sie ist total passiv-aggressiv und zickig. WTF? Ich meine, willst du jetzt mit mir reden oder nicht, verdammt noch mal!? Muss ich mich etwa schuldig fühlen, weil ich in Bio nicht ständig meine Nachrichten gecheckt hab? Ich will nicht mit ihr Schluss machen, weil sie eigentlich echt total cool ist, wenn sie sich nicht wie ein Psycho aufführt. Ich schwöre, dass ich ein guter Freund bin, aber ich kann ihr doch nicht ständig Nachrichten schicken, damit sie nicht durchdreht??

[email protected]

Spind 89<[email protected]> 15:06 (vor 0 Min.) an Dtb02

HiDTB!

Ich schlage vor, dass du dich mal über die unterschiedlichen Bindungstypen schlaumachst. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, deine Freundin ist ein unsicherer Bindungstyp. Es gibt, kurz zusammengefasst, vier Haupttypen: Sichere Bindungstypen haben als Baby gelernt, dass Liebe zuverlässig und vorhersehbar ist. Unsicher-vermeidende Typen mussten schon als kleines Kind erfahren, dass sie sich auf andere nicht verlassen können; ihnen fällt es daher auch später schwer, andere an sich heranzulassen. Dann gibt’s den unsicher-ambivalenten Typ, der gelernt hat, dass er nur hin und wieder Liebe bekommt und dass sie ihm ohne Vorwarnung entzogen werden kann, wodurch er auch als Erwachsener ständig Angst davor hat, verlassen zu werden. Und zu guter Letzt hätten wir noch den desorganisierten Typ, der sowohl Angst davor hat, verlassen zu werden, als auch davor, andere an sich heranzulassen. Ziemlich verwirrend! Lange Rede, kurzer Sinn: Sie wird immer total empfindlich auf alles reagieren, was sich irgendwie nach Verlassenwerden anfühlt, und sofort in den Panikmodus wechseln, wenn das passiert. Wir nennen das übrigens »aktiviert«, nicht »Psycho« – und nur zu deiner Info: Das ist kein cooler Ausdruck. Es ist die Urangst, allein und in Gefahr zu sein. Andererseits kann ich jedoch gut nachvollziehen, wie erdrückend es sich für dich anfühlen muss, wenn deine Freundin aktiviert ist.

Ich würde dir empfehlen, Grenzen zu setzen, aber auch sicherzustellen, dass sie weiß, dass du immer noch auf sie stehst. Sie braucht das möglicherweise mehr als andere. Lass sie wissen, dass du sie unglaublich findest, aber auch, dass du nach einer Lösung suchst, um dafür zu sorgen, dass sie nicht sofort in Panik verfällt, wenn du ihr nicht zurückschreibst. Trefft eine Übereinkunft, mit der ihr beide glücklich seid, denn dein Bedürfnis nach Freiraum ist absolut legitim! Vielleicht könntest du ihr ja immer vor der Schule eine Nachricht schicken, nur um ihr einen guten Morgen oder einen schönen Tag zu wünschen? Oder vielleicht findest du es besser, zwischendurch von der Toilette aus eine Nachricht zu schicken, so was wie: »Sorry, bin gerade im Unterricht, melde mich heute Abend von zu Hause, damit ich dir ausführlich antworten kann. Kann’s nicht erwarten, mit dir zu reden.« Oder falls du nicht in der Stimmung bist, zu quatschen, schreib einfach: »Ich brauch heut Abend’ne Pause, hat nichts mit dir zu tun. Ich liebe dich – können wir morgen reden?« Entscheidend ist, dass es für euch beide funktioniert.

Ihr werdet ein paar Kompromisse eingehen müssen, aber du wirst überrascht sein, wie einfach es ist, einen unsicheren Bindungstypen aus seiner Panikspirale zu befreien, wenn du ihn nicht in absoluter Stille zurücklässt, damit er sich das Schlimmste ausmalen kann. Sie muss nur wissen, dass es einen Grund für deine Distanz gibt, der nichts mit »Ich liebe dich nicht mehr« zu tun hat.

Viel Glück!

Spind 89

Zu Hause hatte Ainsley nicht nur die Spaghettisoße aus dem Gefrierschrank genommen, sondern backte auch ein frisches Brot im Brotbackautomaten, das das Haus mit dem köstlich hefigen Duft einer ländlichen Bäckerei erfüllte. Das Geräusch von schwappendem Wasser verriet mir außerdem, dass die Spülmaschine lief, und darüber hinaus erstrahlte der Linoleumfußboden in frisch gewischtem Glanz. Selbst geputzt war unser Haus allerdings viel zu vollgestopft, um wirklich sauber zu wirken, und die Küche bildete dabei keine Ausnahme. Sämtliche Oberflächen waren von dekorativem Schnickschnack übersät, von Sukkulenten in Terrakottatöpfen über Schachteln voller Backutensilien bis hin zu bunt gemischten Tassenregalen. Die Wände zierten Töpfe, Pfannen und Messer, die an verschiedenen Holzleisten hingen, während der Kühlschrank mit unzähligen Magneten dekoriert war, die jeden einzelnen großen Moment in unserer Familiengeschichte zelebrierten, seien es Ausflüge nach Disneyland oder der Strandurlaub auf Hawaii, meine Abschiedsfeier im Kindergarten oder ein Bild von Ainsley und Mom auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude, am Tag von Ainsleys offizieller Namensänderung.

Seit sie aufs Community College ging, war Ainsley wie besessen davon, »ihren Teil zum Haushalt beizusteuern«, so als hätte Mom sie in der Elften nicht förmlich mit guten Gründen überschüttet, warum sie hier aufs College gehen sollte und nicht in L. A. Allem Anschein nach war Mom noch nicht bereit für ein vollkommen leeres Haus, wenn ich jede zweite Woche bei Dad verbrachte. Nicht, dass ich mich beschwerte: Ainsley war nicht nur eine viel bessere Köchin als Mom, sie war ganz zufällig auch eine meiner besten Freundinnen. Was ebenfalls zu den Waffen in Moms »Überzeuge Ainsley, noch ein bisschen bei uns zu wohnen«-Arsenal gehörte, die sie schamlos eingesetzt hatte.

Ich ließ meine Tasche neben dem Küchentisch fallen, rutschte auf eine der Bänke und versuchte erfolglos, Ainsleys Blick einzufangen. Wie üblich trug sie eine ihrer eigenhändig umgestylten Kreationen: ein cremefarbenes Sweatshirt mit Dreiviertelärmeln und flügelartigen Rüschen an den Seiten.

»Machst du Knoblauchbrot, Schatz?«, fragte Mom sie und öffnete den Kühlschrank, um sich ein Wasser zu holen.

Ainsley blickte zu dem brummenden Brotbackautomaten hinüber. »Das ist gar keine schlechte Idee.«

Ich räusperte mich. »Ainsley, du hast versprochen, dass du eins deiner Kleider für mich änderst.«

Also, nur um das direkt klarzustellen: Ainsley hatte nichts dergleichen gesagt. Sie war für eine Menge Dinge gut, aber ihre Klamotten oder ihr Make-up mit mir zu teilen hatte noch nie zu ihren Stärken gehört. Trotzdem erzielte ich damit die erwünschte Wirkung. Sie schaute mich endlich an, wenn auch voller Verwunderung, und ich ergriff die Gelegenheit, meine Augen bedeutungsschwanger aufzureißen.

»Oh, natürlich«, log sie und steckte sich eine ihrer braunen Locken hinters Ohr. Ihr verräterischer Tick. Zum Glück schenkte uns Mom im Augenblick keine besonders große Aufmerksamkeit. »Ich hab ein paar Minuten Zeit, falls du jetzt kurz gucken willst.«

»Ja, ja, lass uns gehen.«

Ich besuchte Ainsley nicht annähernd so oft in ihrem Zimmer, wie sie bei mir vorbeikam, und ich hatte meine Gründe dafür. Mein Zimmer war relativ ordentlich, die Deko an ihrem Platz, das Bett gemacht und meine Klamotten größtenteils im Schrank verstaut, während bei Ainsley das organisierte Chaos regierte. Ihre grün und bonbonrosa gestreiften Wände waren hinter all den Postern, Gemälden und Fotos, die sie wahllos daran getackert hatte, kaum noch zu erkennen – das einzige Bild, das mit ein bisschen Sorgfalt aufgehängt worden war, war das eingerahmte Foto des Queer and Questioning Clubs, das am Ende ihres letzten Schuljahrs geknipst worden war. Ihr französisches Bett war nicht gemacht – nicht, dass man es hätte erkennen können, dank der vier oder fünf Lagen Klamotten, die sich darauf türmten –, und an seinem Fußende stand eine Truhe mit geöffnetem Deckel, die mit Stoffen, Knöpfen und anderem Krimskrams vollgestopft war, von dem Ainsley sich sicher war, dass sie eines Tages eine Verwendung dafür finden würde, wobei sich der Inhalt bereits auf den weichen cremeweißen Teppich ergoss.

Sobald ich durch die Tür trat, wurde mein Geruchssinn von dem schweren Karamell-Vanille-Aroma von Ainsleys Lieblingskerze attackiert, die sie immer anzündete, wenn sie ein neues YouTube-Video plante. Sie behauptete steif und fest, es würde ihr dabei helfen, sich zu konzentrieren, aber da mich die Muse nie in Form einer geruchsinduzierten Migräne küsste, konnte ich nicht wirklich nachvollziehen, was sie meinte.

Ainsley zog ihre Zimmertür zu, und ich warf mich auf den Kleiderhaufen auf ihrem Bett und würgte so dramatisch, wie ich nur konnte. »Was gibt’s?«, fragte sie und öffnete ein Fenster einen Spaltbreit, um wenigstens ein wenig süßen Sauerstoff einzulassen.

Ich kroch näher ans Fenster und saugte die frische Luft tief ein. »Ich wurde erwischt, Ains.«

Sie fragte mich nicht, wobei ich erwischt worden war. Das musste sie nicht. Als meine einzige Vertraute auf der Welt, die von meinem Spindgeschäft wusste, wusste sie auch ganz genau, was ich jeden Tag direkt nach dem Unterricht trieb.

Sie ließ sich schwer auf der Bettkante nieder. »Von wem?«

»Einem Freund von Finn Park. Alexander Brougham.«

»Der?« Sie schenkte mir ein fieses Grinsen. »Der Typ ist echt heiß. Sieht aus wie Bill Skarsgård!«

Ich beschloss, die Tatsache zu ignorieren, dass sie Brougham mit einem Clown aus einem Horrorfilm verglichen und es als Kompliment gemeint hatte. »Wie jetzt, weil er geschwollene Augen hat oder was? Mein Fall ist er nicht.«

»Weil er ’n Typ ist – oder weil er nicht Brooke ist?«

»Weil er nicht mein Typ ist. Warum sollte es daran liegen, dass er ein Typ ist?«

»Keine Ahnung, du stehst nur normalerweise eher auf Mädchen.«

Okay, nur weil ich zufällig ein paar Mädchen nacheinander gemocht hatte, bedeutete das nicht, dass ich nicht immer noch auf Typen stand. Allerdings hatte ich im Augenblick nicht die nötige Energie, diese Diskussion zu führen, deshalb lenkte ich die Unterhaltung wieder auf das eigentliche Thema zurück. »Wie dem auch sei, er hat sich heute an mich rangeschlichen. Er meinte, er wollte rausfinden, wer hinter dem Spind steckt, damit er mich als seinen Beziehungscoach anheuern und mich dafür bezahlen kann.«

»Dich bezahlen?« Ainsleys Augen begannen zu leuchten – vermutlich, weil sie bereits ein komplettes Sortiment an MAC-Lippenstiften davor tanzen sah, die sie sich dank meines plötzlichen Geldregens kaufen konnte.

»Na ja, ja. Das, und er hat mich erpresst. Im Prinzip hat er mir damit gedroht, allen zu erzählen, wer ich bin, wenn ich nicht Ja sage.«

»Was? Dieses Arschloch!«

»Ja, oder?« Ich warf die Hände in die Luft, bevor ich die Arme um meinen Oberkörper schlang. »Und ich wette, er würde es auch wirklich tun.«

»Na ja, machen wir uns nichts vor: Selbst wenn er es nur Finn erzählen würde, wüsste es morgen die ganze Stadt.«

Obwohl Finn Park in der Zwölften und ein Jahr jünger war als sie, kannte Ainsley ihn – und damit auch seine Freunde – sehr gut. Er gehörte dem Queer and Questioning Club an, seit Ainsley ihn in der Elften gegründet hatte, im selben Jahr, als sie mit ihrer Transition begonnen hatte.

»Und was willst du jetzt machen?«, fragte sie.

»Ich hab ihm gesagt, dass wir uns morgen nach der Schule treffen können.«

»Bezahlt er dich wenigstens gut?«

Ich nannte ihr die nackten Zahlen und Ainsley wirkte beeindruckt. »Das ist mehr, als ich im Crepe Shoppe verdiene!«

»Du kannst dich dafür glücklich schätzen, dass dein Chef dich nicht erpresst.«

Wir wurden unterbrochen, als mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte.

Es war eine Nachricht von Brooke.

Hab die neue Proben-Ausbeute.

Kann ich vorm Abendessen vorbeikommen?

Alles in mir begann, sich zu drehen und durcheinanderzuwirbeln, so als hätte ich ein ganzes Glas voller lebender Grashüpfer verschluckt.

»Was will Brooke?«, fragte Ainsley neckisch.

Ich blickte auf, meine Antwort halb fertig getippt. »Woher wusstest du, dass es Brooke ist?«

Sie bedachte mich mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Weil du nur bei Brooke so aussiehst.« Sie setzte ein übertrieben liebestrunkenes Lächeln auf, inklusive schielendem Blick und schief geneigtem Kopf.

Ich starrte sie an. »Großartig. Wenn ich in ihrer Nähe so aussehe, dann kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum sie noch nicht in mich verknallt ist.«

»Es ist mein Job, dich mit der harten Wahrheit zu konfrontieren«, erwiderte Ainsley. »Und ich nehme diesen Job sehr ernst.«

»Und du bist auch sehr gut darin. Sehr engagiert.«

»Vielen Dank.«

»Sie hat ein paar Proben für uns. Filmst du vor dem Abendessen?«

»Nein, erst später. Ich bin dabei.«

Obwohl der Job im Crepe Shoppe Ainsleys Rechnungen bezahlte, hatte sie im letzten Jahr ihre komplette Freizeit darauf verwendet, ihren Secondhand-Upcycling-Kanal auf YouTube aufzubauen. Tatsächlich waren ihre Videos ziemlich beeindruckend. Sie hatte mit demselben Druck zurechtkommen müssen wie ich, an einer reichen Privatschule dazuzugehören, nur, dass er bei ihr noch dadurch verstärkt worden war, dass sie mit der begrenzten Garderobe hatte auskommen müssen, die Mom und Dad sich damals hatten leisten können – und von der ein Großteil nicht auf ihre Proportionen ausgelegt gewesen war. Aber Ainsley hatte sich diesen Umständen angepasst, indem sie ihre Nähkünste weiterentwickelt – und ganz nebenbei ihre angeborene Kreativität entdeckt hatte. Selbst wenn sie die hässlichsten Fetzen aus dem Secondhandshop vor sich hatte und der Rest von uns nur irgendwelche Klamotten sah, die wir in einer Million Jahren nicht anziehen würden, sah Ainsley Potenzial. Sie rettete alte Kleidungsstücke, indem sie die Taille enger machte, Panels hinzufügte, Ärmel entfernte oder annähte und sie mit Kristallen, Spitze oder Aufnähern verzierte und sie einer kompletten Verwandlung unterzog. Und rein zufällig garantierte dieser Verwandlungsprozess in Kombination mit ihrem selbstironischen Voiceover-Kommentar erstklassigen Content.

Ich schickte Brooke eine Antwort. Am liebsten hätte ich ihr geschrieben, dass sie natürlich verdammt noch mal unbedingt vorbeikommen sollte und außerdem hier einziehen, mich heiraten und die Mutter meiner Kinder werden konnte, wenn sie schon mal dabei war, aber dank meiner ausführlichen Recherchen in Sachen Beziehungen hatte ich gelernt, dass krasse Besessenheit alles andere als süß war. Also entschied ich mich schlicht für »Klar, wir essen gegen sechs«. Im Grunde dieselbe Botschaft, nur nicht so Furcht einflößend.

Während Ainsley wieder in die Küche zurückkehrte, ging ich in mein eigenes Zimmer, zog meine Schuluniform aus, angelte die heutigen Briefe aus meiner Tasche und begann, sie durchzuarbeiten. Ich hatte mittlerweile ein System entwickelt, schließlich betrieb ich das Ganze schon zwei Jahre lang etwa zwei Mal pro Woche. Die Dollarscheine und Münzen wanderten direkt in eine wiederverschließbare Plastiktüte und wurden auf mein Bankkonto eingezahlt. Bislang hatte ich es immer für die wahrscheinlichste Möglichkeit gehalten, irgendwann entdeckt zu werden, weil ich einmal zu oft mit einem mit Kleingeld vollgestopften Portemonnaie gesehen wurde. Dann überflog ich die Briefe und sortierte sie in zwei Stapel. Stapel eins: Briefe, die ich sofort beantworten konnte. Stapel zwei: Briefe, die mich ein wenig ins Schlingern brachten. Ich war stolz darauf, sagen zu können, dass Stapel zwei fast immer kleiner war oder es manchmal nicht mal einen Stapel zwei gab. Es kam nur noch sehr selten vor, dass mich etwas ins Schlingern brachte.

Manchmal machte ich mir allerdings schon Sorgen darüber, dass diese ganze Sache beginnen könnte, zu viel meiner Zeit in Anspruch zu nehmen, um sie auch in der Zwölften weiter durchziehen zu können. Aber, hey, jede Menge Schüler hatten einen Nebenjob. Warum sollte das hier also etwas anderes sein? Abgesehen von der offensichtlichen Antwort: weil es mir Spaß machte. Verdammt viel mehr Spaß, als die meisten Leute bei ihren Mindestlohnjobs hatten, wenn sie Einkäufe eintüteten oder das dreckige Geschirr von undankbaren Gästen einsammelten.

Zu dem Zeitpunkt, als Ainsley in mein Zimmer trottete, um sich noch ein wenig in Prokrastination zu üben, was ihre eigenen Erledigungen betraf, war ich mit dem ersten Stapel fertig – dem einzigen Stapel heute – und widmete mich meinen YouTube-Recherchen. In den letzten paar Jahren hatte ich mir eine Abo-Liste mit den, meiner Ansicht nach, kompetentesten Beziehungsexperten auf YouTube zusammengestellt und mir vorgenommen, nie eines ihrer Videos zu verpassen. Heute war Dienstag, was einen neuen Upload von Coach Pris Plumber bedeutete. Das heutige Video befasste sich mit der jüngsten Forschung zur Biologie des verliebten Gehirns, die mich entschieden mehr interessierte als meine eigentlichen Bio-Hausaufgaben. Coach Pris gehörte zu meinen absoluten Favoriten, einzig geschlagen von Oriella.

Gott, wie soll ich das Mysterium Oriella nur beschreiben? Sie war eine Influencerin in den Zwanzigern, hatte die YouTube-Nische »Beziehungsratgeber« praktisch im Alleingang gegründet und veröffentlichte jeden zweiten Tag ein Video. Könntet ihr euch vorstellen, euch so viele Themen einfallen zu lassen, über die ihr berichten könnt? Unglaublich. Und ganz gleich, wie viele Videos sie veröffentlichte und wie oft man glaubte, sie hätte nun wirklich über alles gesprochen, worüber man nur sprechen konnte – bum –, haute sie dich mit einem Video darüber vom Hocker, wie du mit kunstvollen Food Pics auf Instagram dafür sorgst, dass dich deine Ex vermisst. Die Frau war ein gottverdammtes Genie.

Außerdem hatte sie mein inzwischen liebstes Beziehungsratgeber-Instrument entwickelt, das den nicht besonders kreativen Namen »Persönlichkeitsanalyse« trug.

Oriella war der Ansicht, man könnte jedes Problem mit einem Etikett versehen. Um das richtige Etikett zu finden, musste man nur eine Diagnose durchführen. Unter ihrer Video-Anleitung hatte ich gelernt, alles Relevante über die fragliche Person aufzulisten – in meinem Fall handelte es sich dabei stets um einen komplizierten Spind-Briefeschreiber –, denn wenn man erst mal alles niedergeschrieben hatte, wurden die Dinge fast immer sofort ein bisschen klarer.

Ainsley stellte sich hinter mich und schaute sich das Video ungefähr drei Sekunden lang schweigend an, bevor sie zu meinem Bett ging und sich schwer auf der Bettkante niederließ. Mein Stichwort, sofort stehen und liegen zu lassen, was ich gerade tat, und ihr meine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich drehte mich zu ihr um und sah, dass sie in Seestern-Pose auf meiner Matratze lag, ihr glattes braunes Haar wie ein Fächer auf der Decke ausgebreitet. »Irgendwas Gutes heute?«, fragte sie, als sie meinen Blick einfing.

»Ziemlich durchschnittlich«, sagte ich und pausierte Pris. »Was ist das nur mit Typen, die ihre Freundin als Psycho bezeichnen? Das ist eine richtige Epidemie.«

»Wenn es etwas gibt, das Männer lieben, dann ist es eine praktische Ausrede: Sie spricht einen davon frei, für ein bestimmtes Verhalten, das einem nicht gefällt, zumindest teilweise mitverantwortlich zu sein«, erwiderte Ainsley. »Du kämpfst für das Gute.«

»Jemand muss es ja tun, oder?«

»Und außerdem bringt’s Geld. Brooke parkt übrigens gerade draußen.«

Ich klappte meinen Laptopdeckel zu und sprang auf, um mich in Parfüm einzuhüllen. Ainsley schüttelte den Kopf. »Ich hab noch nie gesehen, dass du dich so schnell bewegst.«

»Halt die Klappe.«

Wir betraten das Wohnzimmer, als Mom gerade die Haustür öffnete und Brooke begrüßte, was bedeutete, dass mir noch mindestens fünfzehn Sekunden Zeit blieben, während sie sich umarmten und Mom sich nach jedem einzelnen von Brookes Familienmitgliedern erkundigte.

Ich hastete zur Couch, warf diverse Dekokissen auf den Boden und drapierte mich selbst in einer Pose, von der ich hoffte, dass sie aussah, als hätte ich seit Ewigkeiten auf dem Sofa gechillt und gar nicht bemerkt, dass Brooke eingetroffen war. »Wie sehen meine Haare aus?«, zischte ich Ainsley zu.

Sie betrachtete mich mit kritischer Miene und ließ dann die Hände hervorschnellen, um meine schulterlangen Wellen aufzuschütteln. Mit einem anerkennenden Nicken ließ sie sich neben mich fallen und holte ihr Handy heraus, gerade noch rechtzeitig, um das Bild entspannter Gelassenheit zu vervollständigen, bevor Brooke im Zimmer auftauchte.

Mir schnürte sich die Brust zusammen, und ich schluckte hastig mein Herz wieder hinunter, das sich irgendwo zwischen meinen Mandeln verklemmt hatte.

Brooke schwebte förmlich ins Wohnzimmer, ihre in Strumpfhosen steckenden Füße vollkommen lautlos auf dem Teppich. Zu meiner heimlichen Freude hatte sie sich noch nicht umgezogen und trug noch immer ihre Schuluniform.

Unsere Uniform bestand aus einem marineblauen Blazer mit dem Schullogo auf der Brust und einem weißen Hemd, die wir beide in einem Spezialgeschäft kaufen mussten. Darüber hinaus gab es zwar einen Dresscode, aber wir durften ihn ein wenig freier interpretieren. Von der Taille abwärts mussten wir Beige oder Khaki tragen und konnten zwischen Hose oder Rock wählen, die wir allerdings kaufen konnten, wo immer wir wollten. Für Jungs bestand außerdem Krawattenpflicht, wobei Farbe und Stil ihnen überlassen blieben – mit der Ausnahme von expliziten und unangemessenen Mustern. Diese Regel war neu hinzugekommen, als ich in der Zehnten gewesen war und Finn irgendwo eine Krawatte aufgetrieben hatte, die von Cannabisblättern übersät war.

So war man bei einem Kompromiss gelandet, der die Schülerschaft davon abhielt, zu rebellieren: Die Uniform war streng genug, um den Großteil der Eltern und Lehrenden zufriedenzustellen, bot aber genügend Ausdrucksspielraum, damit wir nicht das Gefühl hatten, in einem verstaubten britischen Internat gefangen zu sein, in dem Individualität illegal war.

Es hört sich jetzt vielleicht so an, als wollte ich mich über die Uniform beschweren, deshalb nur fürs Protokoll: Das will ich nicht. Wie könnte ich mich auch darüber beschweren, wenn Brooke darin so aussah? Mit ihren schlanken Beinen, die ihr schwingender Rock und ihre schwarze Strumpfhose perfekt in Szene setzten, dem goldenen Medaillon, das um ihren zugeknöpften Blusenkragen baumelte, und ihrem glatten dunklen Haar, das sich über die Schultern ihres Blazers ergoss, glich Brooke einer gottverdammten Erscheinung. Ich war mir deshalb ziemlich sicher, dass beim Anblick der St.-Deodetus-Uniform bis zum Tag meines Todes Schmetterlinge in meinem Bauch flattern würden. Und das nur, weil diese Uniform an Brooke Amanda Nguyen so aussah.

»Hey«, sagte Brooke und fiel in der Mitte des Raumes auf die Knie. Sie schüttelte die Leinentasche, die sie dabeihatte, kopfüber auf dem Teppich aus, und Dutzende von Tütchen und Tuben purzelten heraus.

Einer der großen Vorteile, Brooke als Freundin zu haben – ihr wisst schon, abgesehen davon, sie an meiner Seite zu wissen, wo sie jeden Tag aufs Neue Licht und Freude in mein Leben brachte –, war ihr Job im Kaufhaus.

Es war mit Abstand der coolste Job, den ein Teenager überhaupt haben konnte, wenn man meinen Job mal außen vorließ, der definitiv noch cooler war. Sie durfte ihre Schicht damit verbringen, mit Leuten über Make-up zu quatschen und ihnen Produkte zu empfehlen, und bekam obendrein noch neue Sachen vor allen anderen zu sehen.

Und das Beste von allem war, dass sie Personalrabatt bekam und so viele Proben mit nach Hause nehmen durfte, wie sie wollte. Was wiederum bedeutete, dass ich einen sehr ordentlichen Anteil dieses kostenlosen Make-ups bekam.

Ainsley stieß ein glückliches Kreischen aus, warf sich von der Couch auf den Boden und schnappte sich eins der Tütchen, bevor ich überhaupt die Chance hatte, die Auswahl zu überfliegen. »Oh, ja, ja, ja, das wollte ich schon die ganze Zeit ausprobieren«, quietschte sie.

»Okay, hört sich ganz so an, als würdest du Anspruch darauf erheben«, sagte ich und tat pikiert. »Hi, Brooke.«

Brooke fing meinen Blick ein und grinste. »Hey, du. Ich hab Geschenke mitgebracht.«

Irgendwie schaffte ich es – glücklicherweise – mir einen total peinlichen Einzeiler zu verkneifen von wegen eigentlich sei ihre Anwesenheit in meinem Haus das wahre Geschenk. Stattdessen hielt ich den Blickkontakt – den sie leider abbrach, bevor zwischen uns irgendein »Moment« entstehen konnte – mit ihr nur für eine absolut angemessene Zeit aufrecht und sorgte dafür, dass mein Tonfall lässig-beiläufig klang, aber nicht so beiläufig, dass er desinteressiert gewirkt hätte. »Wie läuft’s mit dem Aufsatz?«

Brooke rümpfte die Nase. »Das Gerüst hab ich fertig. Ich brauche nur noch deine Notizen.«

»Du hast noch bis nächste Woche, das ist mehr als genug Zeit.«

»Ich weiß, ich weiß, aber ich brauche immer ewig. Ich kann nicht so schnell tippen wie du.«

»Und warum bist du dann hier?«, neckte ich sie.

»Weil du viel spaßiger bist, als an meinem Aufsatz zu arbeiten.«

Ich schüttelte mit gespielter Enttäuschung den Kopf, aber der Ausdruck der schieren Freude auf meinem Gesicht verriet mich vermutlich. Eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, sie hätte mir einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen. Sicher, es konnte sich auch nur um platonische Zuneigung gehandelt haben, aber es hätte auch ein Hinweis sein können. Eine Einladung. Ich würde lieber mit dir zusammen sein. Ich hab immer so viel Spaß mit dir. Ich würde jede gute Note dafür opfern, eine Stunde zusätzlich mit dir zu bekommen.

Oder vielleicht deutete ich auch nur viel zu viel hinein und hörte, was ich hören wollte. Warum war es so viel schwieriger, meine eigenen Beziehungsfragen zu beantworten als die anderer Leute?

Während Brooke und Ainsley sich vor Begeisterung über die Probe, die Ainsley sich unter den Nagel gerissen hatte – ein chemisches Peeling, soweit ich es verstanden hatte –, beinahe überschlugen, krabbelte auch ich zu Brookes Beute hinüber und entdeckte einen flüssigen Mini-Lippenstift im perfektesten Pfirsichrosa, das ich jemals gesehen hatte. »Oh, Darc, der würde wunderschön an dir aussehen«, sagte Brooke, und damit war die Sache klar: Ich brauchte diesen Lippenstift mehr, als ich jemals irgendetwas in meinem ganzen Leben gebraucht hatte.

Doch während ich etwas davon auf mein Handgelenk pinselte, nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie Ainsley mich mit ihrem Hundeblick bedachte. Ich hob den Kopf.

»Was?«

»Das ist der Lippenstift, den ich mir dieses Wochenende kaufen wollte.«

Ich drückte ihn ganz fest an meine Brust. »Du hast das Peeling!«

»Hier liegen Hundert Sachen rum, da darf ich wohl mehr als nur ein Teil haben.«

»Du bist ja noch nicht mal blond! Dir steht Pfirsich doch überhaupt nicht!«

Ainsley wirkte beleidigt. »Ähm, entschuldige mal, aber nur zu deiner Information: Pfirsich steht mir sogar fantastisch. Außerdem sind deine Lippen auch ohne irgendwas perfekt. Meine hingegen brauchen jede Hilfe, die sie kriegen können.«

»Du kannst ihn dir ausleihen, wann immer du willst.«

»Nein, du kriegst ständig Herpesbläschen. Ich behalte ihn, und du kannst ihn dir ausleihen, wenn du deinen eigenen Applikator verwendest, wie klingt das?«

»Oder ich kann einfach immer meinen eigenen Applikator verwenden und du kannst ihn dir ausleihen.«

»Ich vertraue dir nicht. Du wärst bestimmt wieder zu faul und würdest deinen Herpes über den ganzen Stift verteilen, nur um ihn für dich zu beanspruchen.«

Ich warf die Hände in die Luft und blickte Brooke auf der Suche nach Unterstützung an. »Wow. Wow. Hörst du diese Verleumdungen?«

Brooke lächelte mich amüsiert an, und sämtliche Wut wich aus meinem Körper. Sie setzte sich aufrechter hin und streckte ihre offenen Handflächen aus. »Okay, entspannt euch wieder. Die Sache muss ja nicht gleich mit Blutvergießen enden. Wie wär’s mit Schnick, Schnack, Schnuck?«

Ainsley schaute mich an.

Ich schaute sie an.

Sie zuckte mit den Schultern.

Verdammt, sie wusste ganz genau, dass ich einknicken würde. Sie wusste es und hatte original null Skrupel, diese Tatsache schamlos auszunutzen. Nur für sie, nur für sie. Selbst wenn ich gewann – in dem Wissen, dass Ainsley den Lippenstift so sehr wollte –, würde sich dieser Sieg nun sauer anfühlen. »Gemeinsames Sorgerecht?«, bot ich an. Auf Wiedersehen, wunderschöner Lippenstift.

»Oh, Darc«, protestierte Brooke. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass ich ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen würde, wenn er in Ainsleys Zimmer verschwand. Aber ich musste Bedingungen stellen, sonst hätte ich dagestanden, als könnte jeder mit mir machen, was er wollte. Was in Ainsleys Fall auch so war, aber das war nicht der Punkt.

Ainsley hob eine Hand, um Brooke zum Schweigen zu bringen. »Ich habe das alleinige Sorgerecht. Du bekommst ein begrenztes Besuchsrecht.«

»Und wenn du übers Wochenende weg bist? Oder falls ich ihn an einem Dad-Wochenende brauche?«

Ainsley begleitete mich zwar manchmal, wenn ich übers Wochenende bei Dad war, aber ich war die Einzige, die laut Familiengericht dazu verpflichtet war, ihn regelmäßig zu sehen. Nachdem Ainsley achtzehn geworden war, hatte sie selbst entscheiden können, wann sie Dad sehen wollte, und als Collegestudentin war es ihr für gewöhnlich viel zu viel Aufwand, zwei Mal im Monat ihre Tasche zu packen und sie ans andere Ende der Stadt zu schleppen.

Sie zögerte. »Das entscheiden wir von Fall zu Fall. Wenn eine von uns an dem Wochenende was Besonderes vorhat, dann bekommt ihn diejenige.«

Wir drehten uns gemeinsam zu Brooke um. Sie bildete ein Dreieck mit ihren Fingern und blickte stirnrunzelnd zwischen uns hin und her. Ich war froh, dass sie ihre Rolle als Schiedsrichterin so ernst nahm. Nachdem sie ein paar Sekunden lang überlegt hatte, verkündete sie: »Ich schätze, dem kann ich zustimmen – unter der Bedingung, dass Darcy sich jetzt sofort zwei weitere Sachen aussuchen darf und sie automatisch ihr gehören. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte ich.

»Und bloß keine falsche Bescheidenheit, Darc«, warnte mich Brooke.

Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Keine Sorge.«

»Oh, aber nichts von Eve Lom«, rief Ainsley und hob eine Hand.

Brooke schoss ihr einen Blick zu und Ainsley schob die Unterlippe nach vorne. »Na schön, einverstanden. Keine Bedingungen.«

Ich war wirklich versucht, mir die Reinigungsmilch von Eve Lom zu schnappen, allein aus Prinzip. Stattdessen entschied ich mich jedoch für eine getönte Feuchtigkeitscreme, die sowieso besser zu meinem Teint passte als zu Ainsleys, und für eine Parfümprobe. Brookes Seitenblick ignorierte ich geflissentlich.

Was soll ich sagen? Wann immer Brooke in meiner Nähe war, wollte ich nur noch Liebe versprühen.

Bloß gut, dass sie so oft in meiner Nähe war.

Und ich wollte verdammt sein, wenn ich zuließ, dass Alexander Brougham mir das kaputtmachte.

DREI

Selbstanalyse:

Darcy Phillips

Wusste schon mit zwölf, dass ich bisexuell bin, weil ich damals so auf eine der weiblichen Hauptfiguren in einer Kinderserie stand, dass ich jedes Mal Schmetterlinge im Bauch hatte, wenn sie auf dem Bildschirm auftauchte und ich beim Einschlafen immer an sie denken musste.

Trotz obiger Ausführungen habe ich noch nie ein Mädchen geküsst. Muss das ändern.

Habe einen Jungen geküsst, einmal, auf einem Kaufhausparkplatz. Er hat dabei ohne Vorwarnung die ganze Zeit in meinem Mund rumgezüngelt, als würde er mit einem Presslufthammer ein Loch aufreißen.

Trotz obiger Ausführungen verknalle ich mich auch definitiv immer noch in Jungs.

Bin so gut wie sicher in Brooke Nguyen verliebt.

Glaube, dass Liebe ganz einfach sein kann … für andere Leute.

***

Der Queer and Questioning Club – oder Q&Q Club, wie ihn jeder nannte, der keine Zeit für sieben Silben hatte – traf sich jeden Donnerstag in der Mittagspause im Klassenzimmer F-47. Heute waren Brooke und ich als Erste da und begannen, die Stühle im Halbkreis aufzustellen, wie bei jedem Treffen.

Mr Elliot platzte eine Minute, nachdem wir fertig waren, in den Raum, sah genauso erschöpft und zerzaust aus wie immer und hatte ein halb aufgegessenes Roggenbrotsandwich in der Hand. »Vielen Dank, die Damen«, sagte er und kramte mit seiner freien Hand in seiner Messenger Bag herum. »Ich wurde von einem durchgeknallten Fan aufgehalten. Ich hab ihm gesagt, dass ich keine Zeit für Autogramme habe, aber er hat mir einen Vortrag darüber gehalten, dass ich sein ›Lehrer‹ sei und ich ›seinen Erlaubnisschein‹ unterschreiben muss, damit er ›Zugang zum Musikzimmer‹ bekommt. Die Pflichten des Ruhms, hab ich recht?«

Mr Elliot war einer der jüngsten Lehrer an unserer Schule. Alles an ihm schrie förmlich »nahbar«, von seinen leuchtenden Augen über die tiefen Grübchen in seinen Wangen bis hin zu seinen weichen Zügen. Er hatte dunkelbraune Haut, drehte die Fußspitzen beim Gehen einwärts und durfte dank seines rundlichen, jugendlich wirkenden Gesichts vermutlich ungefähr genauso oft seinen Ausweis zeigen wie die Zwölftklässler. Davon abgesehen – ohne jetzt allzu dramatisch werden zu wollen – hätte ich für ihn getötet.

Einer nach dem anderen tröpfelte auch der Rest des Clubs zur Tür herein. Finn, der inzwischen seit einem Jahr offen schwul war, steuerte direkt auf Brooke und mich zu. Heute trug er eine Krawatte in einem schockierenden Gelbton, der sich, wie sich erst bei näherem Hinsehen erschloss, aus endlosen Reihen von Quietscheentchen zusammensetzte. Allem Anschein nach testete er immer noch die Grenzen, was unter die Definition »angemessen« fiel und was nicht. Dank seines makellosen Äußeren – von seinem ordentlich gestylten schwarzen Haar über die teure rechteckige Brille bis hin zu den polierten schwarzen Schuhen – fiel seine Krawattenwahl nur umso mehr auf. Ich hätte liebend gerne gesehen, was passiert wäre, wenn es den Jungs erlaubt gewesen wäre, gemusterte Socken zu tragen – auch wenn mir gleichzeitig richtig davor graute. Anarchie, dein Name wäre Finn Park.

Raina, die einzige andere im Club, die offen bi war, kam als Nächste durch die Tür, ließ den Blick mit enttäuschter Miene über uns bereits Sitzende schweifen und setzte sich dann ans andere Ende des Stuhlhalbkreises. Raina war Schülersprecherin und bei der Wahl im letzten Halbjahr gegen Brooke angetreten. Unsere Schule erlaubte es sowohl Elft- als auch Zwölftklässlern, sich für den Posten zu bewerben. Es war ein spannendes Rennen gewesen und die beiden Kandidatinnen hatten sich nichts geschenkt. Für einen aufregenden Moment lang hatte ich auch tatsächlich geglaubt, Brooke hätte eine echte Chance, Raina zu schlagen.

Lily – irgendwo auf dem Ace-Spektrum, aber noch unentschlossen, wo genau – kam zusammen mit Jaz, lesbisch wie Brooke, und Jason, schwul, herein. Alexei, pan und nichtbinär, bildete das Schlusslicht und schloss die Tür hinter sich, woraufhin wir mit unserem Treffen begannen.

Wir wechselten uns wochenweise damit ab, die Treffen zu leiten, und diese Woche war Brooke an der Reihe. Sie setzte sich ein bisschen gerader auf, die Beine an den Knöcheln überkreuzt. Als ich sie in der Neunten kennengelernt hatte, hatte sie es so sehr gehasst, öffentlich zu reden, dass ich manchmal, bevor sie ein Referat hielt, mit ihr das Klassenzimmer verlassen und mit ihr zusammen im Flur Atemübungen machen musste. Doch nachdem sie ein Jahr lang intensiv mit der Schulpsychologin an sich gearbeitet hatte, verfügte sie inzwischen über so viel Selbstbewusstsein, dass sie sich manchmal sogar freiwillig meldete, wenn eine Rednerin gebraucht wurde. Wie beispielsweise heute – oder als sie als Schülersprecherin kandidiert hatte. Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass Vorträge zu halten noch immer nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zählte, aber sie war viel härter zu sich als zu irgendjemand sonst, und je mehr sie etwas nicht tun wollte, desto mehr zwang sie sich selbst, es trotzdem zu tun.

»Fangen wir mit«, sie überflog die Notizen, die sie in ihren doch ein wenig zitternden Händen hielt, »einem kurzen Wochenrückblick an. Im Uhrzeigersinn, von mir aus gesehen. Ich hatte eine ganz gute Woche, mit meiner Psyche ist alles in Ordnung, und zu Hause läuft auch alles bestens. Finn?«

Einer nach dem anderen ergriffen alle im Raum das Wort, Mr Elliot eingeschlossen. Während dieser Treffen versuchte er, keine allzu autoritäre Rolle einzunehmen. Er sagte immer, solange die Klassenzimmertür noch geschlossen war, sollten wir ihn eher als queeren Mentor denn als Lehrer betrachten und dass wir uns hier in einem sicheren Raum befanden, in dem wir auch über unangemessenes Verhalten oder Kommentare von anderen Lehrenden sprechen konnten, ohne dass wir uns in seiner Anwesenheit unbehaglich fühlen mussten.

In dieser Woche waren wir mit der Anfangsrunde schnell durch. Bei manchen Treffen schafften wir es gar nicht über sie hinaus, weil jemandem irgendetwas besonders zu schaffen machte und alle aus der Gruppe versuchten, dabei zu helfen, das Problem zu lösen, Unterstützung anboten oder einfach nur zuhörten. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Anfangsrunde damit endete, dass der komplette Club in Tränen aufgelöst war.