Theorien Sozialer Bewegungen - Heiko Beyer - E-Book

Theorien Sozialer Bewegungen E-Book

Heiko Beyer

0,0

Beschreibung

Soziale Bewegungen haben eine lange Tradition als Agenten des sozialen Wandels. In den vergangenen Jahren haben sie wieder eine besondere öffentliche Sichtbarkeit erlangt, etwa durch den Arabischen Frühling, Occupy Wall Street oder Pegida. Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich schon seit ihren Anfangstagen mit der Frage, unter welchen Umständen Soziale Bewegungen entstehen und erfolgreich sind. Dieser Band stellt einen Überblick der Theorien über Soziale Bewegungen zur Verfügung und bietet damit einen konzeptuellen Werkzeugkasten, mit dem sich aktuelle Phänomene erfassen, beschreiben und erklären lassen. Seine theorievergleichende Perspektive ermöglicht, nicht nur Soziale Bewegungen selbst, sondern auch ihre sozialwissenschaftliche Konzeptualisierung im Wandel der Zeit zu beobachten und zu verstehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 313

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heiko Beyer, Annette Schnabel

Theorien Sozialer Bewegungen

Eine Einführung

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Campus Studium

Soziale Bewegungen haben eine lange Tradition als Agenten des sozialen Wandels. In den vergangenen Jahren haben sie wieder eine besondere öffentliche Sichtbarkeit erlangt, etwa durch den Arabischen Frühling, Occupy Wall Street oder Pegida. Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich schon seit ihren Anfangstagen mit der Frage, unter welchen Umständen Soziale Bewegungen entstehen und erfolgreich sind. Dieser Band stellt einen Überblick der Theorien über Soziale Bewegungen zur Verfügung und bietet damit einen konzeptuellen Werkzeugkasten, mit dem sich aktuelle Phänomene erfassen, beschreiben und erklären lassen.

Vita

Heiko Beyer ist Akademischer Oberrat und Annette Schnabel Professorin für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Inhalt

1.Einleitung

1.1Zur Brisanz Sozialer Bewegungen

1.2Was sind Soziale Bewegungen?

1.3Aufbau des Buchs

2.Die Geburt der Bewegungsforschung aus dem Geist des Marxismus

2.1Karl Marx’ Theorie(n) sozialen Wandels

2.1.1Das Frühwerk

2.1.1Das Spätwerk

2.2Marxismus

2.2.1Lenin und der Sowjetmarxismus

2.2.2Georg Lukács und die Kritische Theorie

2.2.3Antonio Gramsci und der Postmarxismus

2.3Anknüpfungspunkte für die Bewegungsforschung

3.Die Rebellion der Unzufriedenen

3.1Massenpsychologie – Die Macht der Masse

3.2Collective Behavior – Die Masse wird zum soziologischen Phänomen

3.3Social Strain – Soziale Bewegungen zum Abbau gesellschaftlicher Spannungen

3.4Deprivation – Die Masse wird verabschiedet

4.Wie mobilisiert man rationale Akteur*innen?

4.1Zur Organisation Sozialer Bewegungen – Die Ressourcenmobilisierungstheorie

4.2Die Rationalität des Status quo – (Nicht-)Beteiligung als Rational Choice

4.2.1Das Kollektivgutproblem

4.2.2Lösungsvorschläge des Kollektivgutproblems

4.3Die Leipziger Montagsdemonstrationen als Akte rationaler Handlungswahl

5.Der Einfluss politischer Strukturen und Prozesse auf Soziale Bewegungen

5.1Zentrale Ansätze

5.1.1Political Opportunity Structures

5.1.2Political Process

5.1.3Dynamics of Contention

5.2Empirische Studien

5.2.1Die Gelegenheitsstrukturen der Antiatomkraftbewegung

5.2.2Der lange Weg der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung

5.2.3Yes we can – Konfliktdynamiken im digitalen Wahlkampf

5.3Kritik

6.Der Cultural Turn in der Bewegungsforschung

6.1Zentrale Ansätze

6.1.1Collective Identity und Neue Soziale Bewegungen

6.1.2Framing

6.2Empirische Studien

6.2.1Kollektive Identitäten auf dem Prüfstand

6.2.2Atomkraft, Frauenrechte und Globalisierung aus Sicht der Framing-Theorie

6.3Kritik

6.3.1Offene Fragen an die Collective Identity Theory

6.3.2Probleme der Framing-Theorie

7.Ausblick: Jüngere theoretische Entwicklungen in der Bewegungsforschung

7.1Soziale Bewegungen in einer neoliberalen und global vernetzten Welt

7.2Die Digitalisierung der Social Networks

7.3Judith Butler und die Theorie der Anerkennung

7.4Körper, Emotionen, Atmosphären

Abbildungen

Literatur

1.Einleitung

1.1Zur Brisanz Sozialer Bewegungen

Im Morgengrauen des 15. August 1963 machten sich Lawrence Cumberbatch, ein sechzehnjähriger Teenager aus Brooklyn, und zwölf weitere Mitglieder der hiesigen Ortgruppe des Congress of Racial Equality (CORE) auf den Weg, um gemeinsam mit 250.000 anderen Aktivist*innen in Washington DC für die Bürgerrechte der schwarzen Bevölkerung der Vereinigten Staaten zu demonstrieren.1 Im Gegensatz zu vielen anderen Teilnehmer*innen traten Cumberbatch und seine Genoss*innen die Anreise jedoch nicht mit dem Bus oder in Autos an. Stattdessen hatten sie beschlossen, die Strecke von Brooklyn nach Washington zu Fuß zurückzulegen. Startpunkt war das heute noch existierende Downstate Hospital in der Lenox Road unweit des Prospect Parks, das damals gerade erbaut wurde und vor dem Cumberbatch mit seinen Freund*innen wochenlang protestiert hatte, da die State University, die auf dem Krankenhausgelände ein Wohnheim für ihre Medizinstudent*innen errichtete, Weiße bei der Job-Auswahl bevorzugt zu haben schien. An der Kundgebung in Washington teilnehmen wollte Cumberbatchs Ortgruppe dementsprechend vor allem, weil sie sich davon eine Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt erhoffte.

Ein Foto zeigt die vier Frauen und neun Männer mit selbstbemalten »Freedom Now«-Sweatshirts, Schlafsäcken und Reisetaschen am Morgen des 15. August aufbrechen. In den folgenden zwölf Tagen schlief die Gruppe auf Supermarktparkplätzen, ernährte sich hauptsächlich von Keksen und erfuhr von vorbeifahrenden Autofahrer*innen und Passant*innen immer wieder rassistische Beschimpfungen, manchmal jedoch auch Ermunterungen. Die dreißig Meilen durch Delaware mussten an einem einzigen Tag zurückgelegt werden, da die dortige Polizei den Aktivist*innen verboten hatte, ein Camp aufzuschlagen. Einige Menschen spendeten der Gruppe Geld oder luden sie zum Essen ein.

Am Abend des 27. August erreichten die CORE-Mitglieder schließlich Washington. Sie übernachteten bei Gleichgesinnten in der Umgebung, begaben sich am nächsten Morgen zur Demonstration und wurden so Zeug*innen eines der wichtigsten Momente in der US-amerikanischen Geschichte. Da die Gruppe durch die wortwörtliche Umsetzung ihrer Aktion, »nach Washington zu marschieren«, zu diesem Zeitpunkt bereits einige Bekanntheit erlangt hatte, durfte sie mit Martin Luther King jr. das Podium vor dem Lincoln Memorial betreten. Lawrence Cumberbatch erinnert sich an diesen Moment folgendermaßen:

»›The only way I could explain the experience is that once we gathered from the different homes where we’d spent the night, we walked through the throngs of people, we were escorted up to the podium, and that’s when it struck. You could see nothing but this landscape of people, nothing but people. It was really incredible. We were giddy. I can remember it.‹« (zit. nach Cumberbatch Anderson 2013)

Der kurzfristige realpolitische Ertrag des March on Washington war weitaus weniger überwältigend, als die beschriebenen Erfahrungen, die Cumberbatch und andere Teilnehmer*innen in Bezug auf die Demonstration in Erinnerung behielten. Für die schwarzen Arbeiter*innen änderte sich zunächst wenig. Dennoch ist wohl unstrittig, dass der March on Washington einen der wichtigsten symbolischen Erfolge des civil rights movement darstellt. Vor allem dank Martin Luther Kings »I have a dream«-Rede steht das Ereignis bis heute weltweit als Sinnbild für das Aufbegehren einer unterdrückten Minderheit, die sich erfolgreich gesellschaftliche Teilhabe erkämpft hat.

Abb. 1: Martin Luther King jr. während seiner Rede am 28. August 1963

(Quelle: http://www.marines.mil/unit/mcasiwakuni/PublishingImages/2010/01/KingPhoto.jpg)

Soziale Bewegungen sind oftmals der einzige Weg für marginalisierte Bevölkerungsgruppen, gegen Diskriminierung und ungerechte Lebensbedingungen aufzubegehren. Bewegungsorganisationen sind im Vergleich zu staatlichen Akteur*innen weniger darauf angewiesen, Mehrheitsmeinungen und -interessen zu repräsentieren und fokussieren sich in der Regel gerade auf Themen, die nicht oder nur unzureichend von der Parteienlandschaft abgedeckt werden. In diesem Sinne sind sie ein bedeutender Bestandteil zivilgesellschaftlicher Mitbestimmung und eines der wichtigsten Werkzeuge demokratischer Gesellschaften, um Minderheitenforderungen in den öffentlichen Diskurs zu integrieren (Alexander 2006).

In den letzten Jahren wurde der Bewegungsforschung jedoch von der politischen Realität eine bittere Lektion erteilt; nämlich jene, dass es sich bei Minderheitenmeinungen durchaus auch um solche handeln kann, die anderen Minderheiten ihre Rechte absprechen. War der Erfolg der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung unmittelbar an den Aufstieg der Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre geknüpft gewesen, überschnitten sich häufig sogar die Rolle der Aktivist*in mit jener des Forschenden, so erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen antiegalitären Bewegungen diese Überidentifikation mit den Untersuchungsobjekten als Ursache eines konzeptuellen blinden Flecks: Die normative Aufladung von Begriffen wie Soziale Bewegung, Zivilgesellschaft und Demokratie, die in den Sozialwissenschaften häufig zu beobachten ist, hat problematische Konsequenzen für die Analyse der neuesten Sozialen Bewegungen. Nicht, weil die zugrunde liegende Norm nicht potenziell begründungsfähig wäre – warum sollte man sich nicht darauf einigen können, dass zivilgesellschaftlicher Protest oft sozial erwünschte Folgen hervorbringt? –, sondern weil damit Phänomene wie Antisemitismus, Antiamerikanismus, Antifeminismus und Rassismus, die ideologischer Grundbestandteil auch einiger (nicht nur rechtsextremer) Sozialer Bewegungen waren und sind, aus dem Blick geraten. Diese operieren ironischerweise meist genau mit dem Argument, sie nähmen die Demokratie ernst. Ihre Positionen würden von den Eliten als ›politisch inkorrekt‹ gebrandmarkt, obwohl sie dem ›Willen des Volks‹ entsprächen.

Der vorliegende Einführungsband ist uns nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Erfolgs neurechter und islamistischer Bewegungen in den letzten Jahren ein besonderes Anliegen. Konnten die Sozialwissenschaften durch die Civil-Rights-, Studenten-, Friedens-, Umwelt-, Frauen- und Gay-Rights-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre das Phänomen der Sozialen Bewegungen gar nicht mehr übersehen, so sind es heute Pegida, Brexit und alt-right, aber auch ISIS, El Kaida und Salafismus, die das Thema wieder in den unmittelbaren Fokus der Forschung rücken. Unser Buch will hierfür einen theoretischen Werkzeugkasten zusammenstellen. Sein Gegenstand sind sozialwissenschaftliche Theorien über Soziale Bewegungen, angefangen bei den klassischen Schriften des Marxismus und der Massenpsychologie, bis hin zu aktuellen Ansätzen der Bewegungsforschung. Diese Ansätze sollen dabei helfen, Soziale Bewegungen, unabhängig von ihrer politischen Selbstbeschreibung, als soziale und politische Kräfte zu analysieren, die Gesellschaften prägen, indem sie diese verändern oder aber konservieren.

1.2Was sind Soziale Bewegungen?

Soziale Bewegungen sind Arten kollektiven Verhaltens, die es zunächst von ähnlichen Phänomenen des Sozialen wie Massenpaniken, Trends, Pogromen oder Revolutionen abzugrenzen gilt. Im Vergleich zum Beispiel zu Massenpaniken liegt bei Sozialen Bewegungen statt intuitiven Reaktionen ein mit »subjektive[m] Sinn« verbundenes Verhalten vor, das »auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (Weber 1985 [1922]: 542) – wir haben es also mit sozialem Handeln im Sinne Max Webers zu tun. Im Fall Sozialer Bewegungen sind nun die einzelnen Handlungen der Akteur*innen in einer besonderen Weise aufeinander bezogen: Die Mitglieder Sozialer Bewegungen beziehen ihre Handlungen aufeinander und auf Sympathisant*innen, die potenziell Mitglieder werden können (diese Bezüge sind theoretisch nicht einfach zu erklären, wie dieser Band zeigen wird), und sie handeln mit Bezug auf diejenigen, die als politische Gegner*innen identifiziert wurden. Insbesondere aus dieser letztgenannten ›sozialen Beziehung‹ im Weber’schen Sinne ergibt sich auch die Intentionalität oder Zielorientierung Sozialer Bewegungen, nämlich ihre Interessen gegen jene der Gegner durchzusetzen.

Dies reicht jedoch für eine präzisere Bestimmung dessen, was Soziale Bewegungen nun gegenüber anderen Phänomenen kollektiven Handelns auszeichnet nicht hin: Betrachten wir für die weitere Bestimmung des Begriffs der Sozialen Bewegung daher einige für die vorliegende Literatur zum Thema maßgebliche Definitionen. Mayer N. Zald und Roberta Ash fassen den Begriff in ihrem paradigmatischen Aufsatz von 1966 Social Movement Organizations: Growth, Decay and Change zum Beispiel folgendermaßen: »A social movement is a purposive and collective attempt of a number of people to change individuals or societal institutions and structures.« (Zald/Ash 1966: 329) Hier wird neben den bereits erwähnten Kriterien der Kollektivität und Intentionalität insbesondere betont, dass es den Akteur*innen um die Veränderung bestehender Verhältnisse geht. Fraglich ist, ob dieses Kriterium notwendigerweise vorliegen muss. In der Regel dürfte das Ziel Sozialer Bewegungen zwar fraglos darin bestehen, einen gesellschaftlichen Ist-Zustand zu verändern, es kommt aber durchaus vor, dass sich Soziale Bewegungen formieren um einen Ist-Zustand zu verteidigen. Bei solchen sozialen Bewegungen handelt es sich dann um sogenannte countermovements (Rohlinger 2002). Letztlich scheint es jedoch eine Frage der Perspektive, welche Bewegungsorganisationen als ›Bewegung‹ und welche als ›Gegenbewegung‹ angesehen werden können. Denn auch Gegenbewegungen zielen oft auf eine empfundene Meinungshoheit bestimmter Eliten, selbst wenn diese sich nicht in parlamentarischen Mehrheiten ausdrückt.

Die von Sydney G. Tarrow in Power in Movement (erstmalig veröffentlicht im Jahr 1994) verwendete Definition berührt diesen Aspekt, indem sie Soziale Bewegungen als »collective challenges, based on common purposes and social solidarities, in sustained interaction with elites, opponents, and authorities« (Tarrow 2011: 9) beschreibt. Unter collective challenges werden dabei vor allem konflikthafte Kämpfe gegen eine in bestimmtem Sinne als machtvoll empfundene Gruppe verstanden. Diese können zum Beispiel in Form von konkreten Demonstrationen oder auch einer umfassenden symbolischen Gegenkultur zum Ausdruck gebracht werden. Wichtig scheint für Tarrow dabei neben dem hier in die Begriffe des common purpose und der social solidarity aufgespaltenen Moments der Kollektivität, dass der artikulierte Protest von einer gewissen Dauer ist. Darin unterscheiden sich laut Tarrow (2011: 11f.) Soziale Bewegungen von anderen Formen der contentious politics, etwa von spontanen Aufständen, Unruhen und Revolutionen. Das Konzept der contentious politics kann dabei gewissermaßen als Überkategorie begriffen werden, die an anderer Stelle als »episodic, public, collective interaction among makers of claims and their objects« (McAdam u. a. 2001: 5) definiert wird.

Abb. 2: Verortung Sozialer Bewegungen innerhalb des phänomenologischen Objektbereichs der Sozialwissenschaften

(Quelle: Eigene Darstellung)

Auch Soziale Bewegungen sind damit nur als episodenhaft zu verstehen, gleichwohl diese Episoden mitunter recht lang andauern und Soziale Bewegungen sowohl untergehen als auch wiederauferstehen können. Um Episoden handelt es sind jedoch allein schon deshalb, weil ein längeres Überdauern einer Sozialen Bewegungen zu ihrer Institutionalisierung führen dürfte. Aus Bewegungsorganisationen erwachsen so schließlich Parteien, die sich in die staatliche Politik integrieren. Der ›Weg durch die Institutionen‹, den die Umweltbewegung zurückgelegt hat und der sich am Erfolg der Partei der Grünen manifestiert (vgl. Markovits/Gorski 1997), liefert diesbezüglich ein anschauliches Beispiel.

Damit wird deutlich, dass Begriffe, die in einer festen Organisationsstruktur ein notwendiges Definitionskriterium Sozialer Bewegungen sehen, als problematisch gelten müssen, obschon dies für die Mehrzahl der Definitionen zutrifft und sogar ein gesamter Theoriestrang (nämlich der Ressourcenmobilisierungsansatz; siehe Kapitel 4) auf dieser Annahme aufbaut. Da sich jedoch Organisationen gerade durch das Auf-Dauer-Stellen der Zielverfolgung, formale Regeln der Mitgliedschaft und eine formalisierte Hierarchiestruktur auszeichnen (vgl. aus systemtheoretischer Perspektive die klassische Definition von Luhmann 2005: 12f.), scheint es prinzipiell nicht sinnvoll, nur dort von Sozialen Bewegungen zu sprechen, wo diese solchermaßen charakterisierte Organisationen aufbauen, sondern vielmehr analytisch auch den Fall diffus strukturierter Bewegungen zuzulassen.

Auf Basis dieser Blütenlese von Begriffen lassen sich an dieser Stelle nun Soziale Bewegungen allgemein folgendermaßen definieren:

Soziale Bewegungen umfassen Phänomene sozialen Handels, bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen.

Jenes Bewegungskollektiv zerfällt dann oft wiederum in Teilgruppen, sogenannte Bewegungsorganisationen (McCarthy/Zald 1977), die mitunter durchaus unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der strategischen und taktischen Ausrichtung, der konkreten Ziele und der Bewegungsidentität als solcher haben. Dennoch eint diese Organisationen im Normalfall ein gemeinsamer Feind sowie das sprichwörtliche große Ganze, also die abstrakte Idee des ersehnten Soll-Zustands.

Doch dies sind Überlegungen, die nicht die Definition von Sozialen Bewegungen tangieren, sondern bereits auf die Ursachen ihres Erfolgs oder Scheiterns verweisen. Jene schöpfen, in anderen Worten, bereits aus den Erkenntnissen der Theorien, mit denen sich das vorliegende Buch nun erst eingehender beschäftigen will.

1.3Aufbau des Buchs

Genau wie alle anderen Sozialwissenschaften zeichnet sich auch die Forschung zu Sozialen Bewegungen durch das Ineinandergreifen von Theorie und Empirie aus. Die Dynamiken des Erkenntnisgewinns in diesem Feld werden einerseits durch Entwicklungen in der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorie vorangetrieben, den hier stattfindenden Debatten und den entsprechenden turns, die den Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten neue Impulse lieferten. So lassen sich enge Verzahnungen zwischen Interaktionismus und Collective-Behavior-Ansätzen der Bewegungsforschung, zwischen Organisationssoziologie und dem Ressourcenmobilisierungsansatz oder zwischen Theorien rationaler Handlungswahl und Critical-Mass-Ansätzen beobachten. Andererseits wird die Erforschung immer auch durch neue Beobachtungen und Veränderungen im Phänomenbereich der aktuell aktiven Sozialen Bewegungen initiiert. Hier lässt sich die Fokusverschiebung von individueller Unzufriedenheit zu organisationalen Formen der Mobilisierung in den späten 1970er Jahren, aber auch die Digitalisierung sozialer Protestbewegungen nennen. Gleichzeitig gehen von der Bewegungsforschung Impulse aus, die in der allgemeinen Sozialwissenschaft und ihren Teildisziplinen mehr oder minder enthusiastisch aufgenommen werden (zum Beispiel im Neo-Institutionalismus).

Wir beschränken uns mit dem vorliegenden Band auf den ersten der drei Mechanismen der Wissensgenerierung: Uns interessiert die Geschichte der verschiedenen Theorien Sozialer Bewegungen, ihr Schicksal und ihre innere Dynamik. Auch wenn die Sozialgestalt der Sozialen Bewegung historisch bereits viel früher auftritt,2 beginnen wir mit einem Blick in das 19. Jahrhundert, als von den Sozialwissenschaften im heutigen Sinne noch nicht die Rede sein konnte. Dementsprechend waren die Reflexionen über Soziale Bewegungen vordergründig vor allem politische. Konkret erwuchs dieses Interesse aus der revolutionären Arbeiterbewegung, insbesondere aus dem Marxismus. Dass Karl Marx selbst zu den Gründungsvätern der Soziologie gehört, verdeutlicht, wie fest die Klassiker mit beiden Beinen auf dem Boden der damaligen Verhältnisse standen. Ihre Theorien entwickelten sie vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Probleme des ausgehenden 19. Jahrhunderts: der sozialen Frage, des sozialen Wandels (›Modernisierung‹) sowie den Bedingungen und Grenzen sozialer Ordnung.

Der Ursprung der Bewegungsforschung fällt dementsprechend kaum zufällig mit jenem der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, zusammen. Hatte der Namensgeber der Soziologie, Auguste Comte, gesellschaftlichen Wandel im Wesentlichen noch als erfahrungsbasierten Erkenntnisfortschritt beschrieben, so verstand Marx Geschichte als eine Abfolge von Konfliktverhältnissen, die von konkreten, handelnden Menschen inszeniert werden. Aus dem Kampf zwischen den etablierten Kräften der Bourgeoisie und der aufstrebenden Arbeiterklasse, so Marx’ Hoffnung, sollte eine bessere, weil menschlichere Gesellschaft hervorgehen. Die Arbeiterbewegung galt ihm als eigentlicher (kollektiver) Akteur der Geschichte, als ›revolutionäres Subjekt‹. Das folgende, 2. Kapitel skizziert diesen und weiterführende Gedanken des Marx’schen Früh- und Spätwerks und beleuchtet zudem die wichtigsten Entwicklungen im Marxismus des 20. Jahrhunderts.

Das 3. Kapitel beginnt mit einem ähnlich klassischen Ansatz, nämlich jenem von Gustave Le Bon, der Soziale Bewegungen aus Sicht der Massenpsychologie beschrieb. Soziale Bewegungen wurden von Le Bon als Gefährdungen der bestehenden Machtverhältnisse eingeschätzt. Ihre revolutionäre Kraft würden sie allein aus irrationalen Impulsen und Emotionen ziehen. Le Bon unterstellte, dass der Mensch sich in der Masse zu einem allein von Trieben gesteuerten Wesen verwandle. Diese Annahme sollte die Agenda für die folgenden siebzig Jahre Bewegungsforschung dominieren. Im Anschluss an die Massenpsychologie werden dementsprechend die Ansätze zu collective behavior von Robert E. Park und Ernest W. Burgess, von Herbert Blumer, Ralph H. Turner und Lewis M. Killian sowie Neil J. Smelser vorgestellt, die Soziale Bewegungen ebenfalls als eigenlogische Phänomene thematisieren, die individuelle Entscheidungsleistungen zu überschreiten vermögen. Diese Ansätze sind eng verzahnt mit der zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in den USA prominentesten soziologischen Theorie, der Interaktionstheorie der Chicago-School. Das Kapitel schließt mit Ansätzen zu (relativer) Deprivation, die kritisch unmittelbar an die Collective-Behavior-Theorien anknüpfen. Sie stellen erstens (und erstmals) Soziale Bewegungen als eigenständiges Sozialphänomen heraus und machen, zweitens, die Eigenlogik individuellen Handelns gegen die Logik kollektiver Mobilisierung stark. Diese Theorien führen politischen Protest auf sozialen Wandel zurück, der wiederum zu Perzeptionen relativer Benachteiligung und infolgedessen zu Frustration, Wut und Aufbegehren führen könne.

Das 4. Kapitel zeichnet einen der wichtigsten Paradigmenwechsel in der Bewegungsforschung nach. In den hier vorgestellten Theorien werden die Akteur*innen mitsamt ihren Ressourcen, ihrer Organisationsfähigkeit, ihren Zielen und Wünschen in den Vordergrund der Analysen gestellt. Sie gelten nicht länger als quasi-automatisch handelnde Teile eines hermetischen Kollektivs; die Mobilisierung wird vielmehr von den eigeninteressierten, rationalen Erwägungen der Akteur*innen abhängig gemacht. Während der Ressourcenmobilisierungsansatz – wie der Name schon sagt – auf die Ressourcen, ihre Zusammenführung und Organisation fokussiert, formulieren Ansätze rationaler Handlungswahl zunächst die Frage, ob rationale Akteur*innen überhaupt ›gute Gründe‹ für ein Bewegungsengagement haben. Mancur Olsons (1985 [1965]) Überlegungen zum Kollektivgutproblem hatten nahegelegt, dass diese eher einen Anreiz haben könnten, abzuwarten, bis andere sich engagieren, bevor sie selbst Zeit, Geld und kognitive Kapazitäten in den politischen Kampf investieren. Im Rahmen der Rational-Choice-Theorien (RC-Theorien) konnten jedoch Lösungsansätze für dieses Problem entwickelt werden, die zeigen, dass es durchaus ›gute Gründe‹ jenseits der Anreize zum ›Trittbrettfahren‹ geben könnte, einer Bewegung beizutreten und aktiv zu werden. Diese Ansätze legen allerdings auch nahe, dass gleiche Ziele eben nur unter sehr bestimmten Bedingungen auch zu gemeinsamen Zielen werden können und dass hierfür weder gleiche Lebenslagen noch ähnlich gelagerte Unzufriedenheiten hinreichend sind. Zum Abschluss des Kapitels wird anhand des Beispiels der Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989 exemplifiziert, wie sich Theorien rationaler Handlungswahl zur Erklärung von Entscheidungen zur Teilnahme an politischen Protestaktionen nutzen lassen.

Etwa zur selben Zeit, zu der verschiedene Autor*innen am Ressourcenmobilisierungsansatz arbeiteten, entstand die sogenannte Theorie der political opportunity structures, mit der sich das 5. Kapitel beschäftigt. Wie der Name schon verrät, interessiert sich dieser Ansatz vor allem für das politisch-institutionelle Umfeld, in dem Soziale Bewegungen und vor allem Proteste entstehen. Von Peter K. Eisinger, einem der Begründer des politischen Forschungsprogramms, wird etwa gezeigt, dass sowohl sehr offene als auch sehr geschlossene Strukturen Proteste gleichermaßen eher verhindern. Spätere Arbeiten von Doug McAdam, Charles Tilly und Sydney Tarrow weisen darauf hin, dass jene Strukturen jedoch immer erst von den Akteur*innen als ›geschlossen‹ oder ›offen‹ interpretiert werden müssen, damit sie überhaupt Handlungswirksamkeit erlangen. Und diese Interpretationen der Wirklichkeit können bisweilen sehr unterschiedlich ausfallen. Zudem versuchten sich die drei genannten Autoren Anfang der 2000er Jahre an einem sowohl theorieintegrativen als auch ›dynamischen‹ Modell, das auf ein breiteres Spektrum von Phänomenen, die in den Bereich contentious politics fallen, angewendet werden kann. Ihr Dynamics-of-Contention-Ansatz kann als umfassendste Weiterentwicklung des politischen Forschungsprogramms gelten und hat in der jüngsten Zeit zahlreiche empirische Untersuchungen inspiriert, von denen einige ebenfalls in Kapitel 5 vorgestellt werden.

Eine Vielzahl an Studien haben auch die im 6. Kapitel zu behandelnden kultursoziologischen Ansätze des framing und der collective identity hervorgebracht. Sie gehören bis heute zu den populärsten Konzepten, wenn es darum geht, die Motive und Eigensinnigkeiten der sich in Sozialen Bewegungen engagierenden Menschen nachzuvollziehen. Auf den strukturellen Bias des Political-Opportunity-Structures-Ansatzes sowie den rationalistischen Duktus der Ressourcenmobilisierungstheorie reagierend, brachten es in den 1980er Jahren zunehmend Autor*innen zu Berühmtheit, die sich für die individuellen Sinn-Konstruktionen und die Interpretationsmuster von Akteur*innen interessierten. Die (eigene) Erfahrung in den ›Neuen Sozialen Bewegungen‹ hatte dazu geführt, dass man sich nun vermehrt den symbolischen Ausdrucksweisen der Protestierenden und ihrem Spiel mit Bedeutungen widmete. Kulturell expressive Bewegungen wie die Umwelt- oder Friedensbewegung zwangen den Forschenden gewissermaßen eine kulturelle Perspektive auf. Nicht überraschend wuchs sich dieser konzeptuelle Neuanfang zu einem paradigmatischen cultural turn aus, wie er sich auch in den Mainstream-Sozialwissenschaften in diesem Zeitraum finden lässt, sodass die Begriffe des framing und der collective identity über mehrere Jahrzehnte hinweg aus kaum einer Publikation zu Sozialen Bewegungen wegzudenken waren. Inzwischen hat sich einige Kritik an dieser Dominanz formiert, die am Ende des Kapitels kurz zu Gehör kommen soll.

In Anbetracht der politischen und theoretischen Entwicklungen dieser Tage schließen wir den Band mit einem kursorischen Überblick über regimetransformierende Bewegungen in Osteuropa, den Arabischen Frühling, die antikapitalistische Occupybewegung und die rechtspopulistische Pegida-Bewegung in Deutschland. Als besonderes theoretisch interessierendes Phänomen wird die Digitalisierung dieser Bewegungen in den Blick genommen, da sich hierin unseres Erachtens einer der wichtigsten Unterschiede im Vergleich zu älteren Sozialen Bewegungen erkennen lässt. Das Buch endet mit zwei theoretischen Herausforderungen: einem Vorschlag, wie sich die Anerkennungstheorie von Judith Butler analytisch für die Bewegungsforschung nutzbar machen lassen könnte, sowie einigen theoriegeleiteten Überlegungen zur systematischen Inklusion von Körper, Emotionen und Raum in die Bewegungsforschung.

Trotz einer langen, eigenständigen und multiperspektivischen Theorietradition bleibt das empirische Feld der Sozialen Bewegungen wie es scheint nicht zuletzt angesichts der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen komplex genug, um die Theoriebildung immer wieder vor neue Herausforderungen zu stellen. Gleichzeitig sind die theoretischen Impulse, die aus den allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theoriedebatten in jene der Bewegungsforschung ›herüberschwappen‹, inspirierend genug, immer wieder neue Aspekte des Phänomenbereichs Soziale Bewegungen aus neuen konzeptuellen Blickwinkeln zu betrachten.

2.Die Geburt der Bewegungsforschung aus dem Geist des Marxismus

Während die Geschichte Sozialer Bewegungen, in einem engeren Sinn des Konzepts, bis vor das 18. Jahrhundert zurückreicht (Tilly 2004), beginnt ihre theoretische Aufarbeitung erst mit dem Aufkommen der europäischen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Die Arbeiterbewegung ist zwar weder die erste noch die einzige Soziale Bewegung jener Zeit. Initiativen gegen die Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien und den USA oder für politische und soziale Rechte von Frauen formierten sich teilweise früher als die Arbeiterbewegung und ihre Organisationsformen fungierten mitunter sogar als Vorbild für letztere (ebd.). Keine dieser Bewegungen erreichte jedoch jenen gesamtgesellschaftlichen Einfluss, der in Karl Marx’ und Friedrich Engels’ berühmtem Satz aus dem Kommunistischen Manifest zum Ausdruck kommt: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.« (Marx/Engels 1972 [1848]: 461)

Bei den ersten sozialwissenschaftlichen Erklärungen für die Entstehung und Durchsetzung Sozialer Bewegungen handelt es sich dementsprechend nicht um allgemeine wissenschaftliche Theorien, sondern um spezifische, politisch motivierte Untersuchungen zu den Erfolgsaussichten der Arbeiterbewegung. Sozialistische, anarchistische und kommunistische Theorien stritten darum, welche Strategien die Arbeiterklasse wählen und welches genaue Ziel sie anstreben sollte. Dieses ideengeschichtliche Konkurrenzverhältnis stellt den historischen Kontext der Schriften von Karl Marx dar, der rückblickend zusammen mit Gustave Le Bon (siehe Kapitel 3) als wichtigster Ideengeber der späteren Bewegungsforschung gelten kann.3 Im Folgenden werden daher die für das Thema relevantesten Schriften Marx’ kurz erläutert sowie drei der wichtigsten ›Multiplikatoren‹ des Marxismus vorgestellt: Wladimir Iljitsch Lenin, der den sowjetmarxistischen Diskurs über seinen Tod hinaus prägte, Georg Lukács, dessen Marx-Interpretation in Geschichte und Klassenbewußtsein einen der wesentlichen Anknüpfungspunkte für den westlichen Marxismus der Frankfurter Schule bildet, sowie das Konzept der kulturellen Hegemonie von Antonio Gramsci, das für die in den 1980er Jahren aufkommende und bis heute andauernde postmarxistische Diskussion bezüglich der Rolle der Zivilgesellschaft in Demokratien eine große Bedeutung besitzt. Beschäftigen wir uns aber zunächst mit den originären Gedanken von Marx.

2.1Karl Marx’ Theorie(n) sozialen Wandels

Die Marx’schen Überlegungen zu Klasse, Arbeiterbewegung und Revolution sind in ein umfassendes Modell sozialen Wandels eingebettet und müssen auch in diesem Zusammenhang nachvollzogen werden. Zunächst ist dabei zwischen Früh- und Spätwerk zu unterscheiden. Im Mittelpunkt des Frühwerks steht vor allem die Entwicklung einer ›materialistischen Geschichtsauffassung‹, die unter kritischer Bezugnahme auf Ludwig Feuerbach die idealistische Dialektik Georg Wilhelm Friedrich Hegels und der Linkshegelianer vom »Kopf […] auf die Füße« zu stellen gedachte, wie Friedrich Engels (1975 [1886]: 293) sich ausdrückte. Im Spätwerk löst sich Marx zunehmend von geschichtsphilosophisch-teleologischen Grundannahmen und formuliert stattdessen eine ›Kritik der politischen Ökonomie‹, in der die Grundparadoxien der kapitalistischen Moderne und daraus resultierende Krisentendenzen entfaltet werden.

2.1.1Das Frühwerk

Das Frühwerk Marx’ kann als eine Suchbewegung hin zur berühmten Erkenntnis des historischen Materialismus, dass es »nicht das Bewußtsein der Menschen [ist], das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (Marx 1971 [1859]: 9), gelesen werden. Ludwig Feuerbach hatte in Das Wesen des Christentums zunächst gezeigt, dass es sich bei der Figur Christus’ um eine Projektion menschlicher Eigenschaften auf das Reich der Religion handelt. Nachdem Marx 1843 mit dieser Waffe der Feuerbach’schen Religionskritik noch die Hegel’sche Rechtsphilosophie angegriffen hatte (Marx 1976 [1843]), distanzierte er sich zwei Jahre später mit seinen elf Thesen über Feuerbach (1969 [1845]) von dem einstigen Ideengeber. In der sechsten Feuerbachthese heißt es dazu prägnant: »Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (ebd.: 534)

Auf der Suche nach der genaueren Bestimmung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse stieß der junge Marx auf die Nationalökonomie. Denn in den 1840er Jahren erkannte er, dass »die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei« (Marx 1971 [1859]: 8). Eine seiner ersten ökonomischen Schriften bilden die 1844 verfassten und Fragment gebliebenen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte (auch ›Pariser Manuskripte‹; Marx 1968 [1932]). Dort skizzierte Marx seine Überlegungen zu einer Theorie der Geschichte als Geschichte der Arbeit. Der Begriff der Arbeit hat dabei eine allgemeine, anthropologische und ontologische Bedeutung: Er bezeichnet den notwendigen Akt der instrumentellen Naturaneignung durch den Menschen. In diesem Sinne sei Arbeit eine ›Gattungstätigkeit‹: »Das produktive Leben ist […] das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.« (ebd.: 516)

Arbeit existiere in der auf Privateigentum basierenden modernen Ökonomie jedoch nur in ›entfremdeter‹ Form. Marx unterschied dabei zwischen vier miteinander verknüpften Aspekten: Der Arbeiter sei entfremdet von seinem Produkt, vom Akt der Produktion, von der Gattung und von seinen Mitmenschen (ebd.: 516ff.). Obwohl die Arbeit also prinzipiell den Menschen erst zu dem mache, was er ist – zum ›Gattungswesen‹ – und die verwandelnde Aneignung der Natur der Verwirklichung des Menschen dienen sollte, führe die Arbeit in ihrer historischen Form als kapitalistische Lohnarbeit gerade zum Gegenteil: zur zunehmenden Verelendung des Arbeiters.

Diese ›Verkehrung‹ kann Marx zufolge erst mit der Abschaffung des Privateigentums durch eine kommunistische Bewegung aufgehoben werden. Im Kommunismus werde die Arbeit aus ihrem entfremdeten (»bornierten«; ebd.: 542) Zustand befreit und damit schließlich »Gattungstätigkeit« (ebd.: 557). Die historische Entwicklung wird von Marx als Weg hin zu dieser Befreiung des Menschen aufgefasst. Ihre Voraussetzung ist die vollkommene Entfaltung des Privateigentums, die vollkommene Verkehrung. »Erst auf dem letzten Kulminationspunkt der Entwicklung des Privateigentums tritt dieses sein Geheimnis wieder hervor, nämlich einerseits, daß es das Produkt der entäußerten Arbeit, und zweitens, daß es das Mittel ist, durch welches sich die Arbeit entäußert, die Realisation dieser Entäußerung.« (ebd.: 520) Der Kapitalismus produziere demnach aus sich heraus die Bedingungen seiner eigenen Aufhebung.

In den zwei Jahren nach der Niederschrift der Pariser Manuskripte machte Marx eine fundamentale Wandlung durch, die ihre Gründe unter anderem in dem geschilderten Bruch mit der Feuerbach’schen Philosophie hatte. Dokument dieser Wandlung ist die zusammen mit Engels verfasste Schrift Die Deutsche Ideologie. Hier werden Begriffe wie Gattung und Entfremdung als »spekulativ-idealistisch« (Marx/Engels 1969 [1932]: 37) oder »philosophisch« (ebd.: 82) verspottet und durch eine historisch-materialistische Geschichtsauffassung ersetzt: »Diese Geschichtsauffassung beruht […] darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln […].« (ebd.: 37f.) Ausgangspunkt der Analyse ist also ebenfalls die Arbeit (bzw. der Produktionsprozess), aber nicht wie in den Pariser Manuskripten als anthropologische Konstante, sondern als historisch spezifische Tätigkeit. Unter diesen Vorzeichen entwarfen Marx und Engels die Geschichte der Arbeitsteilung, angefangen bei der ursprünglichen Trennung von Stadt und Land am Beginn der Zivilisation bis hin zur Industrialisierung und der Durchsetzung des Weltmarkts (ebd.: 60).

»Die große Industrie […] erzeugte eine Masse von Produktivkräften, für die das Privat[eigentum] ebensosehr eine Fessel wurde wie die Zunft für die Manufaktur und der kleine, ländliche Betrieb für das sich ausbildende Handwerk. Diese Produktivkräfte erhalten unter dem Privateigentum eine nur einseitige Entwicklung, werden für die Mehrzahl zu Destruktivkräften, und eine Menge solcher Kräfte können im Privateigentum gar nicht zur Anwendung kommen. Sie erzeugte im Allgemeinen überall dieselben Verhältnisse zwischen den Klassen der Gesellschaft und vernichtete dadurch die Besonderheit der einzelnen Nationalitäten. Und endlich, während die Bourgeoisie jeder Nation noch aparte nationale Interessen behält, schuf die große Industrie eine Klasse, die bei allen Nationen dasselbe Interesse hat und bei der die Nationalität schon vernichtet ist, eine Klasse, die wirklich die ganze alte Welt los ist und zugleich ihr gegenübersteht. Sie macht dem Arbeiter nicht bloß das Verhältnis zum Kapitalisten, sondern die Arbeit selbst unerträglich.« (ebd.)

Selbst in Ländern, in denen die Industrialisierung noch nicht so weit fortgeschritten sei, entstünden Arbeitervereinigungen, da es sich einerseits um eine internationale Bewegung handle und andererseits oft in solchen Ländern die Arbeiter unter noch schlechteren Bedingungen leben müssten als in Ländern wie England, wo die ›große Industrie‹ sich längst durchgesetzt habe.

In dem Text Das Elend der Philosophie von 1847 heißt es dazu:

»Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf […] findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.« (Marx 1972 [1847]: 181)

Es ist diese Formulierung, die zur berühmten Unterscheidung von ›Klasse an sich‹ und ›Klasse für sich‹, also von analytischer Klassenlage und praktischem Klassenbewusstsein bzw. -handeln, geführt hat, obgleich Marx an dieser Stelle nicht explizit von einer ›Klasse an sich‹ spricht.4

Tatsächlich kann entgegen dem sozialwissenschaftlichen Common Sense nicht von einer ausgearbeiteten, separaten Marx’schen ›Klassentheorie‹ gesprochen werden. In noch schärferem Maße gilt dies für den Begriff des Kommunismus. Beide Aspekte wurden von Marx lediglich im Zusammenhang mit den konkreten Überlegungen zu den Grundlagen und Dynamiken sozialen Wandels (das heißt von Geschichte) behandelt. Dennoch finden sich, wie gezeigt, bereits im Frühwerk größere Fragmente die ideellen und materiellen Voraussetzungen für das Entstehen der Arbeiterbewegung betreffend.

2.1.1Das Spätwerk

Das Spätwerk, welches zwar ebenfalls teilweise nur als Fragment vorliegt, von Marx aber von vornherein systematischer konzipiert wurde, beschäftigt sich kaum noch mit der Arbeiterbewegung als solcher. Entgegen der traditionsmarxistischen Interpretation, die basierend auf einer Ineinssetzung von Früh- und Spätwerk Marx zu jenem Klassenkampftheoretiker gemacht hat, als der er nach wie vor größtenteils wahrgenommen wird, tritt der Kommunismus als »wirkliche Bewegung« (Marx/Engels 1969 [1932]: 35) im Laufe der Jahre mehr und mehr in den Hintergrund der Analysen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Marx sich nicht mehr für das Schicksal der Arbeiterklasse interessiert hätte – im Gegenteil. Um jedoch die Folgen der Industrialisierung für deren Lebensbedingungen aufzeigen zu können, bedurfte es zunächst einer genaueren Analyse der in der sechsten Feuerbachthese Schlagwortartig erwähnten »gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx 1969 [1845]: 534).

Im über zwanzig Jahre nach der Niederschrift der Feuerbachthesen im Jahr 1867 erstmals erschienenen ersten Band von Das Kapital nannte Marx als Ziel des Spätwerks die Bestimmung von »Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion« (Marx 1962 [1867]: 12). Der Begriff des Naturgesetzes besitzt hier eine ironische Doppelbedeutung, die Adorno mit dem folgenden Satz auf den Punkt gebracht hat: »Die Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft ist Ideologie, soweit sie als unverbrüchliche Naturgegebenheit hypostasiert wird. Real aber ist die Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der bewußtlosen Gesellschaft […].« (1997 [1966]: 349) Obwohl die ökonomischen Verhältnisse von Menschen hervorgebracht werden, erscheinen sie den Akteur*innen als unhintergehbare Naturgesetze. Gegen die lohnt es sich allerdings nicht zu protestieren. Wo sah der späte Marx also angesichts der ›Totalität der Verhältnisse‹ Potenzial für Soziale Bewegungen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwas tiefer in Das Kapital eintauchen und die von Marx dort erläuterte Dialektik von Statik und Dynamik explizieren.

Die Marx’sche Darstellung beginnt zunächst auf der Erscheinungsebene der Zirkulationssphäre (im Unterschied zur Produktionssphäre). Hier werden – unter Einhaltung des Gesetzes vom Äquivalententausch – Waren gekauft und verkauft. Das gilt auch für die ›Ware Arbeitskraft‹. Wie der Wert jeder anderen Ware ist auch jener der Arbeitskraft für Marx durch die zu ihrer Produktion »gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit« (Marx 1962 [1867]: 53) – eine Art Durchschnittsarbeitszeit – bestimmt (ebd.: 184f.). Das bedeutet, ihr Wert entspricht der Wertsumme jener Waren, die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig sind; sodass der Arbeitende also am nächsten Tag wieder gesund und ausgeruht am Arbeitsplatz erscheinen kann.

Beginnend mit dem dritten Abschnitt des ersten Kapital-Bands – Die Produktion des absoluten Mehrwerts (ebd.: 192ff.) – beschäftigte sich Marx nun mit dem Produktionsprozess und verließ das »Eden der angebornen Menschenrechte« (ebd.: 189) der Zirkulationssphäre, wo Arbeitskraftkäufer und Arbeitskraftbesitzer als zwei freie, gleichberechtigte Bürger erscheinen, die einen einfachen Tausch eingehen. Wenn jedoch nach der Beendigung des Tauschs der Arbeitskraftkäufer mehr Wert besitzt als der Arbeitskraftbesitzer, stellt sich die Frage, woraus sich dieses Inkrement speist. Marx zufolge ist die Antwort im Produktionsprozess zu suchen, denn der »Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozeß sind […] zwei verschiedne Größen« (ebd.: 208; Hervorhebung H.B.). Der Wert, den ein Arbeiter in der Zeit seiner Anstellung produziert, sei unabhängig vom Wert seiner Arbeitskraft. Für gewöhnlich übersteige ersterer den jenes ›Warenkorbs‹, den der Arbeiter zu seiner Reproduktion benötigt – andernfalls würde sich das Geschäft für den Arbeitskraftkäufer auch nicht lohnen: Die Differenz dieser beiden Werte – die Zeit, die der Arbeitskraftbesitzer arbeitet, um die Mittel für seine Reproduktion zu verdienen, und die Zeit, die er insgesamt arbeitet, – bilde die Quelle des ›Mehrwerts‹.

Solange nun der Mehrwert vollkommen vom Arbeitskraftkäufer konsumiert wird, handle es sich um eine ›einfache Reproduktion‹ des Verwertungsprozesses (ebd.: 591ff.). Erst wenn der Mehrwert akkumuliert wird, könne von ›Kapital‹ die Rede sein. Um dieses zu vermehren müsse entweder der ›absolute Mehrwert‹ gesteigert werden, etwa durch Arbeitszeitverlängerung oder den Ankauf von mehr Arbeitskraft. Oder es müsse der ›relative Mehrwert‹ vergrößert werden, indem jener Teil des Arbeitstags, an dem der Arbeiter für seinen eigenen ›Warenkorb‹ arbeitet, verkürzt wird. Denn wenn der Wert der Waren, die zur Reproduktion der Arbeitskraft nötig sind, sinke, dann verringere sich auch der Wert der Arbeitskraft. Es verkürze sich somit die Zeit, die ein Arbeiter für seine Reproduktion arbeitet und der relative Anteil der Mehrarbeit für den Kapitalisten verlängere sich. Eine solche Wertsenkung des ›Warenkorbs‹ finde für gewöhnlich dann statt, wenn sich die allgemeine gesellschaftliche Produktivkraft erhöht, zum Beispiel durch technischen Fortschritt.

Aus diesen Überlegungen leitete Marx schließlich das ›allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation‹ ab, das »den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt« (ebd.: 640), beschreiben soll. Obwohl zunächst durchaus die Nachfrage nach Arbeitskräften und damit auch die Löhne steigen können, werde die Arbeitskraft aufgrund von Produktivkraftsteigerungen zunehmend überflüssig. Durch die effizientere Organisation des Produktionsprozesses sowie technische Verbesserungen könnten in der gleichen Zeit mehr Waren hergestellt werden. Dies bedeute gleichzeitig, dass weniger Arbeiter*innen nötig sind, was zusätzlich den Wert bzw. den Preis der Produkte senkt. Neue Maschinen würden dementsprechend dann angeschafft, wenn die Einsparungen an zu zahlenden Löhnen größer sind als die Ausgaben für die neue Technologie. Dies führe zum Entstehen einer »industriellen Reservearmee« (ebd.: 657) von Arbeiter*innen. Arbeitslosigkeit stellt damit, so Marx, keine Ausnahme, sondern die Regel in Waren produzierenden Gesellschaften dar.

Im dritten Band von Das Kapital, der erst posthum im Jahr 1894, ediert von Friedrich Engels, erschien und sich schließlich mit dem Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (so der Untertitel) beschäftigte, beschrieb Marx die Konsequenz dieser Zusammenhänge für die Profitraten der einzelnen Kapitale. Da der Profit sich bei Marx aus dem Verhältnis des Mehrwerts zum eingesetzten (›konstanten‹ und ›variablen‹) Kapital herleitet und der Mehrwert, wie gezeigt, aus der eingesetzten menschlichen Arbeitskraft, muss der abnehmende Einsatz von Arbeitskraft im Produktionsprozess langfristig auch zu einem Rückgang der Profitrate führen. Marx bezeichnet dieses Theorem als Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate (Marx 1983 [1894]: 221ff.).

Anders als es der Begriff des Gesetzes nahezulegen scheint, können aus diesen Überlegungen des Spätwerks keine deterministischen Folgen abgeleitet werden, weder für das Schicksal der Arbeiterklasse noch des Kapitalismus selbst. Aufgrund der immanenten Wachstumslogik des Kapitals entspringt hieraus nach Marx jedoch zumindest das Potenzial für soziale Konflikte und Unzufriedenheit. Dass dies nicht zwangsläufig in eine emanzipatorische Bewegung münden muss, sondern die Basis von Totalitarismus und Populismus bilden kann, hat das 20. Jahrhundert unter Beweis gestellt. Ein Umstand, aufgrund dessen die an Marx anknüpfende Kritische Theorie der Frankfurter Schule Sozialen Bewegungen eher skeptisch gegenüberstand und der den während des italienischen Faschismus inhaftierten Antonio Gramsci in Form der Frage beschäftigte, warum die kommunistische Revolution ausgeblieben sei. Bevor diese beiden späteren Varianten der Marx-Interpretation beleuchtet werden, wollen wir uns aber mit jener Form des Marxismus beschäftigen, die selbst in den Totalitarismus führen sollte: Lenins Parteikommunismus.

2.2Marxismus

2.2.1Lenin und der Sowjetmarxismus

Bestand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests