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Ein Arzt und ein Pädagoge berichten gemeinsam von langjährigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Anhand zahlreicher Fallbeispiele wird deutlich, wie Kinder durch therapeutische Erziehung Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit von Beginn an erleben und wie sie von der Entwicklungsunterstützung persönlich profitieren können. Das Buch enthält viele Anregungen für ein kindgemäßes pädagogisches Handeln. Der Text wendet sich an Eltern, elementarpädagogische Fachkräfte, pädagogisch-therapeutische Mitarbeiter in Krippe, Kita und Grundschule, an Ärzte und Studierende der Medizin und Pädagogik, insbesondere der Sozial-, Heil- und Sonderpädagogik, der Heilpädagogik/Heilerziehung an Fachschulen, Fachakademien und Hochschulen.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2025
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© 2019 Burckhardthaus bei Oberstebrink
c/o Körner Medien UG, München
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Übernahme auf Ton-/Bildträger vorbehalten. Ausgenommen sind fotomechanische Auszüge für den eigenen wissenschaftlichen Bedarf.
Herrn Matthias Spalinger, Stiftung Humanus-Haus in Breitenwil (Schweiz), danken Autoren und Verlag für die aussagekräftigen Fotos, die unser Anliegen lebensnah deutlich werden lassen. Und für die Abdruckgenehmigung der Korczak-Bilder danken wir Herrn Siegfried Steiger, Vorsitzender der Deutschen Korczak-Gesellschaft e. V.
Umschlaggestaltung: Tobias Schudok/Anja Lusch Umschlagillustration: VRD/fotolia.com
Fotos: S. 9 Halfpoint/fotolia.com, S. 33 Archivist/fotolia.com, S. 35 denys_kuvaiev/fotolia.com, S. 38, 104 Rawpixel.com/fotolia.com, S. 48, 58 dtatiana/fotolia.com, S. 74 natalialeb/fotolia.com, S. 76 tilialucida/fotolia.com, S. 81 Olesia Bilkei/fotolia.com, S. 85 cherryandbees/fotolia.com, S. 90 Blanscape S. 93 Koepenicker/fotolia.com, S. 94 epiximages/fotolia.com, S. 100 Photographee.eu/fotolia.com, S. 160 U. J. Alexander/fotolia.com,
weitere Abbildungen: Abdruckgenehmigungen liegen dem Autor vor.
Layout: ism Satz- und Reprostudio, München, Satz: Anja Lusch
www.burckhardthaus-laetare.de
ISBN 978-3-96304-724-4
In Verehrung und Dankbarkeit
dem Kinderarzt, Erzieher und Schriftsteller Janusz Korczak,seiner Mitarbeiterin Stefánia Wilczynska, genannt Frau Stefa,und seinen 200 Kindern gewidmet.
Janusz Korczak (1878-1942)
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1:
Theorie und Praxis der therapeutischen Erziehung
1.1 Einführung – unser Standpunkt
1.1.1 Vorhaben
1.1.2 Therapeutische Erziehung als inklusive interdisziplinäre Praxis
1.1.3 Zur Darstellung
1.1.4 Verstehen und Erkennen durch gemeinsame Erfahrungen
1.1.5 Das Kind bis zum Lebensende in seiner Würde achten
1.2 Heilpädagogisch-ärztliches Handeln am Beispiel
1.2.1 Martin und seine Erzieherinnen
1.2.2 Aspekte der pädagogischen Grundsituation
1.2.3 Dimensionen des therapeutischen Erziehens
1.2.4 Therapeutische Erziehung und Intuition
1.2.5 Inklusion als Weg und Ziel der Arbeitsgemeinschaft Arzt und Erzieher
1.3 Orientierung an Erfahrungen von Menschen mit Behinderung
1.4 Der therapeutische Erzieher
1.5 Haltung der Achtung und Ehrfurcht
Kapitel 2:
Medizinisch orientierte Heilpädagogik
2.1 Zum interdisziplinären Arbeitsfeld
2.2 Beziehungen zwischen Heilpädagogik und Medizin
2.3 Ärzte als „Klassiker“ der Heilpädagogik
2.4 Sozialpädiatrie und Kinderpsychiatrie
2.5 Zusammenfassung im Hinblick auf Gesundheitserziehung
Kapitel 3:
Diagnostische Voraussetzungen der therapeutischen Erziehung
3.1 Entwicklung und Entwicklungsdiagnostik
3.2 Beurteilen des Entwicklungsstandes
3.3 Ursachen von Entwicklungsstörungen
3.4 Ärztliche und interdisziplinäre Diagnostik
3.5 Konsequenzen der ärztlich-heilpädagogischen Diagnostik
3.6 Schlussbemerkung
Kapitel 4:
Behandeln und Beraten bei therapeutischer Erziehung
4.1 Medizinisch-ärztliche Behandlung
4.1.1 Behandlung mit Medikamenten (Arzneimittelbehandlung, pharmazeutische Therapie)
4.1.2 Chirurgische Maßnahmen
4.1.3 Physikalische und physiotherapeutische Maßnahmen
4.1.4 Ergotherapie, Logopädie und Mototherapie
4.2 Alternative Behandlungsverfahren
4.3 Beurteilung von Behandlungsmaßnahmen
4.4 Pädagogische Förderung und therapeutische Erziehung
4.5 Beratung und Begleitung
Kapitel 5:
Handeln von Eltern und Fachkräften als therapeutische Erzieher
5.1 Gesundheit ist Leitbild
5.1.1 Arbeitsgemeinschaft Arzt und Erzieher
5.1.2 Prävention
5.2 Leitende Prinzipien
5.2.1 Das salutogenetische Prinzip
5.2.2 Das logotherapeutische Prinzip
5.2.3 Das rhythmische Prinzip (Rhythmus und Bewegung)
5.3 Therapeutische Erziehung nach dem „Situationsorientierten Ansatz“
5.3.1 Zur Aktualität des „Situationsorientierten Ansatzes“ (S. o. A.)
5.3.2 Der „Situationsorientierte Ansatz“ beachtet die Klassiker der Elementarpädagogik
5.3.3 Ansprüche an die Persönlichkeit und Fachkompetenz des therapeutischen Erziehers
5.3.4 Ganzheitliche oder heilende (Spiel)Erziehung
5.3.5 Jedes Kind auf seinem Entwicklungsweg leiten und unterstützen
Literaturhinweise
Autoren
Janusz Korczak, Frau Stefa und ihre 200 Kinder
Die Kohlezeichnung von Itzchak Belfer zeigt Janusz Korczak, seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyska und ihre 200 Kinder auf dem Weg in das Vernichtungslager Treblinka am 5. August 1942. Das aussagekräftige Bild (100 cm x 70 cm) hat Ferdinand Klein 1993 erworben. Er schenkte es am 26. 03. 1999 anlässlich der feierlichen Namensgebung „Janusz-Korczak-Schule“ der Schule für Erziehungshilfe der Paulinenpflege Kirchheim (beim Hungerbrünnele 14, 73230 Kirchheim).
Itzchak Belfer (geb. 1924), Maler und Gestalter des Holocaust, bis heute noch aktiver Künstler und seit 2017 Träger des Bundesverdienstkreuzes für seine unermüdliche Versöhnungsarbeit, hat prägende Erinnerungen an Janusz Korczak. Er verbrachte die ersten sechs Jahre als Halbwaise zusammen mit fünf Geschwistern in sehr ärmlichen Verhältnissen und von 1930 bis 1939 im „Dom Sierot“ (Haus der Waisen). Der 15-jährige Junge konnte aus dem Warschauer Ghetto flüchten. Nach einer neunjährigen Odyssee durfte er endlich 1948 in Israel einreisen. Der weltweit bekannte Künstler lebt in Tel Aviv.
Vorwort
Menschen mit Behinderungen und ihren Eltern danken wir herzlich für alle Begegnungen und gewonnenen Einsichten.
Liebe Leserinnen, lieber Leser,
seit 1970 verbindet uns wissenschaftliche und praktische Zusammenarbeit im Feld der Heilpädagogik. Erfahrungen, die wir als Arzt und Pädagoge machen konnten, wollen wir für Menschen, die in pädagogischen Handlungsfeldern tätig sind, darstellen. Was der Kinderarzt und Erzieher Janusz Korczak in seiner Person vereint, versuchten wir aus dem medizinischen und pädagogischen Berufsverständnis heraus zum Wohle der Menschen mit Behinderung zu realisieren und damit das alte medizinische Paradigma in ein ganzheitliches, inklusionsorientiertes Handeln zu wandeln.
Insbesondere bei regelmäßigen Beratungen in den Einrichtungen der Erlanger Lebenshilfe waren wir bemüht, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die uns mögliche Hilfe im Rahmen therapeutischer Erziehung zu geben. Wir hatten es mit Menschen zu tun, die im Denken, im Bewegen und Wahrnehmen, im Gebrauch ihrer Sinne, bei der Kommunikation oder Motivation eine besondere Hilfe benötigen. Beim fachlichen Austausch wurden dem ärztlichen und pädagogischen Nachdenken und Handeln immer wieder neue Aufgaben gestellt. Hier konnte jeder wie selbstverständlich das Arbeitsfeld des anderen wahrnehmen und dabei erfahren, dass heilpädagogische Hilfen für Menschen mit Behinderung und ihre Eltern umso besser gelingen, je mehr sie in einem offenen Dialog stattfinden.
Auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern als den ersten und wichtigsten Erziehern ihrer Kinder legten wir großen Wert. Die Eltern hatten schon vor dem Beratungsgespräch einen Fragebogen ausgefüllt und aktuelle Informationen gegeben. Beim Gespräch, bei dem das Kind zunächst anwesend war, wurden die Angaben mit weiteren medizinischen Daten und Beobachtungen, auch durch das gemeinsame Wahrnehmen des Kindes in der pädagogischen und/oder therapeutischen Situation ergänzt. Gemeinsam mit den Eltern und pädagogisch-therapeutischen Fachkräften suchten wir nach Wegen der weiteren Hilfe für ihr Kind.
Das Buch verstehen wir als Ergebnis unserer reflektierten Arbeit, die wir als Arzt und Heilpädagoge für Menschen mit besonderen Erziehungsbedürfnissen zu realisieren versuchten. Es baut auf Erkenntnissen auf, die wir unter dem Titel „Heilpädagogik als therapeutische Erziehung“ (Klein/Neuhäuser 2006) für den wissenschaftlichen Diskurs reflektiert hatten und nun für die Erziehung in Familie und Bildungseinrichtung facettenreich darstellen sowie an Beispielen aus unserer Praxis weiter konkretisieren.
Darüber hinaus ergänzt und vertieft es das Werk von Ferdinand Klein „Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks“ (Burckhardthaus 2018a) um die notwendigen medizinischen Grundlagen. Für Eltern und Fachleute soll es eine heilpädagogisch-ärztlich fundierte Orientierungshilfe zur gesunden Erziehung sein.
Linden und Bad Aibling, im Juli 2019
Gerhard Neuhäuser und Ferdinand Klein
Kapitel 1: Theorie und Praxis der therapeutischen Erziehung
1.1Einführung – unser Standpunkt
Wir weisen mit dem Begriff therapeutische Erziehung darauf hin, dass Erziehung und Bildung die Entwicklung des Kindes als leiblich-seelisch-geistige Ganzheit wahrnimmt und in seiner unverwechselbaren Individualität achtet. Diese pädagogische Hilfe ist bei allen Kindern notwendig, besonders aber bei jenen, die einen medizinisch-heilpädagogisch diagnostizierten Unterstützungsbedarf haben.
Wie findet der therapeutische Erzieher1 die Orientierung für sein situationsorientiertes Handeln? Darauf antworten wir im einleitenden Kapitel mit Erfahrungen, die wir gemeinsam erlebt und verantwortet haben. Diese persönlichen Erfahrungen werden in den folgenden Kapiteln für heilpädagogisch-ärztliches Handeln reflektiert und am Beispiel für Eltern und Fachkräfte weiter erläutert. Besonders in der herausfordernden Erziehungssituation kann der Grundgedanke der therapeutischen Erziehung ganz elementar erfahren werden und zu fundamentalen Einsichten führen, die auf andere pädagogische Situationen übertragen werden können. Bei diesen reflektierten Erfahrungen und Einsichten geht es immer auch um Haltung und Wertorientierung.
1.1.1Vorhaben
Wir verstehen therapeutische Erziehung als reflexive heilpädagogisch-ärztliche Praxis. Unser Standpunkt wird begründet und für die Erziehung in Familie, in Krippe, Kita und Grundschule näher erläutert. (Kapitel 1)
Grundlinien aus der Geschichte der Sozialpädiatrie und Kinderpsychiatrie vermitteln die erforderliche Orientierung und geben wertvolle Hinweise für die interdisziplinäre Praxis. (Kapitel 2)
Dabei sind biologische Aspekte ebenso wichtig wie die jeweils gegebenen psychosozialen Umstände, die bei Beurteilung der Entwicklung wie für die erziehungs- und therapiebegleitende Diagnostik zu beachten sind. Ursachen und Folgen von Entwicklungsbeeinträchtigungen sind so genau als möglich zu bestimmen; erst nach einer umfassenden interdisziplinären Diagnose (Kapitel 3) können die Chancen medizinischer Behandlung und pädagogisch-therapeutischer Begleitung ausgeschöpft werden. (Kapitel 4)
Dieser ganzheitliche Blick ermöglicht in der Erziehungssituation das Erfassen, Begleiten und Leiten des Kindes in seiner unverwechselbaren Individualität: Die konkrete heilpädagogisch-ärztliche Arbeit erfordert eine Grundorientierung des therapeutischen Erziehers an leitenden Gedanken, Prinzipien und Methoden; dies wird an Praxisbeispielen und mit dem „Situationsorientierten Ansatz“ des heilkundlich, psychologisch-therapeutisch tätigen Kindheitspädagogen Armin Krenz veranschaulicht. (Kapitel 5)
1.1.2Therapeutische Erziehung als inklusive interdisziplinäre Praxis
Zusammen mit Eltern, (heil-)pädagogischen und therapeutischen Mitarbeitern konnten wir kontinuierlich Erfahrungen sammeln: Medizinisch-therapeutische und pädagogisch-psychologische Erwägungen gingen ineinander über und stärkten die individuelle fachliche Handlungskompetenz, besonders bei längerem Suchen nach einer befriedigenden Lösung. Bei dieser interdisziplinären Kooperation ging keine Kompetenz verloren.
Auch wenn unsere Professionalität verständlichen Elternwünschen nicht immer unmittelbar gerecht werden konnte, waren wir um gemeinsame Lösungen bemüht. Bei Kindern mit fortschreitenden, zum Tod führenden Erkrankungen war die ethische Verbindlichkeit ärztlich-pädagogischen Denkens und Handelns besonders gefordert.
Wir sprechen von ärztlich-erzieherischer oder erzieherisch-ärztlicher Praxis, um eine jeweils unterschiedliche Gewichtung zum Ausdruck zu bringen. Interdisziplinäre Hilfe als therapeutische Erziehung soll medizinische Erkenntnisse im Bereich der Diagnostik und Therapie in die Praxis einbeziehen und der Entwicklung des Kindes dienlich sein.
Der Begriff therapeutische Erziehung ist aus der Praxis historisch hergeleitet und begründet. Das integrale therapeutisch-erzieherische Helfen soll eine weitreichende Unterstützung zur Inklusion sein, Partizipation und Teilhabe stärken und Ausgrenzung verhindern. Damit wird der UN-Behindertenrechtskonvention entsprochen, die „für alle Bürger ein Leitbild moderner Sozialpolitik und ein verbindlicher Handlungsrahmen für die Praxis sein will.“ (Klein 2018a, S. 14 f.)
Dieser Dienst an einer gemeinsamen Aufgabe des
Arztes und Therapeuten,
(Heil-)Pädagogen und pädagogischen Mitarbeiters
öffnet den eigenen Blick und überwindet die Enge fachlichen Denkens und Handelns zum Wohle des Kindes, das in der Begegnung von Mensch-zu-Mensch nicht mehr als Objekt wahrgenommen werden kann. Der Ursprung des Wortes Therapie verweist auf das griechische Verbum „therapeuein“ (dienen, Dienst tun, pflegen, besorgen). Auch Pädagogik ist ihrem Ursprung nach Dienst am Kind, der allerdings oft im Laufe der Geschichte zu einer „Herrschaftspädagogik“ (Sünkel 1994, S. 16) verkümmerte.
Heute dominieren das medizinisch-pädagogische Handeln vielfach abstrakte Begriffe, die mit logisch sauberer Formulierung den Menschen wie ein Ding definieren. Damit wird aber der Mensch in seiner Ganzheit Körper-Seele-Geist verfehlt, denn er reicht über eine messende Logik hinaus:
Das Maß liegt im Menschen, nicht in den Dingen!
Medizin und Pädagogik haben den gleichen wertorientierten Erziehungs- und Bildungsauftrag: Sie stehen im Dienst für den Anderen. Ärztliches und erzieherisches Bemühen dienen der Entwicklung des Kindes in seiner bio-psycho-sozialen Ganzheit. So verstandenes heilpädagogisch-ärztliches Handeln soll dem einmalig gegebenen und aufgegebenen Menschen eine Entwicklung aus eigener Kraft – in Würde und Freiheit ermöglichen.
Darum geht es uns in der interdisziplinären Arbeit, die zum (Nach-)Denken und Handeln aus der jeweiligen fachspezifischen Wahrnehmung motiviert. Man orientiert sich nicht an „defektologischen“ Kategorien, sondern an Zusammenhängen und Beziehungen sowie Besonderheiten der Entwicklung.
Herausforderungen in der interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Erzieher“ haben wir an authentischen Beispielen reflektiert. Sie sollen Erkenntnisse der naturwissenschaftlich-systemisch orientierten Medizin (Kapitel 2 bis 4) sowie Erkenntnisse der human- und geisteswissenschaftlich und ökologisch orientierten Pädagogik im situationsorientierten heilpädagogisch-ärztlichen Handeln für das „aufgegebene Kind“ (nach den Heilpädagogen Moor, Hanselmann, Speck und Klein, dem Kindheitspädagogen Krenz und den Ärzten Asperger, Itard, Korczak, Montessori und Neuhäuser) zusammenführen. (Kapitel 5)
1.1.3Zur Darstellung
Im Arbeitsfeld des Arztes und Erziehers ist das Wissen enorm angewachsen. Diese Komplexität hatte Spezialisten für bestimmte medizinische und pädagogische Aufgaben zur Folge, zum Beispiel bei Kindern mit Autismus oder mit extremen Verhaltensbesonderheiten. Die verschiedenen Aspekte zu überblicken, wird schwierig. Aber die komplexen Probleme erfordern Zusammenarbeit beim einzelnen Kind, wobei Arzt und Erzieher immer wieder Lernende sind.
Wie kann die Profession des Arztes und des Erziehers im Reflexions- und Handlungsfeld so zusammenwirken und sich so ausdrücken, dass sie dem aufgegebenen Menschen die Hilfe geben kann, die er zu seiner Entwicklung braucht? Wie kann medizinisch-therapeutisches und pädagogisch-didaktisches Denken und Handeln in einem unübersichtlich gewordenen heilpädagogischen Umfeld gerade diesem Menschen dienlich sein? Solche existentiellen Fragen lassen Fortschritte bei der inklusiven Erziehung erwarten. (Möckel 2007, Ellger-Rüttgardt 2016) Gefragt ist der Mensch als Subjekt: In der dialogischen Begegnung soll er fachliche Hilfe erfahren.
Dass mancher Zusammenhang nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander darzustellen ist, erfordert Wiederholungen, die dann aber jeweils in anderem Bedeutungszusammenhang stehen. Der (Sprach-)Philosoph Arthur Schopenhauer charakterisiert dies treffend: „Der organische, nicht kettenartige Bau des Ganzen macht es nötig, bisweilen dieselbe Stelle zweimal zu berühren.“ (Schopenhauer 1859, S. 8)
Indem wir den wissenschaftlichen Erkenntnisstand erörtern, ohne den Praxisbezug zu vernachlässigen, wollen wir mit den folgenden Ausführungen Eltern, (Fach-)Ärzten, (Heil-)Pädagogen und pädagogischen Mitarbeitern, Therapeuten, Sozialpädagogen, Sozialarbeitern und weiteren Helfern/Betreuern ermöglichen, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen und dabei eigene Orientierung zu gewinnen. Reflexive Besinnung ist notwendig, da die therapeutische Erziehung immer wieder mit nicht alltäglichen, außergewöhnlichen Erfahrungen einhergeht, was eine Krisensituation darstellen kann. Geboten ist eine Weiterentwicklung der Professionalität, die mit Selbstmanagement oder Kompetenzausbildung heute als nie endende Selbsterziehungsaufgabe beschrieben wird.
Wir versuchen die eigene Position authentisch darzustellen, Kompliziertes ohne aktuellen Fachjargon einfach auszudrücken. Dabei folgen wir dem Erkenntnistheoretiker Karl Popper, der gegen die Zunftsprache der Wissenschaftler zu Felde zog.
Er sprach davon, dass der Expertenstil mit seinen „großen, dunklen, eindrucksvollen und unverständlichen Worten [..] nicht länger geduldet werden [darf], denn er zerstört den ‚gesunden Menschenverstand’“. Zusammenhänge dürfen nicht hinter komplizierten Begriffen verschwinden: Dieses „grausame Spiel“ ist „das Schlimmste – die Sünde gegen den heiligen Geist die sich dann zeigt, wenn die Intellektuellen es versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspielen.“ (Popper, zit. n. Schneider 2003, S. 35)
Der Arztpädagoge Janusz Korczak pflegte eine solche lebenserfüllte, einfache Sprache, die nach dem Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers ein „Skandalon der Pädagogik“ ist, die seine Aussagen nicht hinreichend mit ihren Begriffen fassen und in ihr System einordnen kann. (Klein 2018b, S. 30) Diese Sprache sprengt die wohl gehüteten Theoriengebäude: Für das Erziehen, das Korczak am Herzen lag, müsse erst noch „eine Sprache geschaffen werden“. (Oelkers 2017, S. 158) Um einfache, aber gehaltvolle Sprache für das ärztlich-heilpädagogische Handeln sind auch wir bemüht.
1.1.4Verstehen und Erkennen durch gemeinsame Erfahrungen
Die Erziehungswirklichkeit im heilpädagogisch-ärztlichen Handlungsfeld ist äußerst komplex, vielgestaltig und vieldeutig. Sie ist eingewoben ins Leben, in Traditionen und Gewohnheiten und entzieht sich dem Zugriff durch eindeutig definierte Begriffe. Gleichwohl wissen wir, dass vor allem Sprache uns ermöglicht, das einzelne Kind zu verstehen und mit ihm in einen Handlungsdialog zu kommen.
Darauf verweisen auch die Ursprünge der Heilpädagogik: Pioniere dieser Praxiswissenschaft haben ihr Interesse am hilfebedürftigen Menschen selbst dargestellt: Behinderte, benachteiligte und ausgegrenzte Menschen riefen in ihnen Kräfte der Liebe wach und motivierten zum Handeln (Buchka/Grimm/Klein 2002). Ihrer lebensvollen Erfahrungswissenschaft wollen wir folgen.
Betrachten wir den Menschen auf der Subjektebene, können wir erkennen, dass dies etwas zu tun hat mit der „Wiederkehr des Ewig Gleichen“. Wie der Heilpädagoge und Anthropologe Emil E. Kobi gehen wir davon aus, dass Objektivierungen nur unter einer nekrophilen Perspektive, die sich dem Unlebendigen und Zergliedern verschreibt, entwickelt werden können. „Objektivierungen befördern die Entfremdung zwischen den Menschen, Distanz und szientistische Neutralisation.“ (Kobi 2004, S. 34 f.)
Wer dem Menschen mit Behinderung auf seinem Entwicklungsweg helfen will, erfährt erst im Prozess des Handelns selbst die Bedingungen seines Tuns, Wollens, Denkens und Fühlens. Dieses Handeln hat der therapeutische Erzieher in der Begegnung mit dem Kind zu reflektieren und zu kontrollieren, um möglichst günstige Bedingungen für dessen Entwicklung zu gewinnen.
Geboten ist also eine Handlungsforschung, bei der individuelle Erfahrungserkenntnis zu ihrem Recht kommt. Diesem Ziel folgt zum Beispiel das Netzwerk Schulische Inklusion und Schwere Behinderung – SISB: Durch ein partizipatives Design (direktes Einbeziehen der Akteure aus der Praxis) sollen die (Heil)Pädagogen und Therapeuten als Experten für gemeinsame Erziehung aktiv in den Forschungsprozess eingebunden werden. Sie können durch „wertschätzendes Erkunden“ fragen: „Was funktioniert gut?“; die „gefundenen Praxisbeispiele sollen in einem Netzwerk über Deutschland hinaus verbreitet werden“. So kann der Denkfigur „der Schwerstbehinderte als Repräsentant des Nichtintegrierbaren durch die reflektierte Praxis erfolgreich begegnet werden.“ (Bernasconi et. al. 2017, S. 45)
Diese einfühlende (empathische) Praxisforschung vertrat Janusz Korczak, sie wird heute weiterentwickelt, will verwirrende Inklusionsrhetorik überwinden und fühlt sich verpflichtet, die unverwechselbare Individualität zu achten. Durch intersubjektive Begegnungen öffnen sich Erfahrungsräume (Räume des Verstehens und Erkennens), die im menschlichen Bewusstsein, im Gefühl und Herzen verankert sind. (Speck 2016)
Geboten ist also ein Verstehen und Erkennen durch gemeinsame Erfahrungen. Hier kommt die Erfahrungserkenntnis zu ihrem Recht. Wir verstehen sie als Antwort auf die Zersplitterung der Einheit: Die einzelne Wissenschaft kann den ganzheitlichen Lebenszusammenhang in seinen Bedingungen nicht mehr hinreichend wahrnehmen. Werden Erfahrungen zum Anlass für neue Fragen, können Wissenschaftler und Praktiker feststellen, was wirklich und was möglich ist. (Hentig 1976) Das Hinwenden zur Erfahrung darf nicht als Rückkehr ins Vorwissenschaftliche verstanden werden, denn Erfahrungserkenntnis soll selbst zur wissenschaftlichen Erkenntnis werden.
Erfahrungserkenntnis gründet eben auf Erfahrungen, wie der große Philosoph Immanuel Kant in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft vermerkt. Es wird nicht gleich verallgemeinert, wie dies unter dem Zwang einer Vorgabe (Hypothesenbildung) geschehen würde. Vielmehr wird die Erfahrung mit eigenen Worten beschrieben und die Begriffe bleiben auf wirkliche Situationen bezogen.
Diese Erkenntnisart kann der in der Praxis stehende Erzieher und Arzt pflegen, sie wendet sich gegen eine Verschulung des Geistes und hilft dabei, pädagogisch-therapeutische Sachverhalte zu verfeinern. Dadurch wandelt sich wie von selbst die Konsumhaltung gegenüber dem Wissen in aktives Interesse und neugieriges Fragen. Und die Erzieher und Ärzte bilden sich zur Menschlichkeit und Sachlichkeit, spüren ihre Grenzen und ihr Nichtwissen und werden in ihrer Wahrheitssuche bescheiden. Die inklusive Praxis wandelt sich so ganz unmerklich in eine Erziehungskunst. Das wollen wir am Beispiel „Martin und seine Erzieherinnen“ darstellen (siehe Seite 17).
Ärztlich-erzieherische Aufgaben erwarten uns bei Menschen jeden Lebensalters bis zur Seniorenbetreuung. Der Hilfebedarf kann hoch oder sehr hoch sein, eine ganzheitlich orientierte therapeutische Erziehung ist immer zuständig. Es geht dabei um integrierte Betrachtung aus Sicht des Arztes und des Erziehers, die beide ihre Sehweise im heilpädagogisch-therapeutischen Denken und Tun zusammenführen.
Diese interdisziplinäre Aufgabe bewegt die wissenschaftliche Heilpädagogik seit ihren Anfängen. Auf das wert- und erfahrungsbezogene Verstehen und Erkennen wies Heinrich Hanselmann hin, der ab 1931 die erste europäische Professur für Heilpädagogik an der Universität Zürich inne hatte: Die Wissenschaftlichkeit der Heilpädagogik bestehe nicht darin „hinter einem klingenden und schillernden Schwall von Fremdwörtern die Leere der Gedanken zu verbergen, sondern darin, sich verantwortlich zu wissen, für das, was man sagt und schreibt, und ferner darin, mit jedem Wort zu ringen, bis es den Autor und den Leser segnet.“ (Hanselmann 1976, S. 546)
1.1.5Das Kind bis zum Lebensende in seiner Würde achten
Sind unheilbar kranke Menschen dem pädagogisch-therapeutischen Helfen aufgegeben, ist es eine wichtige Aufgabe, den Menschen so wahrzunehmen wie er ist. Eine solche Grundhaltung bestimmt uns bei der Begleitung von Kindern und Jugendlichen, die aufgrund neurodegenerativer oder metabolischer Erkrankungen, zum Beispiel durch spinale Muskelatrophie Werdnig-Hoffmann oder infolge Sanfilippo-Syndrom (Mukopolysaccharidose III), in ihren Fähigkeiten stetig schwächer werden und nicht mehr lange zu leben haben: Wir gestalteten mit ihnen und den anderen Kindern eine möglichst situationsorientierte gemeinsame Lebens- und Lernwelt, in der jeder den anderen in seinem Können, Fühlen und Wollen achtsam begegnen konnte.
Eine heilpädagogisch-therapeutische Arbeit, die den Anderen in seiner Würde bedingungslos achtet, beschreibt der Arzt Klaus Dörner in seiner „Erfahrungsregel als gegen den jeweils leichteren Weg“ (Dörner 2003, S. 116) wenn die eigene Verhaltenserwartung nicht mehr zutrifft und ständig Energie gebraucht wird. „Die eigene Kraft und Motivation könnte hierfür niemals ausreichen. Mir würde die Puste ausgehen, und ich würde mich auf ein paar fürsorglich-besitzergreifende und dem Patienten die Ziele vorgebende Strategien beschränken. Nicht zuletzt dies ist der pragmatische Grund dafür, warum ich als Arzt vom Letzten her die Kraft vom chronisch Kranken, vom Anderen beziehen muss, warum ich eine ethische Haltung benötige, die nicht in mir, sondern im Anderen ihren Anfang findet, der mich in den Dienst nimmt und mir meine Verantwortung befiehlt.“ (ebd., S. 116)
1.2Heilpädagogisch-ärztliches Handeln am Beispiel
1.2.1Martin und seine Erzieherinnen
Diagnose und heilpädagogisch-therapeutische Hilfe
Martin2 kommt nach 18 Stunden Geburtsdauer auf die Welt und wird drei Tage später in einer Kinderklinik aufgenommen. Diagnose: Hochgradiger angeborener Hydrozephalus unbekannter Genese. Mit einem Monat ist schon eine Ventiloperation nötig. Nach vier Monaten folgt eine erneute Klinikeinweisung. Spastizität und Krampfbereitschaft bahnen sich an. Ein Spezialstuhl wird verordnet. Trotz des implantierten Spitz-Holter-Ventils wächst der Kopf unproportional weiter. Mit 16 Monaten wird die Diagnose erweitert: Tetraspastik, deutlich ausgeprägte tonische Reflexe; Entwicklungsrückstand, keine Kopfkontrolle. Bald kommt als neues Problem eine hartnäckige Verstopfung hinzu. Mit zwei Jahren treten gehäuft kleine Anfälle auf. Sie werden unter Kontrolle gebracht. Ein Jahr später hat Martin aber große Anfälle. Er äußert noch kein Wort, obwohl er mit eineinhalb Jahren erste Laute von sich gab. Weitere Diagnosen lauten: Beginnende Kontrakturen in Fuß-, Knie- und Ellenbogengelenken, erhebliche Abduktionshemmung in den Hüften; starke Obstipation; große Anfälle; nur wenig ausgebildete geistige und statische Fähigkeiten. Trotz einer rechtzeitigen, umfassenden medizinisch-therapeutischen Hilfe, pädagogischer Beratung vom zweiten Lebensjahr an sowie liebevoller häuslicher Pflege und Fürsorge hat sich Martin so entwickelt. (Klein 2018a, S. 99)
Wir ergänzen den Bericht der Früherzieherin: Martins Mutter und Geschwister sind mit allen besten Kräften um die Durchführung eines Übungsprogramms bemüht. Martin wurde wesentlich ruhiger und ist besser belastbar. Zudem ist er kaum mehr schreckhaft. Das Programm, in das Alltagsgeschehen eingebunden, besteht vor allem in akustischer und taktiler Sensibilisierung, im Vermitteln von Vibrationsempfindungen, in musikalisch begleiteten Bewegungsaktivitäten, auch in einem mundmotorischen, sprachvorbereitenden Training. Das Üben mit verschiedenen Gegenständen (Greifspielzeug, rollende und sich bewegende häusliche Dinge, Geräusche erzeugende Dosen, Musikinstrumente) erfolgt bei sprachlicher und körpernaher Zuwendung spielerisch-rhythmisch in einer dem Kind zugewandten, liebevollen Haltung.
Unser Wahrnehmen zeigt eine dialogische Begegnungssituation: Martin hört gerne Musik – und freut sich darüber. Er lauscht einer einfachen Melodie, klopft mit einem Schlegel, den ihm die Mutter oder die Erzieherin in die Hand gibt, zunehmend entspannt und gelockert auf ein Xylophon. Zunächst macht er das unter Führung der Mutter, später kann er es auch allein. Er fühlt sich in seinem Wollen und Tun, im Sein bestätigt und bestärkt. Damit lebt Martin nach seiner Sinn-Perspektive in einer Sphäre des Zwischen, die der jüdische Philosoph und Pädagoge Martin Buber als „Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit“ bezeichnet, als Ort und Träger eines tatsächlichen zwischenmenschlichen Geschehens, das „sich nach Maßgabe der menschlichen Begegnung jeweils neu“ konstituiert. (Buber 1982, S. 165) Eben in dieser Begegnung wird Gott oder das ewig Seiende sichtbar. Es geht nun nicht mehr um ein strategisches Verhalten oder Anstreben einfach messbarer Ziele. Vielmehr geht es um geduldiges, verantwortungsvolles und hingebungsvolles Helfen – eine heilpädagogische Grundhaltung von Angesicht zu Angesicht.
Diese Begegnung ist kein Machen durch ein ausgeklügeltes Behandlungssystem. Sie kann nicht einfach hergestellt oder gar erzwungen werden. Wir können nur versuchen in der pädagogischen Beziehungssituation durch eine einfühlsame und einladende Haltung die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Ich und Du begegnen können, in einer Situation, in der Kulturgut (Gegenstände, Sprache, Musik oder Rhythmik) mit enthalten ist. Gefragt ist eine Erziehungskunst die dem Kind ermöglicht, sich zum Handeln oder Nichthandeln frei zu entscheiden. Hier tritt das Wagnis als Wesensmoment der Erziehung hervor, von dem der Pädagoge und Existenzphilosoph Otto Friedrich Bollnow spricht: Martin hat „immer die Möglichkeit, aus unerforschlichen Gründen sich der Absicht des Erziehers zu entziehen oder sich gar gegen sie zu wenden und sie zu vereiteln. Darum ist die Möglichkeit des Scheiterns von Anfang an als ein bestimmender Faktor im erzieherischen Akt mit enthalten.“ (Bollnow 1958, S. 133)
Das Wissen um das Wagnis zwischen Gelingen und Misslingen ist Teil der pädagogischen Professionalität – besonders der heilpädagogisch-therapeutischen. Bei diesem Begegnen zwischen Erzieher und Kind verschwinden im Grunde die Alters- und Standesunterschiede, es gibt keine „Sonderform einer pädagogischen Begegnung, sondern nur die menschliche Begegnung schlechthin“ (Bollnow 1958, S. 130), die gleichwertige und gleichwürdige Begegnung von Ich-und-Du.
1.2.2Aspekte der pädagogischen Grundsituation
Gemeinsam das Dasein gestalten
In der pädagogischen Grundsituation begegnen sich Menschen von Angesicht zu Angesicht und gestalten gemeinsam ihr Dasein. Martin wird in der Begegnung zum aufgegebenen Du. Nach Martin Buber geschieht eine Wandlung des Ich und des Du. Er weist auf das Wesentliche des Grundwortes „Ich-Du“ hin, das nicht im Ich allein und nicht im Du allein gefunden werden kann, sondern im Zwischen als einer Urkategorie menschlicher Wirklichkeit. (Klein 2018a, S. 154) Ich-Du ereignet sich in der Begegnung von Mensch-zu-Mensch immer wieder neu und kann verlorenes Vertrauen des Kindes wiedergewinnen. Hier wird das Ich zum Du: „Ich werdend spreche ich Du.“ (Buber 1983, S. 18)
In solcher Begegnung ist der göttliche und menschliche Geist unterwegs. Das hat auch der Arzt und Heilpädagoge Karl König im Blick, wenn er vom „Aug‘ in Auge-Blicken“ zweier Persönlichkeiten spricht, das jene Heilpädagogik schafft, die „der Bedrohung des innersten Menschseins heilend entgegentritt.“ (König, zit. n. Klein 2008, S. 134 ff.)
Diese Heilpädagogik schöpft aus den Quellen des Guten. Michaele Glöckler, Ärztin und Sozialtherapeutin, fragt woher das Gute komme? Entspringt es „aus der Beziehungsfähigkeit der Menschen untereinander […] oder finde ich das Gute, indem ich mich entschließe, es zu tun?“ (Glöckler, zit. n. Klein 2018a, S. 98)
Ein therapeutischer Erzieher, der aus seinem freien Willen heraus nach der Idee des Guten handelt, kann im Miteinander humane Werte schaffen.
Dem Konkreten mit dem Herzen nachspüren
Wie die Begegnung wirklich sein soll, lässt sich nicht mehr hinreichend in Worte fassen. Das situationsorientierte Handeln kann aber im Medium der Kunst wahrgenommen und empfunden werden. Der französische Flieger Antoine de Saint-Exupéry zeigt das in seinem dichterischen Werk „Der Kleine Prinz“. Seine Kunst spricht Kinder und Erwachsene gleichermaßen an.
Das Konkrete, das wir erleben, erahnen und vermuten, hat etwas mit unserem Bewusstsein, mit Geist und Gefühl, mit Empathie und Mitleid zu tun – fern bloßer Sentimentalität. Gerade das Gefühl wird in der neurobiologischen Forschung häufig mit dem erkennenden Herz, mit der Kraft des liebenden Herzens in Verbindung gebracht: Das Bejahen des Guten müsse aus dem Herzen kommen und nicht aus dem Kopf allein. (Speck 2016, S. 234)
Antoine de Saint-Exupéry drückt das dichterisch so aus:
„Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
„Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“,
wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken.
„Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast,
sie macht deine Rose so wichtig.“
„Die Zeit, die ich für meine Rose verloren habe“ […],
sagte der kleine Prinz, um es sich zu merken.
Und er warf sich ins Gras und weinte.
„Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen“,
sagte der Fuchs. „Aber du darfst sie nicht vergessen.
Du bist zeitlebens für das verantwortlich,
was du dir vertraut gemacht hast.
Du bist für deine Rose verantwortlich […].
„Ich bin für meine Rose verantwortlich“ […].
wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken.“
(Saint-Exupéry 2001, S. 72 f.)
So soll therapeutische Erziehung sein: Das Kind mit dem Herzen ruhig und geduldig wahrnehmen, für seine autonome, spontane, rezeptive Entwicklung verantwortlich sein.
Mutter und Erzieherin folgen dem „Gesetz des Herzens“
Sie folgen dem „Gesetz des Herzens“. (Hegel, zit. n. Speck 2016, S. 222) Diesen menschheitsgeschichtlichen Befund des großen Philosophen Hegel bestätigen neurobiologische Forschungen. So weist Gerald Hüther darauf hin, dass ein Kind auf Bindungspersonen angewiesen ist und zu ihnen in enger emotionaler Beziehung stehen muss, damit „starke innere Bilder in Form der dabei gebahnten Verschaltungen entstehen“ und sich eine unverwechselbare Individualität entwickeln kann. (Hüther 2011, S. 123 f.)
1.2.3Dimensionen des therapeutischen Erziehens
Bei Martin und seinen Erzieherinnen konnten wir Entwicklung in biopsycho-sozialer Ganzheit erleben. Organische Prozesse sind auf die Umwelt gerichtet und auf diese angewiesen. Erzieherisches Wirken beeinflusst den ganzen Menschen: Martins Augen werden gerichtet, nehmen Eindrücke auf. Sein Ich erwacht, er freut sich. Menschliche Subjektivität basiert auf leiblichem Geschehen, Bildsamkeit ist somit körperlich begründet.
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