Those empty Eyes - Marita Darling - E-Book
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Those empty Eyes E-Book

Marita Darling

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Beschreibung

Die Narben der Vergangenheit lassen sich nicht einfach vergessen. Seit jener Nacht trägt Ludovica eine Last, die ihr Herz zerreißt und ihre Welt verdunkelt. Doch der Schmerz trifft nicht nur sie, auch ihre Ehe droht daran zu zerbrechen. Vertrauen wird zur Zerreißprobe, Liebe zur Frage von Stärke und Vergebung. Während sie um sich selbst kämpft, erhebt sich ein neuer Krieg gegen alte Feinde. Verrat schleicht sich in ihre Reihen, Verluste reißen tiefe Wunden. Bald schon steht alles, was Ludovica liebt, am Abgrund.

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Seitenzahl: 604

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jennifer

Ich habe durch die Übergriffe eines Mannes vieles verloren. Das Vertrauen in Menschen. Den Zugang zu mir selbst. Die Liebe zu meinem Körper.

Doch ich bin auch gewachsen und habe mich verändert. Nicht aus Angst oder aus Schwäche, sondern aus Stärke. Ich habe gelernt, dass die Schuld nicht bei mir liegt.

Sie lag nicht bei meiner Kleidung. Nicht bei meinen Blicken und auch nicht bei meinen Worten. Sie lag bei ihm. Nur bei ihm.

Jetzt bin ich ein neuer Mensch. Geformt aus alten Wunden, die nie ganz heilen werden. Was mir geholfen hat, weiterzumachen? Sie … denn sie hat mir gezeigt, dass ich nicht allein bin. Und du … Du bist auch nicht allein.

Nicolo

Du denkst, dass du dich jedes Mal beweisen musst. Möchtest dazugehören, ganz gleich, ob sie dich ernst nehmen oder nicht. Ich sage es dir aber im Vertrauen … tue es nicht.

Die Welt, in der ich versuche, dazuzugehören, ist düster und verdreht. Kein Spiel. Kein Schalter, um auszuschalten. Kein Entkommen. Nichts davon.

Nur Gewalt, Verlust und Taten, die einen für immer verändern. Ich bin zu weit gegangen. Habe eine falsche Entscheidung getroffen und möchte dich davor bewahren.

Ob du endest wie ich? Wir werden sehen. Sei dir aber sicher, dass nicht jedes Ende gut ausgeht.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 1

Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass nur körperlicher Schmerz Spuren hinterlassen kann. Diese Vorstellung zerschellte in einer einzigen Nacht.

Meine Psyche befand sich am Abgrund. Nicht, weil ich schwach war, sondern weil sich ein Mann etwas von mir genommen hatte, was ich nicht gewillt war, ihm zu geben.

Er trat mein Nein mit Füßen, als hätte meine Stimme kein Gewicht. Als würde einzig sein Wille zählen – nicht mein Widerstand, nicht mein Schmerz.

Doch ganz gleich, was für ein grausames Monster ich in ihm sah …die Schuld suchte ich ebenso bei mir selbst.

Ich war diejenige, die sich um ihren Bruder gesorgt hatte und sicher gehen wollte, dass es ihm gut ging. Diejenige, die in das verdammte Taxi gestiegen war, und auch diejenige, die das Haus betreten hatte, in dem ein Teil von mir für immer genommen wurde – und ich hatte Angst, diesen Teil nie wiederzufinden.

Meine Augen starr an die weiße Decke gerichtet, lag ich in meinem Bett. Die ganze Zeit über beschlich mich das Gefühl, die Welt würde sich nicht mehr drehen. Ich war nicht mehr hier und all meine Gedanken in der letzten Nacht gefangen, in der mir so viel Schreckliches angetan wurde. Panik stieg in mir auf, als ich in meinem Kopf alles noch einmal durchlebte. Ein Film, der sich wiederholte, ohne dass ich dazu fähig war, ihn zu stoppen.

Ich erinnerte mich an Jennifer, die mir trotz ihrer Fehlgeburt half, Fernandos leblosen Körper in eine Schubkarre zu heben. Mit vereinten Kräften schafften wir es, seine Leiche die Klippen herunterzuwerfen. Ich beobachtete die dunklen Wellen, in denen Fernando verschwand. Dabei überkam mich der Drang, zu springen. Ein Impuls, der mir wie die einzige Chance vorkam, mich von all dem Leid, all der Qual zu befreien.

Entschlossen machte ich einen Schritt auf den Abgrund zu. Dabei schloss ich meine Augen. Es war Jennifer zu verdanken, dass ich einem Gedanken, der wenige Sekunden brauchte, um zu reifen, schlussendlich nicht nachgegeben hatte. Sie nahm meine Hand und riss mich von den Klippen weg. Obwohl sie selbst so viel durchgemacht hatte, blieb sie stark für uns.

Während ich wie in einer Trance gefangen, die Schubkarre und den Boden säuberte, reinigte sie alles andere. Einige Zeit später verließen wir das Haus. Es sah aus, als wäre all das Unglück nie passiert. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits, dass diese Stunden mich mein Leben lang verfolgen würden. Diese Erinnerungen würden mich prägen – verändern. Vielleicht sogar zerstören. Doch egal, welche Ängste mich zu zerreißen drohten. Es musste weitergehen. Immer weiter bis zum Krankenhaus, in dem wir vollkommen fertig ankamen.

Ärzte aus der Notfallambulanz kümmerten sich um Jennifer, während ich der Schwester ausdrücklich verständlich machte, dass niemand wissen durfte, weswegen Jennifer behandelt wurde.

Nachdem sie mir das Versprechen gegeben hatte, suchte ich das Büro von Adam auf. Er saß an einem Schreibtisch und blätterte durch einige Akten.

»Habe ich nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte?« Seine Stimme klang gereizt. Sicher hatte er die ganze Nacht durchgearbeitet. Als er schließlich seinen Kopf anhob, erkannte er den leeren Ausdruck in meinem Gesicht. Hektisch fuhr er hoch, um auf mich zuzukommen.

»Was ist passiert?« Er wollte mich zu einem der Stühle führen. Bevor er mich berühren konnte, riss ich panisch meinen Arm zurück. Ich wollte nicht angefasst werden.

»Ich brauche die Pille danach.« Erschrocken stellte ich fest, dass ich meine eigene Stimme nicht erkannte. Sie war ein leises Flüstern und schien keine Emotionen mit sich zu tragen. Beschämt lief ich zu einem der Stühle, um mich mit Tränen in den Augen hinzusetzen.

Mein Blick fiel auf Adam. Ich konnte ihm ansehen, dass er überlegte, ob er noch weitere Fragen stellen sollte. Zu meiner Erleichterung tat er es nicht. Er nickte und verließ das Büro, um meine Gedanken und mich allein zu lassen. Der lauteste in meinem Verstand:

Wieso bist du in das verdammte Taxi gestiegen?

»Vica?« Zitas grelle Stimme entriss mich den düsteren Erinnerungen. Nachdem ich ihr keine Antwort gegeben hatte, öffnete sie die Schlafzimmertür. »Das Essen ist gleich fertig. Kommst du?«

Mit einem aufmunternden Lächeln betrachtete sie mich.

»Ich habe keinen Hunger.« Gekonnt wich ich ihren Blicken aus. Ich wollte allein sein, doch es wäre nicht Zita, wenn sie mich in Ruhe lassen würde.

»Es reicht jetzt. Ja, wir alle waren heute Morgen vollkommen fertig. Die Ärzte haben allerdings gesagt, dass Enzo in einigen Tagen wieder nach Hause kann und es ihm gut geht. Kein Grund, den ganzen Tag im Bettzu liegen.«

Sie lief an mir vorbei und drehte den Wecker herum, sodass ich die Uhrzeit lesen konnte. 20:04 Uhr.

»Steh auf und werde diese grässlichen Klamotten los, damit wir drei zusammen essen können. Schlimm genug, dass wir die Männer nicht erreichen. Teddy kümmert sich den ganzen Tag schon um die Zwillinge und ist vollkommen erschöpft.« So schnell, wie sie gekommen war, verließ sie mein Zimmer auch wieder.

Ich sah an mir herab und musterte das hellblaue Shirt und die weiße Hose. Beides hatte Adam mir heute Morgen gegeben. Denn bevor ich zu Enzo konnte, musste ich das blutbespritzte Kleid loswerden.

Nachdem uns die Schwestern mitgeteilt hatten, dass Enzo alles überstehen würde, bin ich nach Hause gefahren. Ich wollte schlafen, doch ich schaffte es nicht.

Jedes Mal, wenn ich auch nur für einen Moment meine Augen schloss, sah ich Fernando. Ich hörte sein ekelhaftes Stöhnen, als wäre es in mir eingebrannt. Spürte seine Hände, die mich immer noch fest an sich hielten. Seinen Geruch. Seine Stöße. Seinen Atem auf meiner Haut.

Durch diese Erinnerungen überschlug sich mein Magen. Hektisch erhob ich mich, um in das Badezimmer zu laufen.

»Reiß dich zusammen«, ermahnte ich mich und schaute meinem Spiegelbild entgegen. Hatte ich mich verändert?

Ich fand keinen erkennbaren Unterschied, fühlte mich innerlich trotzdem wie ein anderer Mensch. Ein Wrack, das allein auf dem Grund des Ozeans lag und bei dem niemand imstande war, es je wieder an die Oberfläche zu befördern.

»Vica? Beeil dich endlich!«, hörte ich erneut Zita nach mir rufen. Ich gab ihr keine Antwort. Stattdessen stellte ich das kalte Wasser an. Ein seltsamer Trost lag darin, es über meine Handgelenke fließen zu lassen.

»Was ist denn nur los mit dir?« Im Spiegel vor mir entdeckte ich Zita, die mich fragend musterte, während ich immer noch die Kälte auf meiner Haut genoss.

»Es war alles ein bisschen viel«, erklärte ich ihr, ohne meine Augen von ihr abzuwenden. Am liebsten hätte ich mich in ihre Umarmung fallen lassen und ihr alles erzählt. Das war jedoch keine Option. »Die Sache mit Enzo hat mich ganz schön mitgenommen.«

Sie legte ein mitfühlendes Lächeln auf und trat an meine Seite.

»Es wird alles wieder gut. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Felice hat ihn früh genug gefunden und –«

»Ich weiß«, unterbrach ich sie und stellte dabei das Wasser aus. Ich konnte den Namen meines eigenen Bruders nicht mehr hören, ohne dass ich mich wieder unter Fernando in diesem Haus befand. Ich spürte, wie mein Körper anfing zu zittern, und erste Tränen in meine Augen traten. Um Zita auszuweichen, drehte ich mich zur Duschkabine und stellte das warme Wasser an.

»Ich komme gleich nach unten.« Ich schaute sie nicht an, spürte jedoch ihre besorgten Blicke auf meinem Rücken. Trotzdem verließ sie das Badezimmer und gab mir einen Moment für mich.

Kaum war die Tür geschlossen, hielt ich meine Hände schützend vor mein Gesicht. Ich versuchte mit aller Macht, ein lautes Schluchzen zurückzuhalten. Mein Kopf dröhnte und meine Hände zitterten unkontrolliert. Ich rechnete damit, zusammenzubrechen. Der Last auf meinen Schultern nachzugeben und aufzugeben. Doch es passierte nicht.

Ich stand weiterhin aufrecht und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Selbst das Ablegen meiner Kleidung kostete Kraft. Erst nackt unter der Dusche schaltete mein Kopf ab, und ich begann, mich zu reinigen.

Rein von dem Blut, das auf meiner Haut klebte. Rein von dem Dreck, der nicht sichtbar war – lediglich spürbar. Egal wie viel Seife ich benutzte, das Gefühl der Scham verließ mich nicht. Wie ein Parfum, das sich penetrant in jede Pore eingeschlichen hatte.

Es vergingen einige Minuten, bis Zita wieder klopfte. Sie raubte mir meine letzten Nerven.

»Was ist denn?«, rief ich überfordert und schnappte mir meinen weinroten Bademantel, um diesen anzuziehen.

»Telefon für dich.« Ich öffnete die Tür, woraufhin sie mir das Haustelefon reichte und mich skeptisch betrachtete. »Geht es dir gut?«

»Ja«, log ich und beobachtete, wie sie sich auf mein Bett setzte, ehe ich den Hörer an mein Ohr hob.

»Hallo?«

»Ai, Amore! Endlich erreiche ich euch.«

»Gino«, hauchte ich erleichtert und atmete tief durch. Es tat unbeschreiblich gut, seine Stimme zu hören. »Wie geht es dir und den anderen? Wie war der Flug?«

Ein Rauschen erklang, während ich auf seine Antwort wartete.

»Ich verstehe dich ganz schlecht. Wie geht es den Kindern? Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut. Allen geht es gut«, antwortete ich und hörte wieder dieses Rauschen. Dieses Mal lauter. »Gino? Bist du noch da?«

Ich nahm das Telefon irritiert von meinem Ohr und starrte auf das Display. Die Verbindung war noch da, doch ich hörte nichts mehr. Frustriert legte ich auf und schmiss das Telefon neben Zita auf die Matratze.

»Kein Empfang?«, fragte sie. Ich nickte.

»Er hat mich nicht gehört.«

»Na ja«, meinte sie und nahm das Telefon zur Hand, um sich anschließend zu erheben. »Sie leben noch, also ist ja alles gut.« »Ja, das ist die Hauptsache«, stimmte ich ihr zu und bemerkte, dass sie ein wunderschönes, schwarzes Kleid trug. Verwirrt zog ich meine Augenbrauen hoch.

»Gehst du heute noch weg?«

»Ja, aber nur kurz. Ich treffe mich mit einigen Freundinnen. Also nur, wenn es okay ist und ihr ohne mich zurechtkommt.« Ich musste zugeben, dass mir die Gewissheit, dass sie mich heute nicht weiter nerven würde, sehr gelegen kam.

»Natürlich. Geh nur. Ich werde unten schnell etwas essen und mich dann mit den Zwillingen schlafenlegen. Also, alles entspannt.« Nervös zupfte ich an meinem Bademantel und wollte an ihr vorbei zur Tür. Ihre Hand an meiner Schulter ließ mich zusammenzucken. Überfordert suchte ich ihren Blick und wandte mich aus ihrer Berührung.

»Wenn irgendetwas wäre – du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?«

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas habe?«, erwiderte ich, wobei ihre Augen permanent und eindringlich auf meinen lagen. Aufgrund ihrer Nähe spürte ich, wie mein Herz sich vor Nervosität mehrere Male überschlug. Ich wollte nicht, dass sie mich durchschauen würde. Ich legte ein gespieltes Lächeln auf, was mir nicht schwerfiel. Durch Filippo hatte ich leider gelernt, Schmerzen zu überspielen. »Mach dir keine Sorgen.«

»Du verhältst dich komisch, seit du mit Jennifer allein warst. Hat sie dir etwas angetan?«

»Quatsch.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben nur etwas zu viel getrunken und mussten den ganzen Weg zum Krankenhaus zu Fuß gehen. Als wäre das nicht genug, habe ich auch noch deine Tasche verloren. Ich bin müde, habe Kopfschmerzen – und ich vermisse Gino. Das ist alles.«

Kaum hatte ich mich ausgesprochen, musterte sie mich erneut von oben bis unten. Bei ihrem Anblick wurde mir eines klar. Ich musste Dario und Cecilio so gut es ging aus dem Weg gehen. Sie waren diejenigen, die mein Schauspiel durchschauen könnten.

»Mach dir wegen der Tasche keine Gedanken. Die Karten sind längst gesperrt. Wenn sonst nichts ist, dann gehe ich jetzt. Teddy und Julia sind unten am Essen. Die Zwillinge schlafen. Macht es euch gemütlich.«

»Machen wir. Pass auf dich auf.« Mit einem gespielten Lächeln sah ich ihr nach, wie sie in den Flur lief. Als ich wieder allein war, atmete ich tief durch und wandte mich an meinen Kleiderschrank.

Ich zog meinen weißen Schlafanzug an und machte mich auf den Weg nach unten. Teddy saß am Tisch gegenüber von Julia, die gelangweilt in ihren Nudeln herumstocherte.

»Hey«, sprach ich und warf einen Blick in das Gitterbett. Elio und Nives schliefen tief und fest.

»Komm, setz dich und iss etwas.« Teddy nickte zum Stuhl neben sich, auf dem ich schließlich Platz nahm. Beim Anblick der Schüssel Nudeln schluckte ich schwer. Ich würde nicht essen können, ohne mich gleich darauf vor Ekel übergeben zu müssen.

»War das Gino am Telefon?« Teddy nahm mich fragend ins Visier.

»Ja.«

»Geht es ihnen gut?«

»Die Verbindung war schlecht. Ich habe nicht viel verstanden. Ich denke aber, dass alles gut ist.«

»Okay«, meinte Teddy mit einem enttäuschten Unterton. Sie widmete sich ihrem Essen, während ich darauf wartete, dass die beiden fertig werden würden, um mich wieder in meinem Bett zu verstecken.

»Wieso isst du nichts?«, wollte Julia wissen. Sofort legte ich ein beruhigendes Lächeln auf.

»Ich esse gleich. Im Moment habe ich noch keinen Hunger.« Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und spähte flüchtig zur Seite, ehe sie mich wieder ins Visier nahm.

»Wenn du nichts isst, darf ich dann den Fernseher anmachen und davor essen?«

»Natürlich«, antwortete ich, und in dem Moment, in dem sie sich erhob, ging im Flur die Haustür auf. Neugierig blickte ich über meine Schulter und erkannte Felice.

»Ciao«, begrüßte uns dieser, während ich bei seinem Anblick einen Kloß in meinem Hals spürte. Mein Magen rebellierte und ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.

»Na«, begrüßte Teddy ihn und schmunzelte. Als er neben mir zum Stehen kam, schaute ich zögerlich zu ihm auf.

»Ich wollte nachfragen, ob ihr Jennifer gesehen habt.« Mein Herz setzte einen Schlag aus.

»Was meinst du damit? Sie ist doch mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus?«, hakte Teddy irritiert nach. Nervös begann ich, mit meinen Fingern zu spielen.

»Nein«, erwiderte er und nahm auf dem Stuhl am Tischende Platz. »Sie hat sich vor einigen Stunden selbst entlassen. Keiner weiß, wo sie ist. Genau wie Fernando, der auch –«

Ruckartig stand ich auf und unterbrach damit Felice, um mit zitternden Händen zur Küche zu flüchten. Ich wollte mich nicht so zeigen. Wollte nicht, dass sie mich mit Fragen löchern würden, aber den Namen dieses Mannes zu hören, war zu viel für mich.

»Möchte noch jemand einen Kaffee?« Ich tat so, als wäre alles in Ordnung, und stellte mich so an die Theke, dass sie mein entsetztes Gesicht nicht sehen konnten.

»Ja, gern«, gab Felice mir wieder.

»Für mich nicht.« Teddy wandte sich an Felice, woraufhin zu meiner Erleichterung keine Aufmerksamkeit mehr auf mir lag. Überfordert stellte ich zwei Tassen bereit, um gleich darauf den Kaffee zuzubereiten.

»Aquamen!« Kaum drehte ich mich herum, sah ich Julia dabei zu, wie sie sich voller Freude auf Felice Schoß setzte.

»Wen haben wir denn da? Du wirst ja von Tag zu Tag größer.« Ich lächelte über die beiden.

Nicht, weil sie sich so gut verstanden, sondern weil ich wusste, er würde mir vor Julia keine weiteren Fragen über Fernandos oder Jennifers Verbleib stellen. Endlich bekam ich die Ruhe, die ich mir gewünscht hatte.

Kapitel 2

Die Nacht war anstrengend, doch ich war froh, dass Julia durchschlafen konnte, obwohl die Zwillinge einige Male wach wurden.

Wir schliefen zu viert in meinem Bett, da Julia sich Sorgen um ihren Opa machte und nicht allein sein wollte. Ich fand keine Sekunde Schlaf, da zu viele düstere Gedanken meinen Verstand einnahmen.

Erschöpft davon, stand ich auf und nahm Nives in den Arm. Sie nörgelte und war nicht gut gelaunt. Ich schob es auf Ginos Abwesenheit. Während ich sie an mich kuschelte, fiel mein Blick zur Seite. Julia wurde langsam wach.

»Guten Morgen, mein Engel«, flüsterte ich Nives zu und lief mit ihr gemeinsam in das Badezimmer, um sie in meinem Arm zu halten, während ich meine Zähne putzte.

»Ludo?«, rief Julia nach mir, woraufhin ich zurück in das Schlafzimmer lief. Sie saß gähnend auf der Kante des Bettes und rieb sich über die Augen. »Darf ich unten das neue Puzzle auspacken?«

»Ja, aber schau vorher bitte nach, ob Randall noch Wasser in seinem Napf hat.« Sie nickte und ließ mich allein. Ich begann meine Morgenroutine, die darin bestand, Windeln zu wechseln, meine Kinder zu stillen und sie umzuziehen.

Als beide glücklich und zufrieden waren, lief ich mit ihnen in das Wohnzimmer. Der Duft von frischem Gebäck lag in der Luft. Teddy bereitete offenbar schon das Frühstück vor.

»Guten Morgen.« Ein strahlendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie kam auf mich zu, um mir Elio abzunehmen. »Ach, du süße kleine Erdnuss. Ich habe dich schon vermisst«, hauchte sie ihm zu und kuschelte ihn behutsam an sich. Anschließend betrachtete sie mich neugierig. »Weißt du, wohin Zita wollte?«

»Sie wollte mit Freundinnen feiern gehen«, erklärte ich und legte Nives auf die Kuscheldecke vor dem Sofa. Teddy tat das Gleiche mit Elio, um sich daraufhin wieder der Pfanne zuzuwenden, in der Rühreier brutzelten. »Wieso fragst du? Ist sie nicht nach Hause gekommen?«

»Nein.« Teddy schüttelte ihren Kopf. »Meinst du, ihr ist etwas passiert?«

»Das glaube ich nicht. Sie ist sicher bei einer ihrer Freundinnen«, versuchte ich Teddy zu beruhigen, obwohl ich mir auch Sorgen machte. Es kehrte Stille ein, die seltsam auf mich wirkte.

Die Villa kam mir einsam vor. Erst recht ohne Enzo, der auf eine Weise fehlte, die ich nicht beschreiben konnte. Da Teddy nach kürzester Zeit fertig wurde, deckte ich mit Julia den Tisch. Wir setzten uns, und ich zwang mich, wenigstens ein Brötchen zu essen.

»Können wir heute in den Park?«, durchbrach Julia die Stille, die mich mit einem Schmollmund abwartend musterte. Mit der Gewissheit, dass sich kein Mancini-Mann in Palermo aufhielt, und der Erinnerung daran, dass die Bianchis schon nach meinem Peiniger suchen würden, musste ich ihre Bitte ausschlagen.

»Nein, Süße. Aber Nunzio wird morgen mit dir in den Park gehen, okay?« Sie schien enttäuscht und ließ ihre Gabel auf den Tisch fallen.

»Ich will aber heute!«, wurde sie lauter und stampfte mit ihrem Fuß auf den Boden, sodass ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, ich müsste strenger zu ihr sein. Yavuz warnte mich davor, sie nicht zu verwöhnen. Aber wie sollte ich sonst mit einem Kind umgehen, das mitansehen musste, wie seine eigene Mutter starb?

»Julia, du wartest bis morgen«, mischte sich Teddy ein, die wesentlich strenger als ich handelte. Ich war bereits in diesem Moment so überfordert, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

»Dann gehe ich eben allein«, motzte sie weiter und verließ das Wohnzimmer, um im Flur die Treppen nach oben zu laufen.

»Warum ist sie heute so?«, wollte ich wissen und schluckte schwer.

»Das ist normal. Die Männer sind weg, jetzt testet sie ihre Grenzen.«

»Meinst du wirklich, dass es daran liegt?«

»Ja, ich war genauso, wenn mein Vater nicht zu Hause war«, erklärte Teddy, und nachdem Julia beschlossen hatte, in ihrem Zimmer zu bleiben, verbrachten Teddy und ich den Vormittag damit, uns zu unterhalten und uns um die Zwillinge zu kümmern. Im Garten beobachteten wir Randall beim Spielen, als Julia schließlich wieder zu uns kam.

»Es tut mir leid«, meinte sie und lehnte sich an mich, um ihr Gesicht an meine Seite zu schmiegen.

»Schon okay. Jeder hat mal einen schlechten Morgen«, sprach ich versöhnlich, woraufhin Teddy mir einen tadelnden Blick zuwarf. Vermutlich wollte sie, dass ich strenger wäre oder Julia erneut erklären würde, dass ihr Verhalten nicht richtig war. Für mich reichte es jedoch, dass sie sich entschuldigte. Das bedeutete, dass sie ihren Fehler eingesehen hatte.

»Ich mache uns noch einen Kaffee.« Teddy stand bereits von ihrer Liege auf, da hob ich meine Hand, um ihr zu signalisieren, sitzenzubleiben.

»Schon gut. Ich mache das. Pass nur auf, dass Randall meine Kinder nicht umrennt.« Sie nickte, während mein Blick zu der weißen Decke auf dem Rasen fiel, auf der die Zwillinge lagen. Nachdem ich Julia noch ein Spielzeug von Randall gereicht hatte, suchte ich die Küche auf und stellte zwei Tassen bereit.

Meine Gedanken wurden lauter, da es um mich herum leiser wurde. Ich suchte Milch und hörte plötzlich wieder Fernandos Stimme in meinem Verstand. Hitze stieg mir in die Wangen, während mein Magen sich unangenehm zusammenzog. Die Luft um mich herum wurde schwerer. Verunsichert fasste ich an meinen Brustkorb, bis ich plötzlich zwei Hände um meine Hüfte bemerkte.

Von Panik ergriffen, ließ ich die Milch fallen. Ein Schrei entkam meiner trockenen Kehle.

»Bitte, bitte nicht!«, wimmerte ich und zitterte unaufhörlich. Für einen Moment befand ich mich wieder unter ihm. Gefangen in einer Erinnerung, die mich Tag für Tag mehr brach. Nachdem ich ruckartig umgedreht wurde, riss ich meine Augen auf.

»Gino …«, flüsterte ich wie benommen. Sorge durchzog sein Gesicht, während er mich betrachtete.

»Es tut mir leid, Anatra.« Er nahm meine Hände und zog mich an sich. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Mir war vollkommen unklar, ob ich tatsächlich in seinen Armen stand, oder ob mein Verstand mir einen Streich spielte. Als ich aber seine Hände spürte, die mich in Sicherheit wogen, und sein vertrauter Geruch mir in die Nase wehte, traten Tränen der Freude in meine Augen. Ich krallte mich an ihm fest, denn er war der Einzige, der mich noch halten konnte.

»Du bist wirklich hier«, schluchzte ich. Er zog mich noch enger an sich.

»Ai, natürlich. Wir haben einen Flieger früher genommen, um für Padre da zu sein.«

Ich war so froh, ihn endlich wieder bei mir zu haben, und vergaß für einen kurzen Moment alles um mich herum. Alles schien in Ordnung, solange ich in seinen Armen war, doch außerhalb davon warteten Schmerz und Chaos. Ein Räuspern erklang und ich sah zu Cecilio, der das Wohnzimmer betrat. Sofort legte er den Kopf schief und betrachtete mich intensiv, wodurch ich Angst bekam, er würde meine Lügen durchschauen.

»Wo ist Nicolo?«, erkundigte ich mich, nachdem ich mich widerwillig von Gino gelöst hatte.

»Er ist vom Flughafen direkt ins Krankenhaus gefahren«, erklärte Gino. Nunzio trat vor und schaute sich irritiert um.

»Wo ist Jennifer?« Ich runzelte meine Stirn, da mir nie in den Sinn gekommen wäre, dass er nach ihr fragen würde. Immerhin war er vor ihr geflüchtet und hat klargemacht, sie nicht zu wollen.

»Sie hat zu viel getrunken und war im Krankenhaus. Inzwischen ist sie verschwunden. Felice sucht sie bereits.«

»Was?!«, entfuhr es ihm fassungslos auf meine Aussage hin. Er wollte sich gerade abwenden, da kam Julia aus dem Garten ins Wohnzimmer gestürmt.

»Zio!«, freute sie sich und sprang kichernd auf Nunzios Arme. Natürlich bemerkte ich Darios wehmütigen Blick, doch ich wandte mich bereits wieder Gino zu. Dieser blickte hinaus in den Garten.

»Ich gehe die Kinder begrüßen.« Mit einem wunderschönen Lächeln lief er an mir vorbei nach draußen. Nunzio und Julia folgten ihm. Auch Dario verließ das Wohnzimmer und ging nach oben.

Ich blieb mit Cecilio und Adamo zurück. Ersterer inspizierte mich neugierig, sodass ich seinem Blick unbeholfen auswich und mich stattdessen Adamo zuwandte.

»Und, wie war Vegas?«, fragte ich unsicher und hob die Packung Milch vom Boden auf, die zu meiner Erleichterung vom Sturz nicht kaputtgegangen war.

»Wir haben viel Geld verloren«, sagte Adamo beiläufig und kam einen Schritt auf mich zu, um mich eindringlich zu mustern. Angespannt hielt ich den Atem an, während ich die Milch auf den Tresen vor mich stellte. Ich griff nach der Kaffeekanne.

»Wie war es im Club? Ist Teddy sauber geblieben?«

»Wie bitte?«

»Na, hat sie mit einem rumgemacht oder nicht?« Während Adamo mich abwartend ansah, stellte ich die Kaffeekanne auf den Tresen, um ihm anschließend einen vorwurfsvollen Blick zukommen zu lassen.

»Nicht mit einem, sondern mit mehreren, du Idiot!« Ich schüttelte den Kopf. »Wie kannst du mich so etwas fragen? Natürlich hat sie mit niemandem rumgemacht. Was denkst du eigentlich, wer sie ist? Als würde sie dir so etwas antun. Sie ist nicht wie du.«

»Ich habe doch auch niemanden gefickt«, verteidigte er sich. Daraufhin blickte ich flüchtig zu Cecilio. Dieser hob eine Augenbraue. Ich wusste nicht, was er damit sagen wollte, aber ich hatte wirklich Sorge, dass Adamo wieder Mist gebaut hatte.

»Gut«, sprach ich. »Denn wenn du Teddy noch ein einziges Mal betrügst, dann rede ich nie wieder ein Wort mit dir. Nur damit du Bescheid weißt.«

»Als würde mich das jucken.« Er lachte, doch als er bemerkte, dass ich ihn ausdruckslos musterte, hörte er gleich wieder auf. Er wollte seine Hand auf meine Schulter legen, da wich ich ruckartig zurück.

Horror überkam mich, beim Gedanken, dass er mir nahekommen wollte. Zu meiner Erleichterung schob er es auf unsere vorherige Unterhaltung und wunderte sich nicht über mein Verhalten.

»Dio mio, Principessa! Ich habe ihr einen Antrag gemacht und es wirklich ernst gemeint. Keine Sorge. Ich habe nicht vor, sie noch einmal zu verletzen.«

»Dann ist ja gut«, gab ich ihm leise wieder. Ich atmete erleichtert auf, als er sich abwandte und nach draußen zu den anderen verschwand. Nach einem Moment der Stille kümmerte ich mich weiter um den Kaffee. Ich sehnte mich nach Ruhe, doch Cecilio machte mir einen Strich durch die Rechnung.

»Er war wirklich treu, auch wenn es schwer für ihn war.« Langsam trat er an meine Seite. Ich spürte seine Präsenz. Ein Schauer überzog meine Haut.

»Was meinst du mit schwer?«

»Na ja«, erklärte er. »Wir hatten Edelnutten auf unserem Zimmer. Wirklich extrem schöne Frauen. Die anderen durften nur schauen. Ich hatte meinen Spaß.«

»Wow«, sprach ich ironisch und schüttete in jede Tasse etwas Milch. »So genau wollte ich es gar –«

Schlagartig umgriff Cecilio mein Kinn und drehte mein Gesicht grob in seine Richtung, um mich intensiv zu mustern. Die Berührung ließ mein Herz rasen. Jedoch unterdrückte ich es, vor ihm panisch zu wirken, und starrte ihn ohne Ausdruck an. Er schnaubte und gab mich wieder frei, woraufhin ich ihn wütend ins Visier nahm.

»Was sollte das?«, fragte ich leise, überfordert von seinem Verhalten, und versuchte, mich wieder auf den Kaffee zu konzentrieren.

»Ich wollte nur etwas überprüfen.«

»Und was wolltest du überprüfen?« Ich starrte ihn erneut an. Mit einem Schulterzucken wandte er sich ab, ging nach draußen und ließ mich einfach zurück. Das Gefühl, für ihn wie ein offenes Buch zu sein, gefiel mir ganz und gar nicht. Mein Blick fiel hinab auf die beiden Kaffeetassen und mir wurde eines klar. Ich konnte mich niemandem öffnen.

Gino wollte ich es nicht sagen. Er würde die gesamte Schuld bei sich selbst suchen, obwohl es nicht sein Fehler war, sondern meiner. Er würde ausrasten, alle Bianchis töten und vielleicht sogar dabei draufgehen. Das konnte ich nicht riskieren, und solange ich mich Gino nicht öffnen konnte, wollte ich mich auch keinem anderen öffnen.

»Sie sind gewachsen«, hörte ich ihn hinter mir sagen, und drehte mich um. Mit Nives auf dem Arm kam er auf mich zu. »Ich war so kurz weg und meine Königin ist einige Zentimeter größer.«

»Das kommt dir nur so vor.« Ich lächelte ihn an und sah ebenfalls zu Nives, die sich an ihn schmiegte. »Also mir fällt nicht auf, dass sie gewachsen wäre.«

»Ai, Anatra. Sieh ganz genau hin«, forderte er und streckte mir ihren kleinen Fuß entgegen. »Ein Stück größer, siehst du?«

Zwar starrte ich den Fuß meiner Tochter an, jedoch fiel mir keine Veränderung auf. Trotzdem wollte ich ihm die Freude nicht nehmen.

»Du hast recht, auch wenn man es kaum bemerkt.« Er hob sie etwas an und verteilte mehrere Küsse auf ihrem Gesicht, um sich anschließend zu mir zu lehnen und mir ebenfalls mehrere Küsse auf meine Wange zu hauchen.

»Habe ich dir heute schon gesagt, wie wunderschön du bist?«, flüsterte er an meine Haut. Normalerweise löst das eine Gänsehaut und ein Flattern in meinem Bauch aus, doch diesmal blieb ich völlig regungslos. Nur Angst erfüllte mich.

Angst davor, er würde mit mir schlafen wollen, was für mich nicht infrage käme. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich nackt vor ihm auszuziehen, geschweige denn, mich ihm hinzugeben.

»Nein, heute noch nicht.« Entschlossen stellte ich mich auf meine Zehenspitzen und wollte ihm einen dankbaren Kuss auf seine Wange geben. Mit einer schnellen Bewegung drehte er sich um, sodass meine Lippen direkt auf seine prallten.

»Küss mich«, verlangte er und hielt Nives etwas zur Seite, während sein Blick mich durchbohrte. Ich hatte Panik davor, Fernando sehen zu müssen. Aus Liebe zu Gino ließ ich es trotzdem zu. Ich schloss meine Augen, um ihn in einen sanften Kuss zu ziehen, den er sofort intensivierte.

Seine Zunge verschaffte sich ohne Probleme Einlass und stürmisch eroberte er meinen Mund, während meine Knie weich wurden. Erst, als er sich schließlich von mir löste und mich mit durchdringendem Blick ansah, wurde mir bewusst: Ich war so was von am Ende.

»Ich bringe Nives nach draußen. Lass uns nach oben. Ich habe eine Überraschung für dich, Amore.«

Kapitel 3

Angespannt beobachtete ich, wie Gino Nives nach draußen brachte. Mein Herz schlug so stark, dass ich mich mit einer Hand am Tresen festhalten musste.

Der bloße Gedanke daran, dass er Sex verlangen würde, löste unzumutbare Panik in mir aus. Ich überlegte, welche Ausrede ich ihm auftischen konnte. Doch jemandem wie Gino den Sex verweigern? Kaum möglich. Außerdem würde er dann erst recht merken, dass mit mir etwas nicht stimmte.

»Alles in Ordnung?«, unterbrach er das Chaos in meinem Verstand und nahm meine Hand in seine. Ich nickte und ließ mich von ihm nach oben in unser Schlafzimmer führen. Jeder Schritt fiel mir schwer.

»Was ist denn die Überraschung?« Meine Stimme zitterte, obwohl ich es versuchte, zu unterdrücken. Er bemerkte es nicht, grinste und zog mich bis zu unserem Kleiderschrank.

»Bleib genau hier stehen und beweg dich nicht.« Er flüsterte mir diese Worte zu, ehe er mich stehen ließ und das Zimmer verließ. Daraufhin blieb mir nichts anderes übrig, als mich im Spiegel zu betrachten.

Abscheu und Hass kamen in mir auf, je länger ich meinen Körper musterte. Ich hasste es, mich so schwach zu fühlen. Hasste es, dass ich mich nicht besser verteidigen konnte.

Der Gedanke, in einem derart geschundenen Körper zu stecken, ekelte mich zusätzlich an. Das hatte ich nicht verdient. Ebenso wenig Gino, der eine Frau an seiner Seite haben sollte, die nicht so gebrochen war.

Am liebsten hätte ich aus Frustration den Spiegel in Einzelteile zerschlagen, allerdings hörte ich bereits Ginos Schritte auf dem Flur. Ich legte einen kalten Ausdruck auf, um mir weiterhin nichts anmerken zu lassen.

»Augen zu.« Es fiel mir unfassbar schwer, mich nach all dem Erlebten in solch eine unkontrollierbare Situation zu begeben. Doch es war Gino. Mein Ehemann. Ohne weiter darüber nachzudenken, tat ich es also und holte mehrere Male tief Luft.

Meine Hände zitterten leicht, während ich die langsamen Schritte hörte, mit denen Gino sich von hinten näherte. Mein Instinkt riet mir, zu flüchten. Dieser Situation zu entkommen. Ich stand jedoch nur da. Erstarrt und psychisch am Ende.

Als ich im nächsten Moment plötzlich etwas Kaltes um meinen Hals spürte, zuckte ich zusammen. Überfordert riss ich meine Augen auf und starrte mir im Spiegel entgegen. Ginos Blick lag auf mir.

»Anatra?«, flüsterte er besorgt, und ich wusste nicht, was ich ihm erwidern sollte. In meinem Verstand legte ich mir Ausreden für mein Verhalten zurecht, bis mein Blick auf meinen Hals fiel und mir der Atem stockte.

»Was hast du getan?«, fragte ich beim Betrachten der wunderschönen, goldenen Halskette, die einen Anhänger aufwies. Es war eine smaragdgrüne Ente.

»Gefällt sie dir?« Gino schaute mir abwartend im Spiegel entgegen.

»Sie ist wunderschön.« Lächelnd drehte ich mich zu ihm herum. Mein Lächeln verschwand daraufhin, als ich seinen Ausdruck bemerkte. Es war eine Mischung aus Wut und Sorge.

»Was ist los mit dir?«, platzte es aus ihm heraus. Unsicher wich ich ihm aus. Es dauerte nur eine Sekunde, da hatte er sich mein Kinn geschnappt. Er zwang mich, seinem intensiven Blick standzuhalten. »Ist im Club etwas vorgefallen?«

»Nein.« Meine Stimme klang hart und entschlossen, doch ich schämte mich, ihm nicht die Wahrheit sagen zu können. Erst recht, weil ich tief in seine Augen sah. Der Gedanke daran, dass ein anderer Mann in mir war, und das gegen meinen Willen, war für mich allein schon grausam genug.

»Was ist dann mit dir los?« Er hörte nicht auf, mich durchgehend zu mustern.

»Das mit Enzo belastet mich«, log ich und entriss mein Kinn anschließend seinen Fingern. »Ihr wart nicht da, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Es war mir alles zu viel.«

Ich bemerkte, wie er nachzudenken schien. Wahrscheinlich kaufte er mir meine Ausrede nicht ab. Zu meiner Erleichterung legte er jedoch ein sanftes Lächeln auf, um mich gleich darauf in seine Arme zu ziehen.

»Ai, kleine Ente. Mein Vater ist stark. Vermutlich sogar der stärkste Mancini. Alles wird gut. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Sanft streichelte er über meinen Rücken. Je mehr Trost er mir zukommen ließ, desto schäbiger kam ich mir vor.

»Ich hoffe es.« Für einige Minuten standen wir da und genossen die Nähe des anderen. Erst als ich etwas Hartes gegen meinen Unterleib drücken spürte, löste ich mich aus seiner Umarmung. »Lass uns zusammen duschen. Ich will dir zeigen, wie sehr ich dich vermisst habe.«

»Ich –«, begann ich und spielte nervös mit meinen Fingern. »Also ich möchte jetzt eigentlich nicht –«

Er unterbrach mich, indem er mir ohne jede Vorwarnung die Lippen auf meine legte und mich mit seinem Körper gegen den Schrank presste. Seine harte Erregung drückte fordernd gegen meinen Bauch, während seine Lippen an meinen saugten. Ein Traum, wären da nicht diese Dämonen, die all das Schöne zu zerstören drohten.

»Gino«, versuchte ich, ihn zwischen unseren Küssen zu ermahnen. Er nahm meine Hände in seine und drückte sie über meinem Kopf an den Schrank, sodass ich vollkommen hilflos und mit gestrecktem Körper vor ihm stand.

»Ich habe so Lust, dich zu ficken.« Er drückte sich enger an mich. Mir entglitt jeglicher Bezug zur Realität. Das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, war beängstigend. Ich musste der Situation entkommen, bevor ich zusammenbrechen würde.

»Geh schon einmal ins Bad. Ich komme gleich nach«, keuchte ich mit zitternder Stimme. »Ich ziehe mir noch schnell mein Halsband an.«

»Verdammt, Amore. Ich liebe dich so sehr.« Voller Stolz betrachtete er mich.

»Ich liebe dich auch.« Ich sah ihm nach, wie er im Badezimmer verschwand. Als ich das Rauschen des Wassers hörte, rannte ich zu meinem Nachtisch. Panisch schnappte ich mir den Schlüssel meines Range Rovers, der darauf lag.

»Kommst du, oder soll ich schon einmal allein anfangen?«

»Ich komme sofort!«, rief ich und rannte überfordert aus unserem Schlafzimmer und den Flur entlang. Cecilio kam mir entgegen.

»Wohin so eilig?«

»Weg!«, erklärte ich unter überschlagener Atmung. Er hielt mich an meinem Handgelenk fest und drehte mich zu sich herum.

»Was ist passiert? Du siehst aus, als hättest du den Teufel persönlich gesehen.«

»Das habe ich. Jetzt lass mich gefälligst los.« Mein Herz schlug so heftig, dass ich Sorge bekam, Cecilio könnte es hören. Er ließ mich los und ich nahm die Stufen nach unten. An der Haustür angekommen, blickte ich flüchtig in den Wohnbereich.

Nunzio saß gemeinsam mit Teddy und Adamo am Tisch. Sie kümmerten sich um die Zwillinge. Ein trauriges Lächeln entstand auf meinen Lippen, das jedoch sofort verging, als ich Ginos Stimme hörte.

»Ludovica?« Mit großen Augen starrte ich die Treppen hinauf und zögerte nicht länger, das Haus zu verlassen. Ich stürmte über die Einfahrt, stieg in den Wagen und startete den Motor. Mit hohem Tempo fuhr ich die Einfahrt entlang.

»Scheiße, scheiße, scheiße!«, fluchte ich und schlug mehrere Male auf mein Lenkrad ein. Ich hatte das grausame Gefühl, innerlich zu brennen und meinem Schmerz niemals entkommen zu können.

Die warme Sonne Palermos knallte auf mein Autodach. Häuser zogen rasend schnell an mir vorbei. Die Musik aus dem Radio dröhnte unaufhörlich in meinen Ohren. Jedoch nahm ich das alles kaum noch wahr, da ich nur Fernando sah und ich hasste ihn dafür, mich so geprägt zu haben.

Ich wollte keine Erinnerung an dieses Schwein. Er hatte es nicht verdient, über mein Leben zu bestimmen, meine Empfindungen zu kontrollieren und alles zu ruinieren. Doch er schaffte es trotzdem und genau das machte mich wahnsinnig.

Wie sollte ich mit ihm in meinen Gedanken leben? Wie sollte ich mich je wieder wohlfühlen in meinem Körper? War das seine Absicht? Wollte er mir genau das antun? Mich ewig an ihn binden?

Nachdem ich die Straße entlanggefahren war, in der auch Felice Haus stand, versuchte ich mich zu beruhigen und fuhr etwas langsamer.

Ich hielt nicht an. Nicht bei dem Haus, das Felice gehörte, nicht irgendwo.

Stattdessen fuhr ich weiter, bis die Straße leer war und keine Häuser mehr zu sehen waren. Ich parkte und stieg aus, woraufhin ich das Meer riechen konnte.

Gedankenverloren lief ich auf die Klippen zu. Mit jedem Meter wurde das Tosen der Wellen unter mir lauter. Erinnerungen blitzten in meinem Verstand auf. Sie trieben mich an, immer weiterzulaufen, bis ich abseits jemanden erkannte.

Flüchtig sah ich hinab auf das Meer, ehe ich mich Jennifer näherte, die am Boden saß und ins Nichts starrte. Ohne etwas zu sagen, ließ ich mich neben ihr nieder. Sie reagierte nicht auf meine Anwesenheit.

Vielleicht stellte sie sich vor, wie wir Fernando hier ins Meer geworfen hatten. Vielleicht auch nicht. Ich wusste es nicht und blieb schweigend neben ihr sitzen, bis sie nach einer Weile tief Luft holte.

»Ich kann nie wieder nach Hause, Ludovica.« Entschlossen nahm ich ihre Hand fest in meine, um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war. Sie würde niemals mehr allein sein. Das war ein Versprechen von mir an die Frau, die mein Leben gerettet hat.

»Du hast ein neues Zuhause. Mich.«

Eine ganze Weile saßen wir noch an den Klippen, während mir die Zeit vorkam, als würde sie nicht mehr existieren. Viel zu sehr beschäftigten mich meine Gedanken.

Die Sorge um meine Ehe, um meine Kinder und um mich selbst. Ich wusste nicht, wie ich das alles schaffen sollte, und gerade, als ich erneut drohte, an diesen Ängsten zu ersticken, unterbrach Jennifer die Stille zwischen uns.

»Möchtest du darüber reden, was vorgefallen ist?«

»Nein«, antwortete ich, ohne nachzudenken. »Ich will nur vergessen.«

»Aber du musst doch –«

»Nein, muss ich nicht«, unterbrach ich sie und wandte meine Augen auf ihre. »Er hat es nicht verdient, dass man über ihn redet. Ich schaffe das schon irgendwie.«

»Das dachte ich auch«, setzte sie hartnäckig nach. »Irgendwann war es jedoch zu viel und ich brauchte jemanden zum Reden.«

»Mit wem hast du darüber gesprochen?«

»Mit dir.« Ich erinnerte mich bei ihren Worten an den Tag zurück, an dem sie mir von ihrer Schwangerschaft und der Vergewaltigung erzählt hatte. Beschämt wurde mir klar, dass ich sie nicht ernst genommen und allein gelassen hatte. Sie suchte bei mir nach Hilfe und ich hatte sie von mir gestoßen.

»Es tut mir leid, dass ich dir nicht früher beigestanden habe«, entschuldigte ich mich bei ihr und stand gleichzeitig auf. »Aber ich möchte wirklich nicht darüber reden. Er ist tot und mit der Zeit werde ich ihn und seine Taten vergessen. Es geht mir gut.«

»So einfach ist das nicht.« Sie erhob sich ebenfalls. »Was denkst du, wie viele Jahre ich das mitmachen musste? Man vergisst so etwas nicht. Niemals. Diese Nacht wird immer ein Teil von dir bleiben.«

»Ich habe Schlimmeres erlebt«, gab ich ihr überfordert zurück und drehte mich zu meinem Auto herum, um schnellen Schrittes vor ihr zu flüchten. Wahrscheinlich floh ich gar nicht vor ihr, sondern davor, mich öffnen zu müssen.

»Schon gut«, rief sie mir hinterher und folgte mir. »Ich bin trotzdem da, wenn du mit jemandem reden willst.«

Ich öffnete meinen Wagen, um über das Autodach hinweg noch einmal in ihre Augen zu sehen. Mir fiel auf, dass sie mich mit Mitleid musterte, obwohl diese ganze Situation für sie viel schlimmer hätte sein müssen als für mich. Ich wollte keinen Trost von ihr.

»Hör mir zu. Ich muss mich auf meine Kinder konzentrieren und versuche, Julia nicht zu vernachlässigen. Dazu muss ich Gino unterstützen, der Pläne für die Zukunft hat«, erklärte ich eindringlich. »Verstehst du das? Dieser Mann hat Pläne für unsere Familie und ich kann es mir nicht erlauben, diese eine Erinnerung aufleben zu lassen, indem ich anderen davon erzähle. Hilf mir lieber, zu vergessen, anstatt mir Gespräche anzubieten, okay? Und hör auf, mich anzusehen, als wäre ich ein wandelndes Wrack.«

»Okay, verstanden.« Sie lächelte plötzlich, was mich irritierte. Sollte sie nicht am Ende ihrer Nerven sein? Immerhin war es ihr Bruder, der sie missbraucht und geschwängert hatte.

»Wieso leidest du nicht? Wieso kommt es mir so vor, als würde es dir gut gehen?«

»Weil es mir gut geht.« Sie stieg in den Wagen. Ich tat es ihr gleich. Mit gerunzelter Stirn spähte ich zu ihr, während ich mich anschnallte.

»Wie kann es dir nach all dem, was passiert ist, gut gehen?«

»Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben frei, Ludovica. Immer schon musste ich mir von Giovanna und Ambra anhören, was ich zu tun und zu lassen habe. Wie eine Frau sich zu verhalten hat. Ich war immer schon ziemlich kindisch und machte mir nichts aus Männern oder schönen Kleidern. Als Giovanna starb, hat Ambra sich verändert, sodass ich niemanden mehr hatte. Nur Fernando, vor dem ich immer schon flüchten wollte.«

Ich nickte und hörte ihr aufmerksam zu.

»Und dann musste ich so viel Scheiße über mich ergehen lassen. Selbst mein Vater hat nichts dagegen getan, denn bei uns herrschen andere Gesetze, was Brüder und Cousins angeht. Will dich einer, gehörst du ihm, egal ob es moralisch verwerflich ist oder nicht. Aber jetzt bin ich frei. Das Baby ist weg. Fernando ist weg. Ich muss nicht mehr in diesem Haus leben, in dem alle nur an sich selbst denken. Kannst du es nachvollziehen, dass ein kleiner Teil von mir glücklich ist?«

»Ja, das kann ich.« Nachdenklich betrachtete ich sie. Es war erstaunlich, wie stark sie trotz allem war. »Du hast jedes Recht, glücklich zu sein.«

Sie lächelte mir dankbar entgegen, und obwohl es mir ziemlich mies ging, freute ich mich für sie. Dafür, dass sie ein neues Leben beginnen konnte.

»Lass uns nach Hause fahren«, sprach ich und startete den Wagen. Wir fuhren ein Stück, bis ich etwas entdeckte, das mich dazu zwang, wieder anzuhalten. Schockiert riss ich meine Augen auf und parkte den Range Rover unauffällig am Rand der Straße, um an Jennifers Arm zu zupfen.

»Siehst du das?« Sie folgte meinem Blick und sah, genau wie ich, zu Felices Haus.

»Das gibt es doch nicht«, meinte Jennifer, während wir beide beobachteten, wie Zita sich knutschend von meinem Bruder verabschiedete. Wir sahen zu, wie sie in ein Taxi stieg und wegfuhr. Als ich bemerkte, dass Felice uns entdeckt hatte, schluckte ich schwer.

»Dio mio!«, zischte ich und drückte Jennifers Kopf herunter, um mich ebenfalls auf meinem Sitz hinunterrutschen zu lassen.

»Denkst du, er hat uns gesehen?«, wollte Jennifer leise wissen. Genau in dem Moment klopfte es an meiner Scheibe, wodurch ich meine Augen schloss.

»Ich kann euch sehen, auch wenn ihr eure Augen geschlossen habt«, hörte ich die Stimme von Felice und wandte meinen beschämten Blick auf ihn. Gleichzeitig setzte ich ein gespieltes Lächeln auf.

»Oh. Ciao«, begrüßte ich ihn, nachdem ich die Scheibe heruntergelassen hatte. Jennifer erhob sich ebenfalls. Er wirkte sauer. Seine Stirn zog sich in Falten.

»Ich habe dich überall gesucht«, tadelte er Jennifer.

»Ich hatte eine Alkoholvergiftung und wollte heute etwas abschalten mit dem Kater«, redete sie sich heraus. Sie blieb dabei so ruhig, dass selbst ich ihr glaubte.

»Trotzdem kann man an sein Handy gehen«, setzte er nach. Jennifer zuckte mit ihren Schultern.

»War lautlos.« Felice fuhr sich mit der Hand durch seine lange Mähne. Er wollte etwas sagen, doch Jennifer kam ihm zuvor.

»Und du? Eine schöne Nacht gehabt?« Er wirkte für einen flüchtigen Moment sprachlos, während er zwischen Jennifer und mir hin- und hersah. Dann entstand ein wunderschönes Lächeln auf seinen Lippen, das sein ganzes Gesicht erstrahlen ließ.

»Die vermutlich schönste meines Lebens.« Neugierig nahm ich Jennifer ins Visier.

»Er ist ein Softie?«, fragte ich, woraufhin sie nickte. Es überraschte mich, denn ich hatte ihn für einen typischen Aufreißer gehalten. Stattdessen verbarg sich hinter seiner lässigen Fassade ein Romantiker, der Zita bereits nach einer einzigen Nacht nicht mehr aus dem Kopf bekam.

»Was macht ihr beide überhaupt hier?« Wir sahen überfordert wieder zu Felice, der uns abwartend musterte. Mir fiel keine passende Ausrede ein, weswegen ich seiner Frage auswich.

»Wir müssen los. Ich habe noch einen Termin.« Ich wollte gerade losfahren, doch Felice legte seine Hand auf das Autodach und hielt mich zurück.

»Warte.« Ich hielt inne, während Felice zu Jennifer blickte. »Hast du Fernando gesehen?«

»Nicht mehr seit dem Abendessen«, erklärte sie selbstsicher. Ich hingegen spürte einen Schauer, der mir über den Rücken jagte. Felice nickte und trat einen Schritt vom Wagen weg.

»Fahrt vorsichtig.«

»Tun wir immer«, trällerte Jennifer. Ich drückte nervös auf das Gaspedal, um so schnell es ging abzuhauen.

»Meinst du, er hat etwas bemerkt?«, fragte ich nach einer Weile und bog auf die Hauptstraße ab.

»Felice? Quatsch. Er ist ein Träumer und bekommt meistens nur etwas mit, wenn man es ihm direkt vor die Nase hält.«

»Gut«, flüsterte ich erleichtert und war froh, dass er nicht wie die anderen war. Sie hätten uns wahrscheinlich im Bruchteil einer Sekunde durchschaut und mit etlichen Fragen durchlöchert.

Als wir in die Einfahrt einbogen und ausstiegen, kam uns Cecilio entgegen. Mit einem vielsagenden Blick machte er Jennifer deutlich, dass er mit mir allein sprechen wollte.

Ohne ein Wort ging sie an ihm vorbei und verschwand im Haus, während ich mich stumm gegen den Wagen lehnte. Ungeduldig wartete ich darauf, was er zu sagen hatte.

»Ihr wart im Club feiern, oder?«

»Warum willst du das wissen?« Er kam mir näher.

»Reines Interesse. Also?« Ich beobachtete, wie er sich eine Zigarette anzündete. Mir fiel auf, dass er genau das Etui benutzte, das ich ihm geschenkt hatte.

»Ja, waren wir.«

»Und dann sind Zita und Teddy gegangen, richtig? Und Erstere hat ihre Handtasche mit deiner vertauscht.« Er ließ mich nicht eine Sekunde aus den Augen.

»Ja! Und wenn du jetzt fertig bist, würde ich gern zu meinen Kindern.« Ich wollte an ihm vorbei, doch er trat einen Schritt zur Seite und stellte sich mir in den Weg.

»Dann seid ihr vom Club ins Krankenhaus, nachdem ihr das mit Enzo erfahren habt.«

»Cei … Es reicht«, warnte ich ihn. Er hob eine Augenbraue und holte etwas aus seiner Hosentasche. Unsicher sah ich hinab, als er mir Zitas Ausweis reichte.

»Es ist seltsam, dass Zita zu der Uhrzeit bereits im Krankenhaus war, du aber nicht.« Er reichte mir ebenfalls die Quittung des Taxifahrers, die er bezahlt hatte. Ich ärgerte mich, diesem unsere Adresse mitgeteilt zu haben. »Was hast du bei Felice zu suchen gehabt, wenn er selbst im Krankenhaus war?«

»Ich habe Zitas Handtasche verloren und war nie bei Felice. Jemand muss den Ausweis gefunden haben.« Ich traute mich nicht mehr, Cecilio anzuschauen, da diese Lüge so schlecht war. Er bemerkte, wie ich auswich, und hob mein Kinn mit seinen Fingern an.

»Gefunden? Dann ist er dahin gefahren, wo dein Bruder wohnt? Und dieser Dieb hat dem Taxifahrer ausgerechnet auch noch unsere Adresse gegeben?«

»Kann doch sein.« Meine Atmung beschleunigte sich. Zu meiner Verwunderung gab Cei mich wieder frei. Ohne zu zögern, ging ich an ihm vorbei.

»Weißt du, was noch ein komischer Zufall ist?«, rief er mir nach. Angespannt blieb ich vor der Haustür stehen, ohne mich umzudrehen. »Dass ich dem Taxifahrer ein Foto von dir gezeigt habe und er dich erkannt hat.«

Kapitel 4

Ich betrat die Villa und schaute in den Wohnbereich. Da ich niemanden entdeckte, lief ich nach oben. Kaum hatte ich die Tür zu meinem Schlafzimmer geöffnet, sah ich Gino, der mit den Zwillingen auf dem Bett lag und ein Kinderbuch in den Händen hielt.

Ich schämte mich für meine Flucht, dennoch musste ich es tun. Andernfalls hätte er mich womöglich dazu gebracht, etwas zu tun, was mich noch mehr gebrochen hätte.

»Ciao«, begrüßte ich ihn kleinlaut. Er schenkte mir keinerlei Beachtung und las den Kindern weiter vor. Unauffällig musterte ich seine Aufmachung. Schon wieder im Anzug, wurde mir klar, dass er bald in den Club gehen würde.

Unsicher, wie ich mich verhalten sollte, beschloss ich, in das Badezimmer zu gehen. Ich hatte gerade ein paar Schritte gemacht, da legte er das Buch beiseite. Erstarrt blieb ich stehen und bemerkte, dass sein Blick unverwandt auf mir ruhte.

»Macht es dir mittlerweile Spaß, mich so zu behandeln?«, fragte er ohne Ausdruck und legte das Buch auf den Nachttisch. Mit einer eleganten Bewegung erhob er sich, um auf mich zuzukommen. »Ich meine, anscheinend bin ich der abgefuckteste Wichser, wenn selbst meine Ehefrau vor mir die Flucht ergreift.«

»Gino, der Vorfall mit Enzo –«

»No!«, ermahnte er mich lauter und umgriff mein Kinn. Wütend drängte er mich zurück. Mein gesamter Körper fühlte sich bei seiner Berührung wie betäubt an. Ich bekam wieder dieses unangenehme Gefühl im Magen, das mich immer dann einnahm, wenn ich an Fernando denken musste. »Du kommst mir nicht wieder mit dieser Ausrede!«

»Das ist keine Ausrede!«, verteidigte ich mich wimmernd. Er legte schlagartig so einen irren Gesichtsausdruck auf, dass ich ihn kaum wiedererkannte. Auf diese Art und Weise hatte er mich das letzte Mal angesehen, als er das mit Dario erfahren hatte. Er ließ mein Kinn los und entfernte sich einige Schritte. Ohne jegliche Emotion musterte er mich.

»Gino, das ist wirklich keine Ausrede.« Er schüttelte den Kopf. Anscheinend interessierte es ihn nicht, was ich zu sagen hatte.

»Tommy hat mir gesagt, zu welcher Uhrzeit du den Club verlassen hast. Zita ist vorhin nach Hause gekommen und als ich sie fragte, wann du im Krankenhaus warst, wurde mir etwas bewusst. Du hast mehrere Stunden gebraucht.« Mit überschlagener Atmung starrte ich ihn an. Ich wollte etwas zu meiner Verteidigung sagen, da hob er seine Hand an. Mit dieser Geste brachte er mich zum Schweigen.

»Ich habe Adam angerufen, wegen meines Vaters«, setzte er nach und kam wieder auf mich zu. Als er plötzlich voller Wucht neben mir in den Schrank schlug, zuckte ich heftig zusammen.

»Warum verfickt noch mal, schickt mir dieser Arzt eine Rechnung, auf der die Pille danach steht? Ausgeschrieben auf dich!« Er schrie so laut, dass Nives anfing zu weinen. Trotzdem regte er sich nicht. Mir war bewusst, dass er mich nicht zu ihr lassen würde. Es war das erste Mal, dass ich ihn nicht nur fürchtete, sondern vor ihm Angst hatte.

»Antworte!«, schrie er zornig, wodurch erste Tränen über meine Wangen liefen. Ich zitterte und wich zurück.

»Sie war nicht für mich.«

Ich hoffte, er würde mir glauben, doch er lachte boshaft und fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht.

»Gino, bitte hör auf. Du machst mir Angst.«

»Ich frage noch ein einziges Mal und es wäre besser, du sagst mir die Wahrheit. Warum hast du dir die Pille danach verschreiben lassen?!«

»Sie war für mich«, hörte ich Jennifer sagen und sah, genau wie Gino, überrascht zu unserer Schlafzimmertür. »Ich habe in deinem Club eine Freundin getroffen. Sie hatte etwas mit einem Typen und ist nicht versichert. Es tut mir leid, deine Ehefrau da mit hineingezogen zu haben.« Jennifer trat ein, und da Gino auf sie fixiert war, eilte ich an ihm vorbei zu Nives, um sie behutsam auf meine Arme zu heben.

Ich zitterte und gab mir Mühe, sie zu beruhigen. Sie wollte allerdings zu Gino, was auch er bemerkte. Ich reichte sie ihm vorsichtig, woraufhin er sie in seine Arme nahm. Weiterhin lag sein Blick auf Jennifer.

»Was fällt dir ein, meine Frau für deine Zwecke auszunutzen?«

»Bei allem Respekt, aber Ludovica ist meine Cousine und was ich mit ihr abspreche oder nicht, geht nur sie und mich etwas an, Giuliano.« Jennifer hielt seinem Blick stand. Sie hatte keine Angst, sich ihm gegenüberzustellen. Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte sie ihre Augen auf mich.

»Ich danke dir, Ludovica. Wirklich.«

»Kein Problem«, gab ich ihr unsicher zurück. Erst als Gino seine ganze Aufmerksamkeit Nives widmete, spürte ich, wie sich mein Herzschlag beruhigte. Jennifer verließ unser Schlafzimmer und ich ließ mich auf der Bettkante nieder.

Erschöpft ließ ich mein Gesicht in meine Hände fallen. Das Ganze nahm bereits nach wenigen Stunden solche Ausmaße an, dass ich das Gefühl bekam, ich müsste allen die Wahrheit sagen. Ich hasste es, mich blockiert zu fühlen.

»Anatra, ich hätte nicht so reagieren dürfen.« Gino ging vor mir in die Hocke und setzte Nives auf seine Oberschenkel. »Ich dachte, du –«

»Schon gut«, unterbrach ich ihn. »Jetzt ist ja alles geklärt.«

»Nein, das ist ganz und gar nicht gut. Ich war so verwirrt, als du abgehauen bist, und dann diese Rechnung von der Pille.«

»Ich hätte nicht anders reagiert. Bitte fahr nie wieder ohne mich weg, Gino. Lass mich nie wieder allein hier zurück.«

»Nie wieder«, versprach er und reichte mir Nives. Ich nahm sie in meine Arme und schmiegte sie an mich, während Gino mich beobachtete. »Und du bist dir sicher, dass da sonst nichts ist?«

»Ja. Jennifer hat mich gebeten, niemandem etwas zu sagen. Es tut mir leid.«

»Mir kannst du alles erzählen, das weißt du, oder?« Er hob ganz sanft mein Kinn. Unsere Augen trafen sich. Für einen Moment dachte ich darüber nach, ihm die Wahrheit zu sagen. Ihm zu erzählen, was in der Nacht passiert war. Wie gebrochen ich mich fühlte. Ehe ich dazu kam, klopfte es an der Tür.

»Können wir los?« Nunzio richtete sein Jackett.

»Si«, antwortete Gino. Sein Blick schweifte noch einmal zu mir. »Oder soll ich bleiben?«

»Nein. Geh ruhig. Wir sehen uns morgen früh.« Er beugte sich zu mir, hauchte einen Kuss auf meine Wange und streifte meine Nase mit seiner.

»Pass bitte auf dich auf«, flüsterte ich, woraufhin er nickte und mit Nunzio das Schlafzimmer verließ. Als ich die Haustür kurz darauf hörte, atmete ich tief durch und war froh, alles einigermaßen überstanden zu haben. Es dauerte eine Weile, bis die Ruhe unterbrochen wurde.

»Sind sie weg?« Während ich Nives leicht hin- und herwog, betrat Jennifer mein Schlafzimmer.

»Ja, sie sind gerade los.« Jennifer nickte und setzte sich neben mir auf die Bettkante.

»Das war echt knapp«, meinte sie und starrte zum Schrank vor uns, an dem man das zerbrochene Holz erkennen konnte, das Gino eingeschlagen hatte.

»Ich hasse es, dass er solche Emotionen hat, nur weil ich zu feige bin, ihm die Wahrheit zu sagen.«

»Das ist nicht deine Schuld«, sprach sie mir Mut zu. »Natürlich wäre es gut für dich und auch für ihn, wenn du dich ihm anvertrauen würdest, aber dafür musst du bereit sein. Ich meine –«

Es klingelte an der Haustür, und da ich keine Ahnung hatte, wo Zita, Nicolo, Adamo und der Rest waren, legte ich Nives behutsam neben den schlafenden Elio und stand gemeinsam mit Jennifer auf.

»Wer klingelt denn um so eine Uhrzeit?«, murmelte ich und lief Jennifer voraus in den Flur, um vorn am Geländer der Treppe Halt zu machen. Mein Blick fiel hinab zur Tür. Nicolo kam aus dem Wohnzimmer und schaute flüchtig zu uns hoch.

»Warte!«, rief ich und bekam ein ungutes Gefühl, doch Nicolo zog zu meinem Bedauern bereits die Tür auf. Sofort erkannte ich einen breiten Mann. Dieser gab Nicolo einen Schlag ins Gesicht, wodurch er rückwärts zu Boden fiel.

»O Gott«, platzte es entsetzt aus mir heraus. Ich wollte zu Nicolo eilen, um ihm zu helfen, plötzlich betraten weitere Männer den Eingangsbereich. Von jetzt auf gleich richteten sich mehrere Pistolen auf mich.

»Was soll das?«, hörte ich Jennifer neben mir flüstern, die genauso fassungslos wie ich hinabblickte. Panik ergriff mich, als ich Ambra und Roberto entdeckte. Letzterer nahm Jennifer ins Visier.

»Pack deine Sachen. Sofort!«, brüllte er, allerdings rührte sich Jennifer nicht. Ihre Reaktion machte ihn noch wütender. »Wird’s bald!«

»Was zum Teufel ist hier los?« Adamo kam nur mit einem Handtuch um die Hüfte hinter uns aus dem Flur. Er sah sich die Männer und Ambra an, woraufhin ein böses Grinsen auf seinen Lippen entstand.

»Oh, wir haben Besuch«, gab er amüsiert von sich und lehnte seine Arme auf das Geländer, um Ambra anzusehen. »Na, du hässliche Fotze. Wie geht’s denn so?«

»Halt bloß deine Fresse!«, warnte sie ihn bissig. Als mein Blick erneut auf Roberto fiel, war dieser schon knallrot vor lauter Zorn.

»Jennifer! Du kommst sofort mit uns. Der Waffenstillstand ist beendet.«

»Warum? Was ist mit der Hochzeit?«, wollte sie wissen, doch Roberto zielte plötzlich auf Nicolo, sodass ich mit großen Augen den Atem anhielt.

»Es gibt keine Hochzeit. Wir haben vor einigen Stunden die Leiche deines Bruders entdeckt. Sobald wir wissen, wer ihn getötet hat, werden wir Rache an jedem Einzelnen nehmen.« Geschockt drehte ich mich zu Jennifer, die fest schluckte und mich ebenfalls flüchtig musterte. Sie nickte und verschwand in den Flur.

»Du kleiner Pisser«, zischte Adamo und lief die Treppe hinab. »Ziel auf mich, statt auf jemanden, der schon am Boden liegt. Außerdem waren wir in Vegas, du Bastard! Wie sollen wir etwas damit zu tun haben?«

»Genau deswegen habe ich noch nicht veranlasst, euch alle zu erschießen«, erwiderte Roberto. Daraufhin ertönte ein Schrei. Julia stand im Türbogen des Wohnbereichs und starrte ängstlich die Waffen an. Ich wollte zu ihr, um sie zu beruhigen, doch einer der Typen packte sie sich. Er hielt sie an sich, wodurch Adamo vollkommen durchdrehte.

»Lass sie sofort los, sonst bringe ich dich um!« Da Adamo seine Warnung unbewaffnet von sich gab, fingen die Kerle an, zu lachen. Mir kam bei dem Anblick der Pistolen in ihren Händen ein bitterer Gedanke.

»Was ist mit den Wachleuten passiert?«, fragte ich leise. Ambras Gesicht schoss zu mir. Sie warf mir ein provokantes Lächeln entgegen.

»Die sind kein Problem mehr. Geld regiert die Welt und anscheinend auch eure Sicherheit.«

»Wir können gehen. Nehmt die Waffen runter.« Jennifer kam mit einer Reisetasche in der Hand zurück in die Eingangshalle. Ohne mir etwas zum Abschied zu sagen, lief sie an mir vorbei die Stufen nach unten. Als sie vor Ambra zum Stehen kam, gab diese ihr eine schallende Ohrfeige.

»Wie kannst du es wagen, Papa so lange warten zu lassen?«

»Entschuldige«, murmelte Jennifer. Ich bekam so eine Wut auf diese Familie, dass ich meine Hände fest um das Geländer der Treppe krallte.

»So, dann hätten wir das geklärt.« Roberto lächelte zufrieden und wandte sich an Adamo. »Wie gesagt, ihr wart in Vegas. Nur deswegen lebt ihr noch. Glaube mir – sollte ich herausfinden, dass ihr etwas mit dem Tod meines Sohnes zu tun habt, werdet ihr es bitter bereuen.«