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Nach ihrem Debüt "Die Hochhausspringerin" das neue Buch von Julia von Lucadou: ein kluger Roman über unsere Gegenwart – "liest sich irre gut, schnell, spannend, die Figuren stehen einem vor Augen.“ Juli Zeh Bevor sie sich auf die U-Bahngleise legt, kündigt Mette, 15, in TikTok-Videos ihr Vorhaben an. Niemand reagiert – gerettet wird sie trotzdem. Der Selbstmordversuch verwirrt ihr privilegiertes Umfeld: Bislang hat sie professionell die Leistung des hochbegabten Kindes abgeliefert – Mettes Strategie, um unter dem Radar einer Welt zu bleiben, deren Verlogenheit sie frustriert. Dann lernt sie Jo kennen, zehn Jahre älter, brillant und voller Wut, ein Verbündeter. Als Anti-Influencer hat er sich ein Following aufgebaut und rekrutiert Mette für den Kampf gegen den Mainstream. Ein Spiel beginnt, dessen Regeln sie nicht durchschaut. Mit gleißender Klarheit und schneidendem Witz zeigt Julia von Lucadou einen Ausschnitt unserer Gegenwart, in der die digitale und reale Wirklichkeit sich komplett durchdringen.
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Nach ihrem Debüt »Die Hochhausspringerin« das neue Buch von Julia von Lucadou: ein kluger Roman über unsere Gegenwart — auf perfide Weise unterhaltsam und verunsichernd.Bevor sie sich auf die U-Bahngleise legt, kündigt Mette, 15, in TikTok-Videos ihr Vorhaben an. Niemand reagiert — gerettet wird sie trotzdem. Der Selbstmordversuch verwirrt ihr privilegiertes Umfeld: Bislang hat sie professionell die Leistung des hochbegabten Kindes abgeliefert — Mettes Strategie, um unter dem Radar einer Welt zu bleiben, deren Verlogenheit sie frustriert. Dann lernt sie Jo kennen, zehn Jahre älter, brillant und voller Wut, ein Verbündeter. Als Anti-Influencer hat er sich ein Following aufgebaut und rekrutiert Mette für den Kampf gegen den Mainstream. Ein Spiel beginnt, dessen Regeln sie nicht durchschaut.Mit gleißender Klarheit und schneidendem Witz zeigt Julia von Lucadou einen Ausschnitt unserer Gegenwart, in der die digitale und reale Wirklichkeit sich komplett durchdringen.
Julia von Lucadou
Tick Tack
Roman
Hanser Berlin
Für Antje und Su
und für die Mädchen, die wir einmal waren
In Gedenken an Egbert und Irmela
Let’s give a voice to all the complicated liars out there.
Elliott Goss in »Search Party«
>das MUTTERTIER rumort wieder, steht wahrscheinlich vor meiner Tür und lauscht, mit seinem aufgestellten Ohr, das ich vor Augen hab, das ich auswendig kenne, weil ich drauf gestarrt habe meine ganze Kindheit lang, und jetzt bin ich wieder hier, im KINDERZIMMER, als ob ich kein Mann wäre, sondern ein verdammtes Kindergartenkind, und das Muttertier rumort draußen, scharrt mit den Hufen, will über die Schwelle, will mir sein Ohr vors Gesicht schieben, riech mal, fühl mal, sieh mal hinein, wie es sich windet in ein Inneres, das sich dir öffnet, wenn du näher kommst, da klopft sie schon, die MUTTERFAUST am Holz, könnte die Tür einschlagen, wenn sie wollte, aber das würde nicht ins Bild passen der liebenden, liebevollen, lieblichen Mutter
>schatz, ruft die Mutterstimme, zuckrig, klebrig, scheinheilig, Schatz, willst du was zu essen, ich hab KOHLRABISTICKS gemacht mit Dip, und Malveneistee, Schatz, gehts dir gut, möchtest du was, kann ich was für dich tun
>muttersoehnchen.gif
>ich stelle mich tot, stelle das Atmen ein, sehe meiner Brust zu, wie sie Bewegungslosigkeit vorgibt, aber drinnen hämmerts, drinnen kriege ich mein Herz nicht zum Runterschrauben [panic.exe], sollte mir den Mund zuhalten, damit ich nicht schreie, aber ich beherrsche mich, halte die Luft an, bis das Muttertier sagt, okay, Schatz, ich stells dir vor die Tür, falls du was magst
>ich hab dich lieb, sagt das Muttertier, du bist ein GESCHENK, sagt das Muttertier, es ist SO SCHÖN, dass du wieder bei uns bist
>dass du wieder bei uns bist
>myloserlife.jpg
>und ich höre das Biodunkelgrün der Enttäuschung, die da mitschwingt, die hochgezogenen Augenbrauen, da sitzt er, der sechsundzwanzigjährige Sohn in seinem Kinderzimmer, es hat sich nichts verändert, die Scheiß-Star-Trek-Poster an den Scheißwänden sind immer noch die gleichen und brüllen NERD NERD NERD
>früher, als es noch reinkommen durfte, hat das Muttertier manchmal seinen Freundinnen mein Zimmer gezeigt und dabei MEIN KLEINER LORD gesagt, er ist so schlau, ich verstehe die Hälfte nicht von dem, was er sagt
>und dabei stolz gekichert, jetzt würde sie nicht mehr kichern, jetzt würde sie den Blick senken und in sich hinein murmeln: [sigh] Er ist wieder da, es hat nicht geklappt mit dem Studium, es war nicht das Richtige
>aber es wird schon, es wird schon werden
>is_everyone_brainwashed.jpg
>es wird schon, Hase, sagt sie täglich, eines ihrer bescheuerten Affirmationsmantras, sagt sie mehr zu sich als zu mir und dran glauben tut sie auch nicht, das ist ja das Perfide an ihren AFFIRMATIONEN, dass sie erstunken und erlogen sind
>lieswhenshesmiles.mov
>sie hofft drauf, sich selbst zu überlisten, dass sie irgendwann doch an die Lüge glaubt
>einmal hab ich sie dabei beobachtet, wie sie fünf Minuten vorm Spiegel im Schlafzimmer stand und mit einem behinderten Erleuchtungslächeln immer wieder zu ihrer Reflexion sagte: Du bist schön, du bist schön, du bist so schön
>und dabei zu weinen anfing, die Tränen rollten ihr über die Backen, bis sie irgendwann komplett rot und aufgequollen war und der Kontrast zwischen dem Satz und der Realität nicht mehr zu ertragen und sie mitten im Satz abbrach, du bist —
>uglysoul.png
>und sich anstarrte mit einem hasserfüllten Blick, den ich vorher erst ein einziges Mal an ihr gesehen hatte, nämlich
>als ich zum ersten Mal den Namen meines Vaters aussprach, am Mittagstisch mit ihrem neuen Chad, zwei Jahre nach der Flucht
>repelparent.exe
>sie starrte sich im Spiegel an, als wäre sie das WIDERLICHSTE, was sie je gesehen hatte: Du bist —
>du bist nichts, du bist niemand, du bist ein armseliges, verquollenes, hässliches Häufchen Frau
>fuckfemoids.jpg
>nebenan klappt eine Tür auf und zu, das Hühnchen ist zu Hause, brav direkt nach Schulschluss ins Nest zurückgewatschelt, um Hausaufgaben zu machen, es kann ja nichts dafür, das arme Halbschwesterchen, dass es an Hirnmasse weniger abbekommen hat [darwinrules.exe]
>sogar der Nachzügler ist mit seinen fünf Jahren schlauer als sie, da muss sie eben vor allem funktionieren und die Hausaufgaben machen, damit sie ihren Zweierschnitt behält
>das Muttertier folgt ihr auf den Fersen mit den Kohlrabisticks, ich stelle mir vor, wie sie die dem Hühnchen einzeln in den aufgerissenen Schnabel steckt und sich am Ende den ausgehungerten Teenager-Körper über die Schulter legt fürs Bäuerchen
>anstatt dass mir schlecht wird beim Gedanken an den instagram-optimiert schmalen HÜHNCHENKOHLRABIKÖRPER über der Mutterschulter, bekomme ich Lust auf Hähnchenschenkel, richtige Lust [ist das Inzest?]
>die werden in fünfundzwanzig Minuten an der Haustür aus einem orangenen Rucksackquadrat gehoben und von einer zähneknirschenden Mutter bis vor meine Zimmertür getragen
>hase, wird sie sagen, Schatz, ich will dir echt nicht reinreden, überhaupt nicht, du sollst dein Leben leben, wie du willst, aber diese Bratfette sind die allerschlimmsten, die verkleben dir die Herzarterien und zwar für immer, die kriegst du nicht mehr sauber, und du, irgendwann hören die dann einfach auf zu arbeiten
>jepp, werde ich sagen, jepp, herzliche Grüße an die anthroposophische Ernährungsberaterin, aber ich mache das alles in vollem Bewusstsein
>und dann werde ich genüsslich in die fettige Hähnchenhaut beißen und mir die [juicy] Schenkel meiner Schwester vorstellen, wie ich einen Bissen Fleisch nach dem nächsten aus ihr rausbeiße, bis ich auf Knochen stoße
Almette
Folgen
1534 Folge ich 10.1K Follower 250.2K Likes
Nur zweiundzwanzig Likes für meine bucklige Therapeutin. Liegt es an ihr oder an meiner Caption? Seit meinen Suicide-Storys, die mich kurzfristig fast auf Fame-Level katapultiert haben, habe ich nie wieder so viele Likes bekommen. Die neuen Follower waren nach einer Woche wieder weg. Obwohl ich den Content an die Zielgruppe Selbstmordfan angepasst habe. Siehe Therapeutinnenfoto.
Das war schon immer mein Problem, dass ich die breite Masse nicht erreiche. Ich bräuchte ein Haustier für mehr Follower. Eins mit Star Quality, wie Curious Zelda. Oder eins mit Behinderung. Yağmur könnte Georgie TwoPaws absurden Verrenkungen stundenlang zuschauen. Wie er versucht, mit einer Pfote ein Loch im Garten zu buddeln, während er auf der anderen balanciert wie ein Zirkuselefant. Vielleicht kaufe ich mir eine Katze mit zwei Beinen oder mit gar keinen Beinen, noch besser. Für die könnte ich dann einen Raduntersatz bauen. Das liken alle am meisten, wenn man ein behindertes Tier mit irgendwelchen selbstgebauten Konstruktionen wieder mobil macht.
Unter dem Tisch suche ich die Tierheimwebsites von Köln und Umgebung nach behinderten Katzen ab.
Die Luchsaugen meiner Mutter registrieren die Bewegung und sie streckt die flache Hand über den Tisch.
»Keine Handys beim Essen, Almette.«
»Mama«, sage ich und lege das Smartphone in ihre Handfläche. Jetzt lieber nicht noch mehr Ärger, meine Eltern sind schon extrasauer wegen der Selbstmordgeschichte. »Ich hätte gerne eine Katze.«
»Wie war’s bei der Therapeutin?«
Meine Mutter signalisiert meinem Vater mit ausgestrecktem Zeigefinger, ihr die Fassbutter über den Tisch zu reichen.
»Sie hat gesagt, eine Katze würde mir guttun.«
»Warum?«
»Weil ich keine Geschwister habe.«
»Klingt abwegig.«
»Du hast sie ausgesucht.«
Meine Mutter bestreicht ihr Vollkornbrot in Zeitlupe, als ob sonst irgendwo in Afrika ein Jenga-Stein runterfallen würde. »Das Problem am Dorfladen ist«, sagt sie, »dass die nur vollfette Butter haben.« Dabei schaut sie mich an. Beugt sich dann über den Tisch, um mir den Kopf zu streicheln. Ihre Schlechtes-Gewissen-Geste, wenn sie sich dafür schämt, dass ihr was an mir nicht gefällt. Ein bisschen Butter ist beim Vorbeugen an ihrem linken Busen hängen geblieben. Ich ziehe am Wachspapier, um mir eine demonstrativ dicke Schicht Butter aufs Brot zu schmieren. Meine Mutter hebt die Augenbrauen und schaut zu meinem Vater. Der schüttelt den Kopf und zuckt die Schultern.
»Ich bin nicht blind«, sage ich.
»Wir wollen doch nur, dass du gesund bleibst, Mettchen.« Mein Vater entscheidet sich ebenfalls für die Kopfstreichelgeste. Ich winde mich weg und binde mir einen Hipsterdutt auf die Kopfdecke, um weitere elterliche Versöhnungsangriffe zu vermeiden. Dann nehme ich einen großen Bissen von meiner Brotscheibe und lasse die Butter auf meiner Zunge zerlaufen. Sie ist säuerlich wie alles vom Dorfladen.
»Warum heißt der Dorfladen eigentlich Dorfladen«, frage ich, »wenn er mitten in der Stadt liegt? Ist das nicht False Advertising?«
»Deutsch bitte, Hase«, sagt meine Mutter. »Der Dorfladen heißt Dorfladen, weil die Lebensmittel vom Dorf kommen.«
»Ich dachte, ein Dorfladen ist ein Laden im Dorf.«
»In dem Fall ist es eben ein Laden mit Dorfprodukten«, sagt meine Mutter genervt, »was soll diese Korinthenkackerei, Almette?«
»Ich darf keine Anglizismen verwenden, aber du darfst Kackerei sagen?«
»Korinthenkackerei ist ein stehender Begriff, Almette«, sagt mein Vater, wie ein guter deutscher Schäferhund immer seinem Frauchen nachbellend.
»False Advertising ist auch ein stehender Begriff, Grandpa.«
Zu meinem vierzehnten Geburtstag haben mir meine Eltern zwei Zumba-Flatrates vom Fitnessstudio geschenkt, eine davon für Yağmur, damit ich »nicht so einsam bin beim Fittanzen«. Ich habe versucht ihnen zu erklären, dass Zumba sexistisch ist, weil man da lernt, zu Texten wie Shake your Popee möglichst genderkonform mit dem Arsch zu wackeln. Das haben sie nicht als Argument gelten lassen. Nicht mal mein Vater, der normalerweise immer auf das Sexismusargument anspringt. Dazu fühlt er sich berufen, seit er vor eineinhalb Jahren seinen Job als Unternehmensberater an den Nagel gehängt hat, um Hausmann und feministischer Blogger zu werden.
»Also?«, frage ich in die Kaugeräusche meiner Mutter. Sie ist eine von diesen aggressiv langsamen Esserinnen, bei denen jede pedantische Kieferbewegung wie ein Vorwurf klingt.
»Also was?«
»Kann ich eine Katze haben?«
»In ein paar Jahren ziehst du doch sowieso aus.«
»Ist das eine Drohung?«
»Na, wenn du mit der Schule fertig bist.«
»Und was hat das mit meiner Katze zu tun?«
»Wer kümmert sich dann um die, wenn du weg bist?«
Mein Blick schaltet sich mit dem Mutterblick parallel, der auf meinen Vater gerichtet ist. Er hat seine Hände ordentlich neben dem Teller platziert, darauf eine unangetastete Brotscheibe. Als er sich mit unserer plötzlichen Aufmerksamkeit konfrontiert sieht, zuckt er zusammen und versucht rückwirkend nachzuvollziehen, über was wir gesprochen haben. Seit er zu viel Zeit hat, ist er ein Tagträumer und kriegt noch weniger von meinem Leben mit als vorher, als er nur an den Wochenenden zu Hause war. Dafür versucht er mich jetzt ständig zu überreden, mit ihm den ARD-Brennpunkt zu schauen.
Mein Vater hat sich in Ermangelung grundlegender Informationen über den Diskursgegenstand entschlossen, uns freundlich zuzunicken.
»Danke, Papa!«, rufe ich und laufe um den Tisch, um ihn mit einer Umarmung in die Einwilligung hineinzumanipulieren.
»Georg«, sagt meine Mutter, »du weißt doch wieder gar nicht, worum es geht, oder?«
Mein Vater nickt ängstlich. Unsicher, wie meine Mutter auf diese Offenbarung reagieren wird. Sie streckt ihren Arm über den Tisch und tätschelt die besser erreichbare seiner Hände.
Er atmet auf. »Ich stehe hinter dem, was deine Mutter entscheidet.«
Meine Mutter lächelt ihm freundlich zu und zieht ihre Hand zurück, und ich frage mich, wie ein kurzes Tätscheln eine feste Umarmung übertrumpfen kann.
Ich lege nach: »Die Therapeutin sagt, dass ich eine Katze brauche. Für meine seelische Gesundheit.«
Papas Stirn legt sich in Falten. Ihn plagen Schuldgefühle, seit ich ihn in einem meiner Suizid-Erklärbär-Videos einen pseudofeministischen Waschlappen genannt habe, der meiner narzisstischen Mutter seine Eier hinterhertrage und damit nicht unwesentlich zu meiner schlechten seelischen Gesundheit beigetragen habe. Apropos Heuchler, habe ich gesagt, mein Vater, gebt euch das: Der war mein ganzes Leben der größte Chauvi. Meine Mutter war immer allein für mich verantwortlich, von Anfang an, obwohl sie den Doktortitel hat. Er hat ab und zu mal ne Windel gewechselt und mich einen Abend in der Woche ins Bett gebracht und sich dabei wahnsinnig altruistisch gefühlt. Dann hat er vor zwei Jahren einen ZEIT-Artikel über Me-too gelesen und ist jetzt Feminist. Und du glaubst, damit ist alles wieder gut, Papi? Welt gerettet? Du bist wie diese Thermomix-Hipster, die, seit Greta ihnen ein schlechtes Gewissen macht, jeden Tag stolz mit ihrem holländischen Lastenrad in den Unverpacktladen radeln und ihren drei Kindern auf dem Weg die Augen zuhalten, wenn ihnen jemand mit Alditüte entgegenkommt. Das ist die schlimmste Sorte, weil sie tief im Innersten davon überzeugt sind, dass sie gute Menschen sind. Dass sie wirklich was ausrichten in der Welt der brennenden Kängurus. Dabei wäre das Einzige, was der Welt wirklich helfen würde, wenn sie die drei Kinder gar nicht erst bekommen hätten. Ein paar unverpackte Linsen machen keinen Unterschied, wenn der Erdball vor zweibeinigen CO2-Bilanzen nur so überquillt. Was wir brauchen, ist eine Veränderung im großen Stil. Radikale Bevölkerungsreduktion. Ich plädiere für den Massensuizid. Dann erholt sich das Klima sofort. Wenn wir nicht mehr da sind. Ich opfere mich. Ich springe für die Menschheit. Mit einer Mette fängt es an.
»Wenn es die Therapeutin empfohlen hat, Marlene …«, sagt mein Vater.
»Die Hypothese muss noch überprüft werden.«
»Wie bitte?«, interveniere ich.
»Das haben wir gelernt, dass man nicht alles für bare Münze nehmen darf, was du uns so im Namen von Autoritätspersonen erzählst, meine Liebe.«
In der Zumbaklasse gab es, wie befürchtet, vor allem Ü-Fünfziger, die in zu engen Leggins und bunten Tüchern die übertrieben gut gelaunte Zumba-Lehrerin beim Twerken und Bellydancen imitierten. Die beiden einzigen Mädchen in Yağmurs und meinem Alter stellten sich in die erste Reihe, um allen zu demonstrieren, dass sie die Choreografien besser draufhatten als die Lehrerin. Sie trugen aufgepimpte Unterwäsche und machten jede Pause hundert Selfies für ihre Wannabe-Wellness-Influencer-Accounts. Zu meinem Schock war Yağmur schon nach drei Stunden so gut wie die Insta-Stars und ich hüpfte immer noch bei jedem Rhythmuswechsel in die falsche Richtung. Im Spiegel sah ich neben ihr aus wie ein weißer Blob. Ich postete masochistische Finsta-Selfies mit der Caption Die Schöne und das Zumbabiest oder Cutie & the Blowfish, worauf Yağmur jedesmal im Kommentar schrieb, wie cute AF ich sei und dass ich an meinem Selbstbewusstsein arbeiten solle.
Die Einzige, die noch schlechter tanzte als ich, war eine Millenial, die wir heimlich Flash nannten. Sie war total abgemagert. Bei Sprüngen löste sie sich kaum vom Boden. Sie bewegte sich so langsam wie das Faultier aus Zoomania, immer mindestens einen Schritt hinter der Choreografie. »Die Kursleiterin sollte ihr ein Ultimatum stellen«, sagte ich zu Yağmur. »Sie muss was Richtiges essen, bevor sie wieder in den Kurs darf.« Yağmur antwortete nicht. Erst wollte sie nicht damit rausrücken, aber dann gab sie zu, dass sie Flash um ihre Selbstkontrolle beneidete. »Ich könnte nie so viel abnehmen«, sagte sie, »ich esse ständig Schokolade, obwohl ich weiß, dass sie dick macht.« Ich musste an letzten Dezember denken, als meine Eltern mir statt Schokolade kleine Zettelchen mit Sinnsprüchen in den Adventskalender gepackt hatten.
»Dann findest du also auch, dass ich zu fett bin?«
Das Konzept des schokoladenfreien Adventskalenders hatte ich erst beim dritten Türchen erkannt, als ich einen besonders zielorientierten Glückskeksspruch herauszog: Nehmen Sie in Acht von Übermaß.
»In Acht von Übermaß?«, fragte ich.
»Vor Übermaß«, sagte meine Mutter, »das ist ein Druckfehler.«
»Wow«, sagte ich, »nicht nur füllst du meinen Adventskalender mit fehlgedruckten Papierschnipseln, du hast offensichtlich auch die Glückskekse aufgegessen, die dabei waren. Und dann hast du die Dreistigkeit, mir zu sagen, dass ich mich ›von Übermaß‹ in Acht nehmen soll.«
»Ich habe deine Kekse nicht gegessen«, sagte meine Mutter, »man kann die Sprüche online auch ohne Keks bestellen.«
>selbst schuld
>der hätte das Foto ja nicht machen müssen, der Hannes
>wer so einen Körper hat, sollte überhaupt nie Fotos von sich machen, sollte zu Kameras immer einen Sicherheitsabstand halten, um nicht aus Versehen die Selfies anderer zu photobomben, sollte außerdem wirklich NIE nackt sein [listentodaddy.mp3], nicht mal vor und nach dem Duschen, vielleicht noch nicht mal IN der Dusche, falls mal jemand aus Versehen ins Bad kommt, sollte immer Kleidung tragen, die nichts erkennen lässt von seinem weißen SCHWABBEL, seiner porigen Haut, aus der an unvorhergesehenen Stellen rotbraune Haare sprießen
>wenn der auch nur halb so viele Gehirnzellen hätte wie ich, wäre der gar nicht erst in eine solche Situation geraten, aber besonders helle war der schon damals nicht, im Matheunterricht, wo er mir aus der letzten Reihe triefende Spuckbälle in den Nacken schoss, schon damals ist der ein hohler Proll gewesen, nur dass man es jetzt besser sieht, auf dem Foto, das ich auf der Website des Schreinerbetriebs seines Vaters gepostet und mit dem PicturesAgainstAdipositas-Facebook und unserer Schulseite verlinkt habe
>hacking101.exe
>ein nackter, teigiger Körper mit überschüssiger Haut und einem kleinen, halbsteifen Glied, das über dem Kopf eines braunhaarigen Weibchens [juggernaut.jpg] baumelt, dessen Augen weit aufgerissen sind und sein pink bemalter Mund verzogen
>mitleid-Smiley
>es hat seinen rechten Arm angehoben, um sich vor dem Schwanz zu schützen, der ihr da ins Gesicht hängt wie ein luftleerer Dackel-Ballon
>caption: WHEN YOUR DICK’S TOO LIMP TO RAPE HER FACE
>über hundert Leute haben den Post schon gelikt und er ist erst seit eineinhalb Minuten online
>lulz.exe
>aber ein idiotischer Kommentar-Thread von minalinalikesyou und hellafun
>nobodycares.jpg
>hellafun: Mir tut der Typ leid irgendwie
>minalinalikesyou: Mir tut vor allem der Typ leid, der so was postet, wahrscheinlich wieder son armseliger Loser, der den ganzen Tag zu Mangas seinen Micropenis knetet
>ich sollte denen ein Bild von meinem metallharten Schwanz schicken, der kaum aufs Bild passt
>MACROPENIS.GIF
>aber ich halte mich an meine Regel, eben keine verdammten Bilder von mir zu machen, egal von welchem Körperteil, nie
>ich will ja nicht wie Hannes Schimmelpfennig enden, Loser tries to rape girls face, can’t get it up
>selbst schuld, Hannes
>selbstschuld.png
>er hätte noch viel Schlimmeres verdient als ein geleaktes Foto
>für die Jahre Torture, durch die er mich geschickt hat
>selbst schuld, Hannes
>so ein Foto zu machen und es dann auch noch unverschlüsselt zu speichern, nicht mal drei Minuten hat der Hack gedauert, nicht mal drei verdammte Minuten