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Genre: Katastrophenfilm | Thriller | Drama
FSK: Ab 18 Jahren – enthält intensive Überlebensszenen, emotionale Ausnahmesituationen, Tod, Verzweiflung und verstörende Wahrheiten.
Die „Aurora Sky“ – ein hochmodernes Kreuzfahrtschiff, gebaut für Träume, startet mit über 4.000 Passagieren an Bord ihre Reise in den hohen Norden. Ziel: die atemberaubenden Landschaften Islands. Doch was als luxuriöse Traumreise beginnt, entwickelt sich innerhalb weniger Tage zur absoluten Hölle auf See. Ein gnadenloser Sturm, technische Mängel, menschliches Versagen – und schließlich ein verhängnisvoller Brand, der alles verändert.
Ein Überlebenskampf beginnt.
Mitten in der Katastrophe: Der junge Erste Offizier Klaas Sörensen, der versucht, Ordnung in einem eskalierenden Chaos zu bewahren. An seiner Seite: Timo, ein Passagier, der zufällig zum Retter wird – und sich selbst wiederfinden muss, während das Inferno um ihn herum tobt. Auch Mira und Lukas, zwei weitere Überlebende, kämpfen sich durch Flammen, Rauch und das eiskalte Wasser des Nordatlantiks – bis alles zu spät scheint.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Himmel hing schwer über Berlin, als Ben die Balkontür schloss und einen letzten Blick auf die graue Stadtkulisse warf. Der Fernsehturm ragte fern und blass durch den Dunst, der sich wie eine träge Glocke über die Dächer legte. Es roch nach September – nach feuchtem Asphalt, vertrocknetem Laub und etwas, das er nicht greifen konnte. Ein metallischer Geschmack lag in der Luft, als hätte der Herbst einen Hauch von Eisen mitgebracht.
Im Wohnzimmer stand der halb gepackte Koffer offen wie eine geplatzte Erinnerung. Zwischen T-Shirts, einer Badehose, einem sauberen Hemd und Kopfschmerztabletten lag das Einladungsschreiben zur Kreuzfahrt: MS AURORA SKY – 7 Tage Nordwärts. Junggesellenabschied deines Lebens!
Ben starrte auf das gedruckte Logo mit dem stilisierten Polarlicht, das über einen welligen Horizont tanzte. Das Papier war schon etwas geknickt, als hätte es selbst geahnt, dass diese Reise keine Postkartenidylle werden würde.
„Bist du fertig?“ Die Stimme seiner Freundin, bald-Ehefrau, kam aus dem Flur.Er zögerte. Dann: „Fast.“
Sie trat ein. Leonie. Hellblondes Haar zum Zopf gebunden, Rucksack über der Schulter, bereit für ein Wochenende allein bei ihrer Schwester in Leipzig – eine Art Abschied auf Raten. „Denk an deine Tabletten“, sagte sie, „und bitte, trink nicht wie ein Berserker.“ Sie lächelte, aber ihre Augen sagten etwas anderes. Vielleicht ein Hauch von Misstrauen. Oder Sorge. Oder beides.
Ben nickte. „Mach ich.“
Sie küsste ihn flüchtig, dann war sie schon an der Tür. Der Rucksack schlug gegen den Türrahmen, als sie hinausging. Der Schlüssel klirrte, das Schloss drehte, Stille.
Er stand noch einen Moment da, allein mit dem Koffer und dem knisternden Gedanken an die Nordsee. An das, was kommen würde. An das, was er sich nicht eingestehen wollte: dass ein Teil von ihm diese Reise brauchte, weil er sich vor dem Leben danach fürchtete.
Zwei Stunden später saß er im Zug Richtung Hamburg, ein Coffee-to-go in der Hand, die Landschaft zog in Regengrau an ihm vorbei. Im gegenüberliegenden Fenster spiegelte sich sein Gesicht: wache, dunkle Augen, unrasierter Bart, ein müder Blick, der nicht zu seinem Alter passte. Timo hatte geschrieben, sie würden ihn direkt am Bahnhof abholen. „Mit stilvoller Blamage“, hatte er gesagt. Wahrscheinlich Tröte und JGA-T-Shirt.
Ben seufzte.
Seine Gedanken wanderten zu Mira.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie auch dabei sein würde. Lukas hatte es nebenbei erwähnt, als wäre es selbstverständlich – „Klar kommt Mira, war doch immer Teil der Gruppe.“ Und dann hatte er nichts mehr gesagt. Und Ben auch nicht.
Wie spricht man mit jemandem, mit dem man etwas hatte, während man gleichzeitig seine Hochzeit plant?
Der Zug ruckte, ein Baby weinte in der Ferne, Regen schlug gegen die Scheibe. Irgendwo zwischen Berlin und Hamburg begann etwas in ihm zu kribbeln – eine leise, namenlose Vorahnung.
Hamburg Hauptbahnhof, Samstag, 17:04 Uhr.
Timo trug ein Kapitänsmütze, ein Shirt mit der Aufschrift „Bräutigam’s letzter Hafen“ und eine Tröte, die er sofort betätigte, als Ben den Bahnsteig betrat.
„Achtung, Achtung! Der Mann, der sich in Ketten legen lässt, ist soeben eingetroffen!“Lukas, Caro und Mira standen daneben, klatschten halbherzig, lachten. Mira trug eine Sonnenbrille, obwohl es dämmerte, und nickte ihm zu. Nicht zu nah, nicht zu fern. Professionell.
Ben musste grinsen. Ein Teil von ihm verfluchte Timo, aber ein anderer war dankbar für die Normalität, für das laute, dumme Schauspiel, das ihm half, nicht über Mira nachzudenken. Noch nicht.
„Wir haben einen Kleinbus“, sagte Lukas, „Shuttle zur AURORA SKY – in Altona liegt sie vor Anker. Boarding heute Nacht. Erste Party ab 20 Uhr.“
Caro hakte sich bei Ben unter. „Bereit für das letzte Abenteuer als freier Mann?“Ben lachte. „Solange ich dabei nicht sterbe.“
Timo hob die Tröte. „Kein Versprechen!“
Wenig später fuhren sie durch den Hamburger Nieselregen. Der Hafen glitzerte silbern im Abendlicht, Kräne ragten wie skelettierte Ungeheuer in den Himmel. Und dann lag sie da: AURORA SKY.
Lichterketten zogen sich über die Decks, Musik war aus der Ferne zu hören, und das Schiff wirkte… größer als erwartet. Hoch. Dunkel. Fast lebendig.
Ben trat ans Fenster des Kleinbusses und sagte leise:„Sieht aus wie ein Hotel auf dem Ozean.“Mira, hinter ihm, sagte nur:„Ein Hotel ohne Notausgang.“Das Schiff wirkte aus der Nähe noch imposanter. Wie ein Koloss aus Stahl und Licht stand die AURORA SKY am Pier, als würde sie nicht fahren, sondern aufbrechen in eine eigene Realität. Ihre massiven Seiten glänzten feucht im Schein der Flutlichter, während oben auf dem obersten Deck Menschen in Bademänteln über Reling blickten und träge Drinks hielten – als wären sie schon längst woanders.
Ein gläserner Eingang führte zur Sicherheitskontrolle, wo uniformiertes Personal mit gelangweiltem Blick Pässe kontrollierte, Taschen durchleuchtete und Hinweise zur Seenotrettung murmelte, die niemand ernsthaft beachtete. Caro verteilte bunte Bändchen aus Stoff mit der Aufschrift “Letzte Welle – Bräutigam Ben”, und Timo schaffte es tatsächlich, sich mit einem der Sicherheitsscanner anzulegen, weil er „den Piepton sexy fand“.
Die Gruppe lachte, und für einen Moment war es leicht.
Dann betraten sie das Schiff.
Der Moment, in dem der Gang zur Gangway zur Schwelle wurde – von Festland zur Welt auf Wasser – hatte etwas Feierliches. Der Geruch wechselte von Regen und Diesel zu Teppichboden und Reinigungsmitteln, unterlegt vom seichten Summen der Klimaanlage. Der Boden vibrierte kaum merklich – eine ständige Erinnerung daran, dass dieses Gebäude, in dem sie sich nun befanden, nicht auf festem Grund stand.
Ein Crewmitglied führte sie durch einen hell erleuchteten Flur mit nummerierten Türen und freundlicher Belanglosigkeit. Ihre Kabinen lagen auf Deck 9, zwei Balkonkabinen mit Verbindungstür. Nicht luxuriös, aber geräumig genug: zwei Einzelbetten pro Kabine, ein kleiner Tisch, ein Sofa, ein Flachbildschirm, eine schmale Minibar. Der Balkon war das Highlight – er zeigte direkt auf die Hafensilhouette, von wo aus sich das Schiff bald lösen würde.
Kaum hatten sie ihre Koffer verstaut, begann auch schon der erwartete, kleine Disput: die Bettenaufteilung.
„Ich schlaf auf dem Sofa“, rief Timo. „Da kriegt man die besten Wellen mit!“
„Ich nehm das Bett am Fenster“, sagte Caro, griff aber gleichzeitig zum anderen. Lukas zückte demonstrativ Münzen, wollte auslosen, Mira ignorierte alles und stellte ihren Kulturbeutel ins Bad. Ben stand einen Moment verloren da, bis er seufzend sagte:„Ich nehm das, was übrig bleibt.“
„Wie bei der Hochzeit“, grinste Timo, worauf Ben ihm ein Kissen an den Kopf warf.
Sie lachten. Der Moment war leicht, der Raum warm, das Licht weich. Die erste Flasche aus der Minibar – ein Mini-Whisky – wurde geöffnet, in Plastiktassen verteilt. Man stand auf dem Balkon, prostete in die abendliche Hafenluft.
„Auf uns“, sagte Lukas.„Auf das Meer“, sagte Caro.„Auf den, der sich freiwillig untergeht“, ergänzte Timo und zeigte auf Ben.Der hob sein Glas, schmunzelte – und dachte an Leonie. Kurz. Dann schob er den Gedanken zur Seite.
Kurz nach 19 Uhr knisterte das Lautsprechersystem in der Kabine, gefolgt von der klaren, angenehm sachlichen Stimme eines Mannes mit leicht nordischer Färbung. Es war die Stimme des Kapitäns – ruhig, sachlich, bestimmt.
„Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich an Bord der MS Aurora Sky. Mein Name ist Leif Hansen, ich bin Ihr Kapitän auf dieser Reise.
In etwa sechzig Minuten verlassen wir planmäßig den Hafen von Hamburg über die Norderelbe. Nach Passage der Elbmündung nehmen wir westlichen Kurs entlang der Deutschen Bucht, mit späterem Nordnordwest-Kurs in Richtung der Norwegischen See.
Der morgige erste Seetag verspricht ruhige Bedingungen: Temperaturen um 18 Grad, Wind aus südlicher Richtung mit drei bis vier Beaufort, kaum Seegang.
Für die zweite Nacht ist ein Tiefdruckgebiet nordwestlich der Färöer-Inseln prognostiziert, das voraussichtlich in unsere Großwetterlage eingreifen könnte. Erste Auswirkungen könnten gegen Mitternacht übermorgen spürbar werden – mit auffrischendem Wind aus West bis Nordwest und Wellenhöhen von zwei bis drei Metern.
Die Brücke beobachtet die Entwicklung fortlaufend. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht keinerlei Grund zur Sorge.
Ich wünsche Ihnen nun einen angenehmen Abend an Bord und eine sichere, unvergessliche Reise.“
Ein leiser Klick beendete die Durchsage. Die Kabine wurde wieder vom Summen der Klimaanlage erfüllt.
Ben sah hinaus über den Balkon. Der Hafen lag ruhig unter der beginnenden Dämmerung, Schlepper zogen träge an den Kaimauern entlang. Die Stimme des Kapitäns hallte in ihm nach – nicht wegen ihrer Worte, sondern wegen des Timings. Es war der Moment vor dem Sprung. Vor dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab.Drei lange, tiefe Töne rollten durch das Schiff, wie aus der Tiefe eines schlafenden Riesen. Das Typhon vibrierte durch Stahl, Haut, Magen. Gäste auf den Außendecks hielten inne, hoben Gläser, jubelten. Es war wie ein kollektiver, ritueller Startschuss.
Das Schiff setzte sich in Bewegung.
Langsam glitt es vom Kai, drehte sich majestätisch im Becken des Hafens. Die Stadt zog an ihnen vorbei – Kräne, Containerterminals, Lichterketten an alten Speichern, die silberne Nadel der Elbphilharmonie, die über allem thronte. Hamburg verabschiedete sich wie ein ruhiger Beobachter, würdig, fast feierlich.
Am Horizont öffnete sich der Himmel.
Die letzten Wolken zogen wie Schleier hinweg, und die Sonne brach durch – golden, klar, gleißend. Ein Sonnenuntergang wie gemalt, als hätte sich der Himmel selbst verpflichtet, diesem Moment Ehre zu erweisen. Die Aurora Sky glitt durch die goldene Bahn des Lichts, hinaus in die Weite, während hinter ihnen die Skyline versank wie eine Erinnerung.
Ben stand am Balkon, das Glas in der Hand, das Gesicht in der kühlen Brise.
Der Sonnenuntergang war längst verschwunden, als sie sich in der Kabine für den Abend zurechtmachten. Das leise Brummen der Schiffsmotoren vibrierte unter ihren Füßen, kaum spürbar, aber stetig – wie der Pulsschlag eines lebenden Organismus. Der Blick durch die Balkontür zeigte nun nur noch offenes Wasser, schwarz und glatt wie Öl. Die letzte Linie der Küste war verschwunden, und mit ihr die letzte Erinnerung an festen Boden.
Im Bad standen zwei Zahnbürsten im Becher, der Ventilator summte, und irgendwo flog ein Haargummi durch die Luft.
„Wer hat mein schwarzes Hemd gesehen?“ rief Ben aus dem Schlafzimmer.
„Hängt bei mir überm Stuhl – sorry, ich dachte, das wär Timos“, rief Mira zurück.
„Du willst echt das anziehen?“ fragte Timo, der oberkörperfrei vor dem Spiegel stand, mit einem Duschhandtuch um die Hüfte, als wäre er Teil der Bordanimation.
„Ich will nicht auffallen“, sagte Ben.Timo grinste. „Dann bist du auf dem falschen Schiff.“
Caro trug ein rotes Kleid, das im Licht des Kabinenspots leuchtete wie warmer Wein. Lukas hatte ein Hawaiihemd angezogen, ironisch natürlich, und Mira stand in schwarzer Jeans und Bluse am Spiegel, zog Kajalstriche mit ruhiger Hand. Sie wirkte wie jemand, der genau wusste, wie viel Distanz nötig war, um unangreifbar zu bleiben.
Ben zupfte an seinem Kragen. Das Hemd spannte leicht über der Brust. Er hatte gehofft, es würde besser sitzen.
20:45 Uhr – Deck 6, Bugbereich – Panorama-Restaurant „Nordlicht“
Sie standen vor einem offenen Speisesaal, der sich über zwei Decks erstreckte – hohe Glasfronten gaben den Blick frei aufs dunkle Meer, das jetzt nur noch ein Spiegel war für das Licht der Schiffsscheinwerfer. Innen roch es nach gebackenem Brot, Grillfleisch, Gewürzen aus aller Welt. Stimmengewirr. Musik aus versteckten Lautsprechern.
Das Buffet wirkte mehr wie eine Ausstellung:Ein Sushi-Boot neben einem Spanferkel, italienische Antipasti, Riesenschalen mit Eis und Meeresfrüchten, vegane Currys, deftiger Grünkohl mit Pinkel für die Norddeutschen, Pudding in Kristallschälchen. Daneben ein Tisch mit Brotsorten aus fünf Ländern und Butter in Rosenform. Alles zu viel, alles zu gut. Die Crew trug Weiß mit dezentem Goldbesatz. Eine Kellnerin sprach Ben auf Englisch an – ein Reflex – und lachte, als er auf Deutsch antwortete.
„Also... wir holen jetzt einfach was? Oder gibt’s 'ne Reihenfolge?“ fragte Caro, leicht überfordert.
„Strategie: Erst Salat, dann Fleisch, dann Nachtisch. Niemals umgekehrt, sonst verkackst du’s“, erklärte Lukas.
Timo ging direkt zum Grill und orderte zwei Steaks – eins für sich, eins als „Vorrat“. Mira nahm einen Teller mit Oliven, Hummus, Reis und gebratenem Gemüse. Ben füllte sich den Teller halbherzig mit Nudeln und Fisch, ohne wirklich zu schmecken, was er tat. Seine Gedanken waren zu laut.
Am Tisch – rund, mit Blick aufs Wasser – stießen sie mit Wein an.
„Auf das erste Abendessen auf hoher See“, sagte Caro.„Und auf die Entscheidung, keine Jeansshorts zu tragen“, ergänzte Timo.„Und auf sieben Tage ohne Empfang“, sagte Lukas, der das erste Mal sein Handy wegsteckte.„Und auf eine Woche, in der niemand stirbt“, murmelte Ben leise.Niemand reagierte.
Das Gespräch kam beim Nachtisch auf die Abendplanung.
„Also, Möglichkeiten wären: Die Poolbar – die hat DJ bis 1 Uhr, dann diese Indoor-Lounge mit Livemusik und Cocktails, oder der Nachtclub am Heck... wie hieß der noch?“ fragte Caro.
„Northern Beats“, warf Lukas ein. „Elektro bis Sonnenaufgang. Und es gibt Karaoke auf Deck 5.“
„Karaoke ist raus“, sagte Mira sofort.
„Warum?“ fragte Timo.„Weil ich nüchtern bin. Noch.“
Sie lachten, bestellten Gin Tonic zum Dessert, und die erste Leichtigkeit des Urlaubs legte sich wie ein warmer Nebel über die Runde.
Ben sah auf das glatte Wasser draußen. Der Himmel war sternenklar, die See ruhig. Fast zu ruhig.Irgendetwas in ihm suchte den Bruch, die Kante, den Moment, an dem das alles kippen würde.
Er wusste nur noch nicht, wann.
22:10 Uhr – Poolbar, Deck 10
Der Sound wummerte durch den Boden wie ein zweiter Herzschlag, als sie die verglaste Poolbar betraten. Das große, überdachte Sonnendeck war nun eine tanzende Bühne aus Licht: grün, violett, blau – Strahlen warfen Muster auf die glitzernde Wasseroberfläche des Pools, der kaum jemandem zum Schwimmen diente, sondern mehr als Hintergrundkulisse für Selfies, Drinks und barfüßiges Tanzen diente.
Die Luft roch nach süßem Alkohol, nach Sonnencreme von früher am Tag und der billigen Frische von Nebelmaschinen. Irgendwo plärrte ein Remix von Fleetwood Mac, überlagert von Beats und Gelächter. Gäste in bunten Hemden, Pailletten, Flipflops, manche mit Hüten, andere barfuß – alles wirkte entgrenzt, aufgelöst.
„Das hier ist so falsch, dass es schon wieder genial ist“, brüllte Timo gegen die Musik.
„Was trinkst du?“ fragte Mira.„Egal – es muss nur gefährlich aussehen und brennen können.“
Lukas hatte längst zwei Mojitos in der Hand, Caro bekam einen Frozen Daiquiri mit einer Blume aus Plastik oben drauf, und Ben... nahm Bier. Kalt. Einfach. Verlässlich.
Sie standen am Rand des Pools, als sie auftauchten: eine andere Gruppe – sechs Leute, etwas jünger, alle in maritimen Outfits. Echte Motto-JGA-Profis. Matrosenshirts, Strohhüte, Buttons mit "Braut Crew". Laut, herzlich, überdreht.
„Na? Noch’n Junggesellenabschied?“ rief einer.Timo hob sein Glas. „Der letzte – wir gehen mit dem Schiff unter.“
Die Gruppen verschmolzen. Namen wurden ausgetauscht, sofort wieder vergessen. Ein paar Umarmungen, ein falscher Kuss auf die Wange. Zwei der Mädels versuchten Lukas zu filmen, während er versuchte, seine Kamera-App zu deaktivieren. Caro redete mit einer der anderen Frauen über „Horrorgeschichten aus WG-Küchen“, Mira spielte mit einem Trinkhalm und lachte mehr, als sie wollte. Ben trank sein drittes Bier und hörte allem nur halb zu. Es war, als würde er durch Glas beobachten, was da geschah.
Irgendwann kam ein Shot-Tablett. Dann noch eins.Jemand tanzte auf einem Hocker.Jemand ging freiwillig baden – mit T-Shirt und Geldbörse.Jemand rief: „Lasst uns in den Club!“
00:42 Uhr – Northern Beats, Nachtclub am Heck
Der Club war dunkel, gedrängt, heiß. Laserschlieren zerschnitten die Luft, der Boden vibrierte. Es roch nach Alkohol, Parfüm und Menschen, die zu lange tanzten.
Ben saß auf einem Barhocker, schwitzte leicht, der Kragen offen, das vierte Bier in der Hand. Timo war längst verschwunden – irgendwo auf der Tanzfläche, Arm in Arm mit einem Matrosenshirt. Lukas tanzte wie jemand, der sich selbst hypnotisieren wollte. Mira hatte sich an der Bar neben Ben niedergelassen, trank Wasser, spielte mit dem Eis.
„Alles okay?“ fragte sie.„Klar“, log er.„Du bist komisch still.“„Ich bin müde.“„Bist du nervös vor der Hochzeit?“Er sah sie an. Ihre Augen waren klar, ruhig, fast neutral.„Nein“, sagte er.Sie nickte. „Dann ist ja gut.“
Caro kam lachend zurück, Lippen verschmiert, Glas leer, und fiel halb auf Ben, halb auf Mira.„Ich liebe euch! Ich liebe alle! Das Schiff ist ein Geschenk Gottes!“„Caro, du brauchst Wasser“, sagte Mira und fing sie ab.
03:12 Uhr
Der Club war fast leer. Der DJ spielte noch, aber halbherzig. Reinigungskräfte räumten Gläser auf. Zwei Gestalten standen noch wackelnd an der Bar: Timo und eine der Matrosinnen aus der anderen Gruppe, beide zu betrunken für Gespräche, aber zu wach, um zu gehen.
Lukas war verschwunden, Mira hatte sich mit Caro aufs Zimmer gemacht. Ben stand zuletzt allein draußen auf dem Deck, das direkt an den Club grenzte.Der Wind war kühl, das Meer schwarz und endlos. Er lehnte sich an die Reling, blickte in die Dunkelheit, die keine Sterne zeigte. Das Schiff pflügte leise durch die Nacht.
Ein tiefer Gedanke zog durch ihn hindurch:Was, wenn etwas schiefläuft?
Er wusste nicht, woher er kam. Aber er blieb.
Der Morgen kam später als geplant.Es war fast halb zehn, als Ben die Augen öffnete und das leise, gleichmäßige Rauschen hörte – nicht das der Stadt, nicht der Autos, sondern das Flüstern von Wind über Wasser, das sanfte Schnurren des Schiffsrumpfs, das sich durch den Nordatlantik schob.
Er richtete sich auf. Sein Schädel fühlte sich an wie Watte, seine Zunge trocken, sein Magen leer und gleichzeitig schwer. Die Kabine war gedimmt, nur ein schmaler Streifen Licht fiel durch die nicht ganz geschlossene Verdunklung des Balkons.
Jemand schnarchte leise. Es war Timo – quer über dem Sofa, ein Schuh noch an, der andere auf dem Nachttisch. Auf seinem Bauch klebte ein Papierschild: "Ich bin NICHT ins Wasser gefallen." Offenbar von Caro beschriftet, die im Nebenzimmer vermutlich in ähnlichem Zustand lag.
Ben stand auf, trat auf den Balkon – und blinzelte.
Die See lag spiegelglatt. Keine Gischt, keine Welle, nur das endlose Blau, das im Sonnenlicht fast weiß erschien. Der Himmel über ihnen war klar, wolkenlos, mildes Türkis. Der Horizont war eine feine Linie aus Licht.
Er schüttelte den Kopf.Das war nicht der Atlantik, den er erwartet hatte.
10:30 Uhr – Frühstücksbuffet, Deck 7
Der Speisesaal war heller als am Abend zuvor. Große Fenster gaben den Blick frei auf das weite Wasser. Gäste in Shorts, Sonnenbrillen, Hüten. Die Luft roch nach Rührei, warmem Brot und überzuckerter Ananas.
„Das ist kein Schiff, das ist ein fliegendes Hotel“, murmelte Lukas, der bereits mit Croissant und Kaffee bewaffnet war.Mira schüttete sich Orangensaft in ein Glas, ohne viel zu sagen.Timo war wieder erstaunlich lebendig – oder tat zumindest so.Caro trug eine Sonnenbrille, obwohl sie drinnen waren, und schob sich vorsichtig ein Stück Melone in den Mund.
„Okay“, sagte Timo und klatschte in die Hände. „Plan für heute: Schiffsrundgang. Ich will wissen, was hier alles brennen, sinken oder platzen könnte, falls’s ernst wird.“„Beruhigend wie immer“, sagte Mira.„Ich will auf jeden Fall in den Spa“, meinte Caro.„Und ich brauch Wasser. Und dann: Pool. In der Reihenfolge“, ergänzte Ben.
12:00 Uhr – Rundgang über das Schiff
Sie zogen zu fünft los, jeder mit Sonnenbrille, Ben mit Basecap, Mira mit einem Notizbuch, „für medizinische Beobachtungen“, wie sie scherzte.
Sie erkundeten die Decks:– Den Panoramasteg, der in einem gläsernen Halbkreis über das Wasser ragte.– Das Sportdeck mit Joggingpfad und Fitnessstudio.– Die Brücke der Sinne, ein multimedialer Raum mit Licht- und Klanginstallation.– Die Galerie Norra, ein Kunstgang mit wechselnden Fotografien aus Island und Grönland.– Und schließlich den großen Poolbereich auf Deck 10 – zwei Becken, Rutschen, Bars, Dutzende Liegen.
Dort blieben sie hängen.
13:00 Uhr – Sonne, Salz, Drinks
Ben trug Badehose, Timo hatte sich ein aufblasbares Flamingo-Schwimmtier organisiert, Mira lag auf einer der Liegen und las in einem Buch mit zerknicktem Einband. Lukas filmte alles, Caro schlief halb unter einem Handtuch.
Die Sonne brannte, stärker als angekündigt. Das Deck vibrierte leicht unter ihren Füßen – nicht störend, eher beruhigend. Wellen plätscherten leise gegen die Bordwand, die Stimmung war ausgelassen, beinahe schwerelos.
Dann, pünktlich wie angekündigt, kam die tägliche Durchsage des Kapitäns.
Ein metallisches Klicken. Dann wieder diese ruhige, klare Stimme:
„Meine Damen und Herren,
hier spricht Kapitän Hansen von der Brücke.
Wir befinden uns derzeit auf 58 Grad Nord, 1 Grad West, etwa 130 Seemeilen nordwestlich von Helgoland, auf Kurs 320. Unsere Geschwindigkeit liegt bei 17 Knoten. Wassertiefe unter dem Kiel: 1380 Meter.
Die See ist ruhig, mit einer Wellenhöhe von unter 0,5 Metern, Wind aus Süd-Südost mit zwei Beaufort. Wir erwarten für den Nachmittag weiterhin klares Wetter und Temperaturen um die 20 Grad Celsius.
Für die kommende Nacht beobachten wir jedoch ein wachsendes Tiefdruckgebiet nordwestlich der Färöer. Die derzeitige Route führt uns am südlichen Rand entlang – voraussichtlich mit nur leichten bis moderaten Auswirkungen: Wind auffrischend auf Stärke 5 bis 6, Wellenhöhen um zwei Meter.
Eine Kursanpassung ist vorbereitet. Sollte das System an Stärke zunehmen, werden weitere Änderungen vorgenommen.
Für morgen früh ist der planmäßige Anlauf in Invergordon, Schottland vorgesehen. Aufgrund der Wetterlage könnte es jedoch zu einer verkürzten Liegezeit kommen – dies wird kurzfristig entschieden.
Die Sicherheit aller an Bord hat oberste Priorität.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“
Ein weiterer Klick. Dann Stille. Nur die Musik vom Poolradio spielte weiter, unbeeindruckt.
„Zwei Meter Welle ist nichts“, sagte Timo. „Das ist wie Autofahren mit Schlaglöchern.“
„Wollt ihr wirklich runter in den Ort morgen?“ fragte Lukas.„Nur wenn man uns auch wieder zurücklässt“, murmelte Ben.
Mira sagte nichts. Sie blickte hinaus über das glitzernde Wasser, wo am Horizont eine leichte Dunstlinie auftauchte.Es sah harmlos aus.Aber es war da.
13:45 Uhr – Lunch im Außenbereich
Das Mittagsbuffet war fast noch opulenter als das Frühstück: frisch aufgeschnittene Melonen, gegrillte Garnelen, Lachs in Senf-Dill-Sauce, Pasta-Station, Burgerstand und ein Tisch nur für Saucen – von Curryketchup bis Avocado-Mayo. Die Gruppe hatte sich einen Platz an der Reling gesucht, unter einem halb geöffneten Sonnensegel. Möwen flogen tief, kreisten aber nie direkt über dem Schiff. Vielleicht wussten sie mehr.
„Warum schmeckt auf See alles besser?“ fragte Caro mit vollem Mund.„Weil du gestern noch gedacht hast, du stirbst“, sagte Mira.„Ich hab nicht gedacht, ich sterbe“, sagte Lukas. „Ich dachte, ich verliere kurz die Kontrolle. Ist ein Unterschied.“
Ben lächelte, kaute langsam auf einem Stück Wassermelone herum, sah aufs Wasser.
„Ich bin gleich weg“, sagte Timo plötzlich.„Wohin?“ fragte Mira.„Friseurtermin. 14:30 Uhr, Spa-Deck.“„Du... was?“„Mein Fade muss sitzen. High Fade. 0 mm unten, sauberer Übergang bis Mitte Kopf. An den Seiten schön ausrasiert, oben leicht texturiert. Ich kann doch nicht nach Schottland aussehen wie ein matschiger Apfel.“
Caro prustete los. „Du bist eitel wie eine Giraffe mit Selfie-Stick.“„Lacht nur. Wenn das Schiff kentert, will ich frisch gefaded geborgen werden.“
Lukas hob beide Hände. „Lasst ihn. Jeder geht anders mit nahender Katastrophe um.“„Wir sind nicht in einer Katastrophe“, warf Mira ein.Noch nicht, dachte Ben – sagte aber nichts.
15:00 Uhr – Spa-Deck / Animation am Pool
Timo verschwand in den „AURORA GROOMING ROOM“ – ein gläserner Barbershop mit zwei Ledersesseln, auf Hochglanz polierten Werkzeugen und einem Friseur, der aussah, als käme er direkt von einem Laufsteg. Als er zurückkam – 40 Minuten später – wirkte er, als hätte er eine religiöse Erfahrung gemacht. Die Seiten glatt wie Marmor, der Übergang makellos, die Konturen frisch einrasiert, die Haare oben leicht zerzaust und doch kontrolliert.
„Man kann von mir halten, was man will – aber ich sterbe mit Stil“, sagte er beim Rückweg.„Eher stirbt dein Friseur, wenn du ihm mal absagst“, meinte Lukas.„Ich hab mehr Vertrauen zu ihm als zu unserem Kapitän.“
Der Rest der Gruppe war in der Zeit am Pool geblieben, wo gerade die Nachmittagsanimation stattfand: Dartturnier unter freiem Himmel, ein lauter Animateur mit Mikrofon, der durchgehend lachte, egal ob jemand traf oder nicht. Menschen standen mit bunten Bechern in der Hand an der Reling, andere sonnten sich auf aufgeblasenen Tieren oder spielten Volleyball im Wasser.Es war warm. Heiter. Oberflächlich. Die Musik lief laut, niemand stellte Fragen.
17:00 Uhr – Rückweg zur Kabine
Ben hatte sich vor der Gruppe gelöst, war allein unterwegs – müde, gedämpft, in sich versunken. Er schlenderte durch den langen Korridor von Deck 9, vorbei an Kabinentüren, Reinigungswagen, einem Crewmitglied, das einen Fleck wischte, der wie verschütteter Kaffee aussah, aber metallisch roch.
Und dann spürte er es.
Nicht als konkreten Moment – eher als Verschiebung.Die Luft war anders.Nicht kälter, nicht wärmer – nur dichter.Etwas in ihrem Gewicht hatte sich verändert. So als hätte sich unsichtbar ein Druck auf die Haut gelegt, auf die Schläfen. Der Gang schien ein klein wenig zu flimmern, nicht sichtbar, sondern nur im Bauch zu spüren.
Er blieb stehen, lauschte. Kein Wind, kein Rütteln. Nur diese ... andere Qualität in der Atmosphäre.
Timo kam pfeifend um die Ecke, die Seiten seines frischen Fades glänzten noch leicht vom Rasierwasser.„Kommst du mit hoch? Ich glaub, sie machen gleich Salsamusik oben – und Mira sieht schon wieder aus, als würde sie jemanden umbringen, wenn sie nicht tanzt.“
Ben nickte langsam.„Hast du das gemerkt? Die Luft?“
Timo roch an seinem Shirt. „Ich? Nee. Nur teures Haarwachs und männliche Hoffnung.“
Ben sagte nichts mehr.Aber irgendetwas, das mit Wetter nichts zu tun hatte, war in ihm wach geworden.
20:00 Uhr – Tanzdeck, Sonnenuntergang
Der Abend begann mit Licht.
Nicht von oben – die Sonne war längst auf dem Weg zum Horizont – sondern aus den Leuchtröhren über der Tanzfläche auf Deck 11: warmes Violett, goldenes Streulicht, dann ein kühles Blau, das sich langsam durch das Glasdach bewegte wie ein fließender Farbfilter.
Die Musik war entspannt, ein Hauch Lounge, mit einem Beat, der zum Mitwippen zwang, ohne aufzudrehen. Das Tanzdeck füllte sich mit Paaren, Gruppen, Einzelgängern. Barkeeper warfen Flaschen in die Luft, fingen sie auf, mixten Mojitos und Piña Coladas mit routinierter Eleganz.
Caro trug ein schwarzes Sommerkleid und lachte über jeden zweiten Satz von Lukas, auch wenn sie nicht zuhörte. Mira hatte sich ihre Haare hochgesteckt und tanzte, als wolle sie vergessen, dass irgendwo ein Medizinstudium auf sie wartete. Ben stand mit einem Drink am Rand, beobachtete sie – und das Meer.
Und Timo?
Timo war der König des Abends.
Frisch geschnitten, selbstsicher, in einem weißen Leinenhemd, das er offen trug wie ein italienischer DJ. Er tanzte, flirtete, strahlte. Und er fiel auf – offenbar auch anderen Männern an Bord.
Zuerst nur Blicke. Dann eine Berührung am Arm.Ein Wortwechsel, Gelächter, Hände auf Schultern.Ben beobachtete, wie Timo – sichtbar amüsiert – das Spiel mitspielte. Dann sah er, wie er mit einem Glas in der Hand von zwei gut gekleideten Männern weggelockt wurde. In Richtung des ruhigeren hinteren Bereichs der Bar. Er drehte sich einmal um, hob grinsend die Augenbrauen in Bens Richtung – dann verschwand er.
„Timo?“ fragte Mira, die es gerade bemerkte.Ben zuckte die Schultern. „Lässt sich offenbar inspirieren.“„Er kommt wieder“, meinte Caro und prostete ihm mit einem roséfarbenen Drink zu. „Mit neuen Geschichten.“
21:30 Uhr – Sonnenuntergang & Wind
Am Heck des Schiffs, hinter dem Nightclub, auf einer erhöhten offenen Plattform, saßen Ben und Mira mit ihren Gläsern. Die Musik war hier nur noch ein fernes Wummern, das Meer dagegen hörte man deutlicher: rhythmisches Gurgeln, gluckerndes Brechen gegen den Rumpf, der feine Hauch des Windes.
Die Sonne war untergegangen. Kein spektakulärer Feuerball – eher ein langsames, glattes Verblassen hinter dichten, tiefen Wolkenbänken am westlichen Horizont. Das Licht war plötzlich weniger golden, mehr grau.Und die Luft war anders.
Nicht bedrohlich – nur kühler.Und der Wind – er kam nicht in Böen, sondern in langen, gleichmäßigen Zügen. Als würde jemand tief und gemächlich atmen.
„Spürst du das?“ fragte Mira.Ben nickte. „Die Haut merkt’s eher als der Kopf.“
Sie schwiegen.Dann sagte sie leise: „Das ist nicht mehr dieselbe See wie heute Mittag.“Er sah sie an.„Aber sie tut noch so.“