Tiefsommer - Jesko Habert - E-Book

Tiefsommer E-Book

Jesko Habert

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Beschreibung

Unter dem orangefarbenen Himmel Pagaus wachsen Luftschiffe auf Plantagen und winzige Lichterzwerge verwandeln Sonnenlicht in Strom. Plötzlich werden Luana und Roja, Zora und Lucio aus ihrer Welt gerissen, als die Drohnen der mächtigen Union von Uriwa Ausbeutung, Krieg und Zerstörung nach Pagau bringen. Schon bald werden aus Flüchtlingen Rebellen. Doch keiner von ihnen ahnt, womit sie es wirklich zu tun haben. „Vernichtung ist leichter zu begreifen als Schöpfung: Was noch nicht ist, entzieht sich der Vorstellungskraft wie eine Seifenblase den eiligen Griffen einer Hand. Das Zerstörte jedoch prägt sich mit unwiderstehlicher Kraft im Innersten ein.“

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Seitenzahl: 330

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Für L. und R. und die Erfindungdes Tiefsommers

periplaneta

JESKO HABERT: »Tiefsommer« 1. Auflage, September 2018, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2018 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlinwww.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat und Projektleitung: Swantje Niemann Cover: Nicole Altenhoff Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-073-1 epub ISBN: 978-3-95996-074-8

Jesko Habert

Tiefsommer

periplaneta

Bitter

Knisternde Kondorfedern

So fliegen wir am liebsten

Die Zehen zahlloser Nager auf dem steinigen Boden

Steinig, herbstlaubduftend

Segeln in den Bergen

Grüner oder roter Schleier verhängt alles

Kaleidoskopgleich

Sechsecke bis zum Horizont oder dem eckigen Gebirge

Sind kein Kondor, sind Linie und Form, wir brennen

Riecht heiß

Schwarzes Nichts frisst Licht unter uns

Durch die rot-grünen Hexagone

Die reden, oder gehen, oder rauschen

Bis der nachtfarbene Strich sie vertilgt

Sie beugen sich an den Rändern fort von dem finsteren Abgrund

Verbranntes Papier

Brüchige Bücher

Zerrissene Tücher

Wir fallen hinein

Kondorsturzflug

Zwischen Knochenbeinen und im Nichts liegenden

Luftlos leidenden Lungen

Stetig mehr werdend

Schreien und Heulen, alles brüllt

Das Schwarz ist Rot und stinkt

Monotone Moleküle lösen sich auf

In saurem Gewürz.

Faulig-bitterer Nachgeschmack im Mund.

Augen aufmachen.

Verfluchte Horrortrips.

Teil 1 Tiefsommer

Meñiqu

Alles war Feuer. Die Stadt brannte loh, stürzte zusammen. Fackelndes Gebälk zerbarst auf warmer Haut. Zertrennte Gliedmaßen, von Flammen umzingelte Menschen. Das Massaker währte kurz. Nur ein Fingerstreich, und hunderte zerstörte Seelen quollen aus den verkohlten, verstümmelten Körpern, die sie ihr Eigen genannt hatten. Nur Knochen und Ziegel zeugten vom einstigen Leben. Fleisch verbrennt.

Eine Stunde zuvor.

Es roch nach Tarnfarbenolivgrün. Wie metallischer Wald, oregano-holzig mit Eisengeschmack. Leicht faulig. Kein üblicher Geruch für einen Sonntagvormittag auf dem Marktplatz.

Roja erschauerte. Sie ging soeben zu ihrer Geschäftszentrale, dem »Drei-Farben-Eck«; die Arbeit türmte sich nach den Feiertagen des Jahresbeginns. Ihr kleines Kleidungsimperium verwaltete sich nicht von selbst, ob Sonntag oder nicht.

Normalerweise witterte sie hier die alltägliche Mischung aus straßengräulichem Heu und Herbstlaub, würz-knusprigem Ziegelrot und der verregnet-minzigen bis jasmin-ledrigen Farbe des Himmels. Je nach Windrichtung auch einen kaum spürbaren Hauch vom rosa-rauchigen Anis ihres aktuellen Kollektionsstücks im Schauraum. Dieses oregano-holzige Tarnfarbenolivgrün indes war ungewöhnlich.

Sie blieb stehen und lugte umher. Die schmalen Steinhäuschen Meñiqus warteten verschlafen, der träge Hochsommerwind des Januars wehte über die plattgetretene Erde und trug feinen Staub durch die Gassen. Vereinzelte Passanten. Keiner von ihnen schien etwas zu bemerken.

Roja hatte vor Jahren festgestellt, dass die Fähigkeit, Farbtöne zu riechen, höchst ungewöhnlich war. Eine Begabung, die niemand kannte, geschweige denn nachvollziehen konnte. Kopfschüttelnd schritt sie weiter. Vermutlich irrte sie sich. Was hatte Olivgrün schon in ihrem Ort verloren? Meñiqu war ein hübsches Hochlandstädtchen hinter den Akhi-Bergen, in dem Roja den Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Es gab nur einige Läden, mehrere Äcker im Umfeld, ihre Färberei, ein überdimensionales Schlagloch in der Sommergasse und zwei Bastler, die einen Teil der Stadt von ihrem Baumhaus aus mit Strom versorgten. Im Frühjahr kamen ein paar Touristen und Wandervögel, im kurzen Winter wenige Gäste aus den höhergelegenen Ortschaften der Akhi. Es gab kein militärisch relevantes Ziel in Meñiqu. Trotzdem. Vielleicht sollte sie ihre Arbeit heute im Keller des Drei-Farben-Ecks erledigen. Traue niemals einem tarnfarbenolivgrünen Tag.

*

Das Feuer kam aus dem Himmel über die Stadt. Aus Orange wurde Rot, und das Sirren der Sonnenplatten verstummte hinter dem Donnern von Drohnen. Sie saßen im Schaltraum der Stromzentrale, die sie vor Jahren in der mächtigen Eiche außerhalb der Stadt errichtet hatten. Eine alte Hochspannungsleitung verband die fünf großen Paneele auf dem Wipfel des Baumes mit dem Städtchen. Sie würden die Verbindung kappen müssen.

»Zora, ich habe Angst.« 

»Ich weiß, Lucio. Geh und hol die Lichterzwerge rein.«

Er erklomm die Leiter zu den Plattformen und klopfte wortlos auf eine der Metallplatten. Die kleinen Wesen hörten ihn, wie immer, und strömten in einem Funkenwirbel auf seine Schultern. Die Kontrollleuchten am Ende der Platte erloschen, und das allgegenwärtige Sirren erstarb, als die Lichterzwerge sich schreckensstumm an Lucios Kleidung klammerten. Zu klein, um zu sehen, was geschah, spürten sie doch Lucios Beunruhigung. Er war ihr Fels; doch sein Stein bröckelte. Mit goldschimmerndem Torso stieg er hinunter in den Schaltraum zu Zora, die aus dem Fenster gelehnt nun die Verbindung zur Hochleitung durchschnitt.  

»Sie kommen näher«, merkte sie mit düsterer Stimme an und zeigte auf die noch fern erscheinenden Drohnen. Die Flieger malten Kondensstreifen von rotglühendem Feuer in den kupferfarbenen Himmel. Es könnte beinah ein verfrühter Sonnenuntergang sein, ein Farbenspektakel über die Hochebene werfend. Die gedrungenen Häuser Meñiqus blutrot färbend, auf dem braun-gelben Land, das sich bis zu den westlichen Felsen erstreckte.

»Meinst du, es liegt an uns?«, fragte Lucio. Der Gedanke war nicht völlig abwegig, angesichts der Serie von Sabotageakten, die der große Stromversorger gegen sie unternommen hatte. Ihre Elektrizität war nie über die Stadtgrenzen gelangt; doch ihr Kleinrebellentum war den Konzernbesitzern offenbar ein kratzendes Steinchen auf der Netzhaut. Sie hatten sich nicht aufkaufen lassen, und plötzlich fielen Strommasten um und Kabel bekamen Löcher. Einmal erreichten sie morgens gerade noch rechtzeitig ihr Quartier, um einen Brand am Fuße des Baumhauses zu löschen.

Zum Glück stand Meñiqu zu ihnen und ließ sich nicht davon abbringen, Strom aus dem Baumhaus zu beziehen. Anfangs hatte man sie noch schräg angesehen ob ihrer kruden Ideen, doch der günstige Preis hatte einige Überzeugungsarbeit geleistet. Sie hatten das Netz über die Jahre ausgebaut und verbessert, verdienten genug, um Essen und eine Wohnung zu kaufen, mehr brauchten sie nicht. Und trotz aller Professionalisierung saßen sie noch immer zwischen Holz und Nägeln, und galten weiterhin als schräge Vögel. Aber sie gehörten zum Städtchen wie die Akhi-Berge an den Horizont, und spräche man von einer kleinen Revolution, täte man ihnen nicht unbedingt unrecht. Dennoch: Drohnen?

»Nein, um uns geht es hier nicht«, sagte Zora und zog mit den Fingern die Flugrichtung der Maschinen am Himmel nach. »Sie werden über die Stadt fliegen, jedoch nicht bis zu uns, und dann in die Berge. Meñiqu wird ein Trümmerhaufen sein.«

Lucio sah sie entsetzt an. »Können wir sie retten?« Die Erkenntnis schlug ihm sichtbar auf den Magen. Seine Muskeln spannten sich an im Drang, sofort zu seiner Familie zu stürmen, die ahnungslos zuhause saß. ›Kurioses Abendlicht‹, würden sie staunen. Er musste sie rauszerren. Fortrennen.

Zora schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten »Keine Zeit«, doch die Schallwellen verschwanden im Klang der Detonationen, die dem roten Licht über der Stadt nachjagten und ihre Heimat unter dem explodierenden Himmel Pagaus begruben. Es ging zu schnell, um es zu begreifen.

Ihre Augen folgten hilflos dem Horror und erblickten alles und erkannten nichts. Sahen von Ferne die brennenden Häuser, sahen den Tod und zweifelten doch an den Bildern. Der Lärm kam, der Lärm ging. Regungslos stand Zora am Fenster, die Seele taub. Es ging viel zu schnell, um es zu begreifen.

*

»Lucio. Steh auf.«

Es surrte in seinen Ohren. Mühsam öffnete er die Augen und sah durch den goldenen Schimmer der Lichterzwerge hindurch in das violette Augenpaar Zoras, die sich über ihn beugte. War er in Ohnmacht gefallen? »Zora«, murmelte er, und das Wissen um ihre Anwesenheit schickte eine Welle goldener Ruhe durch seine Brust, beinah so golden wie sein Blickfeld, in dem die Lichterzwerge aufgeregt umherliefen. Er brauchte einen Moment, um durch die Taubheit in seinem Kopf hindurch aufzutauchen. Wie, wenn man eben wieder aufwacht aus einem wirren Traum, und noch nicht ganz klar ist, welcher Teil zur Wirklichkeit gehört. Bloß, dass da kein Traum war. Zoras Blick schrie die Verzweiflung in die Welt, auch wenn sie den Mund zusammenkniff, und er wusste, ab heute würde alles anders werden.

*

»Wir müssen schauen, ob jemand überlebt hat«, sagte Zora bemüht beherrscht, und zog Lucio auf die Beine. Sie schienen ihn nicht tragen zu wollen. Unsicheren Schrittes folgte er ihr über die gezimmerten Dielen ihres Baumhauses.

Draußen regierte die Stille. Stille und tödliche Röte. Sie kletterten hinab und gingen stumm in Richtung Meñiqus zerstörten Zentrums, und nur der goldene Schweif der Lichterzwerge, der Lucio voranlief, zog Farbe durch den mit jedem Tritt schwärzer werdenden Grund. 

Trümmer tauchten auf, wo sich früher Häuser am Stadtrand erhoben hatten. Es roch verkohlt und schwefelig, der Boden war übersät mit glühendem Schutt, über den sie gen Marktplatz stiegen.

»Sag ihnen, dass sie nach Überlebenden suchen sollen«, wandte sich Zora an Lucio und stieß mit dem Fuß einen Balken aus dem Weg. Lucio sprach lautlos mit den Lichterzwergen, wie er schon als Kind getan hatte. Zoras Worte hingegen verklangen bei den winzigen Wesen meist ungehört. Sie hatte nie jenen Draht verstanden, der Lucio mit ihnen verband.

Lucio kniete sich auf die Trümmer und streckte den Finger in die Richtung der Lichterzwerge aus. Sie brummten – das hatten sie lange nicht mehr getan. Aber schließlich war dies keine normale Aufgabe, und wäre es nicht Lucio, der sie darum bat, säßen sie vermutlich trotzig auf dem Boden und grummelten vor sich hin. Zora schnaubte, wie stets, wenn sie sich über das Verhältnis zwischen Lucio und den Zwergen wunderte.

Sie musste zum Haus ihrer Eltern. Die oberflächliche Kühle, die sie Lucio zuliebe vorschob, verbarg nur bedingt das Chaos in ihrem Innern, das ihre Organe zu zerfetzen drohte beim Gedanken, sie hätten sich nicht in die Keller retten können.

*

Scharf-beißendes Rot. Bitter-schwefeliges Schwarz. Nie hatte sie solch deutliche Farben gerochen. Sie hatten alle anderen Farbdüfte mit einem Schlag verdrängt, als sie das Krachen der Bomben und der in sich zusammenbrechenden Häuser hörte. Schutt stürzte die Kellertreppe herunter und versperrte den Ausgang. Die Lichter waren schon kurz zuvor ausgegangen, nun war es dunkel und kühl im Keller. Sie fröstelte.

Ihr rosa Federkleidchen sollte nicht wärmen, sondern gut aussehen. Die geographische Lage von Meñiqu erlaubte solchen Luxus über lange Monate hinweg, und Roja trug das Kleid seit der Gründung ihres Betriebs den ganzen Sommer hindurch. Doch jetzt verfluchte sie das Kleidungsstück ob der eisigen Kälte, die durch die Federn drang und durch ihre Angst noch verstärkt wurde.

Die Hitze der Bomben war in Wellen zu ihr heruntergedrungen, aber nur von kurzer Dauer gewesen. Das war kein normales Feuer, sondern Explosionen, die eine beißende Kälte zurückließen. Sie hatte von solchen Waffen gelesen. Die Union von Uriwa hatte sie entwickelt, hieß es.

Oben im Geschäft hätte sie aus zahllosen, wärmenden Kleidungsstücken wählen können, doch hier unten fanden sich nur die Gobelins, die sie dieser Tage für einen Kunden färben sollte, und die an den Wänden aufgereiht hingen. Das dürfte nun hinfällig sein. Sie nahm einen davon und schlang ihn sich wie einen langen Wickelrock um den Körper. Viel besser.

Die Balken, die den Ausgang versperrten, waren zu schwer für sie. Staubig-fahles Licht drang durch die Lücken zwischen dem Gebälk und zeichnete starre Dreiecke auf den Boden. Das Drei-Farben-Eck war zerstört.

Die Seitengänge blieben im Dunkeln und so überließ Roja es mehr ihrem Farbgeruch und der jahrelangen Kenntnis des Gewölbes als den Augen, sich in dem weitverzweigten Keller zurechtzufinden. Es gab nicht viele Dinge hier unten. Aber vielleicht fände sie etwas, was ihr beim Überleben helfen könnte. Ein paar der Pflanzen, die sie zum Färben verwendete, konnte man essen. Ein Messer. Ihr Skizzenbuch samt Feder und Tusche. Ein Säckchen Großmünzen aus dem Tresor. Es war nicht wenig, was sie sich in den letzten Jahren als Färberin und Händlerin angespart hatte.

Trotzdem blieben ihr nur ein gefüllter Rucksack, eine Decke und ein rosa Flamingofederkleid.

Plamm. Der Stab, den sie gegen das Metall schwang, war schwer, und ihr Arm schmerzte. Das Zeitgefühl hatte sie vor einer Weile verloren. Die Minuten in einem totenstillen, dunklen Keller sind träger als anderswo, und wann sie zu einer Stunde kumulieren, ist jene Art Kulturwissen, das in einer schwarzverkohlten Stadt zuerst entfleucht.

Plamm. Wenn es noch Überlebende gäbe, horchten sie nach solchen Zeichen. Warum hatte sie bloß niemanden vorgewarnt? Aus Angst, ausgelacht zu werden für ihren unerklärlichen Geruchssinn? Aus Ignoranz? Waren all die Menschen ihr nicht wichtig genug? Sie schluchzte. Der Schmerz des Alleinseins zerriss sie innerlich. Ob noch irgendeiner ihrer Freunde lebte? Joana und ihr Sohn? Namen und Bilder von Menschen, die ihr etwas bedeuteten, schossen durch ihren Kopf. Sie hätten ihr Glauben geschenkt, hätte Roja sie gewarnt. Trug sie die Schuld? Und wer tat so etwas? Warum um alles in der Welt wollte man ausgerechnet Meñiqu zerstören?

Beschäftigt mit ihren Gedanken bemerkte sie erst spät den klebrig-süßen Zimtgeruch goldener Farbe. Irritiert suchte sie mit Blicken den Keller nach dem ungewohnten Duft ab. Plamm, schlug sie erneut ihr Hilfesignal und nahm einen ständig stärker werdenden Goldduft wahr. 

Winzige, mattgoldene Funken stoben aus den Ritzen des zugefallenen Ausgangs über den Kellerboden und strömten wie ein funkelndes Rinnsal auf sie zu. Sie verharrte, ungewiss ob der Natur des Phänomens, und ließ sich von ihnen umzingeln. Es kribbelte an ihren Füßen und dann verschwanden sie wieder, wie von einem lautlosen Befehl geleitet. Keine zehn Schläge auf der Metallplatte später hörte sie Geräusche von der Treppe.

»Hey, ist da jemand?«, erklang eine dunkle Stimme, während ein Scharren und Knacken auf das Verschieben der Trümmer hindeutete.

»Hier unten! Am Ende der Kellertreppe!«, erwiderte sie und versuchte erneut, die Balken zu bewegen, um der Stimme entgegenzuarbeiten. Die goldenen Funken erschienen erneut und formten sich zu Pfeilen und Kreisen, wo lockerer Schutt und leichtes Gebälk lagen. Was immer es war, es schien mehr als ein Haufen simpler Funken zu sein.

»Bist du verwundet?«, rief ihr Retter zwischen den letzten im Weg liegenden Balken hindurch.

»Nein, es geht schon. Danke«, antwortete Roja und ließ sich nach draußen ziehen. Unter einem Lockenkopf blickten ihr große Mahagoniaugen aus feinen, dunkelbraunen Gesichtszügen entgegen. Hübsch, aber von Traurigkeit gebrandmarkt. Ein paar Jahre jünger als sie, jedoch definitiv in den späten Zwanzigern, schmal, aber gutaussehend.

»Ich bin Lucio. Das da hinten ist Zora.« Er deutete auf eine kräftige Frau ähnlichen Alters, die bei einer nahegelegenen Ruine stand. »Wir sind die beiden vom Lichtbaumhaus.«

»Ah, ja«, reagierte Roja entrückt, während sie sich zwischen den halbzerstörten Häusern und schwarzverkohlten Überresten umsah. Der Himmel trug die erdfarbene Tönung des frühen Abends, doch sie roch weiterhin einen scharfen Rotgeruch. Eisenhaltig. Hier lagen viele Tote.

»Du bist die Färberin, richtig?«, fragte Lucio und sah sie besorgt an.

»Ja. Entschuldige. Mein Name ist Roja«, antwortete sie und taumelte einige Schritte vorwärts.

»Sieh es dir nicht zu genau an. Ich musste mich ein paarmal übergeben«, warnte Lucio und deutete auf die Ruinen. Roja blickte zu einer aus den Angeln gefallenen Haustür, aus der ein blutiger Arm herausragte. Zerfetzte Haut gab den Blick auf die Muskeln des Unterarms frei, und ein gesplitterter Knochen ragte aus dem verbrannten Fleisch. Saure Galle in der Kehle. Würgreflex.

»Komm«, sagte Lucio, sie an der Hand zu Zora führend, die in einem Schutthaufen wühlte. »Hier wohnten ihre Eltern«, flüsterte er. »Sprich sie besser nicht an.«

Sie standen schweigend am Rande des schwarzen Trümmerberges, durch den sich dünne Linien aus goldenen Funken zogen. Zora kämpfte sich systematisch mit versteinerter Miene durch die Ruine, so dass die Asche ihre Leinenhose grau färbte. Es war aussichtslos. Roja konnte Fleischfetzen und Knochenreste zwischen den verkohlten Steinen erkennen. Niemand überlebte solch ein Massaker. Zora suchte nach dem Unmöglichen.

»Zora. Lass uns gehen«, sagte Lucio gedämpft. »Hier ist niemand mehr.«

Zora funkelte ihn aus den Augenwinkeln an. »Woher weißt du das? Sie könnten immer noch irgendwo sein!«

»Die Lichterzwerge hätten sie aufgespürt«, widersprach Lucio und deutete auf den untätigen goldenen Haufen. »Sie fanden nur Roja.«

Zora schnaubte und schien das erste Mal Roja zu bemerken. Sie musterte sie von oben bis unten, und ihre Miene wurde leicht abfällig, als sie das rosa Federkleid unter dem umgeschlungenen Gobelin bemerkte. »Roja. So«, bemerkte sie mit kaltem Tonfall. »Es dämmert. Wir übernachten im Baumhaus, und morgen ziehen wir fort. Es gibt keinen Grund mehr zu bleiben«, befand sie und drehte sich um. 

»Ich muss noch in der Sommergasse schauen. Nur da. Bitte.« Rojas Stimme klang brüchig beim Gedanken an ihre beste Freundin. Wie oft hatten sie auf der Terrasse gesessen und zu dem 20 Jahre alten Schlagloch geschaut, das man hier Krater nannte. Hatten gelacht und geklatscht, über die Provinzstadt gelästert und von der Welt geträumt. Und als Roja begann, für ihr Geschäft zu reisen, hatte sie ihr jedes Mal etwas mitgebracht, und ihr bei einem Kaffee auf den klapprigen Stühlen vor ihrem Haus von der Ferne vorgeschwärmt.

»Du hast ihn doch gehört. Hier lebt niemand mehr«, sagte Zora mit harter Stimme und einem ebensolchen Glanz in den Augen.

»Es liegt auf dem Weg. Wir werden nachsehen«, versprach Lucio und bedeutete Roja, Zora zu folgen.

Sie fanden sie. Die wackeligen Schemel zerbrochen, der Krater gefüllt mit dem Schutt der umgebenden Häuser. Die Terrasse war herabgestürzt, in große Stücke zerfallen. Joana lag darunter. Lediglich der grausam zerfetzte Oberkörper ragte aus den Trümmern. Er triefte vor Blut. Ihr halbes Gesicht fehlte. Roja wandte sich um und übergab sich. Der Geruch von Erbrochenem und Tod waberte über ihnen. Sie griff den Gobelin, in den sie sich eingewickelt hatte, und legte ihn über die tote Freundin.

Der Schmerz ließ keinen Gedanken für eine weitere sinnlose Suche nach Joanas Sohn übrig. Tränen überströmten ihr Antlitz, als sie schließlich aufstand und Zora und Lucio folgte, mutterseelenallein in ihrer plötzlich ruinierten Welt.

Die Dämmerung über der toten Stadt roch heu-gräulich und scharf-schwefel-schwarzrot. Der Boden knirschte unter ihren Füßen und machte die Lautlosigkeit eines menschenleeren Ortes greifbar. Sie klammerte sich an diese Stille, jenen letzten verbliebenen Begleiter, der von ihrer Existenz zu zeugen wusste. Vernichtung ist leichter zu begreifen als Schöpfung: Was noch nicht ist, entzieht sich der Vorstellungskraft wie eine Seifenblase den eiligen Griffen einer Hand. Das Zerstörte jedoch prägt sich mit unwiderstehlicher Kraft im Innersten ein. Die Bilder der verbrannten Stadt wurden in den Köpfen der drei stummen, im Dämmerlicht verschwimmenden Figuren zum Sinnbild des Verlorenen: die Hände der Familie, der Geschmack der Geschichte, das sanft zurrende Gefühl von Heimat.

Was nun begann, war anders, und sie wussten nicht, warum. Der ahnungslose Himmel drückte die Nacht auf sie herab und presste alle Ängste und Tränen der qualmenden Ruinen in ihre Körper.

Und mit der Finsternis, da kam die Einsamkeit.

Hochland

Die Stadt brannte. Hölle. Links und rechts fiel Erde in sich zusammen, in scharf geschnittene Rechtecke. Gräber. Zora rannte, floh vor dem Grauen in ihrem Rücken, und um sie herum hetzten die Menschen, die sie kannte und liebte. Strauchelten. Stürzten in die Gräber. Dampf, Rauch, verkohltes Fleisch. Vater. Mutter. Zora musste wegsehen, Tränen in den Augen, auf den Boden vor ihren Füßen achten, um nicht in die nächste sich öffnende Gruft zu fallen. Die Luft war Schädel und Knochen. Und als ihr Blick die Tiefe eines ausgehobenen Grabes streifte, wartend auf den kommenden, brennenden Leib, sah sie keinen Tunnel, kein Licht, keine Flucht in eine bessere Welt. Während ihre Waden unter der Anstrengung explodierten und ihre Organe schmolzen, sah Zora …

Schweißgebadet erwachte Zora aus dem Albtraum, das Holz ihres Baumhauses unter dem Rücken, hart und kalt, Lucio und die Neue neben ihr schlafend. Sie atmete schwer ein und aus, strich sich die verschwitzte Strähne aus der Stirn. Das Ende des Traumes verschwand. Was hatte sie gesehen? Ihr Unterbewusstsein sträubte und wehrte sich gegen die Erinnerung.

Sie hatte das Nichts gesehen. Die absolute Nichtigkeit der Existenz, das Gefühl, einfach ausgeschaltet zu werden wie eine Maschine. Als ob das Leben eine müßige Erfindung sei. Ihr Kopf schmerzte, und es war kein physischer Schmerz. Diese Nacht würde noch einige solcher Grauen für sie bereithalten. Der Hass ballte sich in ihrer Kehle zusammen, doch sie schluckte ihn herunter und spürte den sich erhärtenden Klumpen in ihren Eingeweiden, während sie ihre Seele erneut dem Schlaf anvertraute.

*

Die Sonne strahlte, als hätte sie den vorletzten Tag nicht gesehen. An den Bergen im Westen hing eine Kette großer, weißer Wolken, aufgereiht bis zum Ende des Blickes, und der weite Himmel ließ die Hochebene noch gigantischer erscheinen. Den schwarzen Streifen der Zerstörung hatten sie östlich hinter sich gelassen und liefen Richtung Norden. Die Gegend war spärlich besiedelt, man konnte tagelang über das Land ziehen, ohne auf ein Dorf oder ein Haus zu treffen. Sie waren gestern bis zur Dämmerung gelaufen und hatten sich ihren Schlafplatz in einem Wäldchen am Wegesrand eingerichtet. Doch die Nacht hatte keinen rechten Schlaf gebracht.

»Sollten wir nicht die Handelsstraße nehmen?«, hatte Roja nach dem planlosen Aufbruch am Vortag gefragt.

»Was, wenn Krieg ist? Wenn das erst der Anfang war? Soldaten und Plünderer gleichermaßen würden die Landstraßen als Erstes belagern«, hatte Zora gekontert und entschieden, sie werde auf jeden Fall auf abgelegenen Pfaden bleiben.

Roja lenkte ein. Ein Alleingang war wenig attraktiv. Lucio hatte geschwiegen, seit sie das Baumhaus verlassen hatten. Es erleichterte ihn, dass andere die Entscheidungen trafen. In Gedanken geisterte er noch immer durch das Baumhaus, den Blick auf den brennenden Himmel gerichtet. Wortlos hatte er die Tasche geschultert und war den beiden Frauen gefolgt. Sie wechselten sich ab mit dem unhandlichen, großen Beutel, in den sie alle Lebensmittel, die sie im Baumhaus gelagert hatten, einen Haufen Kabel, Glühbirnen und zwei Sonnenplatten gepackt hatten. »Das ist zu schwer, wozu brauchen wir das ganze Zeug überhaupt?«, hatte sich Roja beschwert, als sie die Tasche das erste Mal getragen hatte.

»Wir werden es benötigen«, hatte Lucio sein Schweigen gebrochen und angeboten, die Tasche für sie zu tragen. Sie würde leichter werden; schneller als ihnen lieb sein konnte – sofern sie keine Gelegenheit bekämen, die Vorräte aufzufüllen. Der Schotter knirschte unter seinen Füßen.

»Wenn Krieg wäre, müsste es Flüchtlinge geben, meint ihr nicht?«, fragte Roja und blickte ihn fragend an.

»Nicht, wenn sie überall so effektiv sind wie bei uns«, antwortete er finster und zuckte die Schultern. »Und falls doch: Das Hochland ist weitläufig. Sie flüchten sich in die Berge. Oder den Dschungel.«

Zora lächelte spöttisch. »Oder sie sind auf der Handelsstraße.«

Der Unterton entging Roja nicht. »Was hast du gegen mich?«

»Du bist ein verzärteltes Mädchen, das sein Geld mit hübschen, unnützen Kleidern verdient. Sieh dir dein pinkfarbenes Federkleid an! Ich hab’ nichts gegen dich, ich hab’ nur einfach nichts für dich übrig.«

»Oh, ich bin dir nicht abgeklärt genug, ist es das? Entschuldige, es können nicht alle kalt die Schultern zucken, wenn Familie und Freunde ermordet werden!«

»Lass meine Familie da raus!«

»Es tut mir leid. Lass uns das vergessen«, lenkte Roja ein, jedoch mit sichtbarer Überwindung. »Wir sind hungrig und durcheinander von den letzten Tagen, wir sollten uns nicht auch noch zerstreiten.«

Lucio mied den Blick in ihre Gesichter, doch die Anspannung hing zähflüssig in der Luft wie zerkochtes Seidengras in den Fingern. Die allgemeine Leere schlug auch ihm auf den Magen. Vielleicht hatte Roja recht und sie hätten die Handelsstraße nehmen sollen, dann wären sie bereits im nächsten Ort angekommen – sofern dieser noch existierte. Gleichwohl hütete er sich, das zu sagen. Es war ohnehin zu spät und die Diskussion zwischen Roja und Zora weiter anzuheizen, würde der Stimmung nicht guttun.

»Hmm ...«, grummelte Zora schließlich zustimmend.

Stumm marschierten sie weiter. Die Gedanken hinter Lucios Stirn webten ineinander verknüpfte Netze, deren Enden und Anfänge er nicht mehr zu durchblicken vermochte. Was hatte es mit den Drohnen auf sich? Was sollte nun aus ihnen werden? Würde sich die Stimmung zwischen Roja und Zora weiter verschlechtern, wenn sie noch lange unterwegs auf der Suche nach ... was auch immer waren? Wohin wollten sie überhaupt? Die erdfarbene Dämmerung stieg von der gleichfarbigen Steppenlandschaft herauf und drückte das Tageslicht hinter die Berge, deren breite Schatten sich auf dem Weg zum dunkelnden Osten mit seinen Gedanken kreuzten. Und erneut breitete sich das Gefühl in seiner Brust aus, allein auf der Welt zu sein. Nun, nicht gänzlich, selbstverständlich. Die Lichterzwerge huschten aus seiner Tasche, als es dämmerte, und liefen in einer goldenen Schar vor ihm her. Und doch fühlte er sich einsamer, als er es je für möglich gehalten hätte.

In jener Nacht richteten sie ihr Nachtlager abseits des Pfades ein und verzichteten auf Feuer oder Nachtwache, obgleich sie es erwogen hatten. Es gab kaum gefährliche Tiere in diesen Breiten, und die Rucksäcke gaben wenig her, das sich zu rauben lohnte. Die Wanderung hatte ohnehin jegliche Kräfte aufgebraucht, die einen von ihnen noch hätten wachhalten können, und so begnügten sie sich damit, Rücken an Rücken im Dreieck einzuschlafen. Sechs geschlossene Augen gegen die dunkle Steppe.

*

Gedämpfte Geräusche ließen Zora vorsichtig die Augen öffnen. Der Morgen graute, die Luft war noch kühl, das Licht fad. Wenige Meter von ihnen entfernt saßen fünf blau gekleidete Menschen in einem Kreis und unterhielten sich angeregt, ohne die Schlafenden weiter zu beachten. Was immer sie im Schilde führten, sie schienen kein baldiges Erwachen zu erwarten. Bemüht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, tastete sie in der Tasche nach ihrem Messer. Lucio und Roja schienen noch zu schlafen. Vorsichtig stupste sie Lucio mit dem Fuß an und raunte: »Lucio. Wach auf. Beweg dich nicht.«

»Was ist los?«, flüsterte er verschlafen, folgte aber ihrer Anweisung und blieb auf demselben Fleck liegen.

»Da sitzen fünf Leute. Können die Lichterzwerge uns helfen, wenn wir mit ihnen kämpfen müssen? Ich habe nur ein Messer.«

»Ich ... ich weiß nicht«, gab Lucio zögernd zurück. »Warum sollten wir mit ihnen kämpfen?«

Zora verdrehte die Augen. »Vielleicht wollen sie uns ausrauben. Oder sie haben etwas zu essen. Das sollten wir uns holen.«

»Unsere Schützlinge erwachen«, vernahm sie die volltönende Stimme eines Mannes, der sich von der Gruppe löste und auf sie zukam. Verflucht! Ohne zu zögern sprang sie auf und zückte die Klinge. Der Mann schreckte nicht zurück, vier Menschen hinter sich wissend, die von ähnlich guter Statur schienen wie er.

»Wer seid ihr?«, fragte Zora fordernd und sah aus den Augenwinkeln, dass Lucio und Roja ebenfalls aufstanden und sich links und rechts von ihr positionierten.

»Wer will das wissen?«, antwortete der blaugewandete, kahle Mann so gelassen, als säße er weiterhin im Kreis und unterhielte sich über den letzten Abend. Ihr Messer ignorierte er völlig und sah ihr stattdessen in die Augen, während er sich mit der rechten Hand am bärtigen Kinn kratzte. »Man weiß erst, wer man ist, sobald man aufgehört hat, es zu sein – im gleichen Sinne, wie man den Wert eines Objektes nicht eher erkennt, als dass man aufgehört hat, es zu besitzen. Um etwas, gleichwohl ob fremd oder der eigenen Person zugehörig, bewerten zu können, muss der Sensus jenen Sachverhalt ja zunächst perzipieren, gefolgt von dem Verstand, der jeden Wesenszug desselben eingangs abzuwägen gedenkt. Bis ebendieselbe Erkenntnis, so unverzüglich sie sich auch begeben haben mag, gewonnen und erst zum Ausdruck gebracht wurde, ist jener Augenblick – sprichwörtlich Augenblick – den wir Präsens nennen, längst verstrichen. Ist es ergo überhaupt physikalisch machbar, zu wissen, wer oder was etwas – sogar man selbst – zu diesem Zeitpunkt ist? Geschweige denn all jene Gegenstände, die sich lediglich mit Abstand sehen lassen.« Er zuckte mit den Schultern und sah seine Begleiter an. »Wäre die angemessene Frage demzufolge nicht vielmehr: Wer waren wir?«

Eine hochgewachsene Frau mit schmalen Augen nickte nachdenklich, drehte offenbar ein paar Worte auf der Zunge umher und ergänzte: »Oder genauer gesagt: Wer mutmaßen wir, gewesen zu sein? Wo doch diese Einschätzung bekanntermaßen fern jeder Objektivität weilt. Ein anderer Betrachter beschriebe uns womöglich in völlig differierender Weise. Und wer vermag schon mit Sicherheit zu behaupten, die Wahrheit über die Existenz gepachtet zu haben?«

Zora runzelte die Stirn und linste irritiert zu Lucio. Worüber zur Hölle redeten diese Menschen? Schauspielerten sie, um sie zu überlisten?

»Gleichwohl können wir indes schwerlich deklamieren, dass wir glauben, etwas gewesen zu sein – ich vermag das allenfalls von mir zu behaupten«, wandte ein jüngerer und bartloser Nomade ein, kaum noch an sie als Gegenüber gerichtet. »Der Zirkel, als welchen sie uns adressiert hat, zeichnet sich ja durch die Rotation seiner Genossen aus und war mithin in der Vergangenheit mitnichten die Summe von uns als ihren Bestandteilen – ergo kann man schlechthin nicht nach uns fragen, sondern lediglich nach dem Kollektiv. Dies, also die Erkundigung nach der Gruppierung, vermag man, selbstredend, auch im Präsens zu erfragen: Für was halten wir diese Gruppe?«

»Ähm, famos. Für was haltet ihr die Gruppe also?«, fragte Roja mit der gleichen Verunsicherung, die Zoras Kopf durchstreifte.

»Nomadische Denker«, antwortete der kahlköpfige Mann mit der Bassstimme. »Nichts verpflichtet als der Suche nach den angemessenen Fragen. Eine davon wäre: Wer glaubt ihr, gewesen zu sein?«

Das erklärte die umständliche Antwort. Zoras Misstrauen verschwand – dieser Bund wandernder Philosophen würde schwerlich eine Gefahr für sie darstellen. Womöglich konnten sie ihnen gar helfen. Je nachdem, wo sie herkamen, wüssten sie eventuell eine Richtung für den nächsten Tagesmarsch.

»Lucio und ich, Zora, versorgten Meñiqu mit Strom. Die einzige Stadt Pagaus, die nicht vom Gold als Rohstoff zur Stromerzeugung abhing. Roja hat Stoffe verkauft.«

»Meñiqu wurde vor zwei Tagen von Drohnen zerstört, außer uns überlebte niemand. Nun suchen wir nach ... nun, einer Heimat, Essen, Unterkunft ...«, ergänzte Roja und sah Lucio und Zora auf Hilfe wartend an. »Irgendwas ...?«

»Wer nicht weiß, wonach er fahndet, wird auf nichts als das Ungesuchte stoßen. Mit Essen freilich können wir dienen.« Die Frau mit den Mandelaugen deutete auf den Kreis zertretenen Grases, wo sie zuvor gesessen hatten. In der Mitte lag ein Päckchen mit Brot und gepflückten Beeren. Nicht viel, aber dennoch eine Einladung.

*

Das Brot schmeckte nach Heu und die Beeren zogen Rojas Mundwinkel zusammen. Wenn der Muskat-Maniok-Geruch der blauen Gewänder angenehmer war als der der essbaren Früchte, ließ das berechtigte Zweifel an deren Genießbarkeit aufkommen. Auch Lucio verzog den Mund, die bittere Kost zwischen den Zähnen, und Roja war nicht sicher, ob es ein verkniffenes Lachen oder die Säure war. Sie waren beileibe nicht in der Lage, selbst die bitterste Nahrung auszuschlagen. Und die nomadischen Denker schienen keinen großen Vorrat an Alternativen mit sich zu tragen.

»Wir wurden einer der Siedlungen gewahr, oder vielmehr des desaströsen Geschickes derselben«, sagte die zweite Frau in der Runde, die es ebenso wie die anderen nicht für nötig gehalten hatte, sich vorzustellen, und zündete eine Pfeife an. »Wir konstruierten diverse Theorien, was es damit auf sich hat.« Roja, Lucio und Zora guckten sie erwartungsvoll an. »Es liegt im Bereich des Möglichen, dass es sich dabei um einen Lapsus handelt. Das Naturell der Destruktion weist auf Drohnen hin, eine Hypothese, die von eurer Darstellung gestärkt wird. Drohnen fliegen automatisiert, mit longitudo und latitudo zum Ziel gesteuert dank diffizilster Technologie. Ein Systemfehler, oder ein paar fehlerhafte Zahlen, und die Kolonne steuert den falschen Kontinent an.«

Der Glatzköpfige unterbrach sie: »Fürwahr, es ist theoretisch denkbar, jedoch äußerst ungewiss. Der Streifen von Bombenbeschuss ist dafür unverhältnismäßig lang, selbst ein fernsteuernder Pilot bemerkt solch einen Irrtum nach einer kürzeren Zeitspanne. Ich halte die zweite Theorie für plausibler, nämlich, dass die Drohnen nicht von den Staaten der Union von Uriwa stammen, sondern von einem Unbekannten, der eben diesen Anschein erwecken will, weil niemand einen Dritten mit solchen Waffen vermutet – mit dem Motiv, einen Krieg zwischen Pagau und Uriwa anzuzetteln, oder die Union aus anderem Impuls niederträchtig erscheinen zu lassen.«

»Oder«, ergänzte der Bartlose, dessen cremefarbenes Gesicht ohne jeden Ausdruck auszukommen schien, und nahm die Pfeife entgegen, »es geht um Rohstoffe. Pagau hat reichhaltige Goldvorkommen, die hiesige Verbrennung entspricht einem Bruchteil jener andernorts. Die urische Regierung weiß, dass sie in ihrem eigenen Staatsgebiet künftig kein Gold mehr fördern wird – sie versuchen gegenwärtig, mikroskopische Dosen Metall aus Bäumen zu extrahieren, die Selbiges mit dem Grundwasser aufnehmen. Zugleich benötigen sie Unmengen jener Edelmetalle – für monumentale Fabriken und Häuser, die allerlei elektrische Gerätschaften nutzen, und nicht zuletzt die militärischen Drohnen. Für gewöhnlich kaufen sie die Goldminen in fremden Nationen auf und entnehmen dort so viel, wie sie tragen können. Pagaus Präsident hat indes mit einem Veto den Verkauf der Hochlandminen verhindert – und hier treten die Drohnen in Erscheinung. Sie sind eine Machtdemonstration.«

»Sie bombardieren unsere Städte für einen Kaufvertrag?«, zweifelte Roja.

»Oh, sie werden selbstredend ein anderes Motiv vorschieben«, versicherte der Nomade achselzuckend und paffte dunklen Rauch aus der Pfeife. »Drogenhandel oder Rebellen. Aber jeder wird die tatsächliche Ursache kennen. Das Staatsoberhaupt wird seinen Einspruch zurücknehmen und prüfen, ob sich Pagaus Eigenverbrauch noch weiter reduzieren lässt.«

»Streng genommen ist es bisher lediglich eine Korrelation der Ereignisse«, wandte die Mandeläugige ein, »aber alle Indizien deuten auf eine Kausalität nach besagter Theorie hin.«

Sie aßen auf und rauchten fertig. Die Nomaden diskutierten über ihre Theorien, hin und wieder unterbrochen von Zora, die Details für möglich oder absurd hielt. Das Gras, auf dem sie saßen, wärmte sich und die pagonische Hochebene wachte auf, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Es war ein solcher Tag, zweifellos, wie jeder Tag im allzeit identischen Zyklus der Natur. Was kümmerte es die Natur, ob und vor allem wer eine Handvoll Akhi-Städtchen zerstörte. Roja seufzte. Was blieb ihr, als die Gedanken an jene Stunden einzuschließen, einen Zaun um den Fleck verbrannter Erde zu bauen und eines Tages das Gras rundherum erneut wachsen zu lassen?

Sie gingen mit den fünf Nomaden zu ihrem Lager zurück. Der Zirkel setzte sich aus vierzig Leuten zusammen, die für eine Weile ihre blauen, nach Yuca duftenden Zelte an einem Ort aufschlugen, und von dort in kleinen Gruppen umherwanderten. Schlicht, um zu denken und zu diskutieren: Sie stritten über das Zusammenleben der Völker und erörterten das physikalische Verhalten der Elemente. Ihre 20 Schlafzelte aus blaugefärbtem Seidengras umringten ein Vorratszelt. Drei Maulesel und zwei Kühe grasten nebenan, und die Denker stromerten ziellos und wild gestikulierend durch das Gelände. Wer ihrem Bund beitrete, müsse drei Jahre mit ihnen ziehen, sich der Geistestätigkeit verpflichten und der Gemeinschaft uneingeschränkt helfen, erklärte man ihnen. Doch bis sie sich für einen nächsten Reiseabschnitt entschieden hätten, sei man bereit, ihnen Obdach zu gewähren.

Zora bedankte sich, stellte jedoch klar, dass sie nicht vorhabe, für drei Jahre zu bleiben. Lucio wollte noch überlegen, doch es war deutlich, dass er keine Entscheidung ohne Zora träfe. Roja jedoch rang mit sich. Ihr Zuhause gab es nicht mehr, und wer wusste, wo es Zora und Lucio hintrieb? Ganz abgesehen von Zoras Abneigung ihr gegenüber. Und die Gemeinschaft der Denker schien umgänglich, nicht-akademischer Streit nahezu unbekannt. Ein simples Leben zwar, doch es mangelte ihnen augenscheinlich an nichts. Auch sie würde es sich in den nächsten Tagen überlegen, aber anders als Lucio meinte sie es ernst.

*

»Rational, was für ein Unsinn!« Die erregte Stimme scholl scharf durch die mit blauen Teppichen verzierte Wand des Versorgungszeltes. »Niemand verfügt über hinlängliches Wissen, um rational zu entscheiden. Schau dir die Landwirte im Hochland an. Das ist nichts als Tradition! Sie agieren nach Paradigmen, nach dem, was sie kennen.«

»Selbstredend, bloß warum tun sie das? Weil sie es für die rational effizienteste Option halten! Die Alternative, die ihnen den größten Nutzen bei minimalem Aufwand verspricht!«

Leicht amüsiert bemerkte Lucio, wie Zora entnervt die Augen verdrehte. Streitgespräche wie diese waren allgegenwärtig im Lager, und Zora stets aufs Neue ein Ärgernis.

»Als ob das eine Rolle spielt. Tradition oder Ratio! Menschen handeln, Dinge geschehen. Wir müssen damit klarkommen. Ich halte diese lebensfernen Diskussionen nicht mehr aus.«

»Sie wollen das Warum verstehen. Nur so lässt sich etwas ändern«, wandte Lucio ein, während sie das Zelt der Streitenden hinter sich ließen und zum Rande des Lagers schlenderten.

»Aber sie ändern nichts, Lucio. Es ist mir gleich, ob die Urier Meñiqu zerstörten, weil sie es für die rationalste Handlung hielten oder weil jemand anders es ihnen vorgemacht hat. Die Stadt existiert nicht mehr, wir sind noch da. Das ist alles, was zählt. Es ist egal, warum sie es taten, ich hasse sie so oder so. Da hilft uns doch auch keine skeptische Analyse durch die Nomaden. Außerdem reden sie geschwollen.«

»Lasst uns nicht mehr davon sprechen. Es ist müßig«, brachte Roja sich in das Gespräch ein. »Wir sollten überlegen, wohin wir weiterziehen. Wir sind schon seit vier Tagen hier. Sie werden eine Entscheidung hören wollen.«

»Du willst nicht bleiben?«, fragte Lucio, der vor zwei Tagen mit ihr über ihre Unsicherheit gesprochen hatte. Er kam nicht umhin festzustellen, dass ihn diese Neuigkeit erfreute. In den letzten Tagen war Rojas Anwesenheit in ihrer Flüchtlingsgruppe ihm zunehmend normaler vorgekommen. Und auch, wenn Zora womöglich anders darüber dachte, spürte er, dass Roja ihm fehlen würde, wenn sie hierbliebe.

»Sie faszinieren mich, und das Reisen reizt mich. Aber ihr Alltag ist so ungewöhnlich. Sie leben gänzlich ohne Geld, wie Bettelmönche, die auf Nahrungsspenden von Anderen hoffen. Das könnte ich nicht. Ich bin Händlerin. Und sicher finden wir eine neue Heimat irgendwo im Hochland.«

Zum ersten Mal, seit er Roja aus dem Keller gezogen hatte, sah Lucio, wie Zora ihr zustimmend zunickte. Nun, das musste ein Zeichen für eine Entscheidung sein: Wenn Roja und Zora einer Meinung waren, dann sollten sie wohl tatsächlich weiter ziehen.

*

»Ich muss los.«

»Wann kommst du zurück?«, fragte der nach Ingwer und Erde riechende Mann neben ihr und ließ seine großen Hände über ihre Brüste gleiten.

»Ein, zwei Monate. Zur nächsten Lieferung. Wie üblich.« Luana betrachtete ihren Bettgefährten amüsiert. Er schien mehr an ihr zu hängen, als er zugab. Natürlich verbrachte auch sie gerne die Nacht bei ihm, wenn sie wieder eine Ladung Ayahuasca an das Dschungellager brachte. Doch sie betrachtete es eher als eine Verbindung von nützlich und angenehm – am gleichen Tag zurückfliegen wäre anstrengend, eine Übernachtung war notwendig. Und wenn sie zur selben Zeit ihrer Libido einen Gefallen tun konnte, warum nicht? Er war schließlich ein rücksichtsvoller und doch fordernder Liebhaber, obgleich man es ihm nicht direkt ansah. Neben den diversen großen, muskulösen, kupferfarbenen Männern im Camp wirkte er unauffällig und schüchtern, sein Gesicht war unsymmetrisch, die Augen engstehend und die dunkle Haut rissig. Aber das beeinträchtigte ihn zwischen den Laken keineswegs.

»Danke für die Nacht«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie fischte ihre Kleidung aus dem Haufen auf dem Boden und schlüpfte, noch halb auf dem Bett sitzend, hinein. »Bis bald, Süßer.«

»Guten Heimflug, Luana«, antwortete er und verzog seine Züge zu der Andeutung eines Lächelns. Sie warf ihm ein letztes Lächeln zu, legte ihre kurzen Dreadlocks zurecht und verließ die Hütte. Die Fünf-Uhr-Morgens-Sonne am kupferhellen Himmel weckte gerade den Rest des Lagers auf. Einzig der Chef der Bande saß mit einer Zigarre im Mundwinkel unter dem Mast, an dem ihr Luftschiff hing.

»4000 Peseten«, begrüßte er sie und reichte ihr acht Großmünzen für die Lieferung, die sie ihm gestern gegeben hatte.

Luana ließ sie klimpernd in ihren Beutel fallen. »Einwandfrei«, sagte sie und klopfte ihm auf die Schulter.

»Kein Wort zu niemandem«, mahnte der erstaunlich hagere Anführer und hielt ihr die Strickleiter ihres Zeppelins hin, als käme sie nicht ohne seine Hilfe hinauf.

»Selbstverständlich«, antwortete Luana lächelnd und kletterte an der Leiter die zwei Meter hoch zur Gondel, die an dicken Stahlseilen unter dem Ballon hing. »Und pass das nächste Mal auf, dass keiner deiner Leute aus Versehen mit den Grenzern redet«, rief sie ihm hinterher und zog den Anker ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Erstaunlich, dass niemand der Gruppe auf die Schliche kam, so unkoordiniert, wie sie agierten. Sie kurbelte das Laufgewicht an das hintere Ende des Schiffes und ließ sich in ihren Pilotensitz fallen.

Lautlos schwebte der blaue Zylinder in die Höhe, während er das versteckte Dschungellager in einem Dickicht von Grün verschwinden ließ. Es war einer ihrer monatlichen Routineflüge zurück über die Grenze gen Süden. Doch bevor sie in ihr Tal zurückkehrte, zog es sie ins Hochland. Sie hatte den Entschluss vor ein paar Tagen gefasst, nach einem jener Träume, die noch Tage später durch ihr Gehirn zogen, Spuren hinterlassend wie abbrennende Zündschnur. Nicht, dass er ihr tatsächlich etwas im eigentlichen Sinne gesagt hätte. Sie konnte sich kaum an die Details erinnern, aber das vage Gefühl einer wichtigen, vielleicht fatalen Begebenheit blieb. Und es zog sie, so unerklärlich diese Träume auch waren, nach Westen in Richtung Hochland.