Tierisch giftig - Sibylle Luise Binder - E-Book

Tierisch giftig E-Book

Sibylle Luise Binder

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Beschreibung

Es gibt Frösche, die man nicht küssen sollte - wie den tödlich giftigen Goldenen Blattsteiger aus Brasilien. Ein solcher Pfeilgiftfrosch sitzt seelenruhig in der Zimmerpalme eines Selbstmörders und veranlasst die herbeigerufene Polizei dazu, die Göppinger Amtsveterinärin Friederike Abele an den Tatort zu bitten. Die junge Tierärztin weiß: Ein Frosch kommt selten allein. Im Haus des Verstorbenen deutet alles darauf hin, dass der Mann im großen Stil mit Amphibien und Reptilien gehandelt hat. Friederike Abele beginnt zu ermitteln. Die Jagd nach den Drahtziehern des Reptilienschmuggels führt sie zu einem fragwürdigen Zoohändler ins Ruhrgebiet und schließlich bis in den Rotterdamer Hochseehafen, wo nicht nur ihre Qualitäten als Schlangenbeschwörerin gefragt sind ...

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Sibylle Luise Binder

Tierisch giftig

Sibylle Luise Binder

Tierisch giftig

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Sibylle Luise Binder, Anfang 50 und (meist) in Stuttgart zuhause, ist seit einem Vierteljahrhundert als Journalistin und Autorin tätig. Neben einer ganzen Reihe von Sachbüchern über Pferde und Reiten hat sie Mädchenbücher und Krimis geschrieben. Tiere faszinieren sie schon seit ihrer Kindheit – und daher hat die Reiterin und Züchterin von Warmblutpferden neben Hunde- und Katzen- auch Zirkuserfahrung. Wenn sie nicht mit Tieren befasst ist, beschäftigt sie sich gerne und ausführlich mit Oper und Geschichte.

Dies ist ein Roman – reine Erfindung, ein Produkt der Phantasie.Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personenoder mit realen Vorfällen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Auflage 2013

© 2013 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © gwmullis – iStockphoto.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1604-5E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1605-2Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1278-8

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

1

»Guten Morgen, mein Herz!«

Friederike Abele fühlte einen stoppeligen Kuss im Nacken, drehte sich brummend von der Seite auf den Bauch, hob den Kopf und blinzelte einäugig in den Sonnenstrahl, der ein paar Meter vom Bett entfernt durch ein Spitzbogenfenster fiel. »Ist heute Samstag?«, fragte sie verschlafen.

»Nein, es ist Donnerstag«, gab ihr Lebensgefährte Corin Auskunft. »Du wirst also nicht umhinkommen, aufzustehen.« Er stand, nur mit einer verwaschenen Jeans bekleidet, neben dem Bett und schaltete gerade seinen Rasierer an.

Friederike wälzte sich auf den Rücken, streckte sich und schob die Arme unter den Kopf. Einen Moment betrachtete sie ihren Liebsten, angefangen vom grauschwarz melierten, sehr kurz geschnittenen Drahthaar, dem schmalen, dunklen Gesicht mit den irritierend blauen Augen hinunter zu den muskulösen Schultern, dem kleinen Bauchansatz, dem schmalen Becken und den langen Beinen bis hin zu den ausgesprochen hübschen, nackten Füßen. Sie fand ihn auch nach fünfjährigem Zusammenleben immer noch sehr appetitlich, doch ein Seitenblick auf den Wecker überzeugte sie davon, etwaige Vernaschvorhaben zu vertagen. »Scheibenkleister!«, schimpfte sie. »Ist ja schon halb acht.«

»Sag nicht, ich hätte dich früher wecken sollen!« Corin bückte sich, um in einen Spiegel zu schauen, den er auf das Spielpult der Orgel hinter dem Bett gestellt hatte.

Friederike krabbelte auf die Bettkante und zog das überdimensionale blaue Shirt mit der Aufschrift »Wer schläft, sündigt nicht. Wer sündigt, schläft hinterher besser« nach unten. »Morgen, Puck!«, begrüßte sie den wuscheligen schwarzen Hund, der schwanzwedelnd vor ihr stand. »Kannst du nicht heute mal allein ins Amt gehen?«

»Ich glaube, der Puck will heute gar nicht ins Amt. Er bleibt bei mir«, sagte Corin, während er mit der linken Hand seine Wange glattzog, um darüberzurasieren. »Ich habe heute nämlich meinen netten Tag. Ich lasse meinen Assi die Probe leiten und bleibe zuhause. Ich muss mir endlich mal den Fliehenden Flohhändler draufschaffen.«

»Iiih, Wagner!«, fand Friederike.

»Du kleine Banausin!« Corin stellte den Rasierer ab und lächelte sie an. »Was hältst du von Frühstück?«

»Hmm …«, brummte Friederike unentschlossen und ließ sich noch einmal aufs Bett zurücksinken. Ihr Blick fiel auf die Decke mit dem Kreuzrippengewölbe und sie lächelte. Es war nun vier Jahre her, seit Corin und sie – nachdem sie davor monatelang sämtliche Immobilienmakler im Kreis Göppingen zur Verzweiflung getrieben hatten – ihr Heim gefunden hatten. Ihr Problem war nämlich gewesen, dass Corin, der jahrelang zwischen einer schicken, aber für seinen Geschmack zu kleinen Wohnung in London und einem Hotel in Stuttgart gependelt war, im eigenen Haus nicht nur einen großen Konzertflügel, sondern außerdem ein nicht viel kleineres Cembalo und eine riesige Sammlung an Partituren, Büchern und CDs unterbringen wollte. Dafür brauchte er aber nicht nur jede Menge Platz, sondern – darauf bestand der Dirigent – auch eine gute Akustik. Und damit konnte keines der unzähligen Häuser, die Friederike und er angeschaut hatten, dienen.

Es war ein Freund und Kollege von Friederikes verstorbenem Vater gewesen, der ihnen dann den entscheidenden Tipp gegeben hatte. Der pensionierte Pfarrer hatte erzählt, dass seine erste Kirche aufgegeben worden sei und zum Verkauf stehe. »Das wäre doch was für deinen Corin! Die wäre groß genug für sein Geflügel und hat eine wirklich gute Akustik«, hatte er gesagt.

Friederike war zuerst skeptisch gewesen. Die ehemalige evangelische Markuskirche in Eislingen, um die Jahrhundertwende in einem Stil erbaut, den Friederike üblicherweise »Neogotik mit einem Schuss Jugendstil und Neuschwanstein« nannte, war definitiv groß genug – aber wie, bitteschön, sollte man den Kirchenraum mit den meterhohen Fenstern und dem Gewölbe heizen? Und wer würde die Fenster putzen?

Ihre praktischen Erwägungen stießen da aber schon auf taube Ohren. Corin hatte sich in die Markuskirche verliebt und wollte sie haben. Als er dann auch noch erfuhr, dass die Landeskirche sie sehr preiswert abgeben würde, war er gar nicht mehr zu bremsen. Egal, was Friederike sagte, er antwortete mit: »Das lassen wir umbauen!«

Immerhin war es dann Friederike gewesen, der eine Lösung für das Heizkostenproblem einfiel: Die Markuskirche hatte nicht nur hinten eine Orgelempore, sondern dazu noch eine Empore, die sich an der ganzen Südseite entlangzog. Friederike schlug dem Architekten, den Corin beauftragt hatte, vor, unter der Empore Schiebetüren einzubauen. Dadurch entstanden darunter ein großer und ein kleiner Raum mit normaler Raumhöhe, die gut zu heizen waren. Im kleineren Raum richteten Friederike und Corin einen Schlafraum ein, der im Sommer als Gästezimmer und im Winter als ihr Schlafzimmer diente. In den großen Raum wurden im Winter Flügel und Cembalo geschoben, außerdem gab es darin eine gemütliche Polsterecke und einen großen Schreibtisch, so dass er als »Winterwohnzimmer« dienen konnte.

Gegessen wurde sowieso meist in der Küche, die im ehemaligen Versammlungsraum der Gemeinde untergebracht war. Das Badezimmer war in einem Raum daneben – einstmals die Sakristei – und Corin machte sich immer wieder einen Spaß daraus, Besuchern gegenüber zu behaupten, dass darin früher Leichen bis zur Beerdigung »zwischengelagert« worden waren.

»Fritz, was willst du zum Frühstück?« Corin war auf dem Weg zur Treppe, wobei er sich ein Poloshirt überzog.

Fritz guckte noch einmal auf die Uhr und stand dann auf. »Eigentlich bin ich schon ein bisschen spät dran …«

Corin seufzte. »Es kann nicht gesund sein, immer ohne Frühstück loszuziehen!«, stellte er fest.

Friederike kramte Wäsche aus ihrer Kommode, warf sich eine Jeans und ein Shirt über den Arm und trabte hinter Corin die Treppe zum Kirchenraum hinunter. »Ich glaube nicht, dass Würstchen, Speck und ein halbes Dutzend Eier zum Frühstück gesund sind«, meldete sie, während sie durch den Kirchenraum und an den unzähligen Bücherregalen vorbei zum Chor und dann ins Bad marschierte. »Außerdem kriege ich im Amt einen Kaffee und eine Butterbrezel.«

Corin war inzwischen in der Küche angekommen und klapperte mit Pfannen. »Und was kriegst du sonst im Amt?«, fragte er durch die offene Badezimmertür.

»Statistiken!«, seufzte Friederike. »Medikamentenverbrauch in der Schweinemast im Landkreis Göppingen.« Sie drückte Zahnpasta auf ihre Bürste und begann zu schrubben.

»Klingt sehr spannend!« Corin lachte.

Friederike putzte ordentlich ihre Zähne, spülte ihren Mund aus und antwortete dann: »Mein Chef vermutet, dass unsere Frau Regierungsdirektorin Katja Kirchner-Lindemann seit dem Abgang von Herrn Lindemann ihre liebesleeren Nächte damit verbringt, sich immer mal wieder eine neue statistische Ausarbeitung für uns auszudenken. Mit der beweist sie dann dem Ministerium, wie effizient wir arbeiten.«

»Vielleicht solltet ihr der Dame einen neuen Mann suchen?«, schlug Corin vor.

»Können vor lachen! Euer Prinz Charles hat seine Camilla geheiratet, Albert von Monaco will lieber eine breitschultrige Schwimmerin mit blondem Gesichtsausdruck und die anderen noch verfügbaren Prinzen sind ihr zu jung. Und unter einem Prinzen tut sie es nicht.« Friederike bürstete durch ihre kurzen Locken und streckte dabei ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. »Ich glaube, ich färbe mir jetzt doch mal die Haare!«, verkündete sie in Richtung Küche.

»Tu, was du nicht lassen kannst – aber ich mag deine Haare, wie sie sind!«, kam zurück. Corin schlug drei Eier in die Pfanne. »Und du magst wirklich nicht frühstücken?«

»Ne, danke.« Friederike guckte noch einmal in den Spiegel. Bis auf die Haarfarbe – ihr Friseur nannte sie »dunkelblond«, Fritz befand sie eher »straßenköterbraun« – war der Rest nicht ganz schlecht: Ihr klares Gesicht mit den blaugrauen Augen und dem kleinen Grübchen im Kinn gefiel ihr und mit ihrer Figur war sie einigermaßen zufrieden. Mutter Natur hatte es in der Abteilung Brust und Beine gut mit ihr gemeint – oben genug vorhanden, unten lang genug. Dazwischen allerdings – nun ja, der Bauchansatz kam wohl von zu viel Zeit am Schreibtisch und ihrer Liebe zu Nüssen, am besten in Schokolade. Doch Corin mochte ihr Bäuchlein. »Dürre Zicken«, so sagte der Musikdirektor der Stuttgarter Oper des Öfteren, »bekomme ich bei unserem Ballett genug zu sehen.«

2

Einen langweiligen, statistikgeschwängerten Vormittag später kam Friederike von der Mittagspause beim Italiener zurück in ihr Büro beim Landratsamt in Göppingen. Eigentlich mochte sie ihren Job. Sie hatte direkt nach ihrem Studium der Veterinärmedizin in Holstein als Nutztierärztin angeheuert, dort aber schon schnell festgestellt, dass routiniertes Schweineimpfen und Behandeln von Kuheuterentzündungen nicht ihre Welt waren. Dazu hatte die Schwäbin im Norden gefremdelt und war darum alles andere als unglücklich gewesen, als sich in Göppingen die Chance ergeben hatte, als Amtsveterinärin anzufangen.

Nun, fünf Jahre später, stand auf dem Schild an ihrer Bürotür »Oberveterinärrätin Dr. med. vet. Friederike Abele« und auf ihrer monatlichen Abrechnung die Vergütungsgruppe A12, was sie sehr komfortabel fand. Auch der Zuständigkeitsbereich – auf dem Türschild mit »Tierschutz, Tierhygiene und Tierarzneimittel« deklariert – gefiel ihr. Er garantierte Abwechslung, wenn ihre Chefin nicht gerade wieder meinte, zu »jedem Käsdreck«, wie Fritz’ Amtsleiter zu sagen pflegte, Statistiken anfordern zu müssen.

Seufzend setzte sich Friederike wieder vor ihren Monitor und rief das letzte Formular auf. Sie übertrug gerade die dritte Zahlenkolonne von ihrem Notizzettel, als sie durch die offene Tür das Telefon im Vorzimmer klingeln hörte.

»Landratsamt, Geschäftsbereich Tierschutz, Schubarth«, hörte sie ihre Sekretärin etwas gelangweilt ihr übliches Sprüchlein aufsagen. Dann lauschte sie einen Moment, bevor sie ankündigte: »Ich verbinde Sie mit Frau Doktor Abele.«

Friederike hatte schon die Hand am Hörer. »Kriminalhauptkommissar Gebhard, Kripo Göppingen. Frau Doktor Abele?«, hörte sie eine sonore Männerstimme in gemütlichem Schwäbisch.

»Ja, am Apparat. Was kann ich für Sie tun, Herr Gebhard?« Anrufe von der Polizei waren für Fritz keine Seltenheit – ein großer Teil ihrer Tierschutzfälle wurde von den Herrschaften in Blauweiß bei ihr gemeldet. Doch die Kriminalpolizei war eher selten ihr Ansprechpartner.

»Wir sind in Donzdorf bei einem vermutlichen Suizid und haben ein kleines Problem«, berichtete der Kommissar am Telefon. »Es ist gelb, sitzt in der Zimmerpalme, gibt komische Geräusche von sich und einer meiner Jungs meint, dass das ein exotischer Frosch und vielleicht sogar was Giftiges sein könnte.«

»In Gelb?« Friederike war nicht unbedingt Spezialistin für Amphibien, aber nicht umsonst mit dem Tierarzt des Stuttgarter Zoos Wilhelma befreundet. Adrian mochte nicht nur Reptilien, sondern auch Amphibien und hatte schon während ihres Studiums in Wien immer Terrarien in der gemeinsamen WG stehen gehabt. Gelbe Frösche waren darin zwar nicht vorgekommen, aber ihr fiel dazu dennoch etwas ein – nur gefiel ihr das überhaupt nicht. Doch wenn sie bei ihrer Arbeit etwas gelernt hatte, dann das alte, schwäbische Prinzip: »No nix Narrets!« Sie atmete tief durch, zog sich Zettel und Stift heran und sagte: »Lasst das liebe Tierchen in Ruhe. Ich komme – wenn Sie mir die Adresse verraten.«

»Staufenweg 23 – da müssen Sie durch den Ort und dann in die Siedlung. Ganz oben, am Hang, ein braunes, ziemlich vergammeltes Haus. Aber ich muss Sie warnen: Unser Selbstmörder hängt noch und sieht nicht eben gut aus.«

Fritz hatte die Adresse aufgeschrieben, war aufgestanden und zum Schrank gegangen. »Meine ästhetischen Ansprüche an Selbstmörder sind nicht sehr hoch«, sagte sie, während sie ihre Tasche öffnete und ein Paar OP-Handschuhe hineinwarf. »Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen. Bis gleich!« Sie beförderte das Telefon wieder auf den Schreibtisch, holte sich im Nebenraum eine Kunststoff-Transportbox für Reptilien, schnappte ihr Handy und die Autoschlüssel und ging ins Vorzimmer. »Frau Schubarth, ich muss nach Donzdorf, einen Frosch einfangen.«

»Einen Frosch?« Die rundliche Blondine schaute grinsend von dem Formular auf, das sie gerade ausgefüllt hatte. »Wollen Sie den küssen oder an die Wand werfen?«

»Weder noch!« Friederike lachte. »Sie sind verheiratet, ich habe meinen Traumprinzen, also bleibt der Frosch Frosch. Außerdem könnte er giftig sein.«

»Das kommt bei Männern auch vor! Passen Sie gut auf sich auf, Frau Doktor.«

»Mach ich doch immer! Ciao!« Mit einem Winken verabschiedete sich Fritz und eilte den langen Flur entlang zum Aufzug.

In der Siedlung in Donzdorf ging es zu wie auf einem Straßenfest. Die wenigen Anwohner, die nicht vor dem braunen Haus standen und gespannt der Dinge harrten, die da noch kommen würden, hingen stattdessen an den Fenstern. Die Nachbarin gegenüber hatte es sich sogar mit einem Sofakissen auf dem Fensterbrett gemütlich gemacht und anscheinend nur darauf gewartet, bis Fritz ihren Geländewagen abgestellt hatte und ausgestiegen war. Kaum hatte sie das Gartentor erreicht, schallte es aus dem Nachbarhaus: »Sie, da können Sie nicht reingehen! Da hat sich einer umgebracht!«

Der uniformierte, junge Polizist, der am Gartentor stand, verdrehte die Augen. »Sorry, aber hier können Sie wirklich nicht rein. Da läuft eine polizeiliche Ermittlung.«

Friederike fummelte ihren Dienstausweis aus der Tasche. »Abele – ich bin die Amtsveterinärin. Kommissar Gebhard hat mich hergebeten.«

»Ja, dann gehen Sie rein – immer geradeaus durch!«

»Danke!« Friederike ging durch den ungepflegten Garten zur offen stehenden Haustür. Der Flur war eng und dunkel, dazu roch es nach Fäulnis und Moder. Friederike rümpfte die Nase. Ihre Empfindlichkeit in Sachen Geruch war ihr im Beruf schon öfter im Weg gewesen.

Eine Tür stand offen. Friederike sah zwei Männer in weißen Einwegoveralls in einer unaufgeräumten Küche Nummerntäfelchen verteilen. »Hallo. Ich suche Hauptkommissar Gebhard.«

Einer der Beamteten deutete mit dem Kinn den Flur hinunter. »Eine Tür weiter, im Wohnzimmer. Aber Vorsicht – da hängt einer und der sieht nicht gut aus.«

»Danke!« Friederike ging zwei Schritte weiter, öffnete eine reichlich dreckige Glastür und prallte zurück. Die Herren von der Polizei hatten nicht übertrieben: Der Mann, der da, nur mit einer schmuddeligen Jogginghose bekleidet, an einem Haken an der Decke hing, war wahrscheinlich schon lebend nicht unbedingt ein Anwärter auf einen Schönheitspreis gewesen. Tot machte er mit seinem über den Hosenbund hängenden Schmerbauch und dem blau verfärbten, feisten Gesicht erst recht keinen guten Eindruck.

Fritz’ unwillkürliches »Uh!« brachte einen der beiden Weißgekleideten am Schreibtisch dazu, sich umzudrehen.

»Frau Doktor Abele?«, fragte er. »Ich bin Hauptkommissar Gebhard.« Er streckte Fritz die Hand hin.

»Hallo, Herr Gebhard.« Friederike deutete auf eine Ecke des Raumes, die mit einer Klarsichtfolie abgehängt war. Dahinter erkannte sie schemenhaft eine Yucca-Palme. »Vermute ich richtig, dass mein potenzieller Übernachtungsgast dahinten sitzt?«

»Hmm!« Der Hauptkommissar nickte. »Wir haben die Ecke mal abgehängt, weil wir natürlich nicht wissen, was das für ein Frosch ist.«

Friederike lächelte. »Selbst wenn er giftig sein sollte – er springt Menschen bestimmt nicht an. Wir passen nicht in sein Beuteschema.«

»Ich hoffe, dass er Grillen frisst«, sagte der andere Beamte, der am Schreibtisch saß und gerade den Computer abmontierte. »Und das am besten schnell – das Gezirpe von dem Vieh geht mir wirklich auf den Wecker!«

Fritz hatte das Zirpen auch schon registriert und jetzt sah sie auch den Urheber: Auf dem Fensterbrett saß ein dicker Grashüpfer. Mit einem Griff hatte Friederike ihn gefangen. »Das Kaliber wäre für einen Frosch entschieden zu groß!«, erklärte sie und entließ das Insekt durch die offene Terrassentür in die Freiheit. »So«, sagte sie und stellte ihre Tasche ab. In dem Moment zirpte es aus einer anderen Ecke des Zimmers.

»Oh nein – da ist noch einer!«, seufzte der Beamte.

»Mit dem müssen Sie leben. Ich fange jetzt meinen Delinquenten«, erklärte Friederike und nahm Transportbox und Handschuhe aus ihrer Tasche. Sie entfernte die Folie und studierte die Yucca-Palme dahinter. Es dauerte einen Moment, bis sie den kleinen, gelben Frosch entdeckte, der auf einem Blatt nahe am Fenster saß.

Der Polizist, der vorher am Computer gesessen hatte, war hinter sie getreten. »Oh, jetzt ist er dahinten! Vorher saß er da oben! Wissen Sie jetzt schon, was das für einer ist? Also, einheimisch ist der wohl nicht, oder?«

»Nein, definitiv nicht.« Friederike öffnete die Box, schob sie unten auf den Blumentopf und zog die Handschuhe an. »Ich bin zwar keine Spezialistin für Amphibien, aber das dürfte ein Phyllobates terribilis sein – zu Deutsch: Goldener Blattsteiger. Der gehört tatsächlich zu den Pfeilgiftfröschen.«

Der Polizist hinter ihr trat einen Schritt zurück. »Und den können Sie jetzt einfach so einfangen?« Er klang skeptisch.

»Wie gesagt: Menschen passen nicht in sein Beuteschema. Dazu kommt, dass diese Frösche ihr Gift vermutlich – en détail ist das noch nicht erforscht – aus Insekten, die nur in ihrem Ursprungsgebiet vorkommen, herstellen. In Gefangenschaft bleiben die nicht lange giftig. Trotzdem würde ich den Kameraden nicht unbedingt knutschen.« Beherzt streckte Friederike den Arm aus, fasste in die Palme und erwischte den Frosch mit Daumen und Zeigefinger. »Na, hab ich dich …«

Als die Hand zurückzog, kratzte die scharfe Kante eines der vorderen Blätter über ihren nackten Arm. »Autsch!« Das tat weh – und zwar richtig. Friederike ließ vor Schreck fast den Frosch fallen, schaffte es dann aber doch, ihn in die Box zu verfrachten und den Deckel zu schließen, bevor sie auf ihren Arm starrte, auf dem sich einen Fingerbreit unterhalb des Ellbogens ein kleiner Blutstropfen gebildet hatte. Himmel, warum schmerzte das so scheußlich? Ihr blieb fast die Luft weg.

»Da …«, der Polizist deutete auf das Blatt, an dem Friederike sich geritzt hatte, »… ist er vorher druntergesessen.«

Fritz ging in die Knie. Ihr Arm fühlte sich an, als ob er gleich explodieren würde, und in ihrem Kopf wirbelte es. Offenkundig war der Frosch immer noch giftig – und wie war das noch einmal gewesen? »Ba… Ba…« Sie merkte gar nicht, dass sie ihren Gedanken ausgesprochen hatte. Verdammt, irgendwas mit »Ba« vorne – sie hatte doch mal gewusst, wie das Gift des Phyllobates terribilis hieß!

»Frau Doktor!«, klang eine aufgeregte Stimme zu ihr durch. »Was ist mit Ihnen?«

Friederike zog die Handschuhe aus – und ächzte dabei. Jede Bewegung des rechten Arms schmerzte mörderisch.

»Ich rufe den Notarzt!«, entschied der Polizist und eilte zum Schreibtisch.

»Nicht anfassen!« Friederike hatte es geschafft, die Handschuhe auszuziehen und ließ sie einfach fallen. Warum klang ihre Stimme nur so kratzig? Und warum tat ihr Arm so erbärmlich weh? Ihr war, als wenn ihr Hirn schon durch den Schmerz vernebelt wäre.

»Frau Doktor? Kann ich was für Sie tun?« Der Kommissar war vor ihr in die Knie gegangen. »Mein Kollege spricht gerade mit der Rettungsleitstelle. Der Notarzt ist bestimmt ganz schnell hier«, versuchte er zu trösten.

»Adrian!«, fiel Fritz ein. »Ich brauche Adrian.« Sie versuchte, ihr Handy aus ihrer rechten Hosentasche zu ziehen, doch sie konnte den Arm nicht bewegen.

»Adrian?«, fragte der Hauptkommissar.

»Adrian Hinerksen. Mein Handy!« Fritz fand Sprechen ausgesprochen mühsam. »In der rechten Hosentasche!«

Der Hauptkommissar griff nach Friederikes gesundem, linken Arm und half ihr wieder auf die Beine. Geschickt fasste er in ihre Hosentasche, brachte ihr Handy zum Vorschein, entsperrte es und suchte im Telefonregister. »Ist Adrian Hinerksen Ihr Mann?«, wollte er wissen.

»Ne. Kollege. Wildtierarzt. In der Wilhelma«, antwortete Fritz. Sie ging wieder in die Knie und ließ sich dieses Mal gleich auf ihre Kehrseite plumpsen. Ihr war erbärmlich übel und sie fühlte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen.

Der Hauptkommissar hatte inzwischen Adrians Nummer gefunden und gewählt. »Herr Doktor Hinerksen? Ich bin Hauptkommissar Gebhard von der Kripo Göppingen. Frau Doktor Abele sitzt neben mir und der geht es gar nicht gut. Sie hatte Kontakt mit einem giftigen Frosch.« Er hörte einen Augenblick zu, dann sagte er: »Klar. Ich gebe Sie Ihnen.« Er reichte Fritz das Handy.

»Adrian?«

»Mensch, Fritz, du Unglückswurm! Was hast du denn jetzt wieder angestellt?«, hörte Fritz die Stimme ihres besten Freundes. »Was war das für ein Frosch und was hast du mit ihm gemacht?«

»Gefangen«, brachte Fritz heraus. »Phyllobates terribilis – vermute ich. Das Gift ist Ba… Ba…« Der Name fiel ihr immer noch nicht ein.

»Batrachotoxine«, vollendete Adrian trocken. »Scheibenkleister! Ist der Notarzt unterwegs?«

»Ja.« Fritz weinte jetzt wirklich. »Dumm gelaufen, nicht?«

»Saudumm gelaufen«, bestätigte Adrian. »Aber hör mal, Schnurzel: Du musst jetzt tapfer sein. Ich rufe den Giftnotruf an, damit die schon mal Tetrodotoxin besorgen.«

»Tetrodotoxin«, wiederholte Friederike, als ob schon der Name des Gegenmittels gegen den Schmerz helfen würde. Irgendwo in ihrem Hirn schaltete noch etwas. »Kugelfisch!«, sagte sie. »Tetrodotoxin ist das Gift des Kugelfisches.«

»Ja, Fritz.« Adrian klang wie ein Psychiater beim Versuch, einen eingebildeten Napoleon von der Kriegserklärung abzuhalten. »Das hilft bei der Vergiftung mit Batrachotoxinen. Darum muss ich jetzt mit dem Giftnotruf reden, damit die das Zeug schnellstmöglich besorgen. Also durchhalten, Lütte. Ich melde mich gleich wieder bei dir.«

Er legte auf und Fritz ließ das Handy sinken. Sie versuchte, ihren Arm bequemer zu lagern, stellte dabei aber fest, dass auch schon die kleinste Bewegung noch mehr Schmerzen auslöste.

»Schlimm?«, fragte der Kommissar, der immer noch neben ihr kniete. »Verdammt noch mal«, er drehte sich um, »wo bleibt denn der Notarzt?«

»Notarztwagen ist unterwegs, sagt die Rettungsleitstelle«, gab sein Kollege am Schreibtisch Auskunft. »Eben in Göppingen ausgerückt. Außerdem ist der Heli angefordert.«

»Der kommt aus dem Bundeswehrkrankenhaus in Ulm, nicht? Dann müsste er ja ziemlich schnell bei uns sein.« Der Hauptkommissar lächelte Friederike ermutigend an. »Hilfe ist unterwegs! Es kann nicht mehr lange dauern.«

Fritz schloss die Augen. Ihr ganzes Universum schien aus Schmerz zu bestehen, nun nicht mehr nur im Arm lokalisiert, sondern auf der ganzen rechten Körperseite. Dazu pochte es in ihrem Kopf, als ob er gleich platzen würde. Sie ließ sich nach hinten sinken. Der Hauptkommissar schob ihr eine Hand unter den Kopf und fasste mit der anderen nach einem der Kissen auf dem Sofa.

»Herr Gebhard – die Spurensicherung …«, sagte hinter ihm jemand.

»Das ist mir jetzt wurst!«, fauchte der und schob Friederike das Kissen unter den Kopf. »Mädchen, bleiben Sie bei uns! Der Notarzt ist bestimmt gleich da!« Er klang zunehmend besorgt.

Fritz begann zu zittern. Ihr war plötzlich furchtbar kalt und sie hatte Angst. Obwohl ihr das Denken schwerfiel, erinnerte sie sich doch daran, dass das Gift des schrecklichen Baumsteigers schon in kleinen Dosen tödlich wirken konnte. Aber wie viel war eine kleine Dosis? Und wie wirkte das Gift? Verdammt, wenn sie doch nur im Studium bei den Amphibien besser aufgepasst hätte!

»Ich hör den Heli!«, rief einer der Polizisten.

»Dem Himmel sei Dank!«, seufzte der Hauptkommissar. »Haben Sie’s mitgekriegt, Frau Abele? Der Hubschrauber ist da – jetzt dauert es nicht mehr lange!«

Friederikes Handy klingelte. Mit zitternden Fingern nahm Fritz ab. »Adrian?«

»Ja, meine Lütte. Ist der Notarzt inzwischen bei dir?«

Genau in diesem Moment stürmten zwei Gestalten in Rotweiß in den Raum. Der eine, ein Sanitäter mit Rucksack und Notfallkoffer, deutete auf die Leiche, die immer noch an der Decke hing. »Also, dem können wir wohl nicht mehr helfen.«

Die Notärztin war schon weiter. Sie beugte sich über Friederike. »Hallo. Ich bin Doktor Hehner. Wer sind Sie und was ist passiert?«

»Friederike Abele.« Fritz streckte der Notärztin das Handy hin. Sie war zu müde und zu erschöpft für lange Erklärungen. »Bitte – mein Kollege …«

»Ich glaube, ich sollte mich eher mit Ihnen beschäftigen«, sagte die Ärztin.

»Vergiftung«, brachte Fritz mit klappernden Zähnen heraus. »Der Frosch da! Nicht anfassen! Kollege weiß Bescheid …«

»Okay.« Die Ärztin übernahm das Handy. »Doktor Hehner. Ich bin die Notärztin. Was wissen Sie über meine Patientin?« Sie hörte einen Augenblick zu. »Sehr gut«, sagte sie dann. »Die Giftzentrale weiß also Bescheid. Die sollen sich am besten gleich mit dem Bundeswehrkrankenhaus in Ulm in Verbindung setzen. Da werden wir Ihre Kollegin wohl hinfliegen. Ich kümmere mich jetzt mal ganz schnell um sie. Danke!«

Während die Ärztin mit Adrian sprach, hatte der Sanitäter eine Blutdruckmanschette über Fritz’ linken Arm gezogen und einen Clip zur Messung der Blutsättigung an ihren Finger gesteckt. Als er nach dem rechten Arm fasste, schrie Fritz auf. »So schlimm?«, fragte der Sanitäter.

»Ja.« Fritz biss die Zähne zusammen.

»Okay. Darf ich mal Ihr Shirt hochschieben?« Der Sanitäter klebte Elektroden auf Friederikes Brust und schloss sie an ein Gerät an.

»Können Sie links eine Faust machen?«, fragte die Ärztin. »Mist!«, schimpfte sie beim Versuch, eine Vene zu finden.

»Hand!«, empfahl Fritz. Sie hatte das Gefühl, noch nie so gefroren zu haben. »Mir ist so kalt …«

»Frau Abele, bleiben Sie bei uns!« kommandierte die Ärztin. Sie hatte endlich eine Vene auf Friederikes Handrücken gefunden und schob eine Kanüle hinein.

Doch für Friederike war es zu spät. Sie fühlte noch, wie ihr schwarz vor Augen wurde, dann war sie weg.

3

Hähnchen. Ein schönes, saftiges Hähnchenfilet in Erdnuss-Sahne-Soße mit Reis, so wie es Corin zu kochen pflegte. Oder grüne Bohnen mit Speck und Alblamm. Oder Linsen mit Spätzle und Saitenwürstle! Das wäre es jetzt! Friederike leckte sich über die Lippen. Sie hatte Hunger. Nur roch es dummerweise um sie herum weder nach Hähnchen noch nach Lamm oder gar Linsen, sondern nach Desinfektionsmittel. Und was war dieses seltsame Gluckern? Lag sie an einem Bach, der nach Desinfektionsmitteln roch? Dann würde sie ihn gleich noch mehr verschmutzen, denn sie musste dringend mal hinter einen Busch.

Wenn es nur nicht so mühsam gewesen wäre, die Augen zu öffnen! Und jetzt piepste da auch noch etwas.

Fritz schluckte und sagte: »Ich habe Hunger und ich muss mal.« Erst dann öffnete sie die Augen. Ihr Gesichtsfeld war etwas verschwommen, deshalb erkannte sie erst nach einem Moment den schmalen, dunkelblonden Mann, der sich über sie beugte. »Adrian! Was machst du denn hier?« Mit Erstaunen stellte sie fest, dass ihr sonst so geschleckter Busenfreund reichlich derangiert aussah. Er war nicht nur verwuschelt, sondern obendrein unrasiert und unter seinen grünen Augen lagen tiefe, dunkle Schatten.

»Schön, dass du wieder da bist, Lütte!« Er lächelte sie an.

»Ich muss mal, Adrian!« Fritz versuchte, sich aufzurichten, doch Adrian drückte sie ins Kissen zurück.

»Du bleib mal schön liegen!«, kommandierte Adrian.

»Ich muss aber mal!«, beharrte Fritz.

»Ich bringe Ihnen gleich die Schüssel«, sagte eine Frauenstimme. »Wie fühlen Sie sich denn?«

»Irgendwie schlapp«, antwortete Fritz nach kurzem Nachdenken. Langsam wurde ihr klar, dass sie auf der Intensivstation eines Krankenhauses gelandet war. Und dann fiel ihr der Frosch ein und ihr rechter Arm. Der schmerzte immer noch, aber lange nicht mehr so schlimm. Außerdem steckte er in einer Schiene und auf der Stelle, an der sie das Blatt geritzt hatte, lag auf einem dicken Verband ein blaues Gel-Kühlelement. Am linken Arm blies sich gerade eine Blutdruckmanschette auf. Darunter, im Unterarm, lag eine grüne Verweilkanüle, in die durch einen Schlauch eine klare Flüssigkeit tropfte.

»Adrian, wo ist eigentlich Corin?«, fiel Fritz ein.

Adrian stand auf, beugte sich über sie und küsste ihre Stirn. »Den habe ich vor einer Stunde ins Bett geschickt. Wir wussten ja nicht, wie lange du noch einen auf Dornröschen machst und er war kurz vor dem Umfallen. Aber ich habe versprochen, ihn sofort zu wecken, wenn sich was tut. Also gehe ich ihn holen. Bis gleich, Süße!«

Während er wegging, zog die Schwester einen Vorhang neben dem Bett zu, lächelte Friederike an und sagte: »Ich hole Ihnen jetzt die Schüssel.«

»Kann ich nicht einfach aufs Klo gehen?«, fragte Fritz.

»Ne, ich glaube, damit warten wir mal lieber, bis der Doktor da war«, antwortete die Schwester. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

»Schwester, eines noch: Wo bin ich hier eigentlich? Und wie lange bin ich schon hier?«

»Sie sind seit Donnerstagnachmittag hier. Und hier ist die Intensivstation des Bundeswehrkrankenhauses in Ulm. Wir haben jetzt übrigens Samstagnachmittag.«

»Und Sie haben die Streitkräfte ganz schön auf Trab gehalten!« Ein hochgewachsener Mann in Weiß mit reichlich Gold auf den Schulterstücken trat ans Bett, streckte Fritz die Hand hin, schaute aber gleichzeitig auf den Monitor neben ihr. »Sieht ja schon wieder ganz gut aus!«, lobte er und lächelte auf Fritz hinunter. »Ich bin Oberstabsarzt Jenkens. Schön, dass Sie wieder bei uns sind, Frau Abele. Wie geht’s Ihnen?«

»Ziemlich erschlagen, um ehrlich zu sein«, antwortete Fritz. »Außerdem habe ich Druck auf der Blase und Hunger.«

»Dagegen können wir was tun.« Er hob das Kühlelement von ihrem rechten Arm und tastete mit zwei Fingern über den Verband. »Tut das noch sehr weh?«

»Nein, deutlich besser. Es brennt zwar noch, aber nicht mehr so schlimm.«

Die Schwester kam mit der Schüssel und inzwischen war Fritz’ Bedürfnis dringend genug, dass sie froh war, das kalte Metall unter ihrer Kehrseite zu spüren. Der Arzt drehte sich unterdessen diskret ab und studierte den meterlangen Ausdruck des EKGs neben dem Bett. Als Fritz fertig war und die Schwester mit der abgedeckten Schüssel verschwand, lächelte Doktor Jenkens Fritz an. »Sie können sich gratulieren. Sie haben einen recht robusten Kreislauf und ein gutes Herz.«

»Ich bin aber am Donnerstag umgekippt, oder?«, erkundigte sich Fritz.

»Ja – und damit haben Sie die beiden Notärzte und Ihren Kollegen am Telefon schwer erschreckt.« Der Arzt zog sich den Stuhl, auf dem Adrian vorher gesessen hatte, neben das Bett. »Der erste Gedanke unserer Kollegen war natürlich Brachykardie mit allem Komfort: Kammerflimmern und schließlich Herzstillstand. Das Gift, das Sie erwischt haben, ist nämlich ein Steroid-Alkaloid, das Krämpfe auslöst …«

»Ich weiß«, unterbrach Friederike lächelnd. »Und es ist ziemlich potent. Allerdings vermute ich, dass mein Herr Frosch nicht mehr allzu viel von dem Zeug zu bieten hatte.«

»Entschuldigung, ich habe ganz vergessen, dass Sie als Veterinärmedizinerin wahrscheinlich mehr über so was wissen als ich.« Doktor Jenkens blätterte in der Krankenakte.

»Haben Sie mir Tetrodotoxin gespritzt?«, fragte Friederike.

»Das ist eine heiße Geschichte!« Der Arzt lachte. »Damit haben Sie Bundeswehr, Marine und Luftwaffe beschäftigt. Ihr Kollege hat das Tetrodotoxin beim Giftnotruf in Freiburg angefordert. Die hatten es aber nicht da. Dafür war es in Kiel verfügbar. Also haben wir einen Heli vom Marinegeschwader 5 in Kiel-Holtenau angefordert. Der hat das Gegengift abgeholt und nach Schleswig geflogen. Da stand bereits ein Tornado bereit, der das Päckchen zu uns in den Süden auf den Fliegerhorst Niederstetten geflogen hat. Von dort hat es unser Heli geholt.« Er war offensichtlich stolz auf die erfolgreiche Aktion.

Fritz lächelte. »Ich kann jetzt wohl nur noch hoffen, dass ich nicht die Rechnung für den Einsatz kriege.«

»Oje – da würden Sie wirklich arm!« Doktor Jenkens tätschelte beruhigend ihre linke Hand. »Aber keine Sorge. In nicht selbst verschuldeten Notfällen wie dem Ihren ist so was ein Service der Bundeswehr.«

»Falls ich mal den Verteidigungsminister treffe, werde ich mich bei ihm bedanken«, grinste Fritz. »Bis dahin erst mal Danke an Sie und Ihr Team.«

»Gern geschehen. Aber wissen Sie, der Witz war noch, dass wir das Tetrodotoxin gar nicht verwendet haben«, erzählte der Arzt. »Sie haben, wie ich schon sagte, ein gutes Herz und die Notärzte hatten Sie sehr schön stabilisiert. Wir haben dann noch was gegen Krämpfe gespritzt, Sie beatmet und abgewartet. Unser Chef war nämlich der Meinung, dass da nicht unbedingt noch ein Gift draufmuss.«

»Ich danke ihm dafür. Nur eines verstehe ich nicht«, überlegte Fritz. »Warum bin ich eigentlich umgekippt?«

»Also, kollabiert sind Sie vermutlich wegen des Schmerzschocks. Und dazu, dass Sie dann bei uns weitergeschlafen haben, haben wir beigetragen. Wir hatten das Gefühl, dass Sie mit Ihrem Arm besser nicht wach sind.«

An der Stelle hatte er Fritz’ Aufmerksamkeit verloren. Corin war nämlich ans Bett getreten. Er war bleich und sah sehr besorgt aus. »Beloved, how are you?«

Daran, dass er Englisch sprach, merkte Friederike, wie nervös er war. Sie lächelte ihn beruhigend an und hob die linke Hand. »Jetzt viel besser!«

Er nahm ihre Hand, als ob sie zerbrechlich wäre, beugte sich über sie und hauchte einen sehr vorsichtigen Kuss auf ihre Nasenspitze. »Ich bin so froh!« Er lächelte den Arzt an. »Entschuldigen Sie die Störung! Ich bin Corin Llewellyn, der Lebensgefährte dieser abenteuerlustigen jungen Dame.«

»Oberstabsarzt Jenkens. Sind Sie nicht Sir Corin Llewellyn, der Dirigent?«

»Ja, ich bin in Stuttgart an der Oper«, antwortete Corin. Er hielt immer noch Friederikes Hand, wobei er mit dem Daumen sanft die Innenfläche streichelte.

»Meine Frau ist eine große Verehrerin von Ihnen und ich war auch mächtig von Ihrem Bruckner letztes Jahr beeindruckt«, sagte der Arzt und erhob sich. »Aber ich denke, ich überlasse Sie jetzt Frau Abele. Der geht’s schon wieder ganz ordentlich.«

»Nur Hunger und Durst habe ich!«, wandte Fritz ein.

»Ich schicke Ihnen gleich nochmal die Schwester«, versprach der Arzt. »Ansonsten können Sie sich darauf vorbereiten, dass wir Sie heute Abend auf die Wach- und morgen auf die Normalstation verlegen – wenn alles weiterhin so gut läuft. Und in drei, vier Tagen lassen wir Sie dann wieder laufen.«

»Drei, vier Tage?«, wiederholte Fritz. »Muss das sein?«

»Ja, das muss sein!«, sagte Corin energisch. »Du wirst so lange hier bleiben, wie die Ärzte es für sinnvoll halten – und wenn ich dich ans Bett fesseln muss!«

»Coco, du wirst alt!« Adrian kam feixend dazu. »Wer hätte gedacht, dass du mal einer Frau androhen musst, sie ans Bett zu fesseln!«

Der Arzt lachte. »Ich darf mich verabschieden? Ich sehe später noch mal nach Ihnen, Frau Abele. Jetzt sehe ich erst mal zu, dass Sie was zu essen kriegen. Wir wollen ja nicht, dass Sie uns vom Fleisch fallen!«

»Danke, Herr Doktor Jenkens.« Fritz wandte sich Corin zu, der sich auf den frei gewordenen Stuhl setzte. »Du siehst müde aus, Corin. Warst du die ganze Zeit hier?«

»Er war sogar schon vor dir hier«, sagte Adrian, der sich rechts vom Bett niedergelassen hatte.

»Nicht ganz – ich bin in dem Moment auf den Parkplatz gefahren, als der Hubschrauber gelandet ist«, erzählte Corin. »Ich bin sofort losgefahren, nachdem Adrian angerufen hat.«

»Und wo hast du Puck gelassen?«, erkundigte sich Fritz.

»Der ist bei deinem Chef. Ich habe Frau Schubarth angerufen. Sie hat versprochen, ihn zu holen und deinem Heiner zu bringen. Da wird er sich jetzt wahrscheinlich doll- und vollfressen und es genießen, total verwöhnt zu werden.«

»Und mein Dorle?« Fritz legte die Beine übereinander.

Corin verdrehte die Augen. »Du und dein Zoo! Aber um den haben wir uns auch gekümmert.«

Adrian übernahm. »Deinem dicken Schimmel geht es gut. Ich habe auf dem Eichenhof angerufen. Am Donnerstag haben sie ihn in den Mixer gepackt, gestern hat ihn Nicola geritten, heute haben sie sich sicher auch ein Bespaßungsprogramm für ihn einfallen lassen und morgen setze ich mich drauf, wenn du nichts dagegen hast.«

»Gehst du mit ihm raus?«, schlug Friederike vor. »Du weißt, er mag Halle nicht so sehr.«

»Alles, was du willst, Lütte!«, versicherte Adrian.

Die Schwester kam mit einem Tablett. »So«, sagte sie. »Ich habe ein feines Süppchen für Sie.«

»Süppchen?« Fritz’ Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Kann ich nicht was Richtiges haben?«

»Co, wir können uns abregen. Fritz ist wieder da – verfressen wie immer!« Adrian kicherte.

4

»Frau Doktor Abele! Grüß Sie! Ist das schön, Sie wieder fit zu sehen! Sie haben uns einen schönen Schrecken eingejagt!«

Fritz nahm die Hand, die ihr Hauptkommissar Gebhard entgegenstreckte und drückte sie herzhaft. Nach zehntägiger Zwangspause war sie den ersten Tag wieder bei der Arbeit und heilfroh darüber. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus war sie noch fünf Tage zuhause gewesen und obwohl ihr bewusst war, dass sich in Corins Fürsorge seine Liebe ausdrückte – dauernd begluckt zu werden, ging ihr auf die Nerven. Dazu hatte sie sich gelangweilt. Es war ja durchaus mal nett, zwei, drei Tage lang auszuschlafen, zu lesen, spazieren zu gehen und zu reiten. Aber dann wurde es langweilig.

Am Wochenende war ihr schon so fad gewesen, dass sie am Sonntag nach Stuttgart gefahren war. Erst hatte sie »ihren« Frosch, der inzwischen in einem Terrarium in Adrians Büro in der Wilhelma wohnte, besucht. Danach hatte sie mit Adrian in seiner Wohnung im Stuttgarter Osten Tee getrunken. Anschließend hatten sie sich umgezogen und waren gemeinsam in die Oper gefahren. Dort war nämlich Ballettpremiere: Corin dirigierte Bartóks »Der hölzerne Prinz« und Adrians Lebensgefährte Kolja tanzte die Hauptrolle. Auf den Bartók hätte Fritz, deren Musikgeschmack, wie Corin immer frotzelte, »irgendwann um 1880 herum« stehengeblieben war, gut verzichten können und Ballett war auch nicht unbedingt ihre Welt, aber da Adrian wieder einmal mindestens so nervös war wie sein Liebster, hatte Fritz es als Freundespflicht gesehen, ihm das schweißfeuchte Händchen zu halten.

Dabei hatte sie sich auf eine fröhliche Premierenparty gefreut. Diesbezüglich hatte sie allerdings Pech gehabt. Der ihr anliierte Dirigent hatte sich wieder mal als atypischer Vertreter seiner Spezies erwiesen. Anstatt sich ausgiebig von seinen Verehrerinnen – daran, dass er bei solchen Gelegenheiten von einer ganzen Riege höchst eleganter Damen aus den besten Kreisen angeschmachtet wurde, hatte Fritz sich gewöhnt – bewundern zu lassen, hatte er schon nach einer halben Stunde im schicken Restaurant der Stuttgarter Staatsgalerie nach Fritz’ Hand gefasst und sich mit der Entschuldigung, dass seine Freundin nach einem Unfall noch der Schonung bedürfe, verabschiedet.

Zuhause hatte er sich dann aber – »als Entschädigung für den Bartók«, wie er gesagt hatte – ans Cembalo gesetzt und Bach für Fritz gespielt. Und so war es dann doch noch ein sehr netter, gemütlicher Abend geworden.

Dementsprechend gut gelaunt und mit Elan war Fritz am Morgen danach ins Amt gestartet. Nun war sie mal wieder bei der Polizei unterwegs – sie hatte eine Anzeige gegen einen ihrer »Stammkunden« vorliegen, einen Hundezüchter, von dem sie aus schlechter Erfahrung wusste, dass es effizienter und gesünder war, ihn nur in Begleitung einiger uniformierter Ordnungshüter zu besuchen. Entsprechende Terminvereinbarung, so wusste Fritz, traf man am besten persönlich und so war sie nach einem Besuch beim Chef der Schutzpolizei auf dem Weg zum Parkplatz, als ihr Hauptkommissar Gebhard in der Eingangshalle entgegenkam.

»Grüß Gott, Herr Gebhard!« Sie lächelte den freundlichen Hauptkommissar an. »Sie wollte ich sowieso noch anrufen, um mich zu bedanken. Wenn Sie und Ihre Herren nicht so schnell und gut reagiert hätten, wäre das wohl noch haariger geworden.«

»Für meinen Geschmack war’s haarig genug«, fand Wolfgang Gebhard. »Umso schöner, dass Sie wieder gesund sind. Nichts zurückgeblieben?«

»Nein, alles wieder in Ordnung«, gab Fritz Auskunft. »Aber was ist eigentlich aus Ihrer Leiche geworden?«

»Der Bareis? Den Fall haben wir praktisch abgeschlossen. Wir warten noch auf den Abschlussbericht aus der Rechtsmedizin, aber das ist eine pure Formalität. Es ist eine klare Sache: Selbsttötung. Todesursache war eine klassische Henkersfraktur, der Abschiedsbrief lag auf dem Schreibtisch. Der Typ war ein echter Verlierer: Kraftfahrer, aber seit Jahren arbeitslos, weil er keine Fahrerlaubnis mehr wegen Alkohol am Steuer hatte, ein Verfahren gegen ihn wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis lief, dazu Unterhaltsforderungen für drei Kinder von zwei Frauen. Und ich habe nicht das Gefühl, dass eine davon um ihn trauert. Ganz im Gegenteil. Eine hat uns gefragt, ob’s was zu erben gibt. Wir mussten ihr mitteilen, dass wir zwar ungefähr 5000 Euro Bargeld bei ihm gefunden haben – wobei es interessant zu wissen wäre, wo er die wohl herhatte! Aber mit Erben wird’s trotzdem nichts. Erst muss die Beerdigung bezahlt werden und dann sind da noch so ein paar Forderungen offen …«

»Klingt nach einem richtig guten Leben«, stellte Fritz fest. »Aber sagen Sie, Herr Gebhard: Haben Sie außer unserem Frosch noch andere Amphibien im Haus des Herrn gefunden? Nach meiner Erfahrung kommt so ein Frosch selten allein. Zudem wüsste ich natürlich gerne, wo der Herr Frosch hergekommen ist.«

»Hmmm.« Hauptkommissar Gebhard kratzte sich hinter dem linken Ohr, dann wies er mit ausgestrecktem Arm einladend in Richtung Aufzug. »Wir haben was gefunden. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, zeige ich’s Ihnen.«

»Gerne.« Friederike folgte ihm zum Lift. »Der Frosch war übrigens illegal eingeführt. Daher interessiert es mich. Dazu ist mir im Krankenhaus eingefallen, dass die zirpenden Grashüpfer Futter gewesen sein könnten. Doch wie schon gesagt: Zum Frosch hätten sie nicht gepasst.«

Der Aufzug fuhr an, als Wolfgang Gebhard antwortete: »Lebende Tiere haben wir nicht gefunden – außer Ihrem Frosch und ein paar Mäusen. Aber der Knabe hatte wohl eine Vorliebe für giftige Viecher …« Der Lift hielt, Gebhard deutete nach links. »Hier lang, bitte!« Nach ein paar Schritten öffnete er eine Tür mit der Aufschrift »Kriminalpolizei, Ermittlungsgruppe Gewaltdelikte«.

Friederike und er traten in ein Großraumbüro. An der Fensterfront waren je vier Schreibtische zu zwei Gruppen zusammengestellt, an den beiden Stirnwänden standen hohe Wandschränke, die mit Fahndungs- und Werbeplakaten beklebt waren, an der Wand zum Flur zischte auf einem halbhohen Schrank eine chromblitzende Kaffeemaschine. Eine etwas füllige Rothaarige in zu engem Mini stand daneben.

»Hallo Wolfgang«, grüßte sie freundlich. »Kaffee?«

»Frau Doktor Abele?«, fragte Gebhard.

»Nein, danke – ich habe vorher bei Ihren Kollegen von der Schupo schon einen getrunken«, lehnte Friederike ab.

Die Tür öffnete sich und der Beamte, den Friederike am Tatort kennengelernt hatte, trat ein. Als er Friederike sah, strahlte er und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. »Frau Doktor Abele – wie nett, dass Sie uns besuchen! Wir haben uns riesige Sorgen um Sie gemacht. Übrigens: Ich bin Kriminalassistent Charly Winter.«

»Hallo, Herr Winter. Ihnen auch Danke für Ihren Einsatz am Tatort! Waren Sie’s eigentlich, der den Frosch als Exoten erkannt hat?«

»Ja, und ich habe auch versucht, ihn auf ein Stöckchen zu locken. Einen Pappkarton mit Löchern hätten wir für ihn gehabt«, erzählte der junge Polizist. »Also, wenn ich gewusst hätte, wie gefährlich der ist, hätte ich die Finger von ihm gelassen.«

»Wäre besser gewesen. Das Locken hat ihn wohl unter Stress gesetzt, daher hat er Gift auf das Blatt über sich abgegeben.« Fritz lächelte, um ihre Aussage abzumildern. »Na ja, ist ja noch mal gut gegangen. Froschi ist jetzt in der Wilhelma«, setzte sie fort.

Hauptkommissar Gebhard zog einen Besucherstuhl an den vorderen Schreibtisch und bot ihn Friederike an. Während sie sich setzte, fragte er seinen Kollegen: »Du, Charly, wo haben wir denn das Viehzeug, das du bei dem Bareis gefunden hast? Oder hast du das schon in die Asservatenkammer gegeben?«

»Ne, ne, ist noch hier.« Charly Winter ging zu einem der Hochschränke, holte einen Pappkarton und brachte ihn zu Fritz. »Gucken Sie sich das mal an. Schicke Sammlung, nicht?«

Im Pappkarton waren ungefähr zwanzig handtellergroße Blöcke aus Kunstharz. Fritz nahm einen heraus. In ihm war ein fingerlanger, heller Skorpion eingelassen. »Iiih!«, machte sie. »Ich bin wirklich keine Spezialistin für das Krabbelzeug, aber das könnte ein Tityus sein.«

»Ist der giftig?«, wollte Wolfgang Gebhard wissen.

»Fast alle Skorpione sind mehr oder minder giftig«, erklärte Fritz. »Allerdings fällt man nicht gleich tot um, wenn einen einer erwischt. In vielen Fällen ist es nur unangenehm, aber wenn man nicht sowieso schon angeschlagen ist, übersteht man es.« Fritz legte den ersten Skorpion auf den Schreibtisch und nahm den nächsten Block, in dem ein etwas kleineres Exemplar eingegossen war. »Hmm – die Brustform … Das könnte auch ein Tityus sein. Verflixt noch eins – wo hatte der Typ die Viecher her?«

»Die sind auch illegal eingeführt?«, fragte der Kriminalassistent.

»Nicht direkt. Das Gesetz über den Einfuhr und Handel mit lebendenden Tieren erstreckt sich nur auf Wirbeltiere. Dazu gehören Skorpione nicht. Deswegen finden Sie zum Beispiel auf diesen Börsen, die ausdrücklich keine Genehmigung für den Handel mit Gifttieren haben, oft genug eine ganze Menge hochgiftiger Skorpione und Spinnen.« Fritz nickte und schaute sich das dritte Exemplar an – noch ein Skorpion, der dem ersten ähnelte. »Sehr dubios.« Sie kippte den Inhalt des Kartons auf den Tisch und sortierte. Dabei kamen drei Stapel heraus, die Fritz nachdenklich betrachtete.

»Das sind lauter gleiche, oder?« Kommissar Gebhard schaute die Skorpione an, als ob er fürchten würde, dass sie gleich aus ihrem Harzsarg ausbrechen würden.

Fritz wuschelte beidhändig durch ihre Locken. »Ja«, bestätigte sie. »Und das ist nicht gut. Wenn dieser Bareis einfach ein spinnerter Sammler gewesen wäre, hätte er doch nicht nur drei verschiedene Skorpione gehabt. Ich fürchte, der Herr Bareis hat gehandelt.«

»Mit so was wird gehandelt? Gibt’s da keine Meldepflicht?«, staunte der Kommissar. Er hatte sich einen Pott Kaffee geholt und sich an den Schreibtisch neben Fritz gesetzt.

»Leider nein. Für Schlangen und Echsen gibt es eine. Unser Frosch zum Beispiel wäre auch unter die Meldepflicht gefallen. Die Skorpione aber nicht. Wie gesagt, für Wirbellose – also Skorpione, Spinnen und so weiter – gilt die Meldepflicht nicht.« Fritz seufzte. »Außerdem interessiert die Meldepflicht in der Szene nicht. Da laufen leider eine ganze Menge durchgeknallter Vögel rum, die bereit sind, für seltene Tiere ein mittleres Vermögen auszugeben. Artenschutzabkommen und Ähnliches interessiert die kein Stück.« Sie nahm noch einmal einen der Kunstharz-Blöcke in die Hand. »Kann ich mir die Dinger ausleihen? Ich würde sie gerne Doktor Hinerksen zeigen. Der kennt sich mit Skorpionen besser aus als ich.«

Wolfgang Gebhard nickte. »Ja, klar. Für ein paar Tage können Sie sie haben.«

»Danke.« Fritz räumte die gesammelten Skorpione wieder in den Karton. »Zu blöd, dass ich in dem Haus umgefallen bin. Da hätte ich mich gerne noch ein bisschen umgeschaut.«

Charly Winter, der mit in die Hände gestütztem Kopf aufmerksam zugehört hatte, meldete sich zu Wort: »Glauben Sie, dass Sie am Tatort einen Hinweis darauf finden, wo der den Frosch und die Skorpione herhatte?«

»Genau!«, bestätigte Fritz.

»Und wie gehen Sie weiter vor, wenn Sie da was rausfinden?«, wollte Charly Winter wissen.

Fritz lächelte ihn an. »Dann schalte ich die Zollfahndung ein. Froschi und Co. müssen ja irgendwo über die Grenze gekommen sein. Wenn ich einen Hinweis darauf finde, wie und wo, kann der Zoll vielleicht das Loch stopfen. Nur bringt es nichts, wenn ich die Damen und Herren von der Zollfahndung jetzt schon scharf mache. Wegen eines Froschs heben die den Hintern nicht. Ich muss schon was Konkreteres haben.«

Wolfgang Gebhard und Charly Winter schauten sich über ihre Schreibtische hinweg an, dann nickte Gebhard. Charly Winter stand auf und ging zum Schrank.

»Die Spusi ist in dem Haus durch, wir werden es also sowieso wieder freigeben«, sagte Gebhard. »Ich schicke nachher jemanden hin, um die Amtssiegel zu entfernen. Danach können Sie rein. Allerdings sollten Sie damit nicht zu lange warten. Wir müssen den Schlüssel dem Vermieter zurückgeben.«

»Der wird Spaß haben!« Charly Winter kam vom Schrank zurück und legte einen Schlüssel vor Friederike. »Wenn Sie einen Tipp von mir haben wollen: Mundschutz und einen Tropfen Minzöl drauf – in der Bude riecht es nicht gerade gut.«

»Danke.« Fritz schob den Schlüssel ein. »Nicht eben wohlriechende Lokalitäten gehören leider zum Berufsrisiko von Veterinären. Wir schmieren da übrigens Wick Vaporub unter die Nase. Das hält länger als Minzöl und ist so scharf, dass nicht mal eine halbverweste Kuh dagegen anstinken kann.« Sie stand auf. »Ich breche mal auf – Sie haben ja wahrscheinlich auch noch etwas anders zu tun als mich zu bespaßen. Den Schlüssel und die Skorpione bringe ich schnellstmöglich zurück.«

5

»Und es ist wirklich legal, dass wir da jetzt reingehen?« Adrian Hinerksen schaute sich im ungepflegten Garten des braunen Hauses in Donzdorf um, als wenn er hinter jedem Busch drei Uniformierte erwarten würde.

Friederike fummelte am Türschloss und seufzte dabei. »Seit sie dich verbeamtet haben, benimmst du dich, als wenn du die Dienstvorschrift gefressen hättest!« Sie hatte die Tür endlich offen und trat einen Schritt ins Haus. »Buh!«, machte sie dabei. »Hier riecht es wirklich nicht gut.«

Adrian war ihr gefolgt und hatte den Lichtschalter gefunden. »Igittigitt! Um das Odeur zu züchten, muss man aber hart arbeiten! Sag mal, haben deine Freunde von der Polizei zufällig vergessen, die Leiche abzupflücken?« Er schaute sich interessiert in dem engen Flur um. Die Tapete mit einem Blumenmuster in Senfgelb, Blaugrün und verblasstem Rot ließ ihn schaudern. »Extravaganter Wohngeschmack!«, stellte er fest.

Friederike öffnete eine Tür. »Herzchen, es kann nicht jeder so schick wohnen wie du.« Sie grinste und schaute eine steile Steintreppe hinunter, auf der jede Menge dreckiger und ausgelatschter Schuhe herumlagen. Aus dem Dunkel darunter drang ein moderiger, widerlicher Geruch nach oben. »Hier geht es wohl in die Katakomben. Da sehen wir uns nachher um.« Sie fasste in die Tasche ihrer schwarzen Lederjacke und brachte ein blaues Döschen zum Vorschein. »Wick Vaporub – der Balsam für Tierärzte mit empfindlichem Näschen. Damit überstehst du selbst die Obduktion einer seit drei Wochen toten Sau im Hochsommer.«

»Ich weiß, warum ich Wildtiermedizin gemacht habe!«, sagte Adrian, während er sich die Salbe unter die Nase rieb. Er öffnete die Tür zur Küche und schaute hinein. »Verrätst du mir, wonach wir eigentlich suchen?«

»Hinweise auf illegal eingeführte Tiere und vielleicht auch darauf, wo der Hausherr sie herhatte?« Friederike marschierte energisch in die Küche und fasste nach einer Schranktür. »Ugs!« Sie zog die Hand zurück. »Also, vom Putzen hat der Herr Bareis wirklich nicht viel gehalten. Warte kurz – ich habe Handschuhe im Auto.«

»Schade, dass du da nicht auch zwei Ganzkörperschutzanzüge hast!«, meckerte Adrian. Er wich einen Schritt zurück, dabei deutete er auf den Herd. »Der Herr war anscheinend tierlieb. Er hatte sogar freilaufende Haustiere!«

»Vermute ich richtig, dass es sich dabei um Nager handelt?«

»Um genau zu sein: Das, was sich da eben unter den Herd verdrückt hat, war ein Mitglied der Familie Muridae, Mus musculus, die gemeine Hausmaus, vermute ich«, führte Adrian aus.

Friederike verdrehte die Augen, eilte durch den Garten zu ihrem blauen Geländewagen, fand nach kurzem Suchen im Kofferraum eine Packung mit Einweghandschuhen und rannte damit zurück in die Küche. »Da«, sie streckte Adrian das Päckchen hin. »Damit kannst du deine lilienweißen Pfötchen schützen, du alter Korinthenkacker.«

Adrian schlüpfte in die Handschuhe. »Wenn ich nicht, wie du es so unfreundlich nennst, ein Korinthenkacker wäre, würdest du wahrscheinlich heute Taxi fahren, weil du in der dir eigenen Großzügigkeit – die man unfreundlich auch Schlampigkeit nennen könnte – vergessen hättest, einige wichtige Details für diverse Prüfungen zu lernen.«

»Sagt der Mann, der in einer Imbissbude gewirkt hat, bevor ich ihm einen Job als Bereiter organisiert habe!« Friederike hatte beherzt den Kühlschrank geöffnet, stand nun aber etwas fassungslos vor dem Chaos darin. Es roch so streng, dass sogar etwas von dem Gestank durch das Wick Vaporub drang.

Adrian zog unterdessen eine Schublade auf und sagte über die Schulter: »Es war ein gepflegter Sushi-Shop!«

»Sag ich doch: Imbissbude!« Fritz grinste, hielt sich mit zwei Fingern die Nase zu und beugte sich zum Kühlschrank hinunter.

»Herr des Himmels! Was habe ich eigentlich verbrochen, um in einer versifften Küche in einem vergammelten Haus mit dir Vergangenheitsbewältigung betreiben zu müssen!«, klagte Adrian.

»Du bist mein bester Freund?«, schlug Fritz vor. »Übrigens: Unser Hausherr scheint einen großen Bedarf an Hackfleisch und Eiern gehabt zu haben. Oder er hatte irgendwelche Mitbewohner, die darauf standen.«

»Die Mitbewohner gehörten vermutlich nicht zur Spezies Homo sapiens.« Adrian stand vor einem offenen Wandschrank. »Guck mal, was ich hier gefunden habe.« Er hielt eine gelbgrüne Dose hoch. »Algon Rept – Vitamin- und Mineralfutter für carnivore Reptilien«, stand auf dem Etikett.

Fitz schlug den Kühlschrank zu und trat zu Adrian. An ihm vorbei fasste sie nach zwei Fläschchen. »Und was haben wir denn da Schönes? Reptoherb Elektrolyte flüssig«, las sie ab. »Und Reptoherb Kokex hatten wir auch im Haus. Soll helfen, wenn das Chamäleon Dünnpfiff hat.«

Adrian nahm ihr das erste Fläschchen aus der Hand. »Und das Zeug für geschwächte Tiere …«

»Ist Ihr Kaiman zu blass? Schwächelt Ihre Wasserschildkröte? Füttern Sie Raptoherb Elektrolyte – gibt selbst der gemeinen Gila-Krustenechse eine gesunde Gesäßfarbe!«, feixte Fritz.

Adrian rollte die Augen. »Interessant finde ich das: ›Für geschwächte Tiere – zum Beispiel nach Transport‹ «, las er vom Etikett ab. »Na ja – da wüsste ich was Besseres.«

»Du bist ja auch Tierarzt. Das war der werte Verstorbene nicht.«

»Hoffentlich nicht!«, seufzte Adrian. »Die Vorstellung, dass ein Kollege in einer derart versifften Bude haust …« Er schüttelte sich.