Rosstäuscher - Sibylle Luise Binder - E-Book

Rosstäuscher E-Book

Sibylle Luise Binder

4,5

Beschreibung

Eigentlich hätte die Göppinger Amtsveterinärin Friederike Abele genug mit Katzenhaltern, Kontrollen auf Hühnerhöfen und übereifrigen Tierschützern zu tun, doch dann entdeckt sie einen toten Pferdewirt auf der Toilette eines Pferdehofes. Wenig später stirbt ein Besamungstechniker in der Deckbox eines holsteinischen Zuchtbetriebs. Beide Opfer haben für den Pferdeauktionator und Züchter Hugo Freudenbäcker gearbeitet, den Friederike noch aus ihrer Ausbildungszeit kennt. Die junge Tierärztin glaubt nicht an Zufälle und beginnt auf eigene Faust, Nachforschungen anzustellen. Dabei stößt sie auf illegalen Samenraub und einen groß angelegten Zuchtbetrug. Als sie den Drahtziehern auf die Spur kommt, muss Friederike wieder einmal um ihr Leben schwimmen, tauchen, reiten und rennen.

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Sibylle Luise Binder

Rosstäuscher

Sibylle Luise Binder

Rosstäuscher

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Sibylle Luise Binder, Mitte 50 und in Stuttgart zuhause, ist seit einem Vierteljahrhundert als Journalistin und Autorin tätig. Neben einer ganzen Reihe von Sachbüchern über Pferde und Reiten hat sie Mädchenbücher und Krimis geschrieben. Tiere faszinieren sie schon seit ihrer Kindheit – und daher hat die Reiterin und Züchterin von Warmblutpferden neben Hunde- und Katzen- auch Zirkuserfahrung. Wenn sie nicht mit Tieren befasst ist, beschäftigt sie sich gerne und ausführlich mit Oper und Geschichte.

Nach »Tierisch giftig« ist »Rosstäuscher« der zweite Band mit der Amtstierärztin Friederike Abele.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Auflage 2015

© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Somogyvari – iStockphoto.

Druck: CPI books, Leck.

Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1662-5

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1663-2

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1396-9

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

GLOSSAR

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1

»Morgen, Mehmet!« Friederike Abele, von ihren Freunden »Fritz« genannt, gähnte herzhaft, aber wohlerzogen hinter der vorgehaltenen Hand und schielte aus noch reichlich verschlafenen Augen nach einem Korb mit Brötchen, der in einer Vitrine neben der Theke des Kiosks stand.

»Guten Morgen, Fritz!« Der rundliche Kioskbesitzer grinste unter seinem Schnurrbart hervor, während er mit einem Handscanner die Daten von einem Päckchen ablas. »Du bist heute sehr früh dran!«, stellte er fest.

»Übrigens von mir auch Moin!« Ein hoch aufgeschossener Mann in einer reichlich abgenutzten Reithose, die um seinen mageren Hintern Falten schlug, legte das Pferdemagazin, in dem er geblättert hatte, zurück ins Regal und drehte sich zu Fritz um. »Was machst du denn hier?«, erkundigte er sich.

Fritz deutete mit dem Daumen aus dem Kiosk hinaus auf die Straße und die Kirche gegenüber. »Ich wohne hier«, antwortete sie dem Mann, in dem sie Thorsten Bohnen erkannte, seines Zeichens Bereiter auf Gestüt Birkenhof, auf dem Fritz’ Pferd zuhause war.

»Aber das ist ne Kirche!«, wunderte sich Bohnen.

Fritz lachte. »Das war eine Kirche«, korrigierte sie. »Sie wurde vor ein paar Jahren verkauft. Seitdem wohnen mein Anhang und ich darin.«

Der Kioskbesitzer war mit dem Päckchen fertig, schlug den Vorhang, der hinter ihm einen Eingang mit zwei Stufen verhüllte, zur Seite und brachte es ins Magazin. Fritz unterdessen griff zu der Zeitschrift, die Bohnen gerade weggelegt hatte. »Hui, die neue ›Equus‹ ist schon da. Klasse! Frühstückslektüre.«

»Du liest das?« Bohnen schüttelte abschätzig den Kopf. »Da steht doch nix drin!«

Kioskbesitzer Mehmet war wieder da und tippte etwas in die Kasse. Noch bevor er den Preis vermelden konnte, hatte Bohnen in die Hosentasche gegriffen und legte einen zerknitterten Fünf-Euro-Schein auf den Tresen. »Stimmt so, Mehmet.« Er nahm seine Quittung, stopfte sie in die Hosentasche, schlurfte zur Tür und verabschiedete sich mit einem unverbindlichen »Man sieht sich!«.

»Bis bald, Thorsten!«, rief der Kioskbesitzer ihm nach, bevor er nach einer Papiertüte griff und sich Friederike zuwandte. »Was magst du haben?«

Fritz legte die Zeitschrift auf die Theke und deutete auf den Brötchenkorb. »Bitte ein Laugen-, ein Vollkornweckle und ein Butterhörnle«, bestellte sie.

Während der Kioskbesitzer mit einer Zange das Gewünschte in der Tüte verstaute, fragte er freundlich: »Corin nicht zuhause?«

Friederike gähnte noch einmal. »Der ist schon vor einer Stunde abgezischt – er musste die Frühmaschine nach Paris erwischen.«

»Mann, der ist was unterwegs!« Aus Mehmets Stimme klangen sowohl Bewunderung für Fritz’ Lebensgefährten Sir Corin Llewellyn, der als Dirigent um die halbe Welt jettete, als auch Bedauern für seine dauernd allein gelassene Freundin.

Fritz zuckte mit den Schultern. »Kann man nix machen – ist halt sein Job.« Sie wühlte einen Zehner aus der Tasche ihrer Jeans und griff mit der anderen Hand nach einer Zeitung. »Die ›Stuttgarter Zeitung‹ nehme ich auch noch mit. Mal sehen, wie die den neuen Figaro an der Oper fanden.«

»Okay, dann bekomme ich 9,80 von dir.« Der Händler nahm Fritz den Schein ab und gab 20 Cent heraus, die sie in das Sparschwein auf der Theke steckte.

Mit der Brötchentüte und der Lektüre unter dem Arm eilte sie über die Straße und zum Seiteneingang der ehemaligen evangelischen Markuskirche. Als Fritz damals – müde von der Suche nach einem Haus, in dem Corin nicht nur Platz für einen Konzertflügel und ein Cembalo, sondern auch noch eine passende Akustik fand – von der Kirche gehört hatte, war sie noch nicht fähig gewesen, sich ein Leben darin vorzustellen. Nun aber, sechs Jahre später, hatte sie sich daran gewöhnt, in der warmen Jahreszeit neben der Orgel zu schlafen und ein Arbeitszimmer mit drei Meter hohen Buntglasfenstern zu haben.

Nun legte Fritz im ehemaligen, zur Küche umgebauten Versammlungsraum der Gemeinde ihre Brötchen und die Zeitungen auf den Tisch, braute sich einen Latte macchiato, stellte einen Teller, Butter, Schinken und Erdbeermarmelade auf den Tisch und setzte sich mit einem Seufzen. Sie mochte es nicht sehr, allein zu frühstücken, und noch weniger mochte sie, was ihr danach bevorstand: Betriebsinspektion bei einem Hundezüchter, der sich durch eine ausgeprägte Abneigung gegen Amtsveterinäre und, wie Fritz’ Vorgesetzter Heiner Saalbeck einmal vermutet hatte, »eine Allergie gegen Wasser und Seife« auszeichnete. Die wirkte sich nicht nur auf seine Erscheinung aus, sondern leider auch auf die Zwinger, in denen er Welpen en masse produzieren ließ. Dummerweise war Fritz die zuständige Amtsveterinärin.

Fritz war in den sechs Jahren, seit sie nach dem Studium in Wien und der Ausbildung als Fachtierärztin für Nutztiere in Holstein Amtsveterinärin in Göppingen geworden war, oft gefragt worden, ob sie, ihren Freunden als eigenwillige Individualistin bekannt, sich denn als Beamtin wohlfühle. Sie bejahte die Frage immer und führte aus, dass sie genau in diesem Job alles bekomme, was sie sich während ihres Studiums gewünscht habe: die Chance, ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen etwas für den Tierschutz zu tun, Abwechslung, Kontakt zu Tieren, Herausforderungen. Natürlich waren mit dem Amt auch Papierkrieg und das Ausfüllen zu vieler Formulare verbunden, doch dabei hatte Fritz die Hilfe von Gesine Schubarth, ihrer ebenso erfahrenen wie langmütigen Sekretärin. Und wenn es dann um Spezialisten wie jenen Hundezüchter ging, so konnte Fritz auch auf die Polizei setzen, die auch bei diesem Einsatz wieder für Friederikes Sicherheit sorgen würden.

2

Fritz ließ ihre Finger über den Oberschenkel ihres Liebsten nach oben krabbeln und schnurrte dabei wie eine Katze. Wie immer genoss sie den Kontrast zwischen der seidenen Weichheit seiner schwarzen Hose und dem harten Muskel darunter. Auch wenn Corin immer wieder darauf verwies, dass er Sport als Zeitverschwendung derer ansehe, die sonst nichts mit sich anzufangen wüssten, war er auch in seinen fortgeschrittenen Fünfzigern noch ausgesprochen gut in Form, was wohl seinem Beruf geschuldet war, der ihm jede Menge Bewegung verschaffte. Nun legte er seine Hand über Friederikes und lächelte sie an. »Beloved, ich weiß, dass du die Straßen hier kennst wie die Innenfläche deiner Hand, aber wenn du mich weiter so anmachst, sehe ich mich leider gezwungen, dich anzuspringen – und dann landen wir auf dem Acker.«

Fritz lachte, zog den Jaguar mit der linken Hand um eine Kurve und ließ die rechte noch etwas höher gleiten. »Ich mag es, von dir angefallen zu werden!«, erklärte sie.

»Auch auf einer einsamen Landstraße auf der Hochfläche der Ostalb?« Corin schaute zur Seite, wo die Scheinwerferkegel gerade einen steil herabfallenden Hang beleuchteten. »Das könnte der ultimativ letzte Akt an Leidenschaft werden, und ich hänge doch ziemlich am Leben.« Die Aussage hielt ihn aber nicht davon ab, sich im Sitz zu räkeln und dabei die Beine zu öffnen, was seiner Fahrerin die Chance gab, ihn noch etwas intimer zu streicheln.

»Hmm!« Nun war es Corin, der fast schnurrte, um dann sofort zu seufzen. »Sag mal, warum sind wir eigentlich nach Schwäbisch Gmünd ins Konzert gefahren? Das ist viel zu weit von zuhause entfernt.«

»Das musst du deine Nachwuchsstreicher fragen«, empfahl Fritz. »Warum sind die in Gmünd aufgetreten?«

»Weil sie Nachwuchs sind – da fängt man nun mal in der Provinz an.« Corin fing Friederikes vagabundierende Hand ein und zog sie an die Lippen. »Außerdem stammt das Cello aus Schwäbisch Gmünd.«

»Es ist übrigens ein sehr hübsches Cello!« Aus Friederikes Stimme klang ein wenig Eifersucht.

»Es ist vor allem ein sehr junges Cello!«, antwortete Corin. »Außerdem solltest du mich besser kennen. Ein guter Fuchs jagt nie vor dem eigenen Bau. Dazu kommt«, er biss spielerisch in Fritz’ Daumen, »dass ich da eine gewisse Amtsveterinärin kenne, die ich so sexy finde, dass ich sie am liebsten auf dem nächsten Feldweg vernaschen würde.«

Fritz musste nun beide Hände ans Steuer nehmen, um auf der schmalen Straße einem entgegenkommenden Geländewagen auszuweichen. Bevor sie wieder beschleunigte, lächelte sie zu ihrem Liebsten hinüber. »So schmeichelhaft besagte Amtsveterinärin das findet – da du darauf bestehst, einen nicht eben geräumigen Sportwagen zu fahren, würde das eine Artistik verlangen, die wir beide doch unbequem finden würden. Ich habe eine bessere Idee …« Sie zog den Wagen durch eine Kurve und über eine kleine Kuppe und gab Gas. Vor ihnen tauchte nun ein langgestrecktes Gebäude mit Sonnenkollektoren auf dem Dach auf. Fritz fuhr daran vorbei und bog auf den Weg ein, der an der großen Reithalle des Gestüts Birkenhof vorbei zum L-förmigen Hauptgebäude führte. Das untere Ende des L schmiegte sich an den oberen Abhang der Kuhle hinein, in der der Hof auf der Hochfläche lag. Fritz parkte das Auto unter einem alten Kirschbaum, stellte den Motor ab, öffnete die Tür und sagte: »Komm!« Sie wieselte um den Wagen herum, öffnete den Kofferraum und nahm eine Decke heraus.

»Was hast du vor?«, wollte Corin, der inzwischen auch ausgestiegen war, wissen. Er blinzelte skeptisch in den Himmel, an dem sich der Mond gerade hinter einer vorbeiziehenden Wolke versteckte. »Liebe unter dem Aprilhimmel mag romantisch klingen, aber es sieht nach Regen aus.«

»Keine Sorge, du wirst es warm und trocken haben!« Fritz fasste nach seiner Hand und zog ihn Richtung Gebäude. Am großen Scheunentor angekommen, drückte sie eine Bohle zur Seite, griff in den Spalt, nahm einen großen, alten Schlüssel heraus und öffnete die Kette, mit der das Tor verschlossen war. Anschließend schob sie es so weit auf, dass Corin und sie hindurchschlüpfen konnten. Sie zog es hinter sich zu und schaltete das Licht an ihrem Handy ein. Der schmale Strahl tastete über einen leeren Heuwagen und einen grünen Traktor, die in der Einfahrt standen. Daneben waren meterhoch große Strohballen gelagert. Fritz fasste wieder nach Corins Hand und wollte ihn um die Strohballen herumführen, doch er legte den Arm um sie, ließ seine Hände zu ihrer Kehrseite wandern und drückte sie an sich.

»Du riechst gut, du fühlst dich gut an und du schmeckst sicher auch gut!«, sagte er und ließ seine Lippen über ihre Wange zu ihrem Mund gleiten.

Obwohl Fritz unter ihrer schwarzen Hose Absätze trug, musste sie sich recken, um ihren langen Corin zu küssen. Sie unterbrach den Kuss nach einem Moment. »Im Stehen bist du unbequem!« Sie führte Corin um den Berg mit den Strohballen herum in den vorderen Teil der Scheune, in dem Heu lagerte. »Pass auf, da links ist die Abwurfluke!«, warnte sie Corin.

Während sie ein Stück davon entfernt drei Ballen nebeneinanderzog und die Decke darüber ausbreitete, schaute Corin nach unten ins Dunkel. »Wo sind wir hier eigentlich?«, wollte er wissen.

Fritz zog ihre Jacke aus und legte sie auf einen Stapel Ballen. »Unter uns ist das Mädchenpensionat«, erläuterte sie. »Der Stutenstall.«

»Ah, ja.« Corin setzte sich neben Fritz, die sich mittlerweile auf der Decke niedergelassen hatte. »Um ehrlich zu sein, du interessierst mich im Moment mehr als alle Pferde in diesem Stall.«

»Geht mir ähnlich.« Fritz fasste nach seinem Hemd und zog es aus der Hose. Dabei küsste sie ihn.

Eine ganze Weile waren Friederike und Corin intensiv miteinander beschäftigt, als Fritz plötzlich ein Geräusch aus dem Stall unter sich hörte. Die Stuten waren unruhig geworden. Ein Hufeisen klirrte auf dem gepflasterten Boden. Eins der Pferde schnaubte. Dann quietschte eine der Boxentüren und ein Fohlen wieherte schrill. Eine Männerstimme schimpfte: »Du bleibst drin, du kleines Biest.«

Fritz runzelte die Stirn. »Was ist das denn?«, flüsterte sie. »Der Chef ist im Urlaub. Wer hat denn da was im Stutenstall verloren?«

Corin schob den Stoff ihrer Bluse zur Seite und küsste den Ansatz ihrer Brust. »Interessiert mich, ehrlich gesagt, im Augenblick nicht so sehr!«, brummte er ebenso leise.

»Sorry, Liebster – mich schon!« Fritz schob ihn sanft, aber bestimmt zur Seite, sprang auf die Beine und eilte auf nackten Füßen leise über den Heuboden nach vorne zu einem der kleinen Fenster, die auf den Hof hinuntersahen. Von unten war nun das leise Geräusch unbeschlagener Hufe auf Asphalt zu hören und im Mondlicht sah Fritz, wie eine dünne Gestalt eine dunkle Stute in Richtung der Remise führte, die hinter dem Wohnhaus am oberen Balken des L stand. »Das gibt’s doch gar nicht!«, sagte sie leise. »Was hat denn der Bohnen mit Abendstern zu schaffen?«

Corin streckte sich und faltete die Hände hinter dem Kopf. Sein fragendes »Hm?« klang nicht wirklich interessiert, und so ging Fritz nicht darauf ein, sondern flüsterte: »Bin gleich wieder da!«

Auf leisen Sohlen flitzte sie durch die Scheune zum anderen Ende, schlüpfte durch eine offene Klappe in ein altes, schon lange nicht mehr benutztes Silo und glitt an der Leiter nach unten in den großen Stall, in dem neben einigen Verkaufspferden des Gestütes auch ihr Siglavy Adorata zuhause war. Doch heute beachtete Fritz ihn nicht, sondern öffnete eine kleine Tür, die ins Freie führte. Sie blieb stehen, blickte nach links und rechts, rannte über den Weg hinüber zur Remise und kletterte dort eine Leiter hinauf zum Dachboden. Mit den Zehen tastend umging sie einen Stapel mit Dachziegeln und schlich nach vorne.

Unten waren nun das laute Wiehern eines Hengstes und das Scharren eines Hufes auf Holzbohlen zu hören. Fritz legte sich, ihre weiße Bluse und die feine Hose nicht beachtend, auf den Boden, der mit einer staubigen Plane bedeckt war, und robbte vorwärts. Sie hatte vor zwei Jahren geholfen, die Plane über den Boden zu ziehen, und wusste daher, wie sehr die alten Planken darunter bei Belastung knarrten und knarzten. Außerdem kannte sie die Geräusche, die von unten heraufklangen: das Schnobern und Wiehern eines Hengstes, der eine rossige Stute witterte. Das unwillige Quieken der Stute, als ihr der Hengst nahekam. Das Klirren der Kette, an der sie angebunden war, als sie auswich.

Fritz zog vorsichtig die Plane ein Stück zur Seite. Durch den Spalt zwischen den Bodenbrettern sah sie nun, dass die Deckbox darunter beleuchtet war. Doch was da vorging, verstand Fritz nicht. Der eigentliche Vorgang war klar: Thorsten Bohnen, Bereiter des kleinen Springstalls, der einige Boxen auf dem Birkenhof gepachtet hatte, war gerade damit beschäftigt, einen noch sehr schlaksigen Rapphengst auf dem Phantom abzusamen. Die Stute Abendstern, die vorne hinter der Probierwand stand, hatte dabei als »Animierdame« für den Hengst gedient. So weit war Friederike alles klar und sie verstand nun auch, warum Bohnen Abendstern, mit der er normalerweise nichts zu tun hatte, aus ihrer Box geholt hatte. Sie hatte vor zwei Wochen ihr Fohlen geboren – als Erste in diesem Jahr – und war nun in der Fohlenrosse, während die anderen Stuten des Birkenhofes alle noch mit dickem Bauch auf ihren diesjährigen Nachwuchs warteten.

Doch was hatte Bohnen mit dem Sperma des Hengstes vor, der nun mit einem zufriedenen Seufzen vom Phantom rutschte und von Bohnen wieder am Ring hinten in der Ecke festgebunden wurde? Fritz erkannte den Schwarzen mit dem Babygesicht als Römerprinz, einen Zweijährigen, auf den Gestütsbesitzer Ludwig Jasper große Hoffnungen setzte.

Dennoch: Der Kleine war noch nicht gekört, also noch nicht zur Zucht zugelassen. Wer also sollte etwas mit seinem Samen anfangen können?

Bohnen war nun wieder bei der Stute, band sie los und führte sie aus dem Deckstand. Fritz nutzte sein Verschwinden, die Plane wieder geradezuziehen, die Remise zu verlassen und auf dem Weg, auf dem sie gekommen war, zu Corin zurückzukehren. Der saß auf den Heuballen und begrüßte sie mit einem leisen, aber dennoch unüberhörbar verärgerten »Nett, dass du auch mal wieder auftauchst!«.

Fritz setzte sich nun neben ihn und angelte nach ihren Schuhen. »Du, der Bohnen veranstaltet hier irgendeine schräge Nummer«, sagte sie leise. »Der hat gerade einen von Ludwigs Junghengsten abgesamt. Ich habe keine Ahnung, was er mit dem Samen will, bin aber sicher, dass Ludwig nicht davon begeistert wäre. Der ist aber diese Woche nicht da, also kaufe ich mir den Bohnen. So geht’s ja wohl nicht.«

»Darling, ich wäre dir dankbar, wenn du das auf morgen verschieben könntest.« Corin stand auf und schob sein Hemd in die Hose. »Zum einen würde ich Herrn Bohnen ungern erklären, was wir in unserem doch etwas derangierten Zustand um diese Zeit auf dem Birkenhof treiben …«

»Das geht den einen feuchten Kehricht an!«, unterbrach Fritz.

Corin sprach unbeirrt weiter: »Zum anderen bin ich müde und da ich morgen Abend in der Oper bin und mich darauf vorbereiten muss, möchte ich nicht zu spät ins Bett gehen.«

Da war etwas in seinem Ton, das keinen Widerspruch zuließ. Zudem war Friederike klar, dass sie ihn mit ihrem Ausflug in die Remise schon genug geärgert hatte. Sie streichelte über seinen Arm. »Klar, Corin, es ist vielleicht auch besser, wenn ich morgen mit Bohnen rede. Lass uns heimgehen.«

3

Friederike parkte ihren Geländewagen seitlich vor dem Hengststall und registrierte mit Genugtuung, dass daneben schon der angerostete, alte Mercedes mit dem Holsteiner Kennzeichen stand, der Thorsten Bohnen gehörte. Er war erst vor acht Wochen auf den Birkenhof gekommen, nicht eben zu Friederikes Entzücken. Sie mochte schon Bohnens Arbeitgeber, den Schönheitschirurgen Carl-Eduard Schnitzler, nicht leiden.

Schnitzler hatte vor drei Jahren den damals gerade frisch renovierten Hengststall, der für die Gestütshengste zu klein geworden war, gepachtet und seine sechs Springpferde dort aufgestellt.

Fritz war noch nie eine Freundin der Turnierreiterei gewesen. Sie fand es nicht pferdefreundlich, die Vierbeiner Wochenende für Wochenende durchs Land zu chauffieren, um sie dann durch Parcours mit bunten Stangen zu jagen. Dazu kam im Fall von Carl-Eduard Schnitzler, dass sein Ehrgeiz bedeutend höher war als sein reiterliches Können, was seinem Erfolg als Springreiter doch sehr im Weg stand. Doch Schnitzler verfügte über ein ungebrochenes Selbstbewusstsein, weswegen er die Fehler nie bei sich suchte, sondern immer bei den Pferden. Dementsprechend lief es in seinem Stall: Schnitzler, der sich zu alledem auch noch für einen großen Pferdekenner hielt, entdeckte einen Springstar, den er erst einmal vier bis sechs Wochen lang in den höchsten Tönen als das Pferd lobte, mit dem er endlich »ganz groß« rauskommen würde. Doch dann begann Phase zwei, in der Schnitzlers Starpferde immer zu »blöden Böcken« mutierten – entweder weil sie wegen gesundheitlicher Probleme »schwächer« geworden waren oder weil sie von Schnitzlers Reiterei so genug hatten, dass sie nicht mehr sprangen. Dann musste erst einmal Schnitzlers jeweiliger Bereiter mit dem Pferd arbeiten. Je nachdem, wie gut er war, schaffte er es, das Pferd wieder »anzuschieben«. Danach ritt Schnitzler erneut selbst, bis das Pferd wieder die Kooperation kündigte, beim Bereiter landete und das Spiel von Neuem begann. Meist war es nach dem dritten oder vierten Mal zu Ende. Schnitzler verkaufte das Pferd oder schickte es, wenn die Gesundheitsprobleme zu massiv geworden waren, zum Schlachter und schaffte sich einen neuen »Gaul« an.

Hin und wieder stellte Schnitzler aber auch fest, dass es nicht an den Pferden lag, sondern an dem jeweiligen Bereiter. Dann wurde der gewechselt, was in den drei Jahren, die Schnitzler nun auf dem Birkenhof war, schon viermal passiert war. Das letzte Mal war gerade acht Wochen her. Der Neue, von Schnitzler als wahre Koryphäe angekündigt, war Thorsten Bohnen, der den nächsten vierbeinigen Superstar mitgebracht hatte.

Fritz hatte noch im Ohr, wie Schnitzler ihr kurz vor der Ankunft von beiden vorgeschwärmt hatte: Der neue Bereiter sei »endlich einmal ein richtiger Profi«, der aus einem der »weltbesten Springställe überhaupt« komme. »Er hat bei Sierksdorf gelernt und ist fünf Jahre bei ihm geritten«, hatte Schnitzler gesagt. Obwohl Fritz mit der Springreiterei nichts am Hut hatte, kannte sie Bohnens Exchef. Hugo Sierksdorf aus Holstein war viele Jahre lang »für Deutschland« geritten und hatte dabei so ziemlich alles gewonnen, was in der Branche zählte. Er war ursprünglich Landwirt – sein Vater hatte sein Geld mit Bullenhaltung verdient. Sierksdorf hatte diesen Bereich des Betriebs ausgebaut und zudem einen Verkaufs- und Zuchtstall für Pferde angehängt, in dem inzwischen über 300 Stuten und an die zwei Dutzend Hengste Dienst taten.

Fritz hatte während der Zeit, die sie in Holstein verbracht hatte, die Sierksdorf-Bullen mitbetreut – und dabei natürlich immer mal wieder in Richtung der Pferde geschielt und dabei festgestellt, dass ihr die »Pferdefabrik« unsympathisch war. Inzwischen fand sie es fast tröstlich, dass trotz computergestützter Fütterung, Embryotransfer und Klonversuchen der große Erfolg ausgeblieben war. So wenig sie sich für den Reitsport interessierte, machte sie sich doch jedes Jahr den Spaß, die Ergebnisliste des Bundeschampionats danach auszuwerten, wie viele der dort platzierten Pferde von Sierksdorf und wie viele vom Birkenhof stammten. Und obwohl der Birkenhof nur zwölf Zuchtstuten und neun Hengste hatte, lag seine Quote deutlich höher als die von Sierksdorf.

Fritz kletterte aus dem Auto, marschierte zum Stall und begrüßte erst einmal ihren Schimmel, der sie schon angewiehert hatte. »Ich komme gleich zu dir, Dorle, und dann gehen wir ausführlich ins Gelände und du darfst dich mal wieder austoben. Aber vorher muss ich mir noch Bohnen zur Brust nehmen.« Sie drückte ihrem Schimmel einen Kuss auf die schwarze Samtnase, schob ihm ein Leckerli ins Maul und machte sich auf die Suche nach dem Bereiter. Ihr erster Weg führte sie zum alten Hengststall oben neben der großen Halle, in dem Schnitzlers Rösser zuhause waren. Alle sechs Pferde dort waren in der Box, also musste Bohnen zu Fuß auf dem Hof unterwegs sein. Fritz wandte sich zur Halle, ging durch den offenen Eingang der Pferde und warf einen Blick ins Innere. Da waren die beiden Birkenhof-Bereiterinnen – Nicola Kröwe, die immer dann, wenn Fritz verhindert war, ihren Schimmel ritt, und ihre Kollegin Kathrin Putzge – mit den Hengsten Heldenlied und Don Juan, während Lehrling Yannick einen braunen Wallach bewegte. Fritz stellte sich auf die Zehenspitzen und sah zur Tribüne an der langen Seite hinüber. Auf einer der Bänke hatte sich Siamkater Whisky zusammengerollt und schlief. Ansonsten war niemand zu sehen.

»Morgen, ihr Lieben«, rief Fritz in die Halle. »Hat einer von euch den Bohnen gesehen?«

Nicola parierte Heldenlied neben Fritz durch und lächelte sie an. »Morgen, Fritz! Der Bohnen ist vorhin hier rumgelungert. Er wollte unbedingt vier von seinen in den Mixer packen und war ziemlich stinkig, als ich ihn mal wieder darauf hingewiesen habe, dass man sich bei uns entweder am Tag vorher in den Plan einträgt oder eben wartet, bis die Führmaschine frei ist.«

»Wie ich den kenne, hat er ziemlich rumgemault«, sagte Fritz.

»Das kannst du singen und pfeifen«, nickte Nicola. »Der bildet sich doch immer ein, dass seine Pferde vor allen anderen kommen.«

Inzwischen war auch Kathrin oben an der Tür angekommen. »Hast du übrigens schon den Neuen von Schnitzler gesehen?«, fragte sie Fritz.

»Ne, irgendwie ist mir der entgangen.«

»Das ist vielleicht ein hässlicher Hirsch«, fand Nicola. »So x-beinig, wie der hinten steht, könnte der glatt einen Behindertenausweis beantragen.«

»So was kann man nur dem Schnitzler andrehen«, stellte Kathrin fest.

»Aber wahrscheinlich kann das Tier Häuser springen, und das ist ja das Einzige, worauf es bei unserem Freund Schnitzler ankommt.« Fritz grinste.

»Jop. Springen kann der. Die Manier ist zwar ziemlich abartig, aber der springt glatt zwei Meter«, wusste Kathrin.

»Fragt sich nur, wie lange.« Fritz seufzte. »Aber ich muss weiter, Bohnen suchen und dann mal mein eigenes Eselchen reiten. Ich muss nämlich nachher noch den Wochenendeinkauf erledigen, sonst gibt’s bei uns am heiligen Sonntag nur Spaghetti, und da könnte selbst mein Brite sauer werden. Ciao, Mädels und Jungs!« Sie marschierte wieder los, noch einmal am alten Hengststall vorbei und dann zwischen Remise und Stall nach unten. Bohnen war nirgends zu sehen und Fritz beschloss, ihre Suche für einen Abstecher auf die Toilette zu unterbrechen. Die nächstgelegene war im Erdgeschoss des alten Gutshauses untergebracht. Fritz öffnete die Hintertür und trat in den langen, dunklen Flur. Genau in diesem Augenblick fiel die Vordertür ins Schloss. Fritz hörte, wie sich eilige Schritte über den Hof entfernten. Als sie nun die Hand auf die Türklinke der Toilette legte, ertönte von innen ein dumpfes Stöhnen. Fritz riss die Tür auf und prallte zurück. Thorsten Bohnen saß mit heruntergezogener Hose auf der Schüssel. Sein Oberkörper war zur Seite gesunken. Der Kopf lehnte in einem seltsamen Winkel an der Wand und in seiner linken Armbeuge hing eine Einwegspritze.

»Thorsten, um Himmels willen!« Fritz sprang in die Toilette und fasste nach dem rechten Handgelenk des Bereiters. Er schaute sie aus weit aufgerissenen, wasserblauen Augen an. Dann versuchte er, etwas zu sagen, doch aus seinem Mund kam nur ein unartikuliertes Gurgeln.

»Thorsten!«, brüllte Fritz, doch dabei spürte sie, wie sein Handgelenk schlaff wurde und der Puls stehen blieb. »Verdammte Scheiße!«, fluchte Fritz und versuchte, den Oberkörper des Mannes aufzurichten und nach hinten zu schieben. Doch er sackte sofort wieder zur Seite. Fritz schob ihre Hände unter seine Armbeugen und bemühte sich, Thorsten Bohnen nach vorne auf den Boden zu ziehen. Obwohl der Bereiter kein Gramm Fett am Körper hatte, schien er Tonnen zu wiegen. Dennoch schaffte es Fritz, kniete sich über ihn und begann mit einer Herzdruckmassage. 30 Mal mit aller Kraft drücken, dann Mund-zu-Nase-Beatmung. Wieder Herzdruckmassage. Fritz lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht, doch bei Thorsten Bohnen rührte sich nichts. Noch einmal beatmen, dann wieder das Herz.

»Hilfe!« Fritz drückte und brüllte, so laut sie konnte. »Hilfe!«

»Was ist denn …« Die vordere Tür hatte sich geöffnet. Steffi Pötgen, Besitzerin der Haflingerstute, die neben Abendstern stand, war ins Haus geeilt und stand nun hinter Fritz. »Lass mich«, kommandierte sie energisch.

Fritz krabbelte aus der Toilette und angelte nach ihrem Handy. Steffi war Rettungssanitäterin in Stuttgart und obgleich Fritz als Tierärztin durchaus wusste, wie man Erste Hilfe leistete, war sie sicher, dass Steffi darin mehr Übung und Erfahrung hatte. Sie wählte nun mit zitternden Händen die 112 und wartete, bis die Leitzentrale sich meldete.

»Abele. Ich bin auf dem Gestüt Birkenhof auf der alten Römerstraße über Stauferbach. Wir haben einen Notfall – männlich, Mitte dreißig, Atem- und Herzstillstand, vermutlich durch eine Überdosis Drogen ausgelöst. Eine Rettungssanitäterin ist vor Ort. Außerdem bin ich Tierärztin. Wir brauchen aber dennoch dringend den Notarzt.«

In diesem Moment drehte sich Steffi um und schüttelte den Kopf. »Bringt nix mehr. Der ist tot. Die sollen gleich die Polizei schicken.«

Fritz schluckte den Klops in ihrer Kehle. »Hören Sie noch? Die Sanitäterin sagt mir gerade, dass der Mann gestorben ist. Wir brauchen die Polizei.«

Die Leitstelle fragte noch einmal die Adresse ab. Dann versprach die Telefonistin, einen Arzt und einen Streifenwagen zu schicken, und legte auf.

Steffi saß mittlerweile auf dem Flur gegenüber dem Toilettenraum, hatte ihren Rücken an die Wand gelehnt und kramte in ihrer Jackentasche, um dann eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug zum Vorschein zu bringen.

»Kann ich bitte auch eine haben?«, bat Fritz. Sie hatte sich zwar das Rauchen schon vor einigen Jahren abgewöhnt, aber in einer Situation wie dieser fand sie eine Zigarette immer noch beruhigend.

Steffi reichte ihr eine. Fritz setzte sich neben sie und zündete die Zigarette an. Einen Moment lang rauchten beide Frauen schweigend. Dann sagte Steffi nachdenklich: »Irgendwie ist das komisch …«

»Was?«, erkundigte sich Fritz.

»Der Bohnen hat sich den goldenen Schuss gesetzt«, antwortete Steffi langsam. »Die Spritze hängt noch in seinem Arm. Der Gürtel, mit dem er gestaut hat, liegt auf dem Boden. Der Löffel, mit dem er das Zeug aufgekocht hat, liegt im Waschbecken. Das Fläschchen mit destilliertem Wasser und die Ascorbinsäure sind auch da. Aber …« Sie verstummte und dachte einen Moment nach. Dann schaute sie Fritz an. »Ich hab’s. Der hat nicht da drinnen gekocht. Das Fenster ist zu. Der Raum ist winzig – und es riecht nicht!«

Fritz konnte nicht folgen. »Sorry, Steffi. Ich bin Tierärztin. Ich habe von Drogen keine Ahnung.«

»Ich schon«, seufzte Steffi. »In Stuttgart ziehen wir regelmäßig Junkies aus dem Klo. Und wenn’s um Heroin geht, weiß man das meist, bevor man den Junkie sieht.« Sie stand auf, löschte den Rest ihrer Zigarette unter dem Wasserhahn am kleinen Becken gegenüber der Toilette und warf sie in den Mülleimer, der darunter stand. »Heroin«, erläuterte sie dabei, »wird ja in Pulverform gehandelt. Um es spritzen zu können, müssen die Junkies es auflösen. Heroin ist aber nicht wasserlöslich. Darum kocht man es mit Ascorbinsäure und Wasser auf. Dabei entsteht ein ganz typischer Geruch – irgendwie nach Karamell und Kaffee. Wenn du das einmal gerochen hast, erkennst du es immer wieder.«

Fritz entsorgte ihre Zigarette und schnupperte Richtung Toilette. »Ich rieche nur Toilettenreiniger. Kann es sein, dass der den Geruch des Heroins überlagert?«

»Ne.« Steffi schüttelte den Kopf. »Heroin riechst du sogar auf der frisch gereinigten Bahnhofstoilette. Und die schwemmen ja alles mit Desinfektionsmittel. Der Bohnen hat sein Zeug nicht auf der Toilette gekocht.«

»Als ich vorhin hier reingekommen bin, hat Bohnen noch gelebt, und vorne ist gerade jemand rausgerannt«, fiel Fritz ein.

»Wahrscheinlich der, der mich beim Rauffahren in der S-Kurve fast von der Straße gefegt hat«, schimpfte Steffi.

Fritz wuschelte mit beiden Händen durch ihr kurz geschnittenes dunkles Haar. »Wenn der Bohnen das Zeug nicht da drin aufgekocht hat«, sagte sie langsam und nachdenklich, »dann hat er es vielleicht auch nicht selbst gespritzt.«

»Warte mal.« Steffi stand auf und schaute in die Toilette. »Ein Feuerzeug und Alufolie sehe ich da auch nicht.« Sie studierte einen Augenblick Bohnen, der auf dem Boden lag. Dann kam sie zu Fritz zurück und setzte sich wieder. »Er hat keine Narben an den Armen. Das macht es noch wahrscheinlicher, dass er nicht selbst gespritzt hat.«

»Du meinst, er war gar kein Junkie?« Fritz hatte schon wieder das Handy in der Hand.

»Doch, doch, das schon. Ich habe es mir letzte Woche schon gedacht. Ist dir nicht aufgefallen, dass der immer Pupillen wie Untertassen hatte? Der war eindeutig auf Heroin. Und nun hat ihn jemand damit umgebracht.«

Fritz starrte sie aus großen Augen an. Sie hatte Steffi bisher als fröhliche Stallkameradin kennengelernt, die sehr an ihrem Pferd hing und mit der es Spaß machte, ab und zu auszureiten. Sie nun derart abgebrüht zu erleben, schockte Fritz. Aber man konnte wohl kaum jahrelang in Stuttgart einen Rettungswagen fahren, ohne dabei abzuhärten. Für Fritz hingegen war der Birkenhof immer ein Ort des Friedens gewesen, und da lag nun ein Toter auf der Toilette – und schlimmer noch: Er war wohl umgebracht worden!

Sie schaute auf das Telefon in ihrer Hand, schluckte und gab die Buchstaben »Ge« in die Suchfunktion ein. Ein paar Sekunden später hatte sie den Eintrag »Gebhard, Wolfgang« mit einer Telefonnummer in Göppingen und einer Handynummer. Fritz wählte die Festnetznummer und hatte nach dem zweiten Klingeln eine energische Männerstimme am Ohr: »Kriminalpolizei Göppingen, Gebhard.«

Fritz räusperte sich. »Hallo Wolf. Hier ist Friederike Abele.«

»Fritzchen!«, freute sich der Kommissar, mit dem Friederike schon einmal wegen einer Mordermittlung zu tun gehabt hatte. »Wen kann ich davon abhalten, dir etwas zu tun?«

»Von mir will niemand etwas«, antwortete Fritz. »Aber ich sitze auf dem Gestüt Birkenhof neben einem Mordopfer.«

»Du hast aber auch eine Spürnase!« Der Kommissar seufzte. »Wo genau bist du beziehungsweise die Leiche?«

»Auf dem Birkenhof. Das ist das Gestüt an der alten Römerstraße oberhalb von Stauferbach«, gab Friederike Auskunft. »Übrigens dürften die Schupos schon hierher unterwegs sein. Ich habe die Rettungsleitstelle benachrichtigt.«

»Okay, dann rufe ich mal die Spurensicherung an und wir machen uns auf die Strümpfe. Wir sehen uns dann«, kündigte der Kommissar an.

Fritz hatte sich kaum von ihm verabschiedet und aufgelegt, als sie aus der Ferne ein Martinshorn hörte. »Ich glaube, die Staatsmacht und deine Kollegen sind im Anrollen, Steffi.«

Steffi stand auf. »Dann weise ich die mal ein.«

Fritz erhob sich ebenfalls. »Ich komme mit. Ich brauche frische Luft.«

Es hatte noch gut eine halbe Stunde gedauert, bis Kommissar Gebhard auf dem Birkenhof angekommen war, und eine weitere, bis er Fritz zu einem Gespräch ins Büro des Gestütschefs gebeten hatte. Fritz hatte ihm bereits alles erzählt, was sie über Thorsten Bohnen wusste, und natürlich auch von ihrer Beobachtung in der letzten Nacht.

»Der hat einen jungen Hengst abgesamt?«, hakte Wolf Gebhard jetzt noch einmal nach. »Soviel ich weiß«, er blätterte im Hengstkatalog des Birkenhofes, der auf dem Tisch lag, »kostet Samen einiges Geld. Also hat er die Portion geklaut …«

»Nein«, unterbrach Fritz. »Mit dem Sperma eines Junghengstes, der noch nicht gekört ist, kann man nichts anfangen.«

»Wieso? Ist der noch nicht zeugungsfähig?«

Fritz schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Problem. Man würde für ein Fohlen von unserem Junghengst keine Papiere bekommen.«

»Und die sind wichtig?« Kommissar Gebhard lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich könnte einen Kaffee gebrauchen, bevor du mir das mit dem Fohlen und den Papieren erklärst.«

»Kannst du haben.« Fritz stand auf, öffnete die Mitteltür am altertümlichen Schrank, der an der Wand zum Flur stand, nahm eine Glaskanne heraus und eilte aus dem Zimmer. »Ich hole Wasser.« Weil unten im Flur immer noch die Spurensicherung zugange war, flitzte sie die Treppe hinauf in die Küche im ersten Stock.

Als sie mit der vollen Kanne zurückkam, lächelte Wolfgang Gebhard sie an. »Du kennst dich hier gut aus.«

»Ludwig Jasper, der im Moment leider abwesende Chef des Ladens hier, war ein Freund meines verstorbenen Patenonkels. Darum war ich schon als Kind hier – und jetzt steht mein Pferd seit Jahren hier.«

Fritz füllte die Maschine mit Wasser und Kaffee, stellte zwei Becher, Löffel und Zucker auf den Tisch und nahm dann einen Tetrapack mit Dosenmilch aus dem Schrank. »Um deine Frage wegen der Fohlen und der Papiere zu beantworten: Hier auf dem Birkenhof werden vorwiegend Warmblutpferde baden-württembergischer Abstammung gezüchtet. Alle Pferde, die dieser Rasse angehören, werden beim Zuchtverband in die sogenannten Stammbücher eingetragen. Dabei unterscheidet man die verschiedenen Stammbücher: Fohlen, bei denen beide Elternteile für das Hauptstammbuch zugelassen sind und die selbst dem Zuchtziel entsprechen, werden ins Hauptstammbuch eingetragen. Fohlen, bei denen nur ein Elternteil eingetragen ist oder die nicht dem Zuchtziel entsprechen, werden ins Stammbuch eingetragen. Die, die keine eingetragenen Vorfahren haben, kommen ins Vorbuch.«

»Bei Pferden gibt es also eine Dreiklassengesellschaft«, stellte der Kommissar fest. »Aber ist es für einen Reiter nicht wurst, wo sein Pferd eingetragen ist?«

»Grundsätzlich schon«, bestätigte Fritz. »Aber man kann die Eintragung und das damit verbundene Brandzeichen auch als eine Art ›Qualitätssiegel‹ sehen. Denn die Zuchtverbände selektieren ja nicht nur auf das Aussehen eines Pferdes, sondern auf Eigenschaften wie Leichtrittigkeit, Leistungsbereitschaft, Langlebigkeit. Dazu kann man davon ausgehen, dass Pferde, die aus bestimmten Linien stammen, auch gewisse Fähigkeiten oder zumindest die Anlage dazu ererbt haben. Ergo sind Pferde, die volle Papiere haben, also im Hauptstammbuch eingetragen sind, immer deutlich teurer als Pferde ohne Papiere.« Sie stand wieder auf, holte die inzwischen volle Kaffeekanne und goss dem Kommissar und sich selbst ein.

»Danke.« Wolfgang Gebhard nahm seinen Becher und trank einen Schluck. »Und für ein Fohlen von eurem Junghengst gäbe es keine ordentlichen Papiere?«

»Genau«, bestätigte Fritz, die gerade Zucker und Milch in ihren Kaffee rührte. »Da Hengste ja deutlich mehr Nachkommen zeugen können, als Stuten Fohlen bekommen, sind die Zuchtverbände bei den Herren der Schöpfung besonders anspruchsvoll. Um als Hengst voll anerkannt zu werden, also Fohlen mit vollen Papieren zeugen zu können, muss ein Hengst nicht nur zwei im Hauptstammbuch eingetragene Elterntiere haben, sondern sich auch dreijährig – da ist er gerade einigermaßen ausgewachsen – der sogenannten Körkommission präsentieren. Die besteht üblicherweise aus dem Zuchtleiter, dem Landstallmeister und zwei, drei anderen Herrschaften, die etwas von Pferden verstehen. Nur wenn die überzeugt sind, dass der junge Hengst gut vererbt, wird er gekört, also vorläufig als Zuchthengst anerkannt. Damit darf der Junge erst einmal ein paar Stuten decken. Um aber weiter im Rennen zu bleiben, muss der junge Hengst vor Ablauf seines vierten Lebensjahres zur Hengstleistungsprüfung antreten. Dabei wird der Junghengst mehrere Wochen in einer der Prüfungsanstalten – bei uns ist das zum Beispiel das Haupt- und Landgestüt Marbach – getestet und muss bei einer ausführlichen Abschlussprüfung seine Fähigkeiten als Reitpferd beweisen. Wenn er das erfolgreich hinter sich hat, werden dann im Frühjahr seine ersten Fohlen angeschaut. Wenn sie in Ordnung sind, darf er für ein paar Jahre weiter decken. Dann guckt man, was seine Nachfahren im Sport leisten. Wenn sie nicht genug bringen, wird der Hengst abgekört.«

Wolfgang Gebhard verdrehte die Augen. »So ein Hengst hat es schwer!«

»Und ob!« Fritz trank einen Schluck Kaffee. »Aber nun kannst du dir wahrscheinlich vorstellen, was ein guter Hengst wert ist.«

»Gab es da nicht diesen Dressurhengst, der für rund zehn Millionen verkauft worden ist?«, fiel Gebhard ein.

Fritz nickte. »Ja, der Römerfürst.« Sie nippte noch einmal an ihrem Kaffee. »Hugo Sierksdorf, der das viele Geld ausgegeben hat, war übrigens bis vor kurzem der Brötchengeber deines Mordopfers.«

»Meines Mordopfers?« Wolfgang zog eine Augenbraue nach oben. »Du hast ihn gefunden.«

»Aber du ermittelst.« Fritz leerte ihren Kaffeebecher. »Ich habe damit nichts zu tun, sondern werde mich stattdessen mit meinen Schweinemästern, Hundezüchtern und Milchbauern amüsieren. Ich habe Corin nämlich fest versprochen, dass ich nie wieder als Ermittlerin tätig werde. Zudem konnte ich Bohnen nicht sonderlich leiden.«

»Na ja, unser letztes Mordopfer hat mit Amphibien und Reptilien gehandelt. Dem warst du ja auch nicht eben gewogen«, erinnerte der Kommissar. »Zudem werde ich deine Hilfe brauchen. Ich kenne mich mit Pferden nicht aus und es sieht ja so aus, als ob der verstorbene Herr Bohnen diesbezüglich Dreck am Stecken hatte.«

»Ich vermute, dass sein Stecken zentimeterdick mit Dreck überzogen war«, brummte Fritz. »Ich werde mich aber trotzdem aus der Geschichte heraushalten. Mit Drogen habe ich sowieso nichts am Hut. Außerdem habe ich überhaupt keine Lust darauf, schon wieder wilde Kurven fliegen zu müssen, weil irgendwelche reizenden Zeitgenossen meinen, mich umbringen zu müssen. Und damit wäre ich dann auch bei meiner Schlussfrage: Brauchst du mich noch? Mein Pferd möchte nämlich bewegt werden.«

»Nein, mach das ruhig. Ich muss jetzt mal zusehen, dass wir das Auto und die Wohnung des Mannes auseinandernehmen. Außerdem müssen wir wohl seine Angehörigen unterrichten. Weißt du da was?«

Fritz, die schon aufgestanden war, schüttelte den Kopf. »Ich habe nie viel mit dem geredet. Er hatte eine Freundin, die hier mal rumgeschwirrt ist. So eine ziemlich aufgerüschte Trulla namens Tanja. Aber frag mich nicht, wo die lebt. Schnitzler müsste das wissen. Der hat ihn ja in Holstein eingefangen und hergebracht.«

»Okay, dann nehme ich mir den Herrn Doktor gleich mal vor.« Wolfgang Gebhard stand ebenfalls auf und reichte Fritz die Hand. »Danke – und trotzdem schönes Wochenende. Ich melde mich am Montag, wenn ich noch Fragen haben sollte.«

4

»Oh, Mann, das hat mir gerade noch gefehlt!«, schimpfte Friederike, deren blauer Geländewagen gerade vom Abschleppwagen auf den Haken genommen und auf die Plattform gezogen wurde. »Wie komme ich denn jetzt wieder heim?«

Der Polizist, der den Unfall aufgenommen hatte, lächelte sie an. »Die Versicherung des Unfallverursachers muss Ihnen, bis Ihr Auto repariert ist, einen angemessenen Mietwagen bezahlen. Aber sind Sie wirklich sicher, dass Ihnen nichts passiert ist?«

Fritz nickte. »Ne, ne. Der Laster ist mir zwar mit Schmackes hinten reingebrummt, aber mir ist nichts passiert – dank Gurt und Airbag. Die Frage ist jetzt wirklich nur, wie ich zu meinem Mietwagen komme.«

»Das ist kein Problem«, mischte sich der Fahrer des Abschleppwagens ein. »Ein paar Minuten von hier entfernt gibt es eine Werkstatt, die auch Autos vermietet. Ich schlage vor, dass ich Ihren Kia und Sie dort hinfahre. Dann kriegen Sie einen Mietwagen und der Gutachter von der Versicherung kann dort Ihr Auto angucken. Anschließend können Sie, wenn Sie das wollen, den Kia dort reparieren lassen.«

»Sie meinen den Fahrenkopf in Feuerbach?«, fragte der Polizist, und als der Abschlepper nickte, versetzte er: »Der ist gut. Den kann ich auch empfehlen.«

»Okay, dann machen wir es so. Ich muss nämlich noch weiter ins Robert-Bosch-Krankenhaus. Das ist doch irgendwo hier in der Nähe?«, fragte Fritz.

Der Polizist deutete auf den mit Weinstöcken bepflanzten Hügel rechts von der Kreuzung, auf der sie standen. »Das RBK ist da oben.«

»Dann können wir ja los.« Der Abschlepper öffnete die Beifahrertür seines Wagens für Fritz und kletterte hinter sein Steuer. Er fuhr an und ordnete sich ein. Dann lächelte er zu Fritz hinüber. »Wie ist der Unfall eigentlich passiert?«

»Die Ampel war grün, aber das hat ein junges Paar nicht davon abgehalten, über die Straße zu laufen. Ich musste eine Vollbremsung machen. Der Lastwagen hinter mir war zu nahe dran und hat nicht rechtzeitig reagiert. Und schon hing er auf mir drauf. Tja, nun kann ich nur hoffen, dass mein Blauer kein Totalschaden ist.«

»Ne, das glaube ich nicht«, tröstete der Fahrer. »So ein Kia hält ja einiges aus. Aber ärgerlich ist es trotzdem. Kostet ja Nerven und Zeit. Zudem sind Sie ja nicht mal aus Stuttgart!«

»Ja, ich bin in Eislingen zuhause.« Fritz lachte. »Wenn so eine Landpomeranze wie ich schon mal in die Großstadt kommt! Ich hatte im Landwirtschaftsministerium zu tun und wollte anschließend eine Tante im Robert-Bosch-Krankenhaus besuchen.«

»Das schaffen Sie ja auch noch. Die haben da bis um acht Besuchszeit – und wir sind gleich in der Werkstatt.« Der Fahrer setzte den Blinker, bog in eine Seitenstraße ab und deutete mit dem Kinn auf eine Hofeinfahrt, über der ein Schild verkündete, dass hier die Autowerkstatt und -vermietung Uwe Fahrenkopf zu Hause war. »So, da wären wir.« Der Abschlepper fuhr auf den Hof und stellte den Motor ab.

»Danke!« Fritz kletterte aus dem Fahrerhaus und lächelte einem blonden Mechaniker in einem grauen Overall zu, der aus der Werkstatt kam und sich die Hände an einem Lappen abwischte. »Hallo. Mir ist ein Laster in meinen Geländewagen gebrummt. Den muss jetzt ein Gutachter angucken. Danach muss er repariert werden. Außerdem brauche ich einen Mietwagen.«

Der junge Mechaniker nickte. »Gut, dann laden wir Ihren Wagen mal ab. Schlüssel steckt?«

»Ja.« Fritz nickte und nahm die Papiere aus ihrer Brieftasche.

»Die geben Sie am besten dem Chef, da drüben im Büro. Da kriegen Sie dann auch einen Mietwagen.« Der junge Mann deutete auf eine gelb gestrichene Tür neben der Werkstatt. »Da geht es ins Büro.«

»Danke!« Fritz setzte sich in Bewegung, klopfte an die gelbe Tür und trat ein.

Im Büro standen sich zwei Schreibtische gegenüber. An einem saß ein Mann mit Halbglatze, dessen gelbes Hemd sich über seinem runden Bauch spannte. Als er Fritz sah, stand er auf und streckte ihr die Hand hin. »Grüß Gott. Ich bin der Uwe Fahrenkopf. Was kann ich für Sie tun?«

Fritz drückte die angebotene Hand und wiederholte ihr Anliegen.

Uwe Fahrenkopf blätterte kurz in den Papieren. Dann deutete er auf den Stuhl, der neben dem Schreibtisch stand. »Jetzt setzen Sie sich am besten erst mal. Mögen Sie einen Kaffee oder wenigstens einen Sprudel auf den Schreck?«

»Ein Mineralwasser wäre klasse.« Fritz setzte sich.

Der Werkstattbesitzer eilte in die kleine Küche neben dem Büro, nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, schenkte ein und brachte Fritz das Glas.

»So, Frau Doktor Abele, jetzt gucke ich mal nach einem Mietwagen.« Uwe Fahrenkopf setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und tippte etwas auf seiner Tastatur. »Tja, mit einem Geländewagen kann ich Ihnen nicht dienen, aber ich habe einen netten 3er BMW. Wäre das okay?«

Fritz trank ihr Glas aus. »Aber sicher doch. Im Moment ist die Hauptsache, dass es fährt und es nicht reinregnet.«

»Das bekommen Sie mit dem BMW.« Er nahm eine Mappe, an der ein Schlüssel hing, aus einem Karteikasten. »So, dann gucken wir uns Ihren Mietwagen mal an.«

Vier Stunden später – durch den Unfall war ihre Planung total durcheinandergeraten – war Fritz mit dem schwarzen BMW Richtung Birkenhof unterwegs. Sie hatte es eilig und war ein bisschen zu flott unterwegs, als ihr in der Kurve zwischen den Wiesen des Gestüts ein weißer Panda entgegenkam. Fritz musste hart bremsen und nach rechts ziehen, doch der Panda rutschte dennoch fast in den Graben, weswegen die Fahrerin ihrem Missfallen durch Hupen Ausdruck gab. Fritz seufzte, fuhr, nun deutlich vorsichtiger, zum Gestüt, stellte den Mietwagen ab, putzte ihren Schimmel und stellte dann fest, dass es zu regnen angefangen hatte.

»Mist«, schimpfte sie und griff nach der Abschwitzdecke, die an Dorles Box hing. »Der Ausritt ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ins Wasser gefallen.« Sie warf die Decke über den Rücken ihres Schimmels. »Also hoppeln wir zwei Hübschen ein bisschen durch die Halle.« Fritz führte ihr Pferd vor den Stall und schwang sich in den Sattel. Siglavy Adorata ahnte wohl schon, was angesagt war, und wanderte in gelassenem Schritt über den Hof und den Weg zur Halle hinauf.

Am Eingang kam ihr Nicola auf einem ihrer Hengste entgegen. »Mistwetter, nicht? Und in der Halle zelebriert gerade unser aller Freund, der Doktor, der weiß, was Frauen wünschen, auf seinem Fuchs das, was er für Springgymnastik hält.«

Fritz verdrehte die Augen. »Scheint ja wirklich mein Glückstag zu sein. Aber es hilft nichts, der Dicke braucht dringend Bewegung.« Sie ließ den Schimmel in den Eingangsbereich der Halle treten, in der der Schönheitschirurg Carl-Eduard Schnitzler einen etwas knochigen Fuchs im Galopp durch die Mitte der Bahn auf ein Hindernis zuscheuchte. Daneben stand Igor, der russische Pfleger der Schnitzler’schen Pferde, der offenkundig wieder einmal zum Hindernisdienst abkommandiert war und diesen mit gelangweiltem Desinteresse, dabei auf dem Stummel einer kalten Zigarre kauend, verrichtete. Ganz nach dem Prinzip »solange ich hier rumstehe, muss ich mich wenigstens nirgendwo anders anstrengen«.

Deutlich mehr an den Reitkünsten des Doktors interessiert war seine Frau Mama, die sich mit ihrem in ein schwarzes Mäntelchen gehüllten Minihund auf dem Arm auf der Tribüne niedergelassen hatte und von dort aus jeden Sprung ihres Sohnes begeistert bejubelte.

Fritz unterdrückte ein Seufzen und rief: »Tür frei?«

Schnitzler, der gerade in der oberen Ecke unterwegs war, nölte ein schlecht gelauntes »Tür ist frei« in Fritz’ Richtung, parierte zum Schritt durch, bat aber um Rücksichtnahme. »Ich muss fürs Turnier am Wochenende trainieren.« Die Tatsache, dass sein Bereiter keine vier Tage vorher gestorben war, schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken.

Nun sekundierte auch noch die Frau Mama, von den Mitarbeitern des Gestüts »Schnitzlers Übungsplatz« genannt, da er offenkundig an ihr den halben Leistungskatalog seiner Klinik erprobt hatte. Sie war aufgestanden, was ihr Hündchen zu hysterischem Kläffen veranlasste, und rief in die Halle: »Gottchen, kann man hier nie in Ruhe trainieren? Für CES«, sie sprach die Initialen ihres Sohnes englisch näselnd aus, »geht es am Wochenende um die Wurst.«

Fritz beschloss, sich nicht angesprochen zu fühlen, ritt in die Halle, schloss die Tür hinter sich und ließ ihren Lipizzaner erst einmal zwei Runden Schritt am langen Zügel gehen. Siglavy Adorata fand das offenkundig ziemlich langweilig. Er hob den Kopf, wieherte und wollte antraben. »He!« Fritz parierte ihn wieder durch. »Das Tempo bestimme immer noch ich.« Doch um ihn zu beschäftigen, ließ sie den Schimmel nun Schulterherein gehen und schielte dabei zu Schnitzler hinüber, der gerade seinen Pferdepfleger angewiesen hatte, das Hindernis noch einmal zu erhöhen. Schnitzler ritt erneut an. Er scheuchte seinen Fuchs in viel zu schnellem Galopp über die Diagonale und zog dann kurz vor dem Sprung heftig am Zügel. Der Fuchs sprang dennoch, drückte aber den Rücken weg und erwischte mit den Hinterbeinen die oberste Stange, die klappernd zu Boden fiel. »Blöder Bock«, schimpfte Schnitzler. »Igor, leg wieder auf!«

Fritz bemühte sich, nur auf ihr eigenes Pferd zu achten, nahm sich aber vor, nun doch einmal mit Ludwig zu reden. Es machte einfach keinen Spaß, in einer Halle zu reiten, in der Schnitzler unterwegs war. Was er mit den Pferden anstellte, grenzte an Tierquälerei, doch Fritz war sich wohl bewusst, dass sie mit einer Anzeige nicht durchkommen würde. Schnitzler würde zig Zeugen auffahren, die bestätigen würden, dass seine Trainingsmethoden vollkommen im Rahmen des Üblichen lagen. Das war ja der Grund, weshalb Fritz eine solche Abneigung gegen den Springsport entwickelt hatte.

Schnitzler sprang noch einmal und dieses Mal gab er dem Fuchs sogar den Kopf frei. Doch das nützte auch nicht viel. Anstatt mit tiefem Hals und aufgewölbtem Rücken über den Sprung zu gehen, hüpfte er mit hoch erhobenem Kopf und nach unten durchgedrücktem Rücken. Dass er es trotzdem schaffte, die Stangen in ihren Auflagen zu lassen, legte Zeugnis von seinem außerordentlichen Springvermögen ab. Fritz, die durchaus gerne mit ihrem Pferd sprang, verstand nicht, wieso ein ansonsten doch durchaus intelligenter Mensch wie Carl-Eduard Schnitzler als Reiter so vernagelt war. Für Fritz war vollkommen klar, dass der Fuchs kein Training über Hindernisse brauchte, sondern gezieltes Rückentraining. Bei ihm fehlte es an der Grundschule, die jedes Pferd absolviert haben sollte und die es ihm langfristig ermöglichte, einen Reiter zu tragen, ohne Schäden an seiner Gesundheit zu nehmen.

»Tür frei?« Steffi stand mit ihrem Haflinger am Eingang.

Fritz, selbst im oberen Teil der Halle unterwegs, schaute nach dem Fuchs. Er stand an der Mitte der langen Seite neben der Bande, wo Schnitzler sich mit seiner Mutter unterhielt. »Tür ist frei«, bestätigte sie.

Schnitzler war nicht glücklich darüber, dass nun auch noch die rundliche Haflingerstute mit ihrem Westernsattel in die Halle kam. »Ist hier heute Freizeitreiter-Treffen«, maulte er. »Ich möchte endlich mal in aller Ruhe trainieren.«

»Dann kauf dir doch eine eigene Halle«, gab Steffi ungerührt zurück, kletterte auf ihre Stute und ritt hinüber zu Fritz. »Will unser Superspringreiter mal wieder Aachen gewinnen oder warum ist der so angefressen? Die Trauer um seinen Bereiter wird’s ja wohl nicht sein.«

»Ganz sicher nicht«, antwortete Fritz leise. »Das verbucht der unter ›Unannehmlichkeiten‹.«

»Stimmt.« Steffi nickte. »Aber sag mal, weißt du, wem der schwarze BMW mit dem Stuttgarter Kennzeichen gehört? Der Idiot hat mich vorhin fast das zweite Mal in den Graben geschossen!«

»Öh …« Fritz biss sich verlegen auf die Unterlippe. »Warst du das mit dem Panda?«

»Ja, ist der von meiner Mutter«, antwortete Steffi. »Ich hatte den Schlüssel zu meinem Sattelschrank in meinem Wagen, deshalb musste ich noch mal heimfahren.«

»Dann hab ich dich fast in den Graben befördert«, sagte Fritz. »Der BMW ist mein Mietwagen.«

Steffi runzelte die Stirn. »Das ist aber seltsam. Wie lange hast du den BMW schon?«

»Seit ein paar Stunden. Wieso?« Fritz spielte mit der Mähne ihres Pferdes.

»Weil der mich am Samstag, als ich hier raufgefahren bin, schon mal abgedrängt hat«, erläuterte Steffi. »Der fuhr runter, als wenn einer hinter ihm her wäre.«

»Und du bist sicher, dass es der schwarze BMW war, den ich jetzt fahre?«, hakte Fritz nach. »Ich meine, von der Sorte fahren doch eine ganze Menge rum.«

Steffi nickte. »Stimmt. Aber ich glaube nicht, dass es sehr viele mit dem komischen Kennzeichen und einem gelben Aufkleber auf dem Kofferraumdeckel gibt.«

»Seltsames Kennzeichen?«

»S – UF – fehlt nur noch ein F zum kompletten Suff«, antwortete Steffi. »Ist mir erst vorhin, als du mir entgegengekommen bist, wieder eingefallen.«

Fritz setzte sich im Sattel auf, worauf Siglavy Adorata prompt stehen blieb. »Sorry, Dicker!« Mit einem leichten Schenkeldruck ließ Fritz ihn wieder antreten. »Steffi, ich glaube, der BMW-Fahrer, der dich am Samstag fast abgeschossen hat, war Bohnens Mörder. Ich habe mitbekommen, dass er, als ich von hinten reinkam, vorne aus dem Haus gelaufen ist. Der Zeit nach muss er es gewesen sein, der in dem schwarzen BMW geflüchtet ist.« Sie fummelte ihr Handy aus der Hosentasche. »Wir müssen unbedingt Kommissar Gebhard von der Kripo Göppingen anrufen. Mit deinen Infos und den Angaben des Autovermieters kann er den Kerl vielleicht kriegen.«

5

Montagmorgens kletterte Fritz vor dem Amt aus dem Jaguar ihres Liebsten und blies ihm einen Kuss zu. »Danke fürs Fahren, Corin. Ich hoffe sehr, dass ich heute die Reisschüssel wiederbekomme.«

»Ich fahre gegen halb fünf in die Oper. Wenn ich dich abholen und nach Stuttgart mitnehmen soll, ruf mich an, ja?« Corin fuhr an. »Schönen Tag, Beloved«, rief er, während er zur Ausfahrt rollte.

»Dir auch«, rief Fritz ihm nach und ging auf den Eingang des Amtsgebäudes zu. Als sie die Halle betrat, klingelte ihr Handy. Fritz nahm ab und meldete sich.

»Morgen, Fritz! Wolf Gebhard hier. Ich wollte dir nur erzählen, dass unsere Kriminaltechniker mit dem BMW nichts anfangen können, weil die Spuren vom Birkenhof ja von dir stammen könnten. Und der Autovermieter hat meinen Stuttgarter Kollegen glaubwürdig versichert, dass der Wagen am Tattag bei ihm auf dem Parkplatz gestanden hat.« Der Kommissar seufzte. »Das ist schon ein sehr seltsamer Fall. Immer, wenn ich denke, eine Spur zu haben, verläuft sie sich. Das Einzige, was wir bis jetzt sicher wissen, ist: Bohnen war ein Junkie und er wurde umgebracht.«

Fritz stieg die Treppe hinauf. »Steffi Pötgen vermutete, dass der schon länger drogenabhängig war, obwohl er keine Einstiche an den Armen hatte.«

»Er hatte jede Menge an den Beinen und sogar in der Leiste«, informierte der Kommissar. »Dazu hatte er bei seinem Tod eine Ladung intus, die gereicht hätte, einen Elefanten flachzulegen. Unsere Leichenfledderer haben aber noch etwas festgestellt, was unterstützt, dass er ermordet worden ist: Das Heroin, das er intus hatte, stammte aus zwei verschiedenen Quellen. Der Rest von dem Heroin, der in der Spritze war, war nicht nur gestreckt, sondern obendrauf noch mit allerlei Dreck versetzt und entsprach in der Zusammensetzung dem, was momentan in Norddeutschland auf dem Markt ist. Der Stoff, den er im Körper hatte und von dem wir auch noch ein paar Vorräte in Bohnens Wohnung gefunden haben, ist dagegen erstaunlich sauber. Der muss irgendwo ziemlich nahe an der Quelle gesessen haben.«

»Wird ja immer spannender«, fand Fritz, die inzwischen im zweiten Stock angekommen war und auf ihr Büro zumarschierte. »Aber wenn du jetzt von mir wissen willst, wie man in der Reiterei an Drogen kommt, muss ich dich enttäuschen. Diesbezüglich habe ich keine Ahnung.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte der Kommissar. »Ich wollte nur fragen, ob du den BMW zurückhaben willst oder ob wir den beim Vermieter abliefern sollen.«

»Danke, danke. Aber ich kriege heute hoffentlich meinen Blauen wieder. Den BMW brauche ich nicht mehr.« Fritz winkte ihrer Sekretärin zu, die bei ihrem Erscheinen aufgestanden war und mit einem Zettel wedelte.

»Na, dann.« Wolfgang Gebhard seufzte. »Ich werde mich also mal wieder der Suche nach dem Mörder widmen. Du willst dich wirklich nicht daran beteiligen?«

»Ne, bestimmt nicht! Ich habe genug Arbeit hier.« Fritz lachte. »Geh du mal schön auf Mörderjagd. Ich unterdessen werde mich jetzt der neuen Verordnung zum Medikamentengebrauch in der Schweinemast widmen.«

»Na, klingt ja spannend! Da bleibt mir nur, dir einen schönen Tag zu wünschen. Tschüss, bis zum nächsten Mal!«

»Dir auch einen schönen Tag, Wolfgang. Ciao!« Fritz legte auf und lächelte ihre Sekretärin an. »Guten Morgen, Frau Schubarth!«

»Morgen, Frau Doktor. Ich habe Anrufe für Sie angenommen. Herr Jasper bittet um Rückruf. Außerdem hat die Autowerkstatt aus Stuttgart angerufen. Ihr Wagen ist fertig und kann abgeholt werden. Und Sie sollten Herrn Doktor Hinerksen in der Wilhelma anrufen. Das wäre das Private. Und dann hätten wir zwei neue Anzeigen wegen des Ponyhofes in Bad Boll, eine Dame in Drackenstein, die behauptet, dass ihr Nachbar seinen Hund im Zwinger schmachten lässt, eine Anzeige aus Ebersbach wegen einer Dame, die angeblich an die 30 Katzen unter miesen Bedingungen hält, und im Wangener Wald soll ein Wolf unterwegs sein.« Sie grinste.

»Wie bitte?« Fritz, die während der Rede ihrer Sekretärin ihre Jacke ausgezogen, aufgehängt und sich einen Kaffee gemacht hatte, ging in ihr Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch.

»Die Dame am Telefon ist fest davon überzeugt, dass ihr da ein Wolf begegnet ist.« Gesine Schubarth klang sehr amüsiert. »Er war riesig groß, struppiggrau und hatte rotglühende Augen.«

»Uih!« Fritz trank einen Schluck Kaffee. »Das klingt ja fast nach einem Werwolf!«

»Dachte ich mir auch und habe bereits den zuständigen Revierförster angerufen. Ansonsten mache ich Ihnen gleich den Papierkram fertig.«

»Danke, Frau Schubarth. Was täte ich ohne Sie?« Fritz griff nach dem Telefon. »Dann werde ich jetzt erst mal auf dem Birkenhof anrufen.«

Eine Minute später hatte sie schon Ludwig Jasper am Telefon. Er war erst in der Nacht zuvor von seiner Reise zurückgekommen und entsetzt gewesen, als er von dem Mord auf seinem Gestüt gehört hatte. Nun musste Fritz ihm auch noch erzählen, was sie in der Nacht vor Bohnens Tod beobachtet hatte.