Tiger Lily - Peer Leonard Galle - E-Book

Tiger Lily E-Book

Peer Leonard Galle

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Beschreibung

Den desillusionierten Schriftsteller Leolo trifft es wie einen Donnerschlag. Schon kurz nachdem Lily in sein Leben getreten ist, scheint er die Rettung aus seinem Trott erkannt zu haben. Doch schon schnell beginnen für die beiden die Dinge ins Rollen zu geraten. Leolo gerät zwischen die Fronten von Lily und ihrem tyrannischen Vater, die Furcht steigt in ihm auf, er könne Lilys außerordentliches Bild eines großen Schriftstellers nicht genügen, und er fühlt sich ohnmächtig ob der immer schlechteren Verfassung, in der sich Lily befindet. Und doch versucht er so gut wie möglich all dem zu trotzen, den Launen Lilys und dem ewigen Auf und Ab zwischen dem wahrhaftigen Leben im Himmel und den Vorboten der düsteren Ereignisse, die schon ihre Schatten werfen. 'Tiger Lily' ist eine besessene, bedingungslose und obsessive Liebesgeschichte über das Zähmen und Gezähmtwerden, über den Versuch einer 'wahren' Liebe und eines 'wahren' Romans, über eine demütigende Vater-Tochter-Beziehung.

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Printausgabe gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz

Die Edition Schrittmacher wird herausgegeben von Marcel Diel, Sigfrid Gauch, Arne Houben und Thomas Krämer.

© 2005 eBook-Ausgabe 2011RHEIN-MOSEL-VERLAGZell/Mosel Brandenbrug 17, D-56856 Zell/Mosel Tel.: 06542-5151, Fax: 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-763-3 Umschlag: Arne Houben

Peer Leonard Galle

Tiger Lily

Roman

Edition Schrittmacher Band 4

Rhein-Mosel-Verlag

Für Katharina

Man muss die »die Lektion des Platzregens« verstehen. Ein Mann, der unterwegs von plötzlichem Regen überrascht wird, rennt die Straße hinunter, um nicht nass und durchtränkt zu werden. Wenn man es aber einmal als natürlich hinnimmt, im Regen nass zu werden, kann man mit unbewegtem Geist bis auf die Haut durchnässt werden. Diese Lektion gilt für alles.

I.

Des Frühlings Nahen: Ein namenloser Hügel Im leichten Nebel.Bashô

1

In dieser Nacht geschah nichts Außergewöhnliches. Keine Kriege wurden erklärt, niemand setzte seinen Fuß auf einen fremden Planeten. Was machte sie so besonders? Es war die Nacht, in der wir auf der Rückbank eines Wagens lagen, der mit höllischer Geschwindigkeit unter dem klaren Sternenhimmel dahinbrauste; ich wusste nicht einmal mehr, wer ihn lenkte. Alles schien mit beunruhigender Selbstverständlichkeit an seinem Platz. Es war die Nacht, in der ich meine Finger an Lily legte.

Sie saß rittlings auf mir und war dabei, die Knöpfe meines Hemdes abzureißen, während ich noch versuchte, mich aus meinem Mantel zu befreien, in dem ich hoffnungslos feststeckte; ich besaß kaum noch Kontrolle über meine Hände. Es hatte an diesem Abend einige Gläser gebraucht, bevor wir aneinander geraten waren, aber jetzt hätte es ein Brecheisen bedurft, um uns voneinander zu trennen. Manchmal musste ich aufsehen, um nicht die Orientierung zu verlieren, mir drehte sich alles. Lily packte mein Genick und zog mich zu sich hoch, ohne Frage gab sie den Takt an. Sie hatte den Tequila zweifellos besser vertragen als ich.

Als der Wagen hielt, schnappte ich kurz nach Luft, bevor ich mich von dem grinsenden Fahrer verabschiedete und zur Haustür torkelte, um mich anzulehnen. Die Nacht hörte auf zu pulsieren, als sich Lily aus der Wagentür pellte, ihre Jacke zurechtrückte und mir ein Lächeln schenkte, dass mir ins Herz stach. Der Alkohol zog mehr und mehr an, selbst den leichten Schnee spürte ich kaum noch, ich war nahezu ohnmächtig. Ich bemühte mich, ihr Lächeln so gut wie möglich zu erwidern, während sie die Tür aufschloss. Ich war noch immer so überwältigt, dass ich nicht mehr genau wusste, wo ich war. Sie griff meine Hand, zog mich in den Hausflur und drückte sich an mich.

»Warum ziehst du so ein Gesicht?«, lachte sie und fing an meinen Hals zu küssen.

»Ich habe Angst, das hier zu verspielen.«

Sie löste sich von mir und stolzierte die Treppen hinauf, eine Königin. Ich folgte ihr und beobachtete ihren Hintern, der sich auf jeder Stufe so geschmeidig bewegte wie zwei verliebte Katzen. Im Grunde hoffte ich nur, dass sie nicht im sechsten oder siebten Stock wohnte, ich hatte nicht viel Kraft zu verschenken.

In ihrer Wohnung warf sie mich aufs Bett und begutachtete mich. Ich legte meine Hände in den Nacken und lächelte. Lily strich sich durch ihr wunderbares, schwarzes Haar und setzte sich wieder auf mich, um den Rest meines Hemdes aufzuknöpfen. Ich vermied es, die Augen zu schließen, mein Kopf drehte sich mehr und mehr, doch ich griff nach ihr und zog sie zu mir herunter, der Duft ihrer Haare machte mich wahnsinnig. Während ihre Zunge mein Ohr streifte, trat mir der kalte Schweiß auf die Stirn. Ich rang nach Luft und versuchte uns auf die Seite zu drehen, aber ihre Beine hatten mich fest in der Zange. Meine Finger fingen an zu zittern, als sie ihren Rücken hinab glitten. Ich war keine Minute davon entfernt, das Ganze hier auf grausame Art zu verspielen.

Wochen später erntete ich Lob von Lily, dass ich sie in dieser Nacht gefragt hatte, ob das alles nicht etwas zu schnell gehe. Sie war fest davon überzeugt, allein mein Anstand wäre für diesen Gedanken verantwortlich gewesen. Und ich musste ihr diese Lüge auftischen und ihr den sensiblen Schlaumeier präsentieren, schlichtweg um meine Haut zu retten. Dass ich so billig damit durchkam, war sicherlich eine Schande, aber was wäre geschehen, wenn ich damals wortlos auf Lilys Toilette gestürzt wäre? Lily meinte, meine Etikette habe Eindruck auf sie gemacht. Ich habe sie nie aufgeklärt. Ich war eitel, keine Frage.

So sah Lily mich eindringlich an und wurde vorsichtig. Vielleicht fragte sie sich, ob sie nicht diejenige war, die alles überstürzte. Sie stieg von mir hinunter und spielte mit den verbliebenen Knöpfen meines Hemdes. Ich setzte mich auf, wischte den kalten Schweiß von der Stirn und pumpte Luft in meine Lungen. Auf diese Weise wurde ich gerettet in dieser Nacht, auch wenn ich drauf und dran war, meine Seele zu besudeln.

Später saßen wir in ihrer Küche und draußen brach in herrlicher Grausamkeit der nächste Tag an. Lily lehnte in meinem Schoß, es war wunderbar. Wir brachten kaum ein Wort heraus, ihre Augen funkelten, wenn sie über mich strichen. Schließlich machte ich den Vorschlag, wieder in die Stadt zu gehen, um einen Kaffee zu trinken – ich war hilflos ob ihrer Schönheit, verunsichert bis ins Mark.

Die einzige Möglichkeit in der Nähe, wo zwei verirrte Gestalten wie wir etwas zu trinken bekommen konnten, war eine heruntergekommene Bar, die durchgehend geöffnet hatte. Hier klammerte sich das Strandgut der Nacht an das letzte Glas, während die Geldspielautomaten vierundzwanzig Stunden am Tag rasselten. Sicher beäugte uns das gesamte Publikum misstrauisch, als wir hineinschwebten, aber ich war so benommen, diese Frau neben mir zu haben, dass ich allen ein breites Grinsen schenkte. Lily setzte sich an den Tisch, der am einzigen Fenster stand, während ich zur Theke schlenderte und zwei Kaffee bestellte. Die Typen um mich herum rümpften die Nase, ja, mir kam das Glück aus allen Poren geschossen. Im Kaffee schwammen noch die Krümel vom Instantpulver, alles war in bester Ordnung. Ich trug die Tassen zu Lily und setzte mich zu ihr. Ihre Augen funkelten noch immer.

»Da sitzen wir jetzt …«, sagte ich.

»Ja, da sitzen wir …«, lächelte sie und legte ihren Kopf in meine Hand.

2

Einige Tage später stand ich am Spülbecken, die Hände im lauwarmen Wasser, eine Zigarette zwischen den Lippen, und grinste vor mich her. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen und streichelte zart mein Genick. Lily würde in zehn, zwanzig Minuten zurückkommen.

Neben mir kochte ein Mangoragout, ich hatte alles perfekt arrangiert. Den ganzen Tag war ich in ihrer Wohnung umher gerannt und hatte ihr einen Glanz verliehen, der uns beiden als Kulisse würdig war. Es ließ sich alles gut an.

Ich beobachtete gerade den Strudel des abfließenden Spülwassers, als es an der Tür klingelte. Ich trocknete mir die Hände ab, ging in den Flur und atmete tief durch. Lily brauchte nicht zu sehen, wie durcheinander ich immer noch war. Als ich die Tür öffnete, starrte mich ein Kerl in einem guten Anzug an, ihm stand der Mund offen. Ich ließ enttäuscht die Schulter sinken.

»Ja?«, fragte ich.

Er musterte mich genau, bevor er antwortete.

»Ich glaube, ich habe mich an der Tür geirrt, Verzeihung …«, murmelte er.

»Na dann …«, ich schenkte ihm ein herzloses Grinsen, bevor ich die Tür schloss.

Ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden, ging ich zu meinem Mangoragout zurück. Ich steckte den Finger in den Topf und kostete, ich war sicher, mir würden bald Flügel wachsen, wenn sich mein Zustand nicht änderte. Ich schien die Bodenhaftung zu verlieren, aber Kopfzerbrechen bereitete mir das nicht.

Das änderte sich, als nun das Telefon klingelte. Ich ließ es klingeln, ich hatte kein Bedürfnis, mich mit irgendwelchen alltäglichen Geschichten abzuplagen. Erst als Paul über den Anrufbeantworter aufheulte, ich solle abheben, lauschte ich auf. Paul war aufgeregt, und das kam bei ihm selten vor. Ich biss die Zähne zusammen und hob ab.

»Ja, Paul, was ist los?«

»Endlich! Deine Wohnung steht unter Wasser, bis an die Knöchel«, sagte er.

»Was?«

»Herrgott, deine Wohnung steht unter Wasser! Die Feuerwehr ist hier und die halbe Nachbarschaft steht vor der Tür! Du solltest vielleicht mal einen Blick darauf werfen! Hallo?!«

Ich schaute wehmütig in die Küche, zu diesem umwerfenden Mangoragout, das kurz vor der Perfektion stand.

»Ich bin in einer Minute da. Halt mir bloß die Nachbarn aus der Wohnung! Paul?!«

»Was glaubst du, was ich …«

Ich knallte den Hörer auf und hastete aus Lilys Wohnung, das Treppenhaus nahm ich in sechs Sprüngen. An meinen alten Alfa hing ein Strafzettel, der vor drei Tagen ausgestellt worden war, ich war seitdem nicht mehr vor die Tür gekommen. Ich riss ihn ab und warf mich hinters Lenkrad. Während der Fahrt fluchte ich vor mich her, dieser Magenschwinger kam zur falschen Zeit.

Vor meiner Wohnungstür hatten sich die Nachbarn versammelt und gafften hinein. Für den Hausmeister war das der Weltuntergang; er krallte sich sofort meinen Kragen..

»Sehen Sie, was hier los ist?! Wer, glauben Sie, macht das alles weg? WER?!«, keifte er mich an, seine Visage war puterrot.

Ich machte mich frei und drängte durch die Verrückten. Schweiß stand mir zwischen den Schulterblättern. Als ich durch die ausgerissene Tür in die Wohnung trat, zog sich mir alles zusammen. Überall stand eine dreckbraune Brühe, an manchen Stellen löste sich die Tapete von den Wänden. Ich stellte die Tür so gut wie möglich in den Rahmen zurück und stapfte ins Bad, wo Paul mit einem grellroten Feuerwehrmann diskutierte, der gelangweilt eine Axt in der Hand hielt. Paul warf die Arme in die Luft, als er mich sah.

»Da bist du ja endlich!«

»Was …?«

»Regeln Sie das mit dem Witzbold hier, ich muss zur Arbeit!«, schnauzte er den Feuerwehrmann an und stürmte an uns vorbei, wobei er mir einen genervten Blick zuzuwarf.

Der Feuerwehrmann lächelte mich an. Er lächelte, es war nicht zu glauben.

»Nichts Schlimmes, es ist nur ein Waschbecken übergelaufen.«

»Nichts Schlimmes? Das ist ein Witz, oder?«

Er hielt mir einen Block unter die Nase und drückte mir einen Kugelschreiber in die Hand.

»Ich brauche nur noch eine Unterschrift«, sagte er und rückte seinen grellroten Helm zurecht.

Ich unterschrieb und blickte ihn hilflos an, ich war für jeden Ratschlag dankbar, wie das Ganze hier zu bewältigen war.

»Die Rechnung kriegen Sie per Post«, sagte er. »Das nächste Mal sollten Sie schon aufpassen, dass alle Wasserhähne zugedreht sind, ja? Hier, Ihre Quittung. Schönen Tag noch.«

Damit ließ er mich stehen. Ich kam bei diesem Humor nicht mit. Mein Blick wanderte zum Waschbecken, an dem ich mich an jenem Abend rasiert hatte, bevor ich mich auf Lily stürzte. Ich hörte den Feuerwehrmann im Flur ächzen, als er sich durch die Wohnungstür zwängte und ging in die Küche, um einen Schluck zu trinken. Hier hatte das Wasser den Müllsack aufgeweicht, der ganze Dreck trieb umher. Ich griff in den Kühlschrank, der nicht mehr funktionierte, und zog mir ein warmes Bier heraus. Nach den ersten paar Schlucken fing ich an zu schreien. Man sollte meinen, dass einem solche Dummheiten nicht mehr unterliefen, wenn man gerade die Dreißig hinter sich gelassen hatte. Irgendwann sollte selbst ich anfangen, die Dinge in den Griff zu kriegen.

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinem Ausbruch. Ich watete ins Wohnzimmer, zuckte zusammen, als ich meinen Fernseher aus dem Wasser ragen sah, und hob ab. Es war Lily.

»Wo steckst du?«, fragte sie.

»Lily, meine Wohnung steht unter Wasser.«

»Und hier hängt der Rauch meterdick in der Luft, den Topf kann ich wegschmeißen …«

»Oh nein …«, stöhnte ich.

Lily lachte. Sie lachte. Im hintersten Winkel meines verwirrten Kopfs ging die Sonne auf.

»Die Nachbarn wollten schon die Feuerwehr holen …«, lachte sie.

»Da hast du auf jeden Fall ein paar erstklassige Pointen verpasst …«

Ich ließ mich auf einen trockenen Stuhl fallen und nippte am Bier. Da ich erst vor drei Monaten hier eingezogen war, standen die meisten Sachen noch auf dem Boden und damit deutlich unter der Wasserlinie. Der einzige Trost war mein Schreibtisch, auf dem meine Remington und das Manuskript trocken geblieben waren. Der Rest konnte mir im Grunde auch egal sein; ich hatte ja nicht viel, das mir wichtig war. Keine schlechte Einstellung, sagte ich mir, in einem Moment, in dem sich so gut wie alles, was ich besaß, in seine Bestandteile auflöste.

Mir blieb nichts, als mich mit einem Eimer hinzusetzen und das Wasser in die Badewanne zu schöpfen. Gegen Abend kam Lily mit ihrem Eimer vorbei, und wir schufteten bis in die Nacht. Während sie sich ins Bad verzog, machte ich mich daran, eine Schadensliste aufzunehmen. Es war eine traurige Angelegenheit; meine Bücher, Platten, der nicht abbezahlte Fernseher, die Pflanzen, alles war hinüber. Und da ich, wenn das Schicksal schon auf mich einschlug, die ganze Prügel auf einmal haben wollte, malte ich mir den Zustand des Dielenbodens, der Teppiche aus, ich schätzte, wie lange es wohl dauern würde, die Wohnung staubtrocken zu kriegen. Kurz, der kleine Teil des Himmels, der mir zustand, brach mit Getöse über mir ein. Fluchend legte ich meine Platten und Bücher ins Trockene, als Lily in der Tür stand. Sie strahlte, was mir nicht in den Kopf ging.

»Hast du was gesagt?«, fragte sie.

Ich blickte sie an und versuchte meine Erschütterung so gut wie möglich zu überspielen. Sie sollte nicht glauben, dass mich so etwas umwarf.

»Nein …«, aber dann, leise: »Herrgott, sieh dir meine Bücher an, sie sind alle hinüber.«

»Versuch es doch einfach anders zu sehen …«, lächelte sie … »Das ist unsere erste Katastrophe und das nach nur so kurzer Zeit, das schweißt zusammen …«

Ich wusste nicht, ob sie das ernst meinte, ich wandte mich ab und nahm die aufgeweichte Ausgabe der »Pille gegen das Grubenunglück von Springhill« in die Hand.

»Ich weiß nicht, warum ich mich darüber freuen sollte; ich kann keine positive Seite daran entdecken, wenn es das ist, was du meinst. Hier sind Bücher dabei, die ich … oh Mann …«

»Ich spreche nicht von Katastrophen, sondern davon, sie zu überwinden. Verstehst du, von Stein zu Stein springen …«

Sicher war es einfach für dieses Mädchen, dort auf ihre blendende Art im Türrahmen zu lehnen und solche Weisheiten von sich zu geben, aber einen raren und zerfledderten Gedichtband von Brautigan in der Hand zu halten, eröffnete mir eine andere Sicht auf die Dinge.

»Ich sehe nichts Gutes daran«, grummelte ich und bemühte mich, die Beherrschung zu wahren.

Doch sie blies das alles weg, in der Art, wie sie auf mich zukam, mich hinters Ohr küsste und in den Hintern zwickte. Natürlich ändert so etwas die Sichtweisen.

Als wir den gröbsten Mist weggeschafft hatten, waren wir erledigt. Ich nahm Lily in die Arme und sie fühlte sich so gut an, dass ich ein grundehrliches Lächeln hinbekam. Sie lachte und fuhr mit ihrer Hand unter mein Hemd.

»Siehst du? Da ist nichts, was wir nicht schaffen können.«

Das nahm ich ihr ohne Bedenken ab. Ich hob sie hoch und trug sie zum trockenen Bett. Sie kicherte leise, als ich sie in die Kissen legte, und mir war es schnuppe, zu was wir oder der Rest es bringen würden, ich küsste ihren Bauch, und mit ihren Beinen um meine Hüften gepresst konnten sie mich alle kreuzweise.

3

Als ich am nächsten Tag von der Arbeit kam, war Lily nicht mehr da. Ich machte mich daran, die Wohnungstür zu reparieren und wurde fertig, als es anfing zu dämmern. Ich ging zum Fenster, um hinaus in den Abend zu schauen. Über die Dächer dieser Stadt hinweg hatte man einen ganz passablen Blick. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ein Stück des Paradieses ausgerechnet hier in meinen Schoß gefallen war. Es war, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf gekriegt, doch mit beruhigender Regelmäßigkeit vernahm ich einen goldenen Klang, wenn ich Lily in Gedanken vor mich stellte. Ich zog meine Kurierkluft aus und sprang unter die Dusche, es gab keine Sekunde zu verlieren.

Nachdem ich meinen Alfa abgestellt hatte und ausgestiegen war, hielt ich die Nase in die kalte Abendluft. Die Stadt rumorte auf eine angenehm leise Art, und es tat gut, dies wieder genießen zu können. Bevor ich klingeln konnte, kam ein Alter mit seinem kleinen Hündchen aus der Tür und bedachte mich mit einem zerknirschten Blick. Ich drückte mich an ihm vorbei, ohne ihm in die Augen zu sehen – ich hatte keine Bedürfnis nach Elend – und nahm mit jedem Schritt zwei Stufen nach oben.

In meiner Hast rannte ich fast in den Fremden, der gestern vor Lilys Tür gestanden hatte; zumindest glaubte ich ihn zu erkennen. Er sah mich mit großen Augen an, als wäre ich der Leibhaftige. Ich murmelte so etwas wie eine Entschuldigung und ging weiter. Vor Lilys Wohnungstür linste ich über das Geländer hinunter. Er stand noch immer auf derselben Stufe, seinen Kopf in den Händen vergraben. Langsam fing ich an zu verstehen, ich bohrte meinen Finger in die Klingel, mein Genick war verspannt. Als Lily die Tür aufriss, zuckte ich zusammen. Ihr Gesicht war schrecklich verzerrt, ich tat einen Schritt zurück.

»Sag mal, was ist dein …«, fauchte sie, bevor sie mich erkannte.

»Mein Problem?«, fragte ich und sah sie an.

Ihr Körper entspannte sich, die Spannung fiel förmlich zu Boden. Sie schniefte kurz.

»Du bist es … vergiss es …«, winkte sie ab.

»Hm …«, machte ich und ging an ihr vorbei in den Flur.

Man musste kein Hellseher sein, um zu ahnen, welche Vorstellung ich verpasst hatte. Lily schloss die Tür und lehnte sich dagegen, sie hatte Tränen in den Augen. Ich blieb im Flur stehen und dirigierte meinen Blick in ihre Richtung. Ich hatte keine Erfahrung mehr mit solchen Situationen, zu lange hatte ich diese Dinge von mir ferngehalten und versucht, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

»Dein Typ war hier, habe ich recht?!«, fragte ich.

»Mein Typ, ja, so kannst du es auch nennen«, sagte sie mit gesenktem Kopf.

Mich machte das wahnsinnig. Mir fingen die Fingerspitzen an zu schmerzen, ich ballte die Fäuste.

»So kann ich es nennen? Wie nennst du es denn?«

Sie sah auf, mir direkt in die Augen, und ein Lächeln kam hinter ihrem finsteren Gesicht hervor.

»Er ist eigentlich mein Verlobter …«

Ich schnaufte wie eine Furie.

»Und … wie steht es so … mit deinem Verlobten?«

Sie lächelte noch breiter. Ich kam mir vor, als würde ich gegen die Wand gepresst.

»Er ist ein versnobter Idiot. Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie und schlenderte an mir vorbei.«

Ich rührte mich nicht und blickte auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte.

»Das ist alles? Ich brauche keine Angst zu haben?«

Sie legte ihre Arme von hinten um mich, ihre Lippen streiften mein Genick. Der Flur fing an zu flimmern.

»Das ist mehr als du denkst …«

Mehr als ich erwarten durfte, aber das konnte ich ihr nicht sagen. Wer in aller Welt hätte das zugegeben?

Später lagen wir vor dem Fernseher, ich trank abwesend mein Bier und lauschte den Geräuschen aus Lilys Bauch, da lachte sie kurz, fast als wolle sie es unterdrücken.

»Was ist so lustig?«, fragte ich. Das Fernsehprogramm konnte es nicht sein.

»Nichts, nichts«, antwortete sie.

Ich betrachtete ihre wunderbaren Beine und fiel mit vollem Bewusstsein auf ihr Spiel rein, ich hatte keine Lust, große Umwege zu machen.

»Wie ist er eigentlich so, dein Verlobter?«, fragte ich und schlüpfte mit meinem kleinen Finger in ihren Bauchnabel.

»Mach dir keine Gedanken, es lohnt sich nicht«, sie ließ den Kopf auf die Seite fallen. »Überleg dir lieber, wie du mich ins Bett kriegst …«

Ich lachte. Meine Hand glitt unter ihren kurzen Rock, langsam, bis ich den Ansatz ihrer Härchen spüren konnte. Ich fühlte ihren Bauch unter meinem Kopf beben. Aber ich wollte nichts überstürzen, zog meine Hand zurück und grinste sie an.

»Mit aller Gewalt, was glaubst du denn?«, lachte ich.

Sie war es, die mich ins Bett zerrte. Sie war es, die sich auf mich schwang und mir wieder sämtliche Knöpfe vom Hemd riss, im Grunde war sie ein Wirbelsturm und ich nur der trunkne Schmetterling auf ihrem Weg.

4

Das Problem mit Paul war, dass es nie lange dauerte, bis man ihn am liebsten erwürgt hätte. Dabei war er im Grunde kein Mensch, der anderen übel wollte. Er war einfach nur langsam – und das überlegt. Ich hatte keine Ahnung, warum er das so besonders clever fand, und sicher war das auch irgendwie eine nette Ader. Aber wenn man früh morgens an einem kalten Samstagmorgen auf ihn warten musste, während man genauso gut in einem warmen Bett liegen konnte, das Gesicht im Nacken eines Mädchens vergraben, war es unvermeidbar, dass die Phantasie mit einem durchging.

Ich stand nun schon seit einer Viertelstunde an dieser Straßenecke, blies mir in die Hände und wartete auf Paul. So gut wie niemand wagte es, an diesem kalten Samstagmorgen einen Fuß vor die Tür zu setzen. Ich fluchte leise vor mich her und versuchte die Tristesse dieses Morgens so gut wie möglich zu ignorieren. Doch ohne ein Frühstück im Bauch war das eine schwierige Angelegenheit, meine Moral sank auf den Nullpunkt.

Eine alte Frau schleppte ihre Einkäufe an mir vorbei, aus einer der Plastiktüten ragte eine zerrupfte Barbie-Puppe. Ich wich ihrem Blick aus und sah in den diesigen Himmel. Allmählich verlor ich die Geduld. Ich malte mir gerade aus, wie es wäre, sich jetzt das entmutigende Samstagmorgenprogramm im Fernsehen anzusehen und Lilys Bett mit Aufbackbrötchen voll zu krümeln, als Pauls Käfer um die Ecke kroch. Ich stapfte zu ihm und riss die Fahrertür auf.

»Das war das letzte Mal, verstehst du, das letzte Mal, dass ich dir einen Gefallen tue! Hast du mal auf die Uhr gesehen?!«, schnauzte ich.

Er verdrehte die Augen und zog an seiner Tür. Ich hielt sie fest.

»Ja, herrje. Tut mir leid. Lass die Tür los, es ist kalt«, sagte er.

»Ist es das?!«, fauchte ich und schmiss sie zu, ich betete, dass er seine Finger dazwischen hatte.

Ich ging zur Beifahrertür und ließ mich auf den Sitz fallen. Paul schüttelte den Kopf.

»Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst die Tür nicht so zuschlagen, die verzieht sich sonst …«

»Paul …«, ich betrachtete meine blauen Finger, » … das hier ist ein VW-Käfer, der verzieht sich nicht.«

»Das behauptest du.«

Ich fuhr herum.

»Fahr endlich los! Deine Scheißtür ist mir so was von egal! Ich steh hier schon seit fast einer halben Stunde herum, habe nichts gefrühstückt, weil das ein Notfall sein soll! Oder habe ich das falsch verstanden?!«

Er blickte erschrocken auf die Straße und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad.

»Ja, es ist ein Notfall. Noch mal: Es tut mir Leid. Aber wenn es so kalt ist, muss der Käfer erstmal im Stand warmlaufen, sonst ist der Motor irgendwann hin.«

Ich blickte aus dem Fenster auf eine Gruppe Kinder, die versuchten, sich an einem Automaten Zigaretten zu ziehen.

»Das hättest du nicht schon vor zwanzig Minuten machen können, oder?«, fragte ich ganz ruhig.

»Ich musste ja noch frühstücken …«

Ich ließ den Kopf sinken.

»Fahr los, bitte …«

Auf der Fahrt erklärte mir Paul sein Problem. Ich konnte ihm kaum folgen; der Ärger saß mir noch in den Gliedern. Ich hielt meine Finger an die Lüftung und versuchte, das Gift aus meinen Adern zu filtern. Es ging wieder einmal um Pauls Liebesabenteuer, und das bedeutete komplizierte Angelegenheiten, die mich nicht im Geringsten interessierten. Oft genug hatte ich ihm klarzumachen versucht, dass ich nichts damit zu schaffen haben wollte. Ich hatte schon so genug Schwierigkeiten, sagte ich mir. Und dass ich zu alt war, um so ein Theater noch mitzumachen. Aber wie in allen Dingen war Paul auch langsam, wenn es darum ging, die Situation anderer zu verstehen.

»… und na ja, du weißt ja, wie es ist. Manchmal lehnt man sich zu weit aus dem Fenster, und diesen Fehler bekommt man im nächsten Moment um die Ohren geschlagen. Gut, wir standen beide mit unseren Cocktails auf dieser armseligen Party voller Karrieristen und Schlipsträger, und als sie mich fragte, ob ich heute Zeit hätte mit ihr zu frühstücken, meinte ich, ich wüsste es nicht genau, da mein Geschäft mich im Moment viel Zeit kosten würde …«

»Dein Geschäft? Welches Geschäft?«, fragte ich wieder amüsiert. Ich konnte schon die Spitze des Eisbergs erkennen: Pauls angeborenem Zwang, jede Geschichte unnötig zu verkomplizieren.

»Da liegt das Problem. Ich bin jetzt mit ihr in dem Hotel verabredet, in dem sie arbeitet. Verstehst du, diese Celeste legt Wert auf Männer, die etwas vorzuweisen haben. Ich will sie etwas zappeln lassen, deshalb dachte ich mir, du könntest mich nach einer halben Stunde im Hotel ausrufen lassen, das macht Eindruck. Und dann holst du mich ab, wegen schwieriger Geschäfte; das ist alles. In einer halben Stunde.«

Nun schüttelte ich den Kopf.

»Soll das heißen, ich sitze hier und liege nicht bei Lily im Bett, nur weil du dir so einen Schwachsinn ausdenkst …?«

»Ja, wenn man es so sieht«, er setzte den Blinker, um abzubiegen.

»Ich will jetzt gar nicht damit anfangen, wie oft ich dir schon gesagt habe, dass ich nichts mehr mit deinen Liebesgeschichten zu tun haben will… aber warum das Ganze um zehn Uhr morgens?«, fragte ich.

Er konnte erst antworten, als er den Wagen eingeparkt hatte. Ich war kurz davor zu glauben, dass er mich absichtlich in den Wahnsinn treiben wollte. Er stieg aus und beugte sich noch einmal zu mir herunter.

»Also, in einer halben Stunde!«, schärfte er mir ein.

»Paul, ich brauche noch die Nummer, wenn ich dich anrufen soll …«

»Stimmt.«

Er kritzelte die Nummer auf mein Zigarettenpäckchen und überreichte es mir bedeutungsvoll.

»Ich verlass mich auf dich«, sagte er und wandte sich ab. »Huh, es ist ganz schön kalt geworden …«

Ich zog die Tür zu und schoss rückwärts aus der Parklücke. Es fiel mir schwer zu glauben, dass er mit diesem Theater durchkommen würde. Jeder bei vernünftigem Verstand erkannte sofort, dass Paul alles andere war als ein viel beschäftigter Mann. Ich hatte genug von Typen, die ihren Illusionen nachjagten, dazu langte mir in meinem Fall nur ein Blick auf meine Schreibmaschine. Der Grund, warum ich mich hatte breitschlagen lassen, lag allein darin, dass ich in letzter Zeit etwas übrig hatte für verliebte Kerle.

Und so war meine Laune besser, als ich mir in einem Stehcafé ein Frühstück gönnte und durch das Schaufenster zwei Politessen beobachtete, die einen Strafzettel an Pauls Käfer anbrachten. Seit den letzten Wochen konnte ich diesen Kleinigkeiten etwas abgewinnen. Ich lächelte sogar, als mich die Bedienung darauf hinwies, dass es mein Wagen war, der im Parkverbot stand.

»Gönnen wir ihnen diesen kleinen Sieg«, zwinkerte ich ihr zu.«

Sie zuckte mit den Schultern und goss mir etwas Kaffee nach.

»Ihre Ruhe möchte ich haben«, murmelte sie und wackelte zur Theke zurück, um ihre Kollegin anzuschnauzen.

Ich behielt mein Lächeln, das ich mir angewöhnt hatte, seit mir die Erkenntnis in den Schoß gefallen war, dass es durchaus möglich sein konnte, durch den allgemeinen Fluss zu rudern, ohne anzuecken. Und dass sich kaum ein Wölkchen auf dem blauen Himmel gezeigt hatte, seit ich Lily kannte.

Nach einer halben Stunde schlenderte ich zum Münztelefon hinten im Café. Ich ließ Paul im Hotel ausrufen und wartete. Da Paul sich wieder alle Zeit der Welt ließ, ging mein Münzvorrat zu Neige. Über die Schulter hinweg schaute ich nach der Bedienung und zuckte jedes Mal zusammen, wenn wieder Geld durchfiel. In letzter Sekunde kam Paul an den Apparat.

»Ja, pass auf, ich denke, ich werde doch …«

Das Gespräch war weg. Ich ließ den Hörer auf die Gabel sinken und atmete tief durch, um nicht die Nerven zu verlieren. Das Schlimme an Pauls Ideen war, dass sie so gut wie nie funktionierten.

Ich entschloss mich, ihn trotzdem abzuholen. Schließlich hatten wir eine Vereinbarung. Am Käfer pflückte ich den Strafzettel ab und warf mich hinters Steuer, als mir einfiel, dass Paul weder Namen noch Adresse des Hotels genannt hatte. Mit zusammen gepressten Kiefern fuhr ich die umliegenden Straßen ab und fluchte leise vor mich her. Mir war es egal, mit welchem Gesichtsausdruck ich vor die beiden treten würde.

Doch als ich die Lounge des Hotels betrat, traute ich meinen Augen kaum. Paul und Celeste plauderten angeregt an einem der hinteren Tische, während ein Pianist etwas ungefährlichen Jazz in den Raum plätschern ließ. Sie mussten Durst gehabt haben, die beiden, auf dem Tisch thronten zwei leere Schampusflaschen. Celeste hatte ihre Hand auf Pauls Oberschenkel gelegt, auf die Art und Weise, die sehr angenehm war. Ich marschierte schnurstracks auf sie zu.

Paul sah erschrocken auf, als ich mich neben ihm aufbaute. Ich hatte nicht die leiseste Spur eines schlechten Gewissens; ich war drauf und dran, ihm die Tour zu vermasseln.

»Ah, da bist du ja. Ich hatte doch gesagt …«, stammelte er beunruhigt.

»Sicher, es ist aber dringend.«

Ich lächelte Celeste an. Als Paul uns vorstellte, begann ich seine Unruhe zu verstehen. Celeste war von der Sorte Frau, die einen dazu brachte, mit den verbrannten Fingern zu wedeln, wenn man ihr zu nahe kam.

»Kennen wir uns nicht?«, fragte sie.

»Ich glaube nicht. Tut mir leid, wenn ich störe, aber die Sache spitzt sich zu«, erklärte ich und blickte zu Paul.

»Welche Sache?«, fragte dieser Idiot.

»Ich habe dich doch angerufen. Der Händler ist abgesprungen.«

»Der Händler? Na ja, eigentlich …«, hob er an und zwirbelte die Sektflöte zwischen seinen Fingern.

»Wenn es nicht vermeidbar wäre, wäre ich nicht hier. Du erinnerst dich?!«, schnaufte ich und spürte wie mein Auftritt mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verlor.

Paul blieb nichts anderes übrig als zu reagieren.

»Tja, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Entschuldige, aber wir können das hier ja ein anderes Mal wiederholen«, bot er Celeste an, die seine Worte kaum mitbekam, da sie damit beschäftigt war, mich eingehend zu mustern.

»Du kommst mir bekannt vor. Bist du dir sicher, dass wir uns noch nie begegnet sind?«, fragte sie mich und schob ihre Brüste zurecht.

»Mit Sicherheit kann ich das nicht sagen«, antwortete ich und wandte mich an Paul, der sich gemächlich in seinen Mantel wickelte.

Celeste fasste meine Hand.

»Nun, ich bin mir sicher, dass wir uns noch einmal sehen«, raunte sie.

Gott, ihre Stimme klang wie dunkles Bäumerauschen. Ich drückte ihr in aller Form die Hand und schob Paul vom Tisch weg.

»Na ja, auszuschließen ist das nicht. Es tut mir leid, aber wir müssen los«, lächelte ich gequält.

Auf der Straße stolperte mir Paul hinterher, während seine Vorwürfe auf mich niederprasselten. Ich marschierte unbeeindruckt zum Wagen.

»Sag mal, hast du Augen im Kopf?! Wie hat das für dich ausgesehen? Was ist daran so schwer zu verstehen, wenn ich dir sage, ich will noch bleiben?! Ich dachte, du …«

Ich fuhr herum und zielte mit dem Zeigefinger auf ihn.

»Hör zu, mein Lieber. Das Ganze war nicht meine Idee. Geh mir nicht auf die Nerven!«

»Und was sollte der Quatsch mit diesem Händler?! Wie soll ich ihr erklären, mit welchen Händlern ich zu tun habe?!«

»Ist mir scheißegal! Teppichhändler, was weiß ich! Wenn du dir so einen Schwachsinn ausheckst, bade ihn gefälligst auch mit Würde aus!«, schnauzte ich und ging weiter.

»Ich hab mir das doch nicht ausgedacht! Mann, wie stehe ich denn jetzt da?!«

Ich gab ihm keine Antwort; vermutlich hätte er sie nicht ertragen.

Am Wagen angekommen, warf Paul die Arme in die Luft.

»Sieh dir das an! Wieso stellst du dich ins Parkverbot?!«, heulte er auf und zog den nächsten Strafzettel vom Scheibenwischer.

»Paul, vielleicht solltest du dir das nächste Mal besser überlegen, wen du für deine Spinnereien einspannst. Steig ein, es ist kalt.«

5

Auf der Heimfahrt stritt ich mit Paul wegen der zwei fälligen Strafzettel. Er wusste, dass ich nicht nachgeben würde, und so kamen wir beide schlecht gelaunt vor Lilys Haus an. Als ich ausstieg, sah ich Lilys Verlobten an meinem Alfa Guilia lehnen und auf mich warten. So wie es aussah, hatten sich heute morgen alle gegen mich verschworen, mir keine Sekunde Frieden zu gönnen. Ich donnerte die Tür des Käfers zu und atmete tief die Morgenluft ein, bevor ich Kurs auf ihn nahm.

Ich hatte erwartet, dass er mir an die Kehle gehen oder zumindest mit finsterer Miene ins Gesicht blicken würde, aber er hatte ein höfliches Lächeln aufgesetzt und zog eine Hand aus der Manteltasche, um mich zu begrüßen.

»Guten Morgen. Ich habe auf Sie gewartet«, sagte er.

»So?«, fragte ich vorsichtig und sah hoch zu Lilys Wohnung.

Er zog seine unberührte Hand zurück und ließ sie wieder im Mantel verschwinden.

»Ja, ich wollte mich mit Ihnen unterhalten. Ich denke, es gibt da einiges zu klären zwischen uns«, sagte er.

Ich zog meine Wagenschlüssel aus der Tasche und fletschte die Zähne.

»Sicher«, sagte ich.

Er lachte, ich verstand nichts mehr.

»Wie wärs mit einer Spazierfahrt? Die Kälte geht mir unter die Haut.«

»Ja, eine gute Idee«, er stolzierte um den Alfa herum.

Als ich aufschloss, hatte ich plötzlich alle Mühe, mich aufrecht zu halten. Ich war in einer erbärmlichen Verfassung. Doch nachdem er volle fünf Minuten mit dieser heiteren Miene neben mir saß und kein Wort hervorbrachte, wurde es mir zuviel. Wir überquerten gerade den Fluss, der in die deprimierenden Farben dieses Morgens getaucht war; selbst die Vögel darauf schienen den Kopf hängen zu lassen.

»Nun, ich kann Ihre Situation verstehen, sagte ich. Es ist nicht so, als wäre ich nie sitzengelassen worden, aber ich sehe keine Möglichkeit, wie wir zu einer Einigung kommen könnten.«

Ich stellte den Scheibenwischer an, denn ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Er ließ den Kopf nach hinten fallen, während ich immer nervöser wurde. Jeden Moment würden seine Anfeindungen auf mich niedergehen, dessen war ich mir sicher. Ich griff das Lenkrad fester.

»Nein, Sie sehen das falsch. Ich will zwar nicht behaupten, dass diese Wendung spurlos an mir vorübergegangen ist. Aber in gewisser Weise bin ich Ihnen dankbar …«

»Also, warum sitzen wir beide hier, wenn wir beide genauso gut im Bett liegen könnten?«

»Ich will Ihnen nur erklären, dass Sie sich um mich keine Gedanken machen müssen. Ich bin durchaus zufrieden, wie sich die Dinge entwickelt haben. Sehen Sie, keiner kann sagen, dass Lilith und ich für einander geschaffen waren. Wir hatten uns diese Hochzeit nicht ausgesucht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge …«

Ich hielt an einer Ampel, wo japanische Touristen es nicht erwarten konnten, die Straße zu überqueren.

»Nun, es gibt nun mal gewisse Traditionen in unserem Land, im Besonderen in den Kreisen, in denen unsere Familien verkehren. Ich kenne Lilith von klein auf, und na ja, es lag nahe, da beide Familien hierher kamen. Man will unter sich bleiben, da kann man niemandem einen Vorwurf machen«, erklärte er.

Eine der Japanerinnen hopste ihrer Gruppe nach, ich gab Gas, um in Bewegung zu bleiben.

»Aber Sie wissen ja, wie es sich verhält. Man gerät an neue Menschen, neue Wege tun sich auf. Um ehrlich zu sein, habe ich seit einem Jahr ein homosexuelles Verhältnis und treibe mich an Orten herum, die meiner Familie das Blut in den Adern gefrieren lassen würden.«

Ich sah ihn entgeistert an und bekam kaum ein Wort heraus, ich musste es förmlich aus meinen Lungen pressen.

»Soll das heißen, Sie hätten Lily trotzdem geheiratet?«

»Diese Frage erübrigt sich ja nun zum Glück …«, grinste er. »So gesehen haben Sie meine Haut gerettet. Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass äußere Umstände mich aus diesem Dilemma befreien würden. Wie gesagt, im Prinzip bin ich Ihnen dankbar.«

»Dankbar!?«, japste ich und wendete den Wagen, um ihn wieder in den Verkehr einzufädeln.

Er dirigierte mich zu seinem Jaguar, den er zwei Straßen entfernt von Lilys Wohnung abgestellt hatte, während ich versuchte, unsere Unterhaltung in die richtigen Kanäle zu kriegen. Soweit ich es beurteilen konnte, war ich mit einem blauen Auge davongekommen. Und so gelang mir schließlich ein Lächeln, als er mir seine Hand auf die Schulter legte.

»Ich hoffe, dieses Gespräch bleibt unter uns. Sie machen einen guten Eindruck auf mich. Aber glauben Sie nicht, dass die Probleme für Sie aus dem Weg geräumt sind. Da gibt es noch einige, die auf Sie zukommen werden. Tja, sieht aus, als säßen wir im selben Boot …«

Er gab mir seine Visitenkarte.

»Wenn Sie einen Finanzberater brauchen, rufen Sie mich an.«

Damit verabschiedete er sich. Ich drehte die Karte in meinen Fingern und sah ihm zu, wie er sich in den glänzenden Jaguar warf. Mir blieb nichts, als den Blick auf die Straße zu richten und loszufahren. Wirklich beruhigend war das alles nicht, nicht in meiner Verfassung. Ich hoffte nur, dass ich so stumpf blieb, wie ich im Moment war. Ich wollte mir keine wirbelnden Gedanken erlauben. Ich war der König der Krähen an diesem Morgen, und das hatten sie ganz wunderbar hinbekommen.

Lily stand in einem meiner T-Shirts in der Küche und kramte in einem Hängeschrank. Auf den Zehenspitzen balancierend, streckte sie mir ihren blanken Hintern entgegen. Es roch nach Kaffee, und ich spürte, wie sich Balsam auf meine Nerven legte. Ich schloss die Tür, Lily drehte sich um.

»Was haben sie denn mit dir angestellt? Du machst ein Gesicht wie ein Gehängter …«, lachte sie und wiegte die Tasse in ihrer Hand.

»Nichts von Bedeutung … Komm, lass uns wieder ins Bett gehen …«

Sie schob sich die Haare auf eine Art aus der Stirn, dass es einem die Sprache verschlug, und kam mit vorsichtigen Schritten auf mich zu; die Küchenfliesen waren sicher kalt. Als ich sie in die Arme nahm, roch ich noch den süßen Schlaf, der an ihr hing. Ich wurde weich wie Plüsch.

»Nein, das geht nicht. Ich muss gleich zu meinem Vater. Aber leg du dich ruhig noch mal hin«, wisperte sie mir ins Ohr.

Meine Qualen waren unerträglich, ich schloss die Augen. Doch sie löste sich von mir, und ich sah ihr an, dass keine Chance mehr für mich bestand.

»Er ist außer sich, er dreht einfach durch. Ich würde es nur noch schlimmer machen.«

»Was gibt es denn noch, das schlimmer werden könnte?«, fragte ich an ihrem wunderbar schmalen Hals.

Der Tag fing an, wie ein Sägeblatt in mich zu gehen. Lily wandte sich wieder zu mir um, ihre Bewegungen wirkten unsicher auf mich.

»Ich erklär es dir bei Gelegenheit …«, sagte sie und ließ mich stehen.

Ich folgte ihr ins Schlafzimmer, ich wollte sie zur Rede stellen. Sie war dabei sich anzuziehen, Kleider, die ich noch nie an ihr gesehen hatte. Sie sah wie eine Pfarrerstochter aus.

»Ist das jetzt wirklich so ein wichtiger Termin, dass du dir nicht mal eine Stunde Zeit nehmen kannst, oder geht ihr in die Kirche, in diesem Fummel?«, fragte ich an den Schrank gelehnt.

Lily fuhr herum wie eine Katze, ich zog meinen naiven Kopf ein.

»Sieh mich an! Glaubst du allen Ernstes, ich steh auf so einen Stil?!«, fauchte sie. »Das ist eine meiner Verpflichtungen. Es ist sicher nicht so, dass ich große Freude dabei verspüre! Aber er ist mein Vater. Mein Gott, was gibt es da zu erklären?!«

Ich lachte so deplaziert, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten.

»Ich versteh gar nicht, warum du dich so aufregst … Geh ihn besuchen, ist doch kein Problem«, sagte ich und ging in die Küche zurück.

Ich goss mir einen Kaffee ein und sah mir die kleine, schwarze Tafel an, die neben der Tür hing: Kerzen, Chilis, Ikea-Schrauben … Ich wartete auf Lilys Auftritt, mein Kopf war etwas verwirrt, ich fühlte mich wie ein Glas auf der Tischkante.

Dann kam sie mit offenen Schuhen. Ihre Augen blitzten mich an, als sie ihre Tasse schnappte und sie in einem Zug leer trank. Ich lächelte sie spröde an, als sie die Tasse absetzte.

»Pass auf, ich erklär es dir, sobald ich zurück bin«, sagte sie drohend.

Ich hatte nichts gelernt bei all den Geschichten, die hinter mir lagen. Nach wie vor nutzte ich die erstbeste Möglichkeit, den Bogen zu überspannen.

»Grüß ihn von mir …«, schnippte ich in den Raum.

Es war ein Gewitter, das hier in der Küche grollte und die Haustür fast aus den Angeln riss. Wäre es nicht Lily, wegen der ich hier war, ich hätte längst den geordneten Rückzug angetreten. Ich versuchte mich nicht weiter zu belasten und ließ mich ins Bett fallen. Natürlich hatte ich gehofft, mit ihr so lang Luft zu kriegen, mich jeden Tag schwerelos auf sie stürzen zu können. Sicher war das naiv gedacht, denn ein Mädchen bedeutet immer Probleme, aber die meisten besagen doch wenig. Wenn ich die Füße ausstreckte und Lilys Duft in den Kissen atmete, rechnete sich das meiste. Gerade als ich die Augen schloss, kam die Sonne hinter diesem tristen Samstagmittag hervor und schoss mir auf die Netzhaut.

Ich konnte mich nicht gegen die Erkenntnis wehren, dass ich von Lily entrückt worden war, entrückt dem armseligen Trott der letzten Zeit, in der ich mich sinnlos hatte treiben lassen. Ich hatte die Schnauze voll gehabt von den Fertigpizzen, dem leeren Gerede, diesem herrlichen Zeitgeist. Ich hatte beschlossen, die Klappe aufzureißen und angefangen, einen Roman zu schreiben. Ich war dem Glauben erlegen, dass man sich mit dreißig für einen Weg entscheiden musste, und ich war ausgezogen, die blutleere Literatur dieser Tage an den Haaren zu packen und herumzureißen. Ich hatte davon geträumt, mit kleinen Tönen das Große zu erschüttern. Doch das Pathos verlor sich schnell, ich ackerte wie ein Wahnsinniger, bis ich feststellen musste, dass ich dem nicht gewachsen war. Der Welt war allein mit Sprache nicht beizukommen. Meine Ansprüche wuchsen mir über den Kopf, es kam manchmal vor, dass ich vor Wut an meiner Schreibmaschine zitterte, wenn ich merkte, dass mir die Kraft fehlte weiter zu schreiben. Zu schwer war es, sich vom allgemeinen Geschwätz zu befreien und den Kopf oben zu halten. Wer konnte mir da vorwerfen, dass ich mich Lily entgegen warf, statt mich weiter im Schlangenloch zu wälzen?

Ansprechen konnte ich das vor Lily nicht. Ich wollte es so unbeschwert angehen wie möglich. Dass dies längst nicht mehr in meiner Macht stand, merkte ich, als ich mir abends einen Cola-Bourbon machte und einen langen Zug nahm. Was am Ende zählte, war der Goldregen, der auf mich niederging, wenn ich mit diesem Mädchen in einem Raum stand und ihre Bewegungen aufsog, das entbehrte aller Erklärungen. Ich war verrückt nach ihr, todesmutig wie der letzte Idiot. Doch wie es schien, war es mir unmöglich, mich konsequent von meinen literarischen Eskapaden zu befreien, sie hefteten sich nach wie vor an meine Fersen.

Am selben Abend lehnte ich im Türrahmen des Bads und sah Lily zu, wie sie sich auszog. Ihre Lippen waren blau, da sie Regen durchnässt und verkühlt von ihrem Besuch zurückgekommen war. Trotzdem lächelte sie mich an, wahrscheinlich war es nicht schwer zu erkennen, dass ich das im Moment nötig hatte.

»Was ist los?«, fragte sie und schlüpfte aus ihren nassen Schuhen.

Ich setzte ein harmloses Gesicht auf und schoss unüberlegt auf die Zielgerade zu.

»Ich habe nur überlegt, ob die Frage erlaubt ist, wie dein Besuch gelaufen ist.«

Sie ließ den Rock von ihren Hüften gleiten und stellte die Dusche an, der Dampf schoss hinter ihr hoch, als sie sich mir zuwandte.

»Pass auf, ich mach dir ein Angebot. Du fragst nicht nach meinem Vater und ich denk nicht an diesen Stoß Papier auf deinem Schreibtisch, der im Übrigen fast nur noch Brei ist …«

Ich bemühte mich, ihr gefasst ins Gesicht zu sehen, der nackte Rest war durchaus fesselnder. Ich grinste diebisch, ich hatte keineswegs das Bedürfnis, das Kriegsbeil auszuscharren. Meine Lenden fingen an zu kitzeln, ich war leicht auszuschalten.

»Das ist die beste Idee des Tages … wirklich«, sagte ich.

»Mir kommen da noch ein paar andere …«, sagte sie und stieg unter die Dusche.

Ich trank meinen Bourbon leer. Manchmal war es schwer, einen Rest Standhaftigkeit an den Tag zu legen. Ich versuchte es dennoch und ging runter auf die Straße, um etwas zu trinken zu kaufen. Draußen klatschte mir der kalte Regen ins Gesicht, das war angenehm. Ich war da, selbstverständlich. Alles schien in bester Ordnung. Selbst der zahnlose Verkäufer im Kiosk grinste mich blöd an, als ich die Sektflaschen vor ihm aufreihte. Ich hatte keine Ahnung, ob er Gedanken lesen konnte. Heute war alles möglich, zumindest wenn man mich frragte.

6

Die nächsten Tage verdrängten wir die heiklen Themen, was keinem von uns sonderliche Mühe kostete. Ich war damit beschäftigt, meine Wohnung wieder in Schuss zu bringen, was mir genug Anstrengungen bereitete. Die Seiten des aufgeweichten Manuskripts hingen an zwei Wäscheleinen quer durch die Wohnung, der Rest meiner Einrichtung war mehr oder weniger Müll.

Aber der Himmel sah von Tag zu Tag freundlicher aus, und Lilys Laune war so blendend, dass ich mir keine unnötigen Sorgen machte. Mir gelang es sogar, nachts in ihr schlafendes Gesicht zu sehen und lächelnd neben ihr einzunicken. Wir kamen kaum vor die Tür, das Theater draußen konnte uns gestohlen bleiben. Ich war zufrieden, wenn ich Lily beim Tischabräumen zusehen oder mein Gesicht in ihrem Busen vergraben konnte. Ich hatte mein Gleichgewicht wieder gefunden und erschrak jedes Mal, wenn ich mich dabei ertappte, wie ich mich morgens im Spiegel angrinste. Sicher versuchte ich mich immer wieder auf den Boden zurückzuziehen; ich wusste, dass alles auf sein Ende zumarschiert. Das war unvermeidbar, zu lange hatte ich den misstrauischen Teil in mir großgezogen, um mich gänzlich im Glück zu verlieren.

So war ich schließlich fast erleichtert, als Lily ausgehen wollte und das ganze Drama seinen Lauf nahm. Eines Morgens jagte sie mich aus dem Bett, der Himmel sei zu prächtig, um auch nur eine Sekunde zu verlieren, meinte sie. Ich schmiegte meine Stirn an die kalte Fensterscheibe, während Lily durch die Zimmer flitzte und trällerte, wie unmöglich sie es fände, dass ich tatsächlich lieber im Bett bleiben und mir die Sonne entgehen lassen wolle.

»Lily, warum muss das so schnell gehen? Wir haben doch noch den ganzen Tag«, stöhnte ich.

»Die Sonne kann jeden Moment wieder verschwinden«, sagte sie und verschwand im Bad.

»Die kommt schon irgendwann wieder, herrje!«

Sie gab keine Antwort. Ich blinzelte aus dem Fenster, wo die Sonne strahlte, und kapitulierte. Ich stand auf und folgte ihr ins Bad. Sie saß auf dem Klo und lächelte in Richtung meines Schritts.

»Wir frühstücken einfach in der Stadt. Jetzt reiß dich zusammen, wer weiß, wann das Wetter wieder so schön wird«, sagte sie.

»Du weißt gar nicht, was du mir antust.«

Sie wischte sich ab, zog die Spülung und kam auf mich zu.

»Nachher wirst du mir dankbar sein, glaub mir«, sagte sie.

»Dazu müssen wir nicht rausgehen.«

Ich zog sie an mich. Sie lachte.

»Glaubst du, du kannst mich so leicht zufrieden stellen?«

»Ich kann ja wenigstens davon träumen …«, brummte ich und ging ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen.

Draußen blendete mich die Sonne so sehr, dass ich meine Sonnenbrille aufsetzen musste. Ich konnte Lily wenigstens dazu überreden, den Wagen zu nehmen. Und so saß ich mit nüchternem Magen am Steuer, Lily erzählte mir ausführlich von einem Film, den sie am Tag zuvor gesehen hatte, was nicht leicht zu verkraften war. Aber die Tatsache, so einen Engel neben sich sitzen zu haben, machte es leicht, über den eigenen Schatten zu springen und ein interessiertes Gesicht zu machen, im Grunde war das ein Kinderspiel.

Ich hielt vor dem Café, das Lily ausgesucht hatte und schüttelte den Kopf, als ich die Gäste sah, die um die Tische saßen. Manchmal fragte ich mich, wo Lilys Geschmack in diesen Dingen lag. Hier saßen ausschließlich Typen in Polohemden, die entweder in ihrem Cappuccino stocherten oder die Mobiltelefone auf ihren Tischen anstarrten. Ich betete, dass ich hier ein Bier bekam.

»Wie kannst du nur Bier zum Frühstück trinken? Das ist widerlich, ehrlich«, sagte Lily.

Ich blickte zu einem dieser Burschen, der lauthals in sein Mobiltelefon krakeelte.

»Süße, widerlich ist hier etwas ganz anderes … Außerdem ist es Mittag, oder?«

Sie warf sich auf ihrem verchromten Stuhl zurück und ließ den Kopf nach hinten über die Lehne fallen.

»Dir fällt es schwer, die guten Seiten zu erkennen, das ist alles«, seufzte sie.

»Mir fällt es leicht, das ist das Problem …«, sagte ich und betrachtete eine Frau im Chanelkostüm, die den Milchschaum von ihrem Kaffee entfernte.

Lily hob ihren Kopf an und suchte ihre Jacke nach Zigaretten ab, ohne die Augen von mir abzuwenden.

»Schlecht geschlafen?«, fragte sie.

»Unsanft aufgewacht«, grinste ich, mir ging es schon viel besser.

Die Temperatur war angenehm, das musste ich zugeben. Als unser Frühstück kam, stürzte sich Lily darauf. Mein Hunger hielt sich in Grenzen. Ich kam nur langsam in Schwung, und so verstand ich erst nichts, als Lily ihr Marmeladenbrötchen fallenließ und die Augen niederschlug.

»Scheiße, so eine verdammte Scheiße …«, murmelte sie und blickte mir über die Schulter.

»Was ist denn los?«

Ich wandte mich um. Ein alter Mann in einem teuren Anzug schritt auf uns zu, sein düsterer Blick fixierte Lily. Mir wurde warm.

»Aba«, begrüßte sie ihn und war sichtlich bemüht, seinem Blick standzuhalten.

Er schien mich nicht zu registrieren und stierte sie feindselig an.

»Lilith … so spät noch beim Frühstück?«, fragte er steinern.

»Das hast du scharf beobachtet«, knurrte sie und wich nun doch seinem Blick aus.

Ich richtete mich in meinem Stuhl auf.

»Willst du uns nicht vorstellen? Wo sind deine Manieren?«, fragte er durch zusammengebissene Zähne.

Ich wollte in aller Förmlichkeit aufstehen, den Schwiegersohn spielen. Doch Lilys Blick befahl mir sitzen zu bleiben. Mit leiser Stimme stellte sie uns vor. Seine mit Siegelring bestückte Hand packte meine, wie es ein Haifisch getan hätte. Niemand konnte übersehen, dass er mir lieber den Hals umgedreht hätte, die Karten waren klar verteilt. Er fixierte wieder Lily, seine Gesichtszüge waren wie in Granit gehauen. Er sah nicht wie jemand aus, der sich auf der Nase herumtanzen ließ. Ein Mann der alten Schule.

»Du bringst uns in Unehre, das weißt du. Du nimmst direkten Kurs darauf …«, er machte eine Pause und schien nach Beherrschung zu suchen. »Das ist das Benehmen einer Hure, egal was du sagst, genau das ist es, Lilith.«

Lily sprang von ihrem Stuhl auf, was ich mit Schrecken verfolgte. Ich erwartete jeden Moment, dass sie ihm ihren feurigen Odem ins Gesicht speien würde.

»Du nennst mich nicht Hure«, zischte sie.

»Ich bin dein Vater. Wer sonst dürfte dich so bezeichnen?«

Ich wollte gerade eingreifen, als Lily mein Glas Bier griff und es ihm ins Gesicht spritzte. Sie sah mich an, sagte etwas, das ich nicht verstand und stürmte davon. Ich stand auf und wollte ihr hinterher setzen, doch ihr Vater hielt mich zurück. Er machte den Eindruck, als habe er alles bestens im Griff. Er wischte sich über sein triefendes Gesicht und lachte. Er lachte.

»Kann ich mich zu Ihnen setzen?«

Ich starrte ihn fassungslos an und nickte schließlich. Er griff sich eine Serviette und trocknete sein Gesicht.

»Ein wenig früh für ein Bier, oder?«