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Was sagt uns das Schicksal des Geparden über die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen? Warum sind Eliteuniversitäten so sportbegeistert? Malcolm Gladwell nimmt uns mit auf die Straßen von Los Angeles, um die erfolgreichsten Bankräuber der Welt zu treffen, entdeckt eine vergessene Fernsehshow aus den 1970er-Jahren wieder, die die Welt veränderte, und bietet eine alternative Geschichte zu zwei der größten Epidemien unserer Zeit: COVID und die Opioidkrise. Mit seiner charakteristischen Mischung aus Erzählkunst und Sozialwissenschaft bietet Gladwell einen Leitfaden, um die Epidemien der modernen Welt zu verstehen. Denn wenn wir Kipppunkte verstehen, können wir geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen.
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Seitenzahl: 432
Veröffentlichungsjahr: 2025
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TIPPING POINT 2
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The tipping point: how little things can make a big difference / by Malcolm Gladwell.
ISBN 978-0-316-57580-5
Copyright der Originalausgabe 2024:
Copyright © 2024 by Dallepedia, LLC
All Rights Reserved.
Published by arrangement with the original publisher, Authors Equity
Copyright der deutschen Ausgabe 2025:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Übersetzung: Ilona Jaeger, Börsenmedien AG
Gestaltung Cover: Maja Hempfling
Gestaltung, Satz und Herstellung: Sabrina Slopek
Lektorat: Merle Gailing
Druck: CPI books GmbH, Leck, Germany
ISBN 978-3-68932-010-2
eISBN 978-3-68932-011-9
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Für Edie, Daisy und Kate
ANMERKUNG DES AUTORS
EINFÜHRUNG Eine passive Formulierung „In Verbindung gebracht wurde“
TEIL EINS Drei Rätsel
EINS Casper und C-Dog „Es war ein Rausch. Jeder wollte mit dabei sein.“
ZWEI Das Problem mit Miami „Dann rauchte er erst mal einen Joint und zwischen acht und, sagen wir mal, zwölf Uhr wusch er eine Million Dollar.“
DREI Poplar Grove „Die Eltern haben völlig den Verstand verloren.“
TEIL ZWEI Die Social Engineers
VIER Das Magische Drittel „Ich würde sagen, dass es meiner Erfahrung nach auf jeden Fall einen Tipping Point gibt.“
FÜNF Der rätselhafte Fall des Frauen-Rugbyteams von Harvard „Wir hatten das Gefühl, dass studentische Sportler etwas Besonderes in die Gemeinschaft einbringen.“
SECHS Mr. Index und der Marriott-Ausbruch „Wir gehen davon aus, dass es von einer Person in Umlauf gebracht wurde.“
TEIL DREI Die Overstory
SIEBEN Der Klub der Überlebenden in L.A. „Und ich habe nicht über den Holocaust gesprochen, nicht einmal mit meinem eigenen Kind.“
ACHT Der Schein trügt „Ich bin absichtlich mit dem Auto von der Straße abgekommen.“
TEIL VIER Schlussfolgerung
NEUN Overstorys, Superspreader und Gruppenproportionen „OxyContin ist unsere Fahrkarte zum Mond.“
Danksagung
ANMERKUNGEN
ENDNOTEN
ÜBER DEN AUTOR
Vor 25 Jahren habe ich mein erstes Buch herausgebracht. Die deutsche Übersetzung hieß Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können.
Damals hatte ich eine kleine Wohnung im Stadtteil Chelsea in Manhattan, und morgens saß ich vor der Arbeit an meinem Schreibtisch mit Blick auf den Hudson und schrieb an meinem Buch. Da ich noch nie ein Buch geschrieben hatte, hatte ich keine klare Vorstellung davon, wie ich vorgehen sollte. Ich schrieb mit dieser Mischung aus Selbstzweifeln und Euphorie, die jeder Debütautor kennt.
„Tipping Point ist die Biografie einer Idee“, begann ich, „und die Idee ist sehr einfach.“
Sie besagt, dass man das Aufkommen von Modetrends, die Ebbe und Flut von Verbrechenswellen, die Verwandlung unbekannter Bücher in Bestseller, die Zunahme des Rauchens bei Jugendlichen, das Phänomen der Mundpropaganda oder andere rätselhafte Veränderungen, die den Alltag prägen, am besten versteht, wenn man sie sich als Epidemien vorstellt. Ideen, Produkte, Botschaften und Verhaltensweisen verbreiten sich genau wie ein Virus.
Das Buch wurde im Frühjahr 2000 in den USA veröffentlicht, und die erste Station meiner Lesereise war eine kleine unabhängige Buchhandlung in Los Angeles. Es kamen zwei Leute: ein Unbekannter und die Mutter einer Freundin von mir – aber nicht meine Freundin. (Ich habe ihr inzwischen verziehen.) Und ich sagte mir: Also, das war's dann wohl. Aber das war es nicht! Tipping Point breitete sich aus wie die Epidemien, die das Buch beschrieb – erst allmählich, dann rasend schnell. Als das Taschenbuch in den Vereinigten Staaten herauskam, hatte es dort bereits den Zeitgeist geprägt. Der Titel war mehrere Jahre lang auf der Bestsellerliste der New York Times. Bill Clinton bezeichnete es als „Das Buch, über das alle reden“. Der Ausdruck Tipping Point – Kipppunkt – ging in den Sprachgebrauch ein. Ich habe immer gewitzelt, diese Worte würden einst auf meinem Grabstein stehen.
Doch warum hat Tipping Point einen solchen Eindruck hinterlassen? Ich weiß es nicht genau. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es lag daran, dass es ein optimistisches Buch war, das dem optimistischen Zeitgeist entsprach. Ein neues Jahrtausend hatte begonnen. Kriminalität und soziale Missstände gingen in den USA rapide zurück. Der Kalte Krieg war vorbei. In meinem Buch präsentierte ich Vorschläge, wie man Dinge zum Positiven wenden kann – oder wie der Untertitel schon sagt: einen Weg, wie kleine Dinge Großes bewirken können.
25 Jahre sind eine lange Zeit. Denken Sie einmal darüber nach, wie Sie sich in diesem Vierteljahrhundert verändert haben. Unsere Meinung ändert sich. Unser Geschmack verändert sich. Manche Dinge werden wichtiger für uns, andere verlieren an Bedeutung. Im Laufe der Jahre habe ich manchmal an das zurückgedacht, was ich in Tipping Point geschrieben hatte, und mich gefragt, wie ich überhaupt auf all diese Dinge gekommen bin. Ein ganzes Kapitel über die Kinderfernsehsendungen Sesamstraße und Blue's Clues? Wie bin ich darauf gekommen? Damals hatte ich noch gar keine Kinder.
Danach schrieb ich die Bücher Blink, Outliers, David und Goliath, Die Kunst, nicht aneinander vorbeizureden und The Bomber Mafia. Ich begann mit dem Podcast Revisionist History. Ich zog mit der Frau zusammen, die ich liebe. Ich bekam zwei Kinder, beerdigte meinen Vater, begann wieder mit dem Laufen und schnitt mir die Haare. Ich verkaufte die Wohnung in Chelsea. Ich zog raus aus der Stadt, gründete mit einem Freund einen Hörbuchverlag namens Pushkin Industries. Ich legte mir eine Katze zu und nannte sie Biggie Smalls.
Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie ein Foto von sich selbst aus früheren Zeiten betrachten? Wenn ich das tue, habe ich Schwierigkeiten, die Person auf dem Foto wiederzuerkennen. Also dachte ich, es könnte aufschlussreich sein, Tipping Point anlässlich seines 25. Jubiläums noch einmal zu lesen, um das, was ich vor so langer Zeit geschrieben habe, mit ganz neuen Augen zu betrachten: In Tipping Point 2 würde also ein Schriftsteller an den Schauplatz seines ersten Erfolgs in jungen Jahren zurückkehren.
Doch dann, als ich mich erneut in die Welt der sozialen Epidemien begab, wurde mir klar, dass ich nicht auf dasselbe Terrain zurückkehren wollte, das ich in Tipping Point erkundet hatte. Die Welt schien inzwischen eine andere zu sein. In Tipping Point habe ich eine Reihe von Regeln formuliert, die uns dabei helfen sollen, die plötzlichen Veränderungen im Denken und Verhalten zu verstehen, die unsere Welt prägen. Mir erscheinen diese Ideen immer noch sinnvoll. Aber inzwischen beschäftigen mich andere Fragen. Und ich stelle fest, dass es immer noch vieles gibt, das ich an sozialen Epidemien nicht verstehe.
Als ich Tipping Point zur Vorbereitung dieses Projekts noch einmal gelesen habe, ertappte ich mich dabei, wie ich alle paar Seiten innehielt und mich fragte: Und was ist damit? Warum habe ich mich damit nicht befasst? Ich entdeckte, dass ich in einem entlegenen Winkel meines Geistes nie aufgehört hatte, mich zu fragen, wie man Kipppunkte und all die Rätsel, die sie aufgeben, am besten erklären und verstehen kann.
Also begann ich noch mal von vorn, mit einem neuen Blatt Papier. Und dabei kam Tipping Point 2 heraus: eine Reihe neuer Theorien, Geschichten und Thesen zu den seltsamen Wegen, die Verhalten und Denken in unserer Welt gehen.
1.
Vorsitzende: Ich möchte Ihnen eine letzte Frage stellen, und ich würde gern mit Ihnen beginnen, Dr. _____. Werden Sie sich beim amerikanischen Volk entschuldigen …?
Eine Gruppe von Politikern hat eine Anhörung anberaumt, um über eine Epidemie zu sprechen. Es wurden drei Zeugen vorgeladen. Die Pandemie ist auf dem Höhepunkt. Die Sitzung findet virtuell statt. Alle sitzen bei sich zu Hause, vor Bücherregalen und Küchenschränken. Das Verfahren läuft seit einer Stunde. Ich lasse erst mal alle Erkennungsmerkmale weg, weil ich mich ausschließlich auf das konzentrieren möchte, was tatsächlich gesagt wurde: die Worte, die verwendet wurden, und die Absichten dahinter.
Zeugin 1: Ich würde mich gern beim amerikanischen Volk entschuldigen für all das Leid, das die Menschen erfahren haben, und für die familiären Tragödien, die sie erlebt haben – ich dachte eigentlich, ich hätte das bereits mit meinen einleitenden Worten getan.
So war es zumindest beabsichtigt.
Zeugin Nummer 1 ist in den Siebzigern, hat schulterlange weiße Haare und ist ganz in Schwarz gekleidet. Am Anfang schien sie Schwierigkeiten zu haben, die Stummschalttaste zu bedienen. Sie wirkt immer noch verwirrt. Sie ist nicht daran gewöhnt. Sie kommt aus einer privilegierten Welt. Mit ihrem eigenen Verhalten konfrontiert zu werden, ist eindeutig etwas, das ihr nicht oft passiert. Ihre modische Brille sieht aus, als würde sie ihr gleich von der Nase rutschen.
Zeugin 1: Auch ich bin sehr wütend. Ich bin wütend, dass einige Leute, die bei _____ arbeiten, sich nicht an die Gesetze gehalten haben. Ich bin seit 2007 wütend darüber, und ich bin jetzt im Jahr 2020 wieder wütend darüber.
Es ist … es ist … ich denke, dass …
Vorsitzende: Ich weiß, dass Sie wütend sind. Und es tut mir leid, aber das ist nicht die Entschuldigung, die wir erwartet haben. Sie haben sich für das Leid entschuldigt, das die Menschen erfahren haben, aber Sie haben sich nie für die Rolle entschuldigt, die Sie in der _____ Krise gespielt haben. Ich frage Sie also noch einmal: Werden Sie sich für die Rolle entschuldigen, die Sie in der _____ Krise gespielt haben?
Zeugin 1: Ich habe mit dieser Frage gerungen. Ich habe mich das über viele Jahre hinweg gefragt. Ich habe versucht herauszufinden, ob es irgendetwas gab – gibt, das ich hätte anders machen können, mit dem Wissen, das ich damals hatte, und nicht dem, was ich heute weiß. Und ich muss sagen, da ist nichts – ich habe nichts gefunden, was ich anders gemacht hätte, basierend auf dem, was ich damals glaubte und verstand und was ich von der Geschäftsführung durch die Berichte an den Vorstand erfuhr und was ich von meinen Kollegen im Vorstand erfahren habe. Und das ist äußerst beunruhigend. Und es ist …
Die Vorsitzende wendet sich an Zeuge Nummer 2. Er ist der Cousin der Frau in Schwarz: ein junger Mann, sehr gepflegt, in Anzug und Krawatte.
Vorsitzende: Herr _____, werden Sie sich für die Rolle entschuldigen, die Sie bei … gespielt haben?
Zeuge 2: Ich kann vieles von dem nur bestätigen, was meine Cousine gesagt hat.
Erwartet irgendjemand, dass die Zeugen zugeben werden, dass sie für den Ausbruch einer Epidemie verantwortlich sind? Wahrscheinlich nicht. Ein Geschwader von Anwälten hat sie offensichtlich vorher in der Kunst der Selbstverteidigung unterwiesen. Die Selbstgerechtigkeit, mit der sie jede Verantwortung von sich weisen, deutet jedoch noch auf eine andere Möglichkeit hin: dass sie ihre eigene Schuld bislang nicht eingesehen haben oder dass sie etwas in Gang gesetzt haben, das in einer Weise außer Kontrolle geriet, die sie nicht begreifen konnten.
Eine Stunde später kommt der entscheidende Moment. Ein anderes Mitglied des Untersuchungsausschusses – nennen wir ihn den Politiker – wendet sich an Zeuge Nummer 3:
Politiker: Dr. _____, war irgendjemand von der Geschäftsführung von _____ jemals auch nur einen Tag im Gefängnis für das Vorgehen des Konzerns?
Zeuge 3: Ich glaube nicht.
Keiner der Zeugen hält sich für verantwortlich. Aber anscheinend tut das auch sonst niemand.
Politiker: Frau Vorsitzende, es ist leicht, sich über die Verfehlungen dieses Konzerns zu empören, aber was ist mit unserer Regierung, die diese Art von unternehmerischer Verantwortungslosigkeit und kriminellen Vorgehens zulässt und nicht bestraft?
Der Politiker wendet sich an Zeuge Nummer 2, den jungen Mann. Das Unternehmen seiner Familie hat gerade eine Einigung mit der Regierung erzielt, um eine Reihe strafrechtlicher Vorwürfe beizulegen. Er saß einst im Vorstand und ist der Thronfolger des Firmenimperiums.
Politiker: Herr _____, beinhaltete ihr Vergleich mit dem US-Justizministerium, dass Sie irgendein Fehlverhalten eingestehen mussten oder eine Haftung oder Verantwortung für die Verursachung der amerikanischen _____ Krise übernehmen?
Zeuge 2: Nein, das mussten wir nicht.
Politiker: Wurden Sie vom Justizministerium im Rahmen dieser Untersuchung dazu befragt, welche Rolle Sie bei diesen Ereignissen gespielt haben?
Zeuge 2: Nein.
Politiker: Übernehmen Sie in irgendeiner Form Verantwortung für Amerikas albtraumhafte Erfahrung mit der _____ Krise?
Zeuge 2: Also, obwohl ich glaube, dass die vollständige, bislang unveröffentlichte Akte zeigen wird, dass meine Familie und der Vorstand rechtmäßig und ethisch korrekt gehandelt haben, übernehme ich die umfassende moralische Verantwortung dafür. Denn ich glaube, dass unser Produkt _____, entgegen unserer besten Absichten und Bemühungen, mit Missbrauch und Sucht in Verbindung gebracht wurde, und …
In Verbindung gebracht wurde.
Politiker: Sie verwenden eine passive Formulierung, wenn Sie sagen, dass es „mit Missbrauch in Verbindung gebracht wurde“, was irgendwie impliziert, dass Sie und Ihre Familie nicht genau wussten, was vor sich ging …
Wenn Sie sich die gesamten 3 Stunden und 39 Minuten der Anhörung anhören, bleibt Ihnen dieser eine Ausdruck im Kopf hängen: „eine passive Formulierung“.
2.
Vor 25 Jahren war ich in Tipping Point von der Idee fasziniert, dass bei sozialen Epidemien kleine Dinge einen großen Unterschied machen können. Ich stellte Regeln auf, um die innere Funktionsweise sozialer Ansteckung zu beschreiben: das Gesetz der Wenigen, die Macht des Kontextes, der Verankerungsfaktor. Die Gesetze der Epidemien, so argumentierte ich, könnten genutzt werden, um Dinge zum Positiven zu verändern: zur Senkung der Kriminalitätsrate, um Kindern das Lesen beizubringen, zur Eindämmung des Rauchens.
„Schauen Sie sich die Welt um Sie herum an“, schrieb ich. „Sie mag wie ein unbeweglicher, unerbittlicher Ort erscheinen. Das ist sie aber nicht. Mit dem kleinsten Anstoß – genau an der richtigen Stelle – kann sie gekippt werden.“
In Tipping Point 2 möchte ich die Kehrseite der Möglichkeiten beleuchten, die ich vor so langer Zeit erforscht habe. Wenn die Welt schon durch den kleinsten Anstoß bewegt werden kann, dann hat die Person, die weiß, wo und wann sie zustoßen muss, große Macht. Wer also sind diese Menschen? Was sind ihre Absichten? Welche Techniken wenden sie an? In der Welt der Strafverfolgung bezieht sich das Wort forensisch auf eine Untersuchung der Ursprünge und des Ausmaßes einer kriminellen Handlung: „Motive, Täter und Folgen“. Tipping Point 2 ist der Versuch, soziale Epidemien forensisch zu untersuchen.
Auf den folgenden Seiten nehme ich Sie mit in ein mysteriöses Bürogebäude in Miami mit einer sehr seltsamen Gruppe von Mietern, in ein Marriott-Hotel in Boston zu einer Klausurtagung für Führungskräfte, die gründlich schiefging, in eine scheinbar perfekte Stadt namens Poplar Grove, in eine Sackgasse in Palo Alto und von dort aus weiter zu Orten, von denen Sie schon gehört haben, und zu Orten, die Sie noch nicht kennen. Wir untersuchen, was an Waldorfschulen seltsam ist, treffen einen lange unterschätzten Drogenbekämpfer namens Paul E. Madden, erfahren etwas über eine TV-Miniserie aus den 1970er-Jahren, die die Welt verändert hat, und wundern uns über das Frauen-Rugbyteam der Harvard University. In all diesen Fällen haben Menschen – vorsätzlich oder versehentlich, in guter oder böser Absicht – Entscheidungen getroffen, die den Verlauf und die Form eines ansteckenden Phänomens verändert haben. Und in jedem Fall haben diese Eingriffe Fragen aufgeworfen, die wir beantworten müssen, und Probleme verursacht, die wir lösen müssen. Das ist quasi die Kehrseite des Tipping Point: Dieselben Instrumente, die wir zum Aufbau einer besseren Welt einsetzen, können auch gegen uns verwendet werden.
Und am Ende des Buches möchte ich die aus all diesen Beispielen gewonnenen Erkenntnisse nutzen, um die wahre Geschichte von Zeugin Nummer 1, Zeuge Nummer 2 und Zeuge Nummer 3 zu erzählen.
Politikerin: Wir haben hier einen Brief von einer Mutter aus North Carolina … die ihr 20-jähriges Kind verloren hat und sich noch nicht davon erholt hat. Sie hat geschrieben: „Der Schmerz ist zu stark. Es ist mehr, als ich ertragen kann. Es fällt mir schwer, genug Lebenswillen aufzubringen, um Tag für Tag weiterzumachen. …“
Herr _____, ich wollte diese Geschichten, die uns zugetragen wurden, gern darlegen, und ich würde gern Ihre persönliche Antwort zu diesen Erfahrungen hören.
Zeuge Nummer 2 beginnt zu sprechen. Aber es ist kein Ton zu hören.
Politikerin: Ich kann nichts hören. Er ist stumm geschaltet.
Der Zeuge fummelt an seinem Computer herum.
Zeuge 2: Es tut mir leid …
Seine erste echte Entschuldigung des Tages, weil er sein Mikrofon nicht eingeschaltet hat. Er fährt fort:
Ich empfinde großes Mitgefühl, Trauer und Reue darüber, dass ein Produkt wie _____, das hergestellt wurde, um Menschen zu helfen, und das, wie ich glaube, Millionen von Menschen geholfen hat, auch mit Geschichten wie der von Ihnen erzählten in Verbindung gebracht wurde. Das tut mir unendlich leid. Und ich weiß, dass das für unsere gesamte Familie gilt.
Auch in Verbindung gebracht wurde.
Es ist an der Zeit für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Epidemien. Wir müssen unsere eigene Rolle bei der Entstehung von Epidemien anerkennen. Wir müssen uns all der subtilen und manchmal versteckten Methoden, mit denen wir versuchen, sie zu beeinflussen, bewusst werden. Wir brauchen einen Leitfaden für das Fieber und die Ansteckungen, die uns umgeben.
1.
Am frühen Nachmittag des 29. November 1983 erhielt die Außenstelle des Federal Bureau of Investigation in Los Angeles einen Anruf von einer Filiale der Bank of America im Melrose District. Der Anruf wurde von einer FBI-Agentin namens Linda Webster entgegengenommen. Sie war zuständig für die Bearbeitung der sogenannten 2-11s: Das ist der Code für Banküberfälle. Ihr wurde mitgeteilt, dass gerade ein Überfall stattgefunden hatte. Der Verdächtige war ein junger weißer Mann, der eine Baseballkappe der New York Yankees trug. Schlank. Höflich. Südstaaten-Akzent. Gut gekleidet. Er sagte bitte und danke.
Webster wandte sich an ihren Kollegen William Rehder, der die örtliche Abteilung für Bankraub des FBI leitete.
„Bill, es ist der Yankee.“
Der Yankee Bandit machte schon seit Juli desselben Jahres Los Angeles unsicher. Er hatte eine Bank nach der anderen überfallen und war jedes Mal mit Tausenden von Dollar in einem Lederkoffer entkommen. Rehder war allmählich frustriert. Wer war dieser Mann? Alles, worauf sich das FBI stützte, war diese markante Baseballkappe. Daher auch sein Spitzname: der Yankee Bandit.
Eine halbe Stunde verging. Webster bekam einen weiteren 2-11 herein, diesmal von einer City-National-Bank-Filiale 16 Blocks westlich, im Fairfax District. Dort waren 2.349 Dollar gestohlen worden. Der Anrufer gab Webster die Einzelheiten durch. Sie sah Rehder an.
„Bill, es ist wieder der Yankee.“
45 Minuten später überfiel der Yankee eine Filiale der Security Pacific National Bank in Century City und lief dann direkt einen Block weiter, um dort eine First Interstate Bank um 2.505 Dollar zu erleichtern.
„Bill, es ist der Yankee. Zweimal direkt nacheinander.“
Es verging nicht mal eine Stunde, schon klingelte erneut das Telefon. Diesmal hatte der Yankee in einer Imperial Bank am Wilshire Boulevard zugeschlagen. Wenn man von Century City zur Imperial Bank auf dem Wilshire Boulevard fährt, kommt man direkt am Büro des FBI vorbei.
„Wahrscheinlich hat er uns noch zugewunken“, meinte Rehder zu Webster.
Nun wussten sie Bescheid, was los war. Hier wurde gerade Geschichte geschrieben. Sie warteten. Würde der Yankee noch einmal zuschlagen? Um 17:30 Uhr klingelte wieder das Telefon. Ein unbekannter weißer Mann – schlank, Südstaatenakzent, Yankees-Cap – hatte soeben die First Interstate Bank in Encino, 15 Minuten nördlich auf dem Freeway 405, ausgeraubt und 2.413 Dollar erbeutet. „Bill, es ist der Yankee.“
Ein Mann. Vier Stunden. Sechs Banken.
„Es war ein neuer Weltrekord“, würde Rehder später in seinen Memoiren schreiben, „der bislang ungebrochen ist.“
2.
Kein Gangster hatte in der amerikanischen Kultur jemals einen so hohen Stellenwert wie die Figur des Bankräubers. In den Jahren nach dem Bürgerkrieg war das Land fasziniert von den Heldentaten der James-Younger-Gang und anderer Banden, die den Wilden Westen mit Bank- und Zugüberfällen in Atem hielten. Während der Depression wurden Bankräuber zu Berühmtheiten: Bonnie und Clyde, John Dillinger, „Pretty Boy“ Floyd. Doch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg schienen die Verbrechen nachzulassen.
1965 wurden in den gesamten Vereinigten Staaten insgesamt 847 Banken ausgeraubt – eine bescheidene Zahl angesichts der Größe des Landes. Es gab Spekulationen, dass Banküberfälle kurz vor dem Aussterben stünden. Bei kaum einem anderen Kapitalverbrechen gab es eine höhere Verhaftungs- und Verurteilungsquote. Die Banken glaubten, es läge an ihren besseren Sicherheitsvorkehrungen. Eine maßgebliche Studie zu Banküberfällen aus dem Jahr 1968 trug den Titel „Nichts zu verlieren“, was bedeutet, dass die Tat so unvernünftig erschien, dass die Täter sonst keine Alternativen gehabt haben mussten. Der Bankraub schien das Äquivalent des 20. Jahrhunderts zum Viehdiebstahl zu sein. Wer tut so etwas heute noch?
Doch dann kam es zu einer Epidemie. Innerhalb eines einzigen Jahres, von 1969 bis 1970, verdoppelte sich die Zahl der Banküberfälle fast, um dann 1971 und 1972 erneut anzusteigen. Im Jahr 1974 wurden 3.517 Banken ausgeraubt. 1976 lag die Zahl bereits bei 4.565. Zu Beginn der 1980er-Jahre gab es fünfmal so viele Banküberfälle wie Ende der 1960er. Es war eine beispiellose Verbrechenswelle. Und sie hatte gerade erst begonnen. Im Jahr 1991 wurde das FBI 9.388-mal von einer Bank irgendwo in den Vereinigten Staaten zu einem 2-11 gerufen.
Und das Zentrum dieses erstaunlichen Anstiegs war die Stadt Los Angeles.
Ein Viertel aller Banküberfälle in den Vereinigten Staaten fand in jenen Jahren in Los Angeles statt. Es gab Jahre, in denen das dortige FBI-Büro bis zu 2.600 Banküberfälle bearbeitete – und um all diese Räuber, die all die Banken ausraubten, auseinanderzuhalten, mussten Rehder und das FBI ihnen Spitznamen geben: Den Mann, der sich zur Maskierung das Gesicht bandagierte, nannten sie den Mummy Bandit – den Mumienbanditen. Aus dem Räuber, der nur einen Handschuh trug, wurde (natürlich) der Michael Jackson Bandit. Das Zwei-Mann-Team mit falschen Schnurrbärten tauften sie die Marx Brothers. Eine kleine, übergewichtige Diebin wurde zu Miss Piggy, die hübsche Räuberin zu Miss America Bandit. Ein Typ, der mit dem Messer herumfuchtelte, war der Benihana Bandit. Und so ging es immer weiter: Es gab Bankräuber, die nach Johnny Cash und Robert De Niro benannt waren. Eine Bande bestand aus drei Personen – eine war als Biker verkleidet, eine andere als Polizist und die dritte als Bauarbeiter. Müssen Sie da wirklich noch fragen, wie sie genannt wurden? Es waren schließlich die 1980er-Jahre. Sie waren bekannt als die Village People.
„Es war ein Riesenhype“, erinnert sich Peter Houlahan, einer der inoffiziellen Chronisten der L.A.-Bankraubwelle. „Jeder wollte mit dabei sein.“
Zehn Jahre nach dem Einsetzen der Welle wurden die Dinge sogar noch viel schlimmer. Schuld daran war ein Zwei-Mann-Team namens West Hills Bandits. Die erste Generation der L.A.-Räuber war wie der Yankee Bandit gewesen: Sie spazierten zu einem Bankangestellten, sagten ihm, sie hätten eine Waffe, schnappten sich das vorhandene Bargeld und flohen. Man nannte sie, etwas abschätzig, Kleingeldräuber. Aber die West-Hills-Gang knüpfte an die große Tradition von Jesse James und Bonnie und Clyde an. Sie stürmten herein, mit Perücken und Masken, und fuchtelten mit Sturmgewehren herum. Sie drangen gewaltsam in den Schalterraum ein und plünderten die gesamte Bank – wenn möglich auch den Tresorraum –, bevor sie die sorgfältig geplante Flucht antraten. Die Banditen hatten einen Bunker im San Fernando Valley, bestückt mit militärischen Waffen und 27.000 Schuss Munition, um sich auf das Armageddon vorzubereiten, das laut ihrem Anführer kurz bevorstand. Selbst für die Verhältnisse im Los Angeles der 1990er-Jahre war die West-Hills-Gang etwas durchgeknallt.
Bei ihrem fünften Überfall brach die West-Hills-Crew in den Tresorraum einer Wells-Fargo-Bankfiliale in Tarzana ein und erbeutete 437.000 Dollar – was heute mehr als einer Million Dollar entspräche. Und dann machte Wells Fargo einen fatalen Fehler: Die Bank teilte der Presse mit, wie viel genau die West-Hills-Gang erbeutet hatte. Das war quasi, als würde man eine Einladung aussprechen. 437.000 Dollar? Wollen Sie mich verarschen?
Einer der ersten, der darauf ansprang, war ein umtriebiger 23-Jähriger namens Robert Sheldon Brown, in der Szene als Casper bekannt. Casper rechnete nach. „Ich habe geklaut, ich habe Einbrüche gemacht, ein bisschen von allem“, würde er später erklären. „Aber das war nichts im Vergleich zu dem Geld, das in Banken zu holen war. Man konnte einfach in eine Bank reinspazieren und in zwei Minuten so viel einsacken, wie man auf der Straße in sechs oder sieben Wochen zusammenkriegen würde.“
John Wiley, einer der Staatsanwälte, die Casper schließlich vor Gericht brachten, erinnert sich an ihn als „außergewöhnliche Persönlichkeit“. „Casper war wirklich gerissen und wirklich klug“, sagte Wiley:
Er fand heraus, dass das Risiko bei Banküberfällen daraus resultiert, dass man in die Bank gehen muss. Also holte er sich jemand anderen, der das für ihn erledigte. Man fragt sich: Wie sollte man jemanden dazu bringen, eine Bank für einen auszurauben? Und genau darin bestand sein besonderes Talent … Leute an Land zu ziehen, die für ihn Banken ausraubten. Und er rekrutierte eine unglaubliche Anzahl von Menschen. … Er war quasi das, was man in Hollywood einen Regisseur nannte.
Casper hatte einen Komplizen, Donzell Thompson, auch bekannt als C-Dog. Sie suchten sich eine Bank aus, die ihrer Meinung nach reif für einen Überfall war. Dann beschafften sie ein Fluchtauto – im Gang-Jargon G-Ride genannt. In den frühen 1990er-Jahren verzeichnete Los Angeles eine bemerkenswerte Zunahme von Autodiebstählen, was in der Presse als weiteres Indiz für das herrschende Chaos und die Unsicherheit auf den Straßen galt. Aber ein großer Teil der Diebstähle war tatsächlich Casper und C-Dog zuzuschreiben. Sie hatten einen Mann, den sie dafür bezahlten, ihnen G-Rides zu beschaffen. Wenn man so viele Banküberfälle durchführte wie Casper, brauchte man eine Menge Autos. Anschließend suchte er die jeweilige Crew aus. Dazu Staatsanwalt Wiley:
Viele seiner Räuber waren noch Kinder. Ich denke, dass er einige von ihnen wahrscheinlich gar nicht bezahlt hat. Er hat sie einfach zu den Überfällen gezwungen. Er ist ein großer, bedrohlicher Kerl. Und, wissen Sie, er war Mitglied der Rolling Sixties, einer berüchtigten Crips-Straßengang.
Wiley erinnerte sich insbesondere an einen von Caspers Rekruten, der noch „sehr jung“ war – gerade einmal 13 oder 14 Jahre alt:
Ich weiß noch, dass er den Jungen aus dem Unterricht holte und fragte: „Wann kannst du diese Bank für mich ausrauben?“ Und der Bursche sagte: „In der Mittagspause.“ Also nahmen sie ihn in der Mittagspause mit, und Brown und [C-Dog] erklärten ihm, was er tun musste: Du gehst rein, erschreckst alle zu Tode, nimmst dir das Geld und verschwindest wieder.
Casper brachte seinen Rekruten eine Technik bei, die er „Goin' Kamikaze“ nannte. Seine Kids stürmten herein, fuchtelten mit ihren Maschinenpistolen und Sturmgewehren herum, ballerten ein paar Kugeln in die Decke und brüllten Beleidigungen: „Auf den Boden, du Motherfucker!“ Dann stopften sie alles Bargeld, das sie finden konnten, in Kissenbezüge, klauten die Brieftaschen der Anwesenden und rissen den Frauen die Ringe von den Fingern, als kleinen Extra-Bonus.
Bei mindestens zwei Aufträgen „lieh“ sich Casper einen Schulbus, um seine jungen Schützlinge in Sicherheit zu bringen; ein anderes Mal lieh er sich einen Postwagen. Casper war sehr einfallsreich. Er überwachte seine Operationen von einem sicheren Ort aus, in einem Auto irgendwo weiter weg, und folgte dann seinem handverlesenen Team, wenn es durch die Straßen raste.
„Diese Jungs wussten, wenn sie versuchen würden, mit dem ganzen Geld abzuhauen, wären die beiden Gangmitglieder hinter ihnen her“, sagte Wiley, „und das würde ihr Leben nicht gerade einfacher machen.“
Dann ließen sie das gestohlene Auto stehen und die gesamte Crew zog sich in Caspers Versteck zurück, normalerweise ein Motel. Dort zahlte er ihnen einen Hungerlohn und ließ sie gehen. Es waren noch Kinder – und die Wahrscheinlichkeit, dass sie erwischt wurden, war groß. Aber Casper war das völlig egal. Laut Wiley hatte er folgende Einstellung dazu:
Ich meine, okay, das war nicht ganz so toll. Meine Jungs wurden erwischt. Jetzt müssen wir uns neue Leute suchen. Aber das machen wir eh die ganze Zeit.
Innerhalb von nur vier Jahren führte Casper bei 175 Überfällen „Regie“, was bis heute den Weltrekord für Bankraube darstellt und die bisherige Marke von 72 Überfällen des Yankee Bandit übertrifft. Casper und C-Dog knackten sogar fast den Ein-Tages-Rekord des Yankee Bandit von sechs Raubüberfällen. An einem einzigen Tag im August 1991 schafften sie immerhin fünf davon: eine First Interstate Bank am La Cienega Boulevard, dann weitere vier Banken in Eagle Rock, Pasadena, Monterey Park und Montebello. Und bedenken Sie, der Yankee Bandit war eine One-Man-Show. Casper dagegen unternahm etwas unendlich viel Schwierigeres: Er organisierte und überwachte unterschiedliche Räuberteams.
Nachdem Casper der Welt gezeigt hatte, wie einfach es war, eine Bank zu stürmen, sprangen weitere Banden auf den Zug auf. So begannen nun auch die Eight Trey Gangster Crips, Crews zusammenzustellen. Ein Duo namens Nasty Boys beging fast 30 Überfälle in weniger als einem Jahr – nur sie beide allein. Und die Nasty Boys waren wirklich … fies: Sie trieben alle Anwesenden im Tresorraum zusammen, diskutierten laut Hinrichtungsszenarien und feuerten ihre Waffen direkt an den Ohren der Leute ab, einfach nur so zum Spaß.
„Rückblickend stellte sich heraus, dass 1992 ein Rekordjahr für Banküberfälle war. 2.641 Raubüberfälle in einem Jahr“, so Wiley.
Das bedeutet, dass an einem Bankarbeitstag durchschnittlich alle 45 Minuten ein Überfall verübt wurde. Am schlimmsten Tag gab es 28 Bankraube. Das hat das FBI total verrückt gemacht. Ich meine, sie waren alle total am Ende.
Ein Banküberfall dauert nur einige Minuten. Die Untersuchung eines Banküberfalls dauert viele Stunden. Als sich die Überfälle häuften, kam das FBI kaum mehr hinterher.
Wenn Sie 27 Raubüberfälle pro Tag haben, wenn eine Bande fünf Raubüberfälle an einem Tag begeht, ich meine, denken Sie einmal darüber nach, wie man es schaffen soll, das zu untersuchen, allein schon räumlich. Diese Typen fahren für ihre Überfälle so schnell sie können quer durch die ganze Stadt. Es ist schon ein Problem, im Verkehr von L.A. hinter ihnen herzukommen. Sie erreichen schließlich die Bank und wie viele Leute haben den Überfall beobachtet? Also, wie viele Leute waren in der Bank? Etwa 20 Leute. Sie müssen also die Aussagen von 20 Zeugen aufnehmen. Da haben Sie zu tun.
Und was passiert dann, wenn Sie gerade angefangen haben?
Sie sind erst fünf bis zehn Minuten vor Ort, und schon gibt es irgendwo in der Stadt einen weiteren Banküberfall, zu dem Sie hinmüssen.
Das FBI war komplett überfordert.
Los Angeles war die Welthauptstadt des Bankraubs. „Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass die Kriminalität jemals aufhören würde zu wachsen“, fuhr Wiley fort. Er hielt eine Tabelle der Banküberfälle in Los Angeles von den 1970er- bis zu den 1990er-Jahren hoch. „Wenn man sich die Trendlinie anschaut, sieht es so aus, als ob sie auf den Mond zusteuert.“
Das FBI setzte 50 Agenten auf den Fall an. Im Laufe etlicher Monate sammelten sie alles, was sie von Caspers und C-Dogs verängstigten Rekruten in Erfahrung brachten, gruben sich Schicht für Schicht durch die Tarnmanöver, mit denen die beiden ihr Vermögen verschleierten, und verfolgten sie von einer Adresse zur nächsten in South Los Angeles. Es dauerte ewig, bis eine Grand Jury endlich Anklage gegen Casper und C-Dog erhob – denn was hatten sie schon getan? Gar nichts. Sie hatten keine Banken überfallen. Sie saßen nur in einem Auto auf der Straße. Alles, was das FBI vorweisen konnte, waren die Aussagen verängstigter Teenager, die in der Mittagspause die Schule schwänzten.
Schließlich glaubten die Staatsanwälte, sie hätten genug Beweise beisammen. Sie spürten C-Dog im Haus seiner Großmutter in Carson auf und verhafteten Casper, als er aus einem Taxi stieg. Als beide hinter Gittern waren, klang endlich das Bankraubfieber ab, das Los Angeles ergriffen hatte: Innerhalb etwa eines Jahres sank die Zahl der Überfälle in der Stadt um 30 Prozent und ging schließlich sogar noch weiter zurück. Die Banküberfälle erreichten nicht den Mond. Der Rausch ging vorüber.
Als Casper und C-Dog im Sommer 2023 aus dem Bundesgefängnis entlassen wurden, boten sie ihre Geschichte in Hollywood an und trafen sich mit Filmproduzenten. Als die Filmemacher ihre Geschichte hörten, konnten sie es kaum fassen: Das ist wirklich hier passiert?
Ja, das ist es.
3.
Ich möchte Tipping Point 2 mit einer Reihe von Rätseln beginnen – drei miteinander verbundene Geschichten, die sich auf den ersten Blick nicht erklären lassen. Die dritte handelt von einer kleinen Stadt namens Poplar Grove. In der zweiten geht es um die Geschichte eines Mannes namens Philip Esformes. Und in diesem ersten Kapitel werden die Taten des Yankee Bandit sowie von Casper und C-Dog behandelt.
Die Bankraubkrise in Los Angeles in den frühen 1990er-Jahren war eine Epidemie. Sie erfüllte alle Kriterien. Es handelte sich nicht um ein Phänomen, das in jedem Räuber einzeln entstand wie Zahnschmerzen. Es war ansteckend. Ende der 1960er-Jahre brach in den Vereinigten Staaten ein leichtes Fieber aus. In den 1980er-Jahren wurde der Yankee Bandit in Los Angeles von diesem Virus befallen. Später erfasste das Virus die West Hills Bandits und in ihren Händen mutierte es zu etwas Dunklerem und Gewalttätigerem. Sie gaben den neuen Virenstamm an Casper und C-Dog weiter, die das Procedere neu erfanden, indem sie die Arbeit auslagerten und den Umfang drastisch erhöhten – sie waren eben Kapitalisten des späten 20. Jahrhunderts. Von nun an breitete sich die Infektion über die ganze Stadt aus – zu den Eight Trey Gangsters und den Nasty Boys und so weiter, die Hunderte von jungen Männern mit sich rissen, bis zu dem Zeitpunkt, als der Überfall-Rausch in Los Angeles seinen Höhepunkt erreichte und die Kleckerbeträge der Yankee-Bandit-Ära nur noch eine blasse Erinnerung waren.
Soziale Epidemien werden durch die Bemühungen einiger weniger Menschen vorangetrieben – Menschen, die eine herausragende soziale Rolle spielen – und genau so hat sich der Ausbruch in L.A. entwickelt. Es handelte sich nie um ein Massenereignis wie einen dieser Großstadtmarathons, bei denen sich Zehntausende von Menschen anmelden. Vielmehr herrschte ein Chaos, das von einer kleinen Anzahl von Menschen verursacht wurde, die immer und immer wieder raubten. Der Yankee Bandit raubte innerhalb von neun Monaten 64 Banken aus, bevor ihn das FBI schließlich schnappte. Er ging für zehn Jahre ins Gefängnis, kam wieder frei und überfiel 8 weitere Banken. Die Nasty Boys haben 27 Banken gestürmt. Casper und C-Dog waren die Drahtzieher von 175 Überfällen. Wenn man sich nur auf den Yankee Bandit, Casper und die Nasty Boys konzentrieren würde, hätte man bereits ein ziemlich vollständiges Bild davon, was in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren in Los Angeles geschah: ein ansteckendes Phänomen, das sich ausbreitete und dann kippte, angetrieben von den außergewöhnlichen Aktionen einiger weniger. „Casper“, so Wiley, „ist der Superspreader, wenn man es als Epidemie sieht.“
War das Klima in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren reif für einen Bankraub-Rausch? Ja, das war es. Zwischen den 1970ern und dem Ende der 1990er verdreifachte sich die Zahl der Bankfilialen in den Vereinigten Staaten. Für Casper und C-Dog war es praktisch ein Kinderspiel.
Das Fieber, das Los Angeles in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren überkam, ergibt durchaus Sinn – bis auf eine Sache.
Und die gibt Rätsel auf.
4.
Am frühen Morgen des 9. März 1950 stand Willie Sutton auf und trug eine dicke Schicht Schminke auf seinem Gesicht auf. Am Abend zuvor hatte er sein Haar einige Nuancen heller gefärbt, sodass es fast blond war, und nun wollte er es mit einem olivfarbenen Teint kombinieren. Er betonte seine Augenbrauen mit Mascara und verbreiterte seine Nase, indem er sich Korkstückchen in die Nasenlöcher stopfte. Dann zog er einen grauen Anzug an, der so geschnitten und gepolstert war, dass er seine Figur veränderte. Zufrieden, dass er nicht mehr wie Willie Sutton aussah, verließ Willie Sutton sein Haus in Staten Island und fuhr nach Sunnyside, Queens, zu einer Filiale der Manufacturers Trust Company an der Ecke 44th Street und Queens Boulevard in New York City.
Sutton hatte während der letzten drei Wochen jeden Morgen auf der anderen Straßenseite gestanden, um sich mit den Routinen der Bankangestellten vertraut zu machen. Ihm gefiel, was er sah. Auf der anderen Straßenseite gab es eine Hochbahnhaltestelle, eine Bushaltestelle und einen Taxistand. Die Straße war belebt, und Sutton mochte Menschenmassen. Der Wachmann der Bank, ein schwerfälliger Mann namens Weston, der in der Nähe wohnte, kam jeden Morgen um 8:30 Uhr an, vertieft in seine Zeitung. Zwischen 8:30 und 9:00 Uhr ließ er die anderen Angestellten der Bank herein, bis der Bankdirektor, Mr. Hoffman, pünktlich wie ein Uhrwerk um 9:01 Uhr eintraf. Die Manufacturers Trust öffnete um 10:00 Uhr – viel später als die meisten anderen Bankfilialen. Auch darüber war Sutton froh: Er betrachtete die Zeit zwischen dem Eintreffen des ersten Mitarbeiters und dem Eintreffen des ersten Kunden als „seine Zeit“, und „seine Zeit“ würde in diesem Fall eineinhalb Stunden betragen.
Um 8:20 Uhr mischte sich Sutton unter die wartende Menge an der Bushaltestelle. Ein paar Minuten später bog der Wachmann Weston um die Ecke, in seine Zeitung vertieft. Als Weston seinen Schlüssel zückte, um die Tür zu öffnen, schlüpfte Sutton hinter ihm hinein. Weston drehte sich erschrocken um. Sutton schaute ihm in die Augen und sagte leise: „Kommen Sie rein. Ich möchte mit Ihnen reden.“
Sutton war kein Fan von Schusswaffen. Waffen waren für ihn nur Requisiten. Seine eigentliche Waffe war seine ruhige Autorität, die die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zog. Er erklärte dem Wachmann, was nun als Nächstes geschehen würde. Zuerst würden sie einen seiner Komplizen hereinlassen. Dann würden die übrigen Angestellten genau wie jeden Morgen empfangen werden. Als sie einer nach dem anderen eintraten, tauchte Suttons Komplize auf und führte sie an den Ellbogen zu einer Reihe von Stühlen, die er vorbereitet hatte.
„Wenn man erst einmal die Kontrolle über die Bank übernommen hat“, schrieb Sutton Jahre später in seinen Memoiren – Sutton war zu diesem Zeitpunkt bereits so berühmt, dass er seine Memoiren nicht nur in einer, sondern in zwei Fassungen vorlegte, wie ein Staatsmann, der das Bedürfnis verspürt, auf die Wendungen der Geschichte zu reagieren –,
ist es eigentlich egal, wer vor der Tür steht. Als einmal unerwartet ein Trio von Malern in einer Bank in Pennsylvania eintraf, die ich gerade überfiel, sagte ich ihnen einfach, sie sollten ihre Abdecktücher ausbreiten und an die Arbeit gehen. „Bei dem Stundenlohn, den ihr berechnet, kann es sich die Bank nicht leisten, dass ihr hier nur rumhängt und nichts tut. Sie haben eine Versicherung gegen Bankräuber, aber niemand würde ihnen eure Wucherpreise erstatten.“ Während des gesamten Überfalls konnte ich mich darüber auslassen, dass ich schon längst in Rente sein könnte, wenn wir Bankräuber so eine starke Gewerkschaft hätten wie sie. Alle hatten eine gute Zeit, und als wir mit dem Geld zur Tür hinausspazierten, hatten sie eine der Wände schon komplett gestrichen.
Sutton war erschreckend charmant. War den Angestellten der Manufacturers Trust Company bewusst, dass der berühmte Willie Sutton sie an diesem Morgen ausraubte? Gar keine Frage. Sie kamen einer nach dem anderen in den Konferenzraum. „Keine Sorge, Leute“, sagte er ihnen. „Es ist nur Geld. Und es ist nicht euer Geld.“ Um 9:05 Uhr, vier Minuten zu spät, traf Mr. Hoffman, der Bankdirektor, ein. Sutton bat ihn, sich zu setzen.
„Wenn Sie Ärger machen, möchte ich, dass Ihnen klar ist, dass dann einige Ihrer Angestellten hier erschossen werden. Ich möchte nicht, dass Sie die Lage falsch einschätzen. Vielleicht ist Ihnen Ihre eigene Sicherheit egal, aber für die Gesundheit dieser Mitarbeiter hier sind Sie verantwortlich. Wenn ihnen etwas zustößt, dann ist es Ihre Schuld, nicht meine.“
Natürlich war es ein Bluff, aber es funktionierte jedes Mal. Sutton holte das Geld aus dem Tresor, schlenderte durch die Tür zu einem wartenden Fluchtwagen und verschwand im New Yorker Verkehr.
Willie Sutton war die New Yorker Version von Casper – obwohl das Willie Sutton nicht ganz gerecht wird. Niemand wusste viel über Casper, als er seine Bankraubserie inszenierte. Selbst sein Prozess sorgte kaum für Schlagzeilen. Nicht so Willie Sutton. Sutton war berühmt. Er ging mit Starlets aus. Er war ein Meister der Verkleidung. Er legte nicht nur einen, sondern gleich zwei gewagte Ausbrüche aus dem Gefängnis hin. Einmal wurde er gefragt: „Warum rauben Sie Banken aus?“ Und er antwortete: „Weil dort das Geld ist.“ Später bestritt er, das gesagt zu haben, aber das spielte keine Rolle. Bis heute ist sein Ausspruch als „Suttons Gesetz“ bekannt und wird eingesetzt, um Medizinstudenten zu vermitteln, wie wichtig es ist, zuerst die wahrscheinlichste Diagnose zu stellen. Hollywood drehte einen Film über sein Leben. Ein Schriftsteller ließ seine Geschichte in einen biografischen Roman einfließen. Im Laufe seiner Karriere soll er – nach heutigem Wert – mehr als 20 Millionen Dollar gestohlen haben. Casper bewegte sich nicht einmal in der gleichen Steuerklasse wie Willie Sutton (vorausgesetzt natürlich, sie hätten Steuern gezahlt, was jedoch keiner von ihnen tat).
Der entscheidende Punkt ist: Würde heute jemand eine Bankraub-Epidemie auslösen, würde man direkt an Willie Sutton denken. Man könnte meinen, dass die beeinflussbare Ganovenszene von New York City „Slick Willie“ dabei zusehen würde, wie er mühelos in Bankfilialen eindrang, ohne auch nur einen Schuss abzugeben, und sich dächte: Das kann ich auch. In der Epidemiologie gibt es den Begriff „Indexfall“, der sich auf die Person bezieht, von der eine Epidemie ihren Ausgang nimmt. (Wir werden weiter hinten in diesem Buch noch über einen der faszinierendsten Indexfälle der jüngeren Geschichte sprechen.) Willie Sutton hätte eigentlich der Indexfall sein sollen, oder? Er hat den Banküberfall aus der Schmuddelecke geholt und in ein Kunstwerk verwandelt.
Aber Willie Sutton hat keine Bankraub-Epidemie in New York City ausgelöst – weder in den 1940er- und 50er-Jahren, seiner Glanzzeit, noch in den Jahren danach, als er eine Version seiner Memoiren nach der anderen schrieb. Nachdem er 1969 aus dem Gefängnis gekommen war, indem er sich auf seinen schlechten Gesundheitszustand berief (er genoss anschließend noch elf weitere Jahre seines Lebens), erfand sich Sutton neu als Experte für Gefängnisreformen und hielt Vorträge im ganzen Land. Er beriet Banken dazu, wie sich Überfälle verhindern ließen. Er drehte sogar einen Fernsehspot für ein Kreditkartenunternehmen, in dem er eine Karte mit einem Foto vorstellte: „Man nennt sie die Face Card. Wenn ich also jetzt sage, dass ich Willie Sutton bin, glauben mir die Leute.“ Hat das dazu geführt, dass alle Willie Sutton sein wollten? Offenbar nicht. Zu Caspers Zeiten fand in New York City nur einen Bruchteil der Banküberfälle statt, die meisten wurden in Los Angeles verübt.
Eine Epidemie ist per Definition ein ansteckendes Phänomen, das nicht an Grenzen Halt macht. Als Corona Ende 2019 erstmals in China auftauchte, befürchteten die Epidemiologen, dass es sich überallhin ausbreiten würde. Und sie hatten absolut recht. Doch im Fall der Banken wurde Los Angeles vom Fieber erfasst, andere Städte blieben jedoch völlig verschont. Warum?
Dies ist das erste der drei Rätsel. Und die Antwort findet sich in der berühmten Beobachtung eines Gesundheitsforschers namens John Wennberg.
5.
Im Jahr 1967, er hatte gerade seine medizinische Ausbildung abgeschlossen, trat Wennberg eine Stelle in Vermont im Rahmen des Regional Medical Program (RMP) an. Es waren die Jahre der „Great Society“, als die US-Regierung konzertierte Anstrengungen unternahm, um das soziale Sicherheitsnetz der USA auszubauen, und das RMP war ein staatlich finanziertes Projekt zur Verbesserung der medizinischen Versorgung im ganzen Land. Wennbergs Aufgabe war es, die Qualität der medizinischen Versorgung im gesamten Bundesstaat zu erfassen, um sicherzustellen, dass alle Menschen Zugang zu den gleichen medizinischen Leistungen hatten.
Er war jung und idealistisch. Er hatte an der Johns Hopkins University bei einigen der Koryphäen der Medizin studiert. Als Wennberg nach Vermont kam, so sagte er später, glaubte er immer noch „an den allgemeinen Grundsatz, dass die Wissenschaft voranschreitet und dass sie rational in eine wirksame Behandlung umgesetzt wird.“
In Vermont gab es 251 Städte. Wennberg begann damit, diese Gemeinden danach aufzuteilen, wo die Einwohner ihre medizinische Versorgung erhielten. So ergaben sich 13 „Krankenhausbezirke“ im ganzen Bundesstaat. Anschließend berechnete er den Geldbetrag, der in jedem dieser Bezirke für die medizinische Versorgung ausgegeben wurde.
Wennberg ging davon aus, dass in einer entlegenen Ecke von Vermont, in der nicht viel Geld vorhanden war, die Ausgaben niedrig sein würden. Und nach der gleichen Logik würden in wohlhabenderen Gemeinden wie Burlington – der größten Stadt des Bundesstaats, in der die University of Vermont und das Champlain College liegen, die die neuesten und modernsten Krankenhäuser hat und in der die Ärzte eher an renommierten medizinischen Fakultäten ausgebildet wurden – die Ausgaben etwas höher sein.
Er lag völlig falsch. Ja, es gab Unterschiede bei den Ausgaben von einem Krankenhausbezirk zum nächsten. Aber die Unterschiede waren nicht gering. Sie waren enorm. Und sie folgten keiner offensichtlichen Logik. Sie waren, wie Wennberg es ausdrückte, ohne „Sinn und Verstand“. Operationen zur Entfernung von Hämorrhoiden zum Beispiel wurden in einigen Bezirken fünfmal häufiger durchgeführt als in anderen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemandem eine vergrößerte Prostata operativ entfernt wurde oder die Gebärmutter bei einer Hysterektomie oder aber der Blinddarm nach einer Appendizitis, war in manchen Bezirken dreimal so hoch wie in anderen.
„Wie sich herausstellte, wichen die Zahlen überall ab“, sagte Wennberg. „Wir wohnten zum Beispiel zwischen Stowe und Waterbury. Meine Kinder besuchten die Schule in Waterbury, 16 Kilometer die Straße hinunter. Hätten wir aber nur 90 Meter weiter nördlich gewohnt, wären sie in Stowe zur Schule gegangen. In Stowe wurden 70 Prozent der Kinder die Mandeln entfernt, bevor sie 15 Jahre alt waren, während es in Waterbury nur 20 Prozent waren.“
Das ergab keinen Sinn. Stowe und Waterbury waren beide idyllische Kleinstädte voller verwitterter Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Niemand glaubte ernsthaft, dass die eine weltläufiger war oder einer anderen medizinischen Ideologie anhing als die andere. Es war nicht so, dass Stowe eine bestimmte Art von Menschen anzog und Waterbury eine ganz andere Art von Menschen. Die Menschen waren im Grunde die gleichen – außer dass die Kinder in Waterbury dazu neigten, ihre Mandeln zu behalten, und die Kinder in Stowe nicht.
Nun war Wennberg wirklich verwirrt. War er über eine seltsame Eigenart der Kleinstädte in Vermont gestolpert? Er beschloss, seine Analyse auf andere Teile von Neuengland auszudehnen. Dies kam heraus bei einem Vergleich zwischen Middlebury in Vermont und Randolph in New Hampshire. Werfen Sie einen Blick auf die ersten zehn Zeilen: Die beiden Städte sind praktisch Zwillinge. Und nun schauen Sie sich die letzten drei Zeilen an. Hoppla. In Randolph verhielten sich die Ärzte wie in einer Art Koffeinrausch: Sie gaben das Geld mit vollen Händen aus, überwiesen quasi jede Person in Krankenhaus und OP, die des Weges kam. Aber Middlebury? In Middlebury sah die Welt ganz anders aus.
1
2
Middlebury, Vermont
Randolph, New Hampshire
Sozioökonomische Merkmale
Weiß
98%
97%
Geboren in Vermont bzw. New Hampshire
59%
61%
Wohnhaft seit 20 oder mehr Jahren in der Region
47%
47%
Einkommensniveau unter der Armutsgrenze
20%
23%
Krankenversichert
84%
84%
Haushalte mit regelmäßigem Ort der ärztlichen Versorgung
97%
99%
Grad der chronischen Erkrankungen
Prävalenz
23%
23%
Eingeschränkte Aktivität innerhalb der letzten 2 Wochen
5%
4%
Mehr als 2 Wochen Bettlägerigkeit im Vorjahr
4%
5%
Zugang zu ärztlicher Versorgung
Ärztlicher Kontakt innerhalb des Vorjahrs
73%
73%
Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung
Hospitalisierungsrate im Jahr 1973
132 ‰
220 ‰
Operationsrate im Jahr 1973
49 ‰
80 ‰
Medicare-Erstattungen für Gesundheitsleistungen pro Versichertem, 1972
92$
141$
Wennberg nannte das, was er entdeckt hatte, „kleinräumige Variation“, und er fand Beweise dafür in den gesamten Vereinigten Staaten. Und was als eigentümliche Beobachtung über die Kleinstädte von Vermont begann, hat sich zu einem eisernen Gesetz entwickelt – und ein halbes Jahrhundert nach Wennbergs verblüffender Entdeckung gibt es keinerlei Anzeichen, dass es verschwindet: Wie Ihr Arzt oder Ihre Ärztin Sie behandelt, hat in vielen Fällen weniger damit zu tun, wo diese Fachkraft ausgebildet wurde oder wie gut sie in der medizinischen Fakultät abgeschnitten hat oder welche Persönlichkeit sie hat, als damit, wo Ihre Ärztin oder Ihr Arzt lebt.
Warum spielt der Ort so eine große Rolle? Die einfachste Erklärung für kleinräumige Unterschiede ist, dass die Ärzte einfach das tun, was die Patienten wollen. Nehmen wir zum Beispiel ein relativ einfaches medizinisches Vorkommnis: Wie oft ein Arzt einen Patienten in den letzten zwei Jahren seines Lebens besucht. Der nationale Durchschnitt für 2019 liegt bei 54 Besuchen. In Minneapolis hingegen ist der Durchschnitt viel niedriger: 36. Aber wissen Sie, wie hoch er in Los Angeles ist? Er liegt bei 105! In L.A. ist die Zahl der Arztbesuche in den letzten Tagen vor dem Tod dreimal so hoch wie in Minneapolis.
Das ist ein Riesenunterschied. Liegt es daran, dass sich die sterbenden Minnesotaner wie stoische Skandinavier verhalten, während die Hochbetagten in Los Angeles bedürftig und anspruchsvoll sind? Die Antwort scheint nein zu sein. Wennberg und andere Forscher haben herausgefunden, dass die kleinräumigen Unterschiede nicht darauf zurückzuführen sind, was Patienten von ihren Ärzten erwarten. Sie ergeben sich daraus, was die Ärzte ihren Patienten antun wollen.
Warum also verhalten sich die Ärzte von Ort zu Ort so unterschiedlich? Geht es nur ums Geld? Vielleicht haben mehr Menschen in Los Angeles eine Art von Versicherung, die Ärzte dafür belohnt, ihre Patienten aggressiv zu behandeln. Nein, auch das scheint keine Erklärung zu sein.1
Was ist, wenn alles nur ein Zufall ist? Schließlich sind Ärzte auch nur Menschen. Und Menschen haben eben unterschiedliche Überzeugungen. Vielleicht praktizieren in Los Angeles zufällig viele Ärzte mit Vorliebe für aggressive Behandlungsansätze, während es in Minneapolis zufällig nur sehr wenige davon gibt.
Nein!
Zufall würde nämlich bedeuten, dass Ärzte mit aggressiven Methoden über das ganze Land verstreut wären, in Mustern, die sich jedes Jahr verändern. Zufall würde bedeuten, dass es in jedem Krankenhaus eine andere Zusammensetzung von Ärzten gibt, die eine Mischung verschiedener Vorstellungen darüber repräsentieren, wie man Medizin praktiziert. Es gäbe eine Dr. Smith, die immer die Mandeln entfernt, und einen Dr. Jones, der das nie tut, und eine Dr. McDonald, die irgendwo dazwischen liegt. Aber es ist nicht das, was Wennberg vor Jahren festgestellt hat. Was er stattdessen entdeckte, waren medizinische Cluster, in denen die Ärzte in einem Krankenhausbezirk eine gemeinsame Identität entwickelten, als ob sie alle von derselben ansteckenden Idee infiziert worden wären.
„Es ist wie bei einem Puzzle, wo man immer gleiche Teile zusammenfügt“, sagte Jonathan Skinner, ein Wirtschaftswissenschaftler an der Dartmouth University, der Wennbergs Arbeit fortgeführt hat. „Was ich meine, ist: Ärzte haben unterschiedliche Meinungen. … Menschen entwickeln Meinungen darüber, was funktioniert. … Aber die Frage ist, was führt dazu, dass ein Gebiet einige Leute dazu veranlasst, im Allgemeinen auf eine bestimmte Weise zu praktizieren? Liegt es vielleicht am Wasser?“
6.
Die kleinräumige Variation ist in der Folge zu einer Art Besessenheit in der medizinischen Forschung geworden. Es werden Bücher darüber geschrieben. Gelehrte verbringen ihre Tage damit, das Phänomen zu untersuchen. Faszinierend ist dabei, dass dieselben unerklärlichen Variationsmuster auch außerhalb der Welt der medizinischen Versorgung auftauchen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben.
Im Staat Kalifornien gibt es eine öffentliche Datenbank, in der festgehalten ist, wie viel Prozent der Siebtklässler an allen Mittelschulen des Bundesstaats die empfohlenen Impfungen erhalten haben: Windpocken, Masern, Mumps, Röteln, Polio und so weiter. Ein flüchtiger Blick auf die Liste – und es ist eine lange Liste – zeigt eine eindeutige Tendenz. Die überwältigende Zahl der Kinder an öffentlichen Schulen in Kalifornien hat alle Impfungen erhalten. Was ist mit Kindern auf Privatschulen? Privatschulen sind in der Regel kleiner und eigenwilliger. Könnte es da mehr Unterschiede geben? Schauen wir uns das mal an.2
Hier sind die zufällig ausgewählten Impfquoten einer Auswahl von privaten Grundschulen in Contra Costa County, östlich von San Francisco:
St. John the Baptist – 100 Prozent
El Sobrante Christian School – 100 Prozent
Contra Costa Jewish Day School – 100 Prozent
Die Liste geht weiter. In Contra Costa County gibt es viele private Grundschulen, und die Eltern, die dort leben, scheinen sehr darauf bedacht zu sein, ihre Kinder vor ansteckenden Krankheiten zu schützen.
St. Perpetua – 100 Prozent
St. Catherine of Siena – 100 Prozent
Aber halt. Es gibt eine Schule, die ganz anders ist:
East Bay Waldorf – 42 Prozent
42 Prozent? Ist dies ein Zufall – eine zufällige Abweichung von einem gleichbleibenden Muster?
Werfen wir einen Blick auf die Privatschulen in El Dorado County, das in alphabetischer Reihenfolge gleich hinter Contra Costa liegt.
G. H. S. Academy – 94 Prozent
Holy Trinity School – 100 Prozent
Und dann, warten Sie es ab:
Cedar Springs Waldorf – 36 Prozent
Versuchen wir es in Los Angeles. Die meisten Mittelschulen liegen, wie ihre Pendants im ganzen Bundesstaat, irgendwo zwischen 90 und 100 Prozent. Aber auch hier gibt es eine Ausnahme, weit im Westen der Stadt, im exklusiven Stadtteil Pacific Palisades.
Westside Waldorf – 22 Prozent
Bei den Waldorfschulen handelt es sich um eine Bewegung, die vom österreichischen Pädagogen Rudolf Steiner Anfang des 20. Jahrhunderts ins Leben gerufen wurde. Waldorfschulen sind klein und teuer und konzentrieren sich auf „ganzheitliches“ Lernen – sie versuchen, die Kreativität und Fantasie ihrer Schüler zu entwickeln. Es gibt mehrere Tausend Waldorfschulen auf der ganzen Welt – meist Kindergärten und Grundschulen – und etwa zwei Dutzend in Kalifornien. Und fast ausnahmslos finden sich die niedrigsten Impfraten in jeder kalifornischen Stadt, in der es eine Waldorfschule gibt – an der Waldorfschule.3
Hier sind die Zahlen von Sonoma County:
St. Vincent de Paul Elementary School – 100 Prozent
Rincon Valley Christian – 100 Prozent
Sonoma Country Day School – 94 Prozent
