Tipping Point - Malcolm Gladwell - E-Book

Tipping Point E-Book

Malcolm Gladwell

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Beschreibung

Eine totgesagte Schuhmarke, die über Nacht zum ultimativ ange­sagten Modeartikel wird. Ein neu eröffnetes Restaurant, das sofort zum absoluten Renner wird. Der Roman einer unbekannten Autorin, der ohne Werbung zum Bestseller wird. Für den magischen Moment, der eine Lawine lostreten und einen neuen Trend begründen kann, gibt es zahlreiche Beispiele. So wie eine einzelne kranke Person eine Grippewelle auslösen kann, genügt ein winziger, gezielter Schubs, um einen Modetrend zu setzen, ein neues Produkt als Massenware durchzusetzen oder die Kriminalitätsrate in einer Großstadt zu senken. "Tipping Point" zeigt, wie wenig Aufwand zu einem Mega-Erfolg führen kann.

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2025

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TIPPING POINT

Malcom Gladwell

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference

bei Little, Brown and Company

ISBN 978-0-316-31696-5

Copyright der Originalausgabe 2000:

Copyright © 2000 by Pushkin Enterprises, Inc

All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2025:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Merle Gailing, Börsenmedien AG

Gestaltung Cover: Maja Hempfling

Gestaltung, Satz und Herstellung: Karla Sachs

Lektorat: Sebastian Politz

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-68932-012-6

eISBN 978-3-68932-013-3

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +4992219051-0 • Fax: +4992219051-4444

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Für meine Eltern, Joyce und Graham Gladwell

INHALT

EINFÜHRUNG

EINS Die drei Regeln der Epidemien

ZWEI Das Gesetz der Wenigen Vermittler, Kenner und Verkäufer

DREI Der Verankerungsfaktor „Sesamstraße“, „Blue’s Clues“ und das Bildungsvirus

VIER Die Macht des Kontextes (Teil 1) Bernie Goetz und der Aufstieg und Fall der Kriminalität in New York City

FÜNF Die Macht des Kontextes (Teil 2) Die magische Zahl 150

SECHS Fallstudie Gerüchte, Sneaker und die Macht der Übersetzung

SIEBEN Fallstudie Selbstmord, Rauchen und die Suche nach der nicht haftenden Zigarette

ACHT Schlussfolgerung Konzentrieren, testen und glauben

NACHWORT Kipppunkt-Lektionen aus der realen Welt

ENDNOTEN

DANKSAGUNGEN

LEITFADEN FÜR LESEGRUPPEN

ÜBER DEN AUTOR

EINFÜHRUNG

Für Hush Puppies – die klassischen amerikanischen Schuhe aus gebürstetem Wildleder mit der leichten Kreppsohle – kam der Kipppunkt irgendwann zwischen Ende 1994 und Anfang 1995. Die Marke war bis zu diesem Zeitpunkt so gut wie tot gewesen. Die Verkaufszahlen waren auf 30.000 Paar pro Jahr gesunken, die hauptsächlich an provinzielle Outlets und kleinstädtische Familienbetriebe verkauft wurden. Wolverine, die Firma, die Hush Puppies herstellt, dachte daran, die Schuhe, die sie berühmt gemacht hatten, auslaufen zu lassen. Doch dann geschah etwas Seltsames. Bei einem Modeshooting trafen zwei Führungskräfte von Hush Puppies – Owen Baxter und Geoffrey Lewis – auf einen New Yorker Stylisten, der ihnen erzählte, dass die klassischen Hush Puppies plötzlich in den Klubs und Bars von Downtown Manhattan angesagt seien. „Man erzählte uns“, erinnert sich Baxter, „dass es im Village, in Soho, Wiederverkaufsläden gäbe, in denen die Schuhe verkauft würden. Die Leute gingen in die Tante-Emma-Läden, die kleinen Läden, die sie noch führten, und kauften sie auf.“ Baxter und Lewis waren zunächst verblüfft. Es ergab für sie keinen Sinn, dass Schuhe, die so offensichtlich aus der Mode gekommen waren, ein Comeback feiern konnten. „Uns wurde gesagt, dass Isaac Mizrahi die Schuhe selbst trug“, sagt Lewis. „Ich denke, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatten, wer Isaac Mizrahi war.“

Im Herbst 1995 begannen sich die Dinge zu überstürzen. Zuerst rief der Designer John Bartlett an. Er wollte Hush Puppies in seiner Frühjahrskollektion verwenden. Dann rief eine andere Designerin aus Manhattan, Anna Sui, an, die ebenfalls Schuhe für ihre Show haben wollte. In Los Angeles stellte der Designer Joel Fitzgerald einen acht Meter großen aufblasbaren Basset Hound – das Symbol der Marke Hush Puppies – auf das Dach seines Geschäfts in Hollywood und entkernte eine angrenzende Kunstgalerie, um sie in eine Hush-Puppies-Boutique zu verwandeln. Während er noch mit den Malerarbeiten und dem Aufstellen der Regale beschäftigt war, kam der Schauspieler Pee-wee Herman herein und fragte nach ein paar Schuhen. „Das war reine Mundpropaganda“, erinnert sich Fitzgerald.

Im Jahr 1995 verkaufte das Unternehmen 430.000 Paar der klassischen Hush Puppies, im darauffolgenden Jahr waren es 4-mal so viele und im Jahr darauf noch mehr, bis Hush Puppies wieder ein fester Bestandteil der Garderobe des jungen amerikanischen Mannes waren. 1996 gewann Hush Puppies den Preis für das beste Accessoire bei der Preisverleihung des Council of Fashion Designers im Lincoln Center und der Präsident des Unternehmens stand zusammen mit Calvin Klein und Donna Karan auf der Bühne und nahm den Preis für eine Leistung entgegen, mit der sein Unternehmen – wie er als Erster zugeben würde – fast nichts zu tun hatte. Hush Puppies war plötzlich explodiert und alles begann mit einer Handvoll Kids im East Village und in Soho.

Wie konnte das passieren? Diese ersten paar Kids, wer auch immer sie waren, haben nicht absichtlich versucht, für Hush Puppies zu werben. Sie trugen sie, weil niemand sonst sie tragen wollte. Dann griff die Mode auf zwei Modedesigner über, die die Schuhe nutzten, um für etwas anderes zu werben – Haute Couture. Die Schuhe waren nur ein Nebeneffekt. Niemand versuchte, Hush Puppies zu einem Trend zu machen. Doch irgendwie ist genau das passiert. Die Schuhe erreichten einen gewissen Beliebtheitsgrad und somit den Kipppunkt. Wie kommt es, dass ein 30 Dollar teures Paar Schuhe innerhalb von zwei Jahren den Sprung von einer Handvoll Hipster und Designer in Downtown Manhattan in jedes Einkaufszentrum Amerikas geschafft hat?

1.

Vor nicht allzu langer Zeit verwandelten sich die Straßen in den hoffnungslos verarmten New Yorker Stadtteilen Brownsville und East New York bei Einbruch der Dunkelheit in Geisterstädte. Gewöhnliche Arbeiter gingen nicht auf den Bürgersteigen. Kinder fuhren nicht mit ihren Fahrrädern auf den Straßen. Alte Leute saßen nicht auf den Treppenstufen und Parkbänken. Der Drogenhandel war so weit verbreitet und Bandenkriege waren in diesem Teil Brooklyns so allgegenwärtig, dass sich die meisten Menschen bei Einbruch der Dunkelheit in ihre Wohnungen zurückzogen. Polizeibeamte, die in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren in Brownsville Dienst taten, berichten, dass in jenen Jahren, sobald die Sonne unterging, die per Funkgerät geführten Gespräche zwischen den Revierpolizisten und ihrer Leitstelle über jede erdenkliche Art von gewalttätigen und gefährlichen Straftaten einfach kein Ende nahmen. Im Jahr 1992 gab es in New York City 2.154 Morde und 626.182 schwere Verbrechen, wobei diese Verbrechen in Orten wie Brownsville und East New York am stärksten ins Gewicht fielen. Doch dann geschah etwas Seltsames. An einem mysteriösen und kritischen Punkt begann sich die Kriminalitätsrate umzukehren. Sie kippte. Innerhalb von fünf Jahren sank die Zahl der Morde um 64,3 Prozent auf 770 und die Gesamtzahl der Verbrechen um fast die Hälfte auf 355.893. In Brownsville und East New York füllten sich die Bürgersteige wieder, die Fahrräder kehrten zurück und die alten Leute saßen wieder auf den Treppenstufen. „Es gab eine Zeit, in der es nicht ungewöhnlich war, Schnellfeuer zu hören, wie irgendwo im Dschungel in Vietnam“, sagt Inspektor Edward Messadri, der das Polizeirevier in Brownsville leitet. „Ich höre die Schüsse nicht mehr.“

Die Polizei von New York City wird Ihnen sagen, dass sich die Polizeistrategien in New York dramatisch verbessert haben. Kriminologen verweisen auf den Rückgang des Crackhandels und die Überalterung der Bevölkerung. Wirtschaftswissenschaftler wiederum sagen, dass der allmähliche wirtschaftliche Aufschwung der Stadt im Laufe der 1990er-Jahre dazu geführt hat, dass diejenigen, die andernfalls vielleicht kriminell geworden wären, Arbeit gefunden haben. Dies sind die üblichen Erklärungen für das Auftauchen und den Niedergang sozialer Probleme, aber letztlich ist keine davon befriedigender als die Behauptung, dass die Kids im East Village das Revival der Hush Puppies verursacht haben. Die Veränderungen im Drogenhandel, in der Bevölkerung und in der Wirtschaft sind allesamt langfristige Trends, die sich im ganzen Land vollziehen. Sie erklären nicht, warum die Kriminalität in New York City so viel stärker zurückgegangen ist als in anderen Städten des Landes, und sie erklären auch nicht, warum dies alles in einer so außergewöhnlich kurzen Zeit geschah. Die von der Polizei vorgenommenen Verbesserungen sind ebenfalls wichtig. Aber es besteht eine rätselhafte Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der Veränderungen in der Polizeiarbeit und dem Ausmaß der Auswirkungen auf Orte wie Brownsville und East New York. Schließlich ist die Kriminalität in New York nicht nur langsam zurückgegangen, als sich die Bedingungen allmählich verbesserten. Sie ist regelrecht eingebrochen. Wie kann eine Veränderung einer Handvoll wirtschaftlicher und sozialer Kennziffern dazu führen, dass die Mordrate innerhalb von fünf Jahren um zwei Drittel sinkt?

2.

„Tipping Point“ ist die Biografie einer Idee und die Idee ist sehr einfach. Das Aufkommen von Modetrends, die Ebbe und Flut von Verbrechenswellen, die Verwandlung unbekannter Bücher in Bestseller, die Zunahme des Rauchens bei Jugendlichen, das Phänomen der Mundpropaganda oder andere rätselhafte Veränderungen, die den Alltag prägen, lassen sich am besten verstehen, wenn man sie sich als Epidemien vorstellt. Ideen, Produkte, Botschaften und Verhaltensweisen verbreiten sich wie Viren.

Der Aufstieg von Hush Puppies und der Rückgang der Kriminalitätsrate in New York sind Paradebeispiele für Epidemien in Aktion. Auch wenn es so klingt, als hätten sie nicht viel gemeinsam, so gibt es doch ein wesentliches Muster, das ihnen zugrunde liegt. Zunächst einmal sind sie eindeutige Beispiele für ansteckendes Verhalten. Niemand hat eine Anzeige geschaltet und den Leuten gesagt, dass die traditionellen Hush Puppies cool sind und sie sie tragen sollten. Diese Kids trugen die Schuhe einfach, wenn sie in Klubs oder Cafés gingen oder durch die Straßen der New Yorker Innenstadt schlenderten, und setzten so andere Menschen ihrem Modebewusstsein aus. Sie steckten sie mit dem Hush-Puppies- „Virus“ an.

Der Rückgang der Kriminalität in New York ist sicherlich auf die gleiche Weise erfolgt. Es lag nicht daran, dass ein großer Prozentsatz der potenziellen Mörder 1993 plötzlich aufstand und beschloss, keine Verbrechen mehr zu begehen. Es war auch nicht so, dass es der Polizei auf magische Weise gelungen wäre, in einem hohen Prozentsatz von Situationen einzugreifen, die sonst tödlich ausgegangen wären. Was geschah, war, dass die wenigen Menschen in den wenigen Situationen, in denen die Polizei oder die neuen sozialen Kräfte einen gewissen Einfluss hatten, anfingen, sich ganz anders zu verhalten, und dieses Verhalten irgendwie auf andere potenzielle Kriminelle in ähnlichen Situationen übertrugen. Irgendwie wurde eine große Zahl von Menschen in New York in kurzer Zeit mit einem Anti-Verbrechens-Virus „infiziert“.

Das zweite charakteristische Merkmal dieser beiden Beispiele ist, dass in beiden Fällen kleine Veränderungen große Auswirkungen hatten. Alle möglichen Gründe, warum die Kriminalitätsrate in New York gesunken ist, sind Veränderungen, die am Rande stattfanden; es waren schrittweise Veränderungen. Der Crackhandel flachte ab. Die Bevölkerung wurde ein wenig älter. Die Polizeikräfte wurden etwas besser. Dennoch war der Effekt dramatisch. Das gilt auch für Hush Puppies. Von wie vielen Kids sprechen wir, die in Downtown Manhattan anfingen, die Schuhe zu tragen? 20? 50? 100 – höchstens? Und doch scheinen sie mit ihren Aktionen im Alleingang einen internationalen Modetrend ausgelöst zu haben.

Letztendlich geschahen beide Veränderungen in großer Eile. Sie haben sich nicht stetig und langsam entwickelt. Es ist lehrreich, sich ein Diagramm der Kriminalitätsrate in New York City anzusehen, etwa von Mitte der 1960er- bis Ende der 1990er-Jahre. Es sieht aus wie ein riesiger Bogen. Im Jahr 1965 gab es 200.000 Straftaten in der Stadt und von diesem Zeitpunkt an beginnt ein steiler Anstieg, der sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt und fast ununterbrochen anhält, bis er Mitte der 1970er-Jahre 650.000 Straftaten pro Jahr erreicht. In den nächsten zwei Jahrzehnten bleibt die Zahl konstant auf diesem Niveau, bevor sie 1992 genauso stark abfällt, wie sie 30 Jahre zuvor gestiegen war. Die Kriminalität hat sich nicht abgeschwächt. Sie hat sich nicht sanft verlangsamt. Sie hat einen bestimmten Punkt erreicht und ist auf die Bremse getreten.

Diese drei Merkmale – erstens die Ansteckungsgefahr, zweitens die Tatsache, dass kleine Ursachen große Auswirkungen haben können, und drittens die Tatsache, dass Veränderungen nicht allmählich, sondern in einem einzigen dramatischen Moment stattfinden – sind dieselben drei Prinzipien, die bestimmen, wie sich Masern in einer Grundschulklasse ausbreiten oder die Grippe jeden Winter ausbricht. Von diesen drei Prinzipien ist das dritte – die Vorstellung, dass Epidemien in einem einzigen dramatischen Moment entstehen oder vergehen können – das wichtigste, weil es das Prinzip ist, das den ersten beiden einen Sinn gibt und den größten Einblick in die Gründe für den modernen Wandel ermöglicht. Die Bezeichnung für diesen einen dramatischen Moment in einer Epidemie, in dem sich alles auf einmal ändern kann, ist „Tipping Point“ (Kipppunkt).

3.

Eine Welt, die den Regeln der Epidemie folgt, ist eine ganz andere als die Welt, in der wir heute zu leben glauben. Denken Sie einen Moment lang über das Konzept der Ansteckungsgefahr nach. Wenn ich dieses Wort zu Ihnen sage, denken Sie an Erkältungen und Grippe oder vielleicht an etwas sehr Gefährliches wie HIV oder Ebola. Wir haben eine ganz bestimmte biologische Vorstellung davon, was Ansteckungsgefahr bedeutet. Aber wenn es Epidemien von Verbrechen oder Epidemien von Mode geben kann, muss es alle möglichen Dinge geben, die genauso ansteckend sind wie Viren. Haben Sie zum Beispiel schon einmal über das Gähnen nachgedacht? Gähnen ist ein erstaunlich wirkungsvoller Akt. Nur weil Sie das Wort „Gähnen“ in den beiden vorangegangenen Sätzen gelesen haben – und die beiden zusätzlichen „Gähnen“ in diesem Satz –, werden wahrscheinlich viele von Ihnen innerhalb der nächsten Minuten gähnen. Selbst während ich dies schreibe, habe ich schon 2-mal gegähnt. Wenn Sie dies an einem öffentlichen Ort lesen und gerade gegähnt haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein guter Teil der Leute, die Sie gähnen sahen, jetzt auch gähnt, und ein guter Teil der Leute, die die Leute, die Sie gähnen sahen, beobachtet haben, gähnt jetzt auch, und so weiter und so fort, in einem immer größer werdenden Kreis von Gähnenden.

Gähnen ist unglaublich ansteckend. Ich habe einige von Ihnen, die dies lesen, zum Gähnen gebracht, indem ich einfach das Wort „gähnen“ geschrieben habe. Die Menschen, die gähnten, als sie Sie gähnen sahen, wurden durch Ihren Anblick angesteckt – was eine zweite Art der Ansteckung ist. Vielleicht hätten sie sogar gegähnt, wenn sie Sie nur hätten gähnen hören, denn Gähnen ist auch akustisch ansteckend: Wenn man Blinden ein Tonband mit einem Gähnen vorspielt, werden sie auch gähnen. Und schließlich: Wenn Sie gähnten, während Sie dies lasen, kam Ihnen dann der Gedanke – wenn auch unbewusst und flüchtig –, dass Sie müde sein könnten? Ich vermute, dass dies bei einigen von Ihnen der Fall war, was bedeutet, dass ein Gähnen auch emotional ansteckend sein kann. Allein durch das Schreiben dieses Wortes kann ich ein Gefühl in Ihrem Kopf erzeugen. Kann das Grippevirus das auch? Mit anderen Worten: Die Ansteckungsgefahr ist eine unerwartete Eigenschaft aller möglichen Dinge und das müssen wir uns merken, wenn wir epidemische Veränderungen erkennen und diagnostizieren wollen.

Der zweite Grundsatz der Epidemie – dass kleine Veränderungen irgendwie große Auswirkungen haben können – ist ebenfalls ein ziemlich radikaler Gedanke. Wir sind als Menschen stark darauf sozialisiert, eine Art grobe Annäherung zwischen Ursache und Wirkung vorzunehmen. Wenn wir ein starkes Gefühl vermitteln wollen, wenn wir jemanden davon überzeugen wollen, dass wir ihn lieben, wissen wir, dass wir leidenschaftlich und geradeheraus sprechen müssen. Wenn wir jemandem schlechte Nachrichten überbringen wollen, werden wir leiser und wählen unsere Worte mit Bedacht. Wir sind darauf zu denken trainiert, dass das, was in eine Transaktion, eine Beziehung oder ein System hineingeht, in der Intensität und Dimension direkt mit dem zusammenhängen muss, was herauskommt. Betrachten wir zum Beispiel das folgende Rätsel. Ich gebe Ihnen ein großes Stück Papier und bitte Sie, es einmal zu falten, und dann nehmen Sie das gefaltete Papier und falten es noch einmal und dann noch einmal und noch einmal, bis Sie das ursprüngliche Papier 50-mal gefaltet haben. Was glauben Sie, wie hoch der Stapel am Ende sein wird? Die meisten Menschen falten das Blatt vor ihrem geistigen Auge und schätzen, dass der Stapel so dick wie ein Telefonbuch ist, oder wenn sie ganz mutig sind, sagen sie, dass er so hoch wie ein Kühlschrank ist. Aber die richtige Antwort ist, dass die Höhe des Stapels ungefähr dem Abstand zur Sonne entspricht. Und wenn man ihn noch einmal umklappen würde, wäre der Stapel so hoch wie die Entfernung zur Sonne und zurück. Dies ist ein Beispiel für das, was man in der Mathematik eine geometrische Progression nennt. Epidemien sind ein weiteres Beispiel für geometrische Progression: Wenn sich ein Virus in einer Population ausbreitet, verdoppelt er sich und verdoppelt sich wieder, bis er (bildlich gesprochen) von einem einzigen Blatt Papier in 50 Schritten bis zur Sonne gewachsen ist. Als Menschen tun wir uns mit dieser Art von Entwicklung schwer, denn das Endergebnis – die Wirkung – scheint in keinem Verhältnis zur Ursache zu stehen. Um die Kraft von Epidemien zu verstehen, müssen wir diese Erwartung der Verhältnismäßigkeit aufgeben. Wir müssen uns auf die Möglichkeit einstellen, dass aus kleinen Ereignissen manchmal große Veränderungen folgen und dass diese Veränderungen manchmal sehr schnell eintreten können.

Diese Möglichkeit eines plötzlichen Wandels steht im Mittelpunkt der Idee des Kipppunktes und ist vielleicht am schwersten zu akzeptieren. Der Begriff wurde erstmals in den 1970er-Jahren verwendet, um die Flucht der Weißen aus den älteren Städten des amerikanischen Nordostens in die Vorstädte zu beschreiben. Wenn die Zahl der neu hinzukommenden Afroamerikaner in einem bestimmten Viertel einen bestimmten Wert erreichte – beispielsweise 20 Prozent –, beobachteten Soziologen, dass die Gemeinschaft „kippte“: Die meisten der verbleibenden Weißen zogen fast sofort weg. Der Kipppunkt ist der Moment der kritischen Masse, die Schwelle, der Siedepunkt. Es gab einen Kipppunkt für die Gewaltkriminalität in New York in den frühen 1990er-Jahren und einen Kipppunkt für das Wiederauftauchen von Hush Puppies, genauso wie es einen Kipppunkt für die Einführung jeder neuen Technologie gibt. Sharp brachte 1984 das erste preisgünstige Faxgerät auf den Markt und verkaufte im ersten Jahr rund 80.000 dieser Geräte in den Vereinigten Staaten. In den folgenden drei Jahren kauften die Unternehmen langsam und stetig immer mehr Faxgeräte, bis 1987 so viele Menschen ein Faxgerät besaßen, dass es für jeden sinnvoll war, sich ein Faxgerät anzuschaffen. 1987 war der Kipppunkt für Faxgeräte. In diesem Jahr wurden eine Million Geräte verkauft und bis 1989 zwei Millionen neue Geräte in Betrieb genommen. Mobiltelefone haben die gleiche Entwicklung durchlaufen. In den 1990er-Jahren wurden sie immer kleiner und billiger und der Service wurde immer besser, bis 1998 die Technologie einen Kipppunkt erreichte und plötzlich jeder ein Mobiltelefon hatte. (Eine Erklärung der mathematischen Grundlagen von Kipppunkten finden Sie in den Endnoten.)

Alle Epidemien haben Kipppunkte. Jonathan Crane, Soziologe an der Universität von Illinois, hat untersucht, wie sich die Zahl der Vorbilder in einer Gemeinde – Fachleute, Manager, Lehrer, die das Census Bureau als „hochrangig“ definiert – auf das Leben von Jugendlichen in derselben Nachbarschaft auswirkt. Er stellte fest, dass sich die Schwangerschafts- und Schulabbrecherquoten in Vierteln mit einem Anteil von 40 bis fünf Prozent hochrangiger Arbeitnehmer kaum unterschieden. Aber wenn die Zahl der Fachleute unter fünf Prozent fiel, explodierten die Probleme. Bei schwarzen Schulkindern beispielsweise hat sich die Schulabbrecherquote mehr als verdoppelt, als der Anteil der hochrangigen Arbeitnehmer nur um 2,2 Prozentpunkte sank – von 5,6 Prozent auf 3,4 Prozent. Am gleichen Kipppunkt verdoppelte sich die Geburtenrate bei Mädchen im Teenageralter, die sich bis zu diesem Punkt kaum verändert hatte. Intuitiv gehen wir davon aus, dass sich Nachbarschaften und soziale Probleme in einer Art stetiger Progression verschlechtern. Aber manchmal verschlechtern sie sich gar nicht stetig; am Kipppunkt können Schulen die Kontrolle über ihre Schüler verlieren und das Familienleben kann auf einmal zerfallen.

Ich erinnere mich, wie ich als Kind einmal sah, wie der Welpe unserer Familie zum ersten Mal mit Schnee in Berührung kam. Er war schockiert, erfreut und überwältigt, wedelte nervös mit dem Schwanz, schnüffelte in dieser seltsamen, flockigen Substanz herum und fiepte vor lauter Neugier. Am Morgen seines ersten Schneefalls war es nicht viel kälter als am Abend zuvor. Am Abend zuvor hatte es vielleicht +1 Grad gehabt, jetzt waren es -1 Grad. Es hatte sich also fast nichts verändert und doch – und das war das Erstaunliche – hatte sich alles verändert. Aus dem Regen war etwas ganz anderes geworden. Schnee! Wir alle sind im Grunde genommen Gradualisten, unsere Erwartungen werden durch den stetigen Lauf der Zeit bestimmt. Aber die Welt des Kipppunktes ist ein Ort, an dem das Unerwartete erwartet wird, an dem radikale Veränderungen mehr als nur möglich sind. Er ist – entgegen all unseren Erwartungen – eine Gewissheit.

Um diese radikale Idee zu verfolgen, werde ich Sie nach Baltimore mitnehmen, um von der Syphilis-Epidemie in dieser Stadt zu lernen. Ich werde Ihnen drei faszinierende Arten von Menschen vorstellen, die ich „Mavens“, „Vermittler“ und „Verkäufer“ nenne und die eine entscheidende Rolle bei den Mundpropaganda-Epidemien spielen, die unseren Geschmack und unsere Trends und Moden bestimmen. Ich nehme Sie mit zum Set der Kindersendungen „Sesamstraße“ und „Blue’s Clues“ und in die faszinierende Welt des Mannes, der den Columbia Record Club mitbegründet hat, um zu sehen, wie Botschaften so strukturiert werden können, dass sie die größtmögliche Wirkung auf alle Zuhörer haben. Ich nehme Sie mit in ein Hightech-Unternehmen in Delaware, um über die Kipppunkte zu sprechen, die das Gruppenleben bestimmen, und in die U-Bahnen von New York City, um zu verstehen, wie die Kriminalitätsepidemie dort beendet werden konnte. Bei all dem geht es darum, zwei einfache Fragen zu beantworten, die im Mittelpunkt dessen stehen, was wir alle als Erzieher, Eltern, Marketingfachleute, Geschäftsleute und politische Entscheidungsträger erreichen möchten. Warum lösen einige Ideen, Verhaltensweisen oder Produkte Epidemien aus und andere nicht? Und was können wir tun, um selbst absichtlich positive Epidemien auszulösen und zu kontrollieren?

EINS Die drei Regeln der Epidemien

Mitte der 1990er-Jahre wurde die Stadt Baltimore von einer Syphilis-Epidemie heimgesucht. Innerhalb eines Jahres, von 1995 bis 1996, stieg die Zahl der Kinder, die mit dieser Krankheit geboren wurden, um 500 Prozent. Betrachtet man die Syphilisraten von Baltimore in einem Diagramm, so verläuft die Linie jahrelang gerade und steigt dann ab 1995 fast im rechten Winkel an.

Wodurch kippte das Syphilisproblem in Baltimore? Nach Angaben der Centers for Disease Control war das Problem Crack. Crack ist dafür bekannt, dass es zu einem dramatischen Anstieg der Art von riskantem Sexualverhalten führt, das die Verbreitung von Krankheiten wie HIV und Syphilis begünstigt. Es zieht zahlreiche Menschen zum Kauf von Drogen in arme Gegenden, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie eine Infektion mit nach Hause in ihr Viertel nehmen. Zudem verändert es die Muster der sozialen Verbindungen zwischen den Vierteln. Crack, so die CDC, war der kleine Anstoß, den das Syphilisproblem brauchte, um sich zu einer rasenden Epidemie zu entwickeln.

John Zenilman von der Johns Hopkins University in Baltimore, ein Experte für sexuell übertragbare Krankheiten, hat eine weitere Erklärung: den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung in den ärmsten Vierteln der Stadt. „In den Jahren 1990 und 1991 hatten wir 36.000 Patientenbesuche in den städtischen Kliniken für sexuell übertragbare Krankheiten“, sagt Zenilman. „Dann beschloss die Stadt, aufgrund von Haushaltsproblemen schrittweise zu kürzen. Die Zahl der Kliniker [medizinisches Personal] sank von 17 auf zehn. Die Zahl der Ärzte sank von drei auf fast null. Die Zahl der Patientenbesuche sank auf 21.000. In ähnlicher Weise sank auch die Zahl der Außendienstmitarbeiter. Es wurde viel Politik gemacht – Maßnahmen, die sonst üblich waren, wie Computer-Upgrades, wurden nicht durchgeführt. Es war das schlimmste Szenario einer nicht funktionierenden städtischen Bürokratie. Ihnen gingen die Medikamente aus.“

Bei 36.000 Patientenbesuchen pro Jahr in den STD-Kliniken in der Innenstadt von Baltimore wurde die Krankheit also im Gleichgewicht gehalten. Irgendwann zwischen 36.000 und 21.000 Patientenbesuchen pro Jahr, so Zenilman, brach die Krankheit aus. Sie begann, aus der Innenstadt auf die Straßen und Autobahnen zu schwappen, die diese Viertel mit dem Rest der Stadt verbinden. Plötzlich steckten Menschen, die vielleicht eine Woche lang infektiös gewesen wären, bevor sie behandelt worden wären, andere zwei, drei oder vier Wochen lang an, bevor sie geheilt wurden. Durch den Zusammenbruch der Behandlung wurde die Syphilis zu einem viel größeren Problem als zuvor.

Es gibt eine dritte Theorie, die von John Potterat, einem der führenden Epidemiologen des Landes, vertreten wird. Er macht die physischen Veränderungen in jenen Jahren verantwortlich, die East und West Baltimore betrafen, die stark notleidenden Viertel zu beiden Seiten der Innenstadt von Baltimore, in denen sich das Syphilisproblem konzentrierte. Mitte der 1990er-Jahre begann die Stadt Baltimore mit einer öffentlichkeitswirksamen Politik der Sprengung der alten Hochhäuser im Stil der 1960er-Jahre in East und West Baltimore, wie er betont. Zwei der öffentlichkeitswirksamsten Abrisse – Lexington Terrace in West Baltimore und Lafayette Courts in East Baltimore – waren riesige Bauprojekte, in denen Hunderte von Familien lebten und die als Zentren für Kriminalität und Infektionskrankheiten dienten. Gleichzeitig begannen die Menschen, aus den alten Reihenhäusern in East und West Baltimore auszuziehen, da diese ebenfalls zu verfallen begannen.

„Es war absolut frappierend“, sagt Potterat über das erste Mal, als er durch East und West Baltimore reiste. „50 Prozent der Reihenhäuser waren mit Brettern vernagelt und es gab auch eine fortschreitende Zerstörung von Gebäuden. Das führte zu einer Art Entkernung und verstärkte die Zersplitterung. Jahrelang war die Syphilis auf eine bestimmte Region von Baltimore beschränkt, innerhalb sehr enger soziosexueller Netzwerke. Durch den Prozess der Wohnungsverlagerung kamen diese Menschen in andere Teile von Baltimore und sie brachten ihre Syphilis und andere Verhaltensweisen mit.“

Interessant an diesen drei Erklärungen ist, dass keine von ihnen wirklich dramatisch ist. Die CDC dachte, dass Crack das Problem sei. Aber es war ja nicht so, dass Crack 1995 zum ersten Mal nach Baltimore kam. Es war dort schon seit Jahren vorhanden. Was sie sagten, war, dass das Crack-Problem Mitte der 1990er-Jahre schleichend zunahm, und diese Veränderung reichte aus, um die Syphilis-Epidemie auszulösen. Zenilman sagte auch nicht, dass die STD-Kliniken in Baltimore geschlossen wurden. Sie wurden einfach verkleinert, die Zahl der Ärzte wurde von 17 auf zehn reduziert. Potterat sagte auch nicht, dass ganz Baltimore entkernt wurde. Es bedurfte nur des Abrisses einer Handvoll Sozialwohnungssiedlungen und der Aufgabe von Häusern in wichtigen Stadtvierteln, um die Syphilis in die Höhe zu treiben. Es bedarf nur kleinster Veränderungen, um das Gleichgewicht einer Epidemie zu stören.

Die zweite und vielleicht interessantere Tatsache bei diesen Erklärungen ist, dass sie alle eine sehr unterschiedliche Art und Weise des Ausbruchs einer Epidemie beschreiben. Die CDC spricht über den Gesamtzusammenhang der Krankheit – wie die Einführung und Zunahme einer süchtig machenden Droge die Umgebung einer Stadt so verändern kann, dass sich eine Krankheit ausbreitet. Zenilman spricht von der Krankheit selbst. Als bei den Kliniken der Rotstift angesetzt wurde, bekam die Syphilis ein zweites Leben. Sie war eine akute Infektion gewesen – nun wurde sie zu einer chronischen Infektion. Sie war zu einem langwierigen Problem geworden, das wochenlang bestehen blieb. Potterat seinerseits konzentrierte sich auf die Menschen, die Syphilis in sich trugen. Syphilis sei eine Krankheit, die von einer bestimmten Art von Menschen in Baltimore übertragen werde – von sehr armen, wahrscheinlich Drogen konsumierenden und sexuell aktiven Menschen. Wenn eine solche Person plötzlich aus ihrer alten Nachbarschaft in eine neue gebracht würde – in einen neuen Teil der Stadt, wo Syphilis noch nie ein Problem gewesen war –, hätte die Krankheit die Möglichkeit, sich auszubreiten.

Es gibt also mehr als nur einen Weg, eine Epidemie auszulösen. Epidemien sind eine Funktion der Menschen, die Infektionserreger übertragen, des Infektionserregers selbst und der Umgebung, in der der Infektionserreger wirkt. Und wenn eine Epidemie kippt, wenn sie aus dem Gleichgewicht gerät, kippt sie, weil in einem (oder zwei oder drei) dieser Bereiche etwas passiert ist, eine Veränderung stattgefunden hat. Diese drei Faktoren der Veränderung nenne ich das Gesetz der Wenigen, den Verankerungsfaktor und die Macht des Kontextes.

1.

Wenn wir sagen, dass eine Handvoll Kinder aus dem East Village die Hush-Puppies-Epidemie ausgelöst hat oder die Zersplitterung der Lebensumstände der Bewohner einiger Sozialwohnungssiedlungen ausgereicht hat, um die Syphilis-Epidemie in Baltimore auszulösen, dann wollen wir damit sagen, dass in einem bestimmten Prozess oder System einige Menschen wichtiger sind als andere. Auf den ersten Blick ist dies kein besonders radikaler Gedanke. Wirtschaftswissenschaftler sprechen oft vom 80/20-Prinzip, das besagt, dass in jeder Situation etwa 80 Prozent der „Arbeit“ von 20 Prozent der Beteiligten erledigt wird. In den meisten Gesellschaften begehen 20 Prozent der Kriminellen 80 Prozent der Verbrechen. 20 Prozent der Autofahrer verursachen 80 Prozent aller Unfälle. 20 Prozent der Biertrinker trinken 80 Prozent des gesamten Bieres. Bei Epidemien wird diese Disproportionalität jedoch noch extremer: Ein winziger Prozentsatz der Menschen leistet den Großteil der Arbeit.

Potterat analysierte zum Beispiel einmal eine Gonorrhoe-Epidemie in Colorado Springs, Colorado, und betrachtete alle Personen, die sich innerhalb von sechs Monaten in einer öffentlichen Klinik wegen der Krankheit behandeln ließen. Er fand heraus, dass etwa die Hälfte aller Fälle aus vier Vierteln stammte, die etwa sechs Prozent des geografischen Gebiets der Stadt ausmachten. Die Hälfte dieser sechs Prozent wiederum verkehrte in denselben sechs Bars. Potterat befragte dann 768 Personen dieser winzigen Untergruppe und stellte fest, dass 600 von ihnen entweder niemanden mit Tripper angesteckt hatten oder nur eine einzige andere Person angesteckt hatten. Diese Menschen bezeichnete er als Nichtüberträger. Die restlichen 168 waren diejenigen, die die Epidemie auslösten – diejenigen, die zwei, drei, vier oder fünf andere mit ihrer Krankheit infizierten. Mit anderen Worten: In der gesamten Stadt Colorado Springs – einer Stadt mit weit über 100.000 Einwohnern – kippte die Gonorrhoe-Epidemie aufgrund der Aktivitäten von 168 Personen, die in vier kleinen Stadtvierteln lebten und im Wesentlichen dieselben sechs Bars besuchten.

Wer waren diese 168 Menschen? Sie sind nicht wie Sie oder ich. Es sind Menschen, die jede Nacht ausgehen, Menschen, die wesentlich mehr Sexualpartner haben als die Norm, Menschen, deren Leben und Verhalten weit aus dem Rahmen des Üblichen fallen. Mitte der 1990er-Jahre gab es zum Beispiel in den Billardhallen und auf den Rollschuhbahnen von East St. Louis, Missouri, einen Mann namens Darnell „Boss Man“ McGee. Er war groß – über 1,80 m – und charmant, ein talentierter Rollschuhläufer, der junge Mädchen mit seinen Leistungen auf der Bahn begeisterte. Seine Spezialität waren 13- und 14-jährige Mädchen. Er kaufte ihnen Schmuck, nahm sie mit auf Spritztouren in seinem Cadillac, machte sie mit Crack high und hatte Sex mit ihnen. Zwischen 1995 und 1997, als er von einem unbekannten Angreifer erschossen wurde, schlief er mit mindestens 100 Frauen und infizierte – wie sich später herausstellte – mindestens 30 von ihnen mit HIV.

Im gleichen Zeitraum von zwei Jahren trieb sich in der Nähe von Buffalo, New York, ein anderer Mann – eine Art Klon des Boss Man – in den heruntergekommenen Straßen der Innenstadt von Jamestown herum. Sein Name war Nushawn Williams, obwohl er auch unter den Namen „Face“, „Sly“ und „Shyteek“ bekannt war. Williams trieb es gleichzeitig mit Dutzenden von Mädchen, unterhielt drei oder vier verschiedene Wohnungen in der Stadt und finanzierte sich durch den Schmuggel von Drogen aus der Bronx. (Ein mit dem Fall vertrauter Epidemiologe sagte mir ganz offen: „Der Mann war ein Genie. Wenn ich mit dem, was Williams getan hat, davonkommen würde, müsste ich nie wieder einen Tag in meinem Leben arbeiten.“) Williams war, wie der Boss, ein Charmeur. Er kaufte seinen Freundinnen Rosen, ließ sie sein langes Haar flechten und veranstaltete in seinen Wohnungen nächtelange Marihuana- und Starkbierorgien. „Ich habe 3- oder 4-mal in einer Nacht mit ihm geschlafen“, erinnert sich eine seiner Partnerinnen. „Ich und er, wir haben ständig zusammen gefeiert … Nachdem Face Sex hatte, taten es seine Freunde auch. Wenn der eine hinausging, kam ein anderer schon wieder zur Tür herein.“ Williams befindet sich jetzt im Gefängnis. Es ist bekannt, dass er mindestens 16 seiner ehemaligen Freundinnen mit dem AIDS-Virus infiziert hat. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang das Buch „And the Band Played On“, in dem Randy Shilts ausführlich über den sogenannten AIDS-Patienten Zero (Patient Null) berichtet, den frankokanadischen Flugbegleiter Gaetan Dugas, der nach eigenen Angaben 2.500 Sexualpartner in ganz Nordamerika hatte und mit mindestens 40 der ersten AIDS-Fälle in Kalifornien und New York in Verbindung gebracht wurde. Es sind solche Menschen, die Krankheitsepidemien auslösen.

Soziale Epidemien funktionieren auf die gleiche Weise. Auch sie werden durch die Aktivitäten einer Handvoll außergewöhnlicher Menschen angetrieben. In diesem Fall sind es nicht die sexuellen Begierden, die sie auszeichnen. Es geht darum, wie kontaktfreudig sie sind, wie energisch oder kenntnisreich oder wie einflussreich sie unter ihresgleichen sind. Im Fall von Hush Puppies ist es ein großes Rätsel, wie diese Schuhe von etwas, das von ein paar modebewussten Hipstern in Downtown Manhattan getragen wurde, zu etwas wurden, das in Einkaufszentren im ganzen Land verkauft wird. Was war die Verbindung zwischen dem East Village und Mittelamerika? Nach dem Gesetz der Wenigen lautet die Antwort, dass einer dieser außergewöhnlichen Menschen von dem Trend erfuhr und durch seine sozialen Beziehungen, seine Energie, seinen Enthusiasmus und seine Persönlichkeit Hush Puppies verbreitete, so wie Menschen wie Gaetan Dugas und Nushawn Williams in der Lage waren, HIV zu verbreiten.

2.

Als in Baltimore die öffentlichen Kliniken der Stadt Kürzungen erfuhren, änderte sich die Art der Syphilis in den Armenvierteln der Stadt. Früher handelte es sich um eine akute Infektion, bei der die meisten Menschen relativ schnell behandelt werden konnten, bevor sie die Gelegenheit hatten, viele andere anzustecken. Doch mit den Kürzungen wurde die Syphilis zunehmend zu einer chronischen Krankheit und die Träger der Krankheit hatten 3-, 4- oder 5-mal länger Zeit, ihre Infektion weiterzugeben. Epidemien kippen aufgrund der außergewöhnlichen Anstrengungen einiger weniger ausgewählter Träger. Aber sie kippen manchmal auch, wenn sich der Erreger der Epidemie selbst verändert.

Dies ist ein bekannter Grundsatz in der Virologie. Die Grippestämme, die zu Beginn einer Grippe-Epidemie im Winter zirkulieren, unterscheiden sich deutlich von den Grippestämmen, die am Ende zirkulieren. Die berühmteste Grippe-Epidemie von allen – die Pandemie von 1918 – wurde erstmals im Frühjahr desselben Jahres entdeckt und war, relativ gesehen, recht harmlos. Doch im Laufe des Sommers veränderte sich das Virus auf seltsame Weise und tötete in den folgenden sechs Monaten weltweit zwischen 20 und 40 Millionen Menschen. An der Art und Weise, wie das Virus verbreitet wurde, hatte sich nichts geändert. Aber das Virus war plötzlich sehr viel tödlicher geworden.

Der niederländische AIDS-Forscher Jaap Goudsmit vertritt die Ansicht, dass diese Art von dramatischem Wandel auch bei HIV stattgefunden hat. Goudsmit konzentriert sich in seiner Arbeit auf die sogenannte Pneumocystis-carinii-Pneumonie (PCP). Jeder von uns trägt das Bakterium in seinem Körper, wahrscheinlich seit seiner Geburt oder unmittelbar danach. Bei den meisten von uns ist es harmlos. Unser Immunsystem hält es leicht in Schach. Wenn aber etwas wie HIV unser Immunsystem vernichtet, wird es so unkontrollierbar, dass es eine tödliche Form der Lungenentzündung verursachen kann. PCP kommt bei AIDS-Patienten so häufig vor, dass sie inzwischen als ein fast sicheres Anzeichen für das Vorhandensein des Virus angesehen wird. Goudsmit hat in der medizinischen Literatur nach Fällen von PCP gesucht und was er gefunden hat, ist erschreckend. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es, ausgehend von der Ostseehafenstadt Danzig, eine PCP-Epidemie, der Tausende von Kleinkindern zum Opfer fielen.

Goudsmit hat eine der am stärksten von der PCP-Epidemie betroffenen Städte analysiert, die Bergbaustadt Heerlen in der niederländischen Provinz Limburg. In Heerlen gab es ein Ausbildungskrankenhaus für Hebammen, die sogenannte Kweekschool voor Vroedvrouwen, von der in den 1950er-Jahren eine Einheit – die sogenannte Schwedenbaracke – als Spezialstation für untergewichtige oder frühgeborene Säuglinge genutzt wurde. Zwischen Juni 1955 und Juli 1958 erkrankten 81 Säuglinge in der Schwedenbaracke an PCP und 24 starben. Goudsmit geht davon aus, dass es sich um eine frühe HIV-Epidemie handelte und dass das Virus irgendwie in das Krankenhaus gelangte und durch die damals offenbar übliche Praxis, dieselben Nadeln immer wieder für Bluttransfusionen oder Antibiotika-Injektionen zu verwenden, von Kind zu Kind übertragen wurde. Er schreibt:

Höchstwahrscheinlich hat mindestens ein Erwachsener – wahrscheinlich ein Bergarbeiter aus Polen, der Tschechoslowakei oder Italien – das Virus nach Limburg gebracht. Dieser eine Erwachsene könnte unbemerkt an AIDS gestorben sein … Er könnte das Virus auf seine Frau und seine Nachkommen übertragen haben. Seine infizierte Frau (oder Freundin) könnte in einer Schwedenbaracke ein Kind zur Welt gebracht haben, das HIV-infiziert, aber scheinbar gesund war. Unsterilisierte Nadeln und Spritzen könnten das Virus von Kind zu Kind übertragen haben.

Das wirklich Seltsame an dieser Geschichte ist natürlich, dass nicht alle Kinder starben. Nur ein Drittel tat es. Die anderen schafften, was heute fast unmöglich erscheint. Sie besiegten HIV, spülten das Virus aus ihrem Körper und lebten danach gesund weiter. Mit anderen Worten: Die HIV-Stämme, die in den 1950er-Jahren im Umlauf waren, unterschieden sich erheblich von den HIV-Stämmen, die heute im Umlauf sind. Sie waren genauso ansteckend. Aber sie waren so schwach, dass die meisten Menschen – sogar kleine Kinder – sie abwehren und überleben konnten. Die HIV-Epidemie kippte in den frühen 1980er-Jahren, und zwar nicht nur wegen der enormen Veränderungen im Sexualverhalten der schwulen Gemeinschaften, die eine rasche Ausbreitung des Virus ermöglichten. Sie kippte auch, weil sich HIV selbst veränderte. Aus dem einen oder anderen Grund wurde das Virus viel tödlicher. Wenn man einmal infiziert war, blieb man infiziert. Es blieb haften.

Diese Vorstellung von der Bedeutung der Ansteckungsgefahr beim Kippen hat auch enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir soziale Epidemien betrachten. Wir neigen dazu, viel Zeit damit zu verbringen, darüber nachzudenken, wie wir Botschaften ansteckender machen können – wie wir so viele Menschen wie möglich mit unseren Produkten oder Ideen erreichen können. Der schwierige Teil der Kommunikation besteht jedoch oft darin, herauszufinden, wie man sicherstellt, dass eine Botschaft nicht zum einen Ohr herein- und zum anderen wieder hinausgeht. Verankerung bedeutet, dass eine Botschaft eine Wirkung hat. Man kann sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sie bleibt in Ihrem Gedächtnis haften. Als die Winston-Filterzigaretten im Frühjahr 1954 auf den Markt kamen, warb das Unternehmen beispielsweise mit dem Slogan „Winston tastes good like a cigarette should“. Damals sorgte die ungrammatische und irgendwie provokante Verwendung von „like“ anstelle von „as“ für eine kleine Sensation. Es war die Art von Phrase, über die man sprach, wie der berühmte Wendy’s-Slogan von 1984 „Where’s the beef?“ In seiner Geschichte der Zigarettenindustrie schreibt Richard Kluger, dass die Vermarkter bei R. J. Reynolds, das Winston verkauft, „über die Aufmerksamkeit erfreut waren“ und „den aneckenden Slogan zum Text eines schwungvollen kleinen Jingles im Fernsehen und Radio machten und ihre Syntax ironisch als Umgangssprache und nicht als schlechte Grammatik verteidigten“. Innerhalb weniger Monate nach ihrer Einführung eroberte die Winston dank dieses eingängigen Slogans den zweiten Platz auf dem amerikanischen Zigarettenmarkt hinter der Viceroy und überholte Parliament, Kent und L&M. Innerhalb weniger Jahre war sie die meistverkaufte Marke des Landes. Wenn man heute zu den meisten Amerikanern sagt: „Winston tastes good“, können sie den Satz mit „like a cigarette should“ beenden. Das ist ein klassischer, im Gedächtnis verankerter Werbespruch und diese Verankerung im Gedächtnis ein entscheidender Faktor für das Kippen. Wenn Sie sich nicht an das erinnern, was ich Ihnen sage, warum sollten Sie dann jemals Ihr Verhalten ändern oder mein Produkt kaufen oder meinen Film sehen?

Der Verankerungsfaktor besagt, dass es bestimmte Möglichkeiten gibt, eine ansteckende Botschaft einprägsam zu machen; es gibt relativ einfache Änderungen in der Präsentation und Strukturierung von Informationen, die einen großen Unterschied in der Wirkung ausmachen können.

3.

Jedes Mal, wenn jemand in Baltimore zur Behandlung von Syphilis oder Tripper in eine öffentliche Klinik kommt, gibt John Zenilman seine Adresse in seinen Computer ein, sodass der Fall als kleiner schwarzer Stern auf einer Karte der Stadt erscheint. Das ist so etwas wie die medizinische Version der Karten, die die Polizeidienststellen an ihren Wänden aufhängen, mit Stecknadeln, die markieren, wo Verbrechen stattgefunden haben. Auf Zenilmans Karte sind die Stadtteile East und West Baltimore auf beiden Seiten des Stadtzentrums besonders dicht mit schwarzen Sternen übersät. Von diesen beiden Punkten aus strahlen die Fälle nach außen entlang der beiden zentralen Straßen aus, die zufällig durch beide Stadtteile verlaufen. Im Sommer, wenn die Häufigkeit sexuell übertragbarer Krankheiten am höchsten ist, häufen sich die schwarzen Sterne an den Straßen, die aus East und West Baltimore herausführen, mit Fällen. Die Krankheit ist auf dem Vormarsch. Doch in den Wintermonaten ändert sich die Karte. Wenn das Wetter kalt wird und die Menschen in East und West Baltimore eher zu Hause bleiben, weg von den Bars, Klubs und Straßenecken, wo es zu sexuellen Handlungen kommt, verblassen die Sterne in den einzelnen Vierteln.

Der saisonale Effekt auf die Zahl der Fälle ist so stark, dass es nicht schwer ist, sich vorzustellen, dass ein langer, harter Winter in Baltimore ausreichen könnte, um das Wachstum der Syphilis-Epidemie zu verlangsamen oder wesentlich zu verringern – zumindest für die Saison.

Die Karte von Zenilman zeigt, dass Epidemien stark von ihrer Situation beeinflusst werden – von den Umständen, Bedingungen und Besonderheiten des Umfelds, in dem sie auftreten. So viel ist klar. Interessant ist jedoch, wie weit dieses Prinzip ausgedehnt werden kann. Es sind nicht nur prosaische Faktoren wie das Wetter, die das Verhalten beeinflussen. Auch die kleinsten, subtilsten und unerwartetsten Faktoren können unser Verhalten beeinflussen. Einer der berüchtigtsten Vorfälle in der Geschichte von New York City war zum Beispiel die Messerstecherei im Jahr 1964, bei der eine junge Frau aus Queens namens Kitty Genovese getötet wurde. Genovese wurde von ihrem Angreifer verfolgt und im Laufe einer halben Stunde 3-mal auf der Straße angegriffen, während 38 ihrer Nachbarn von ihren Fenstern aus zusahen. Während dieser Zeit rief jedoch keiner der 38 Zeugen die Polizei. Der Fall löste eine Reihe von Selbstvorwürfen aus. Er wurde zum Symbol für die Gefühlskälte und die Menschenfeindlichkeit des städtischen Lebens. Abe Rosenthal, der später Redakteur der New York Times werden sollte, schrieb in einem Buch über den Fall:

Niemand kann sagen, warum die 38 nicht den Hörer abgenommen haben, während Miss Genovese angegriffen wurde, da sie es selbst nicht sagen können. Man kann jedoch davon ausgehen, dass ihre Apathie in der Tat ein Großstadtmerkmal war. Wenn man von Millionen von Menschen umgeben und bedrängt wird, ist es fast eine Frage des psychologischen Überlebens, zu verhindern, dass sie ständig Einfluss auf einen nehmen, und die einzige Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, sie so oft wie möglich zu ignorieren. Gleichgültigkeit gegenüber dem Nachbarn und seinen Problemen ist ein konditionierter Reflex im Leben in New York wie in anderen Großstädten.

Eine solche umweltorientierte Erklärung ergibt für uns intuitiv Sinn. Die Anonymität und Entfremdung des Lebens in der Großstadt machen die Menschen hart und gefühllos. Die Wahrheit über Genovese stellt sich jedoch als etwas komplizierter – und interessanter – heraus. Zwei Psychologen aus New York City – Bibb Latane von der Columbia University und John Darley von der New York University – führten in der Folge eine Reihe von Studien durch, um zu verstehen, was sie als das „Bystander-Problem“ bezeichneten. Sie inszenierten Notfälle der einen oder anderen Art in verschiedenen Situationen, um zu sehen, wer kommen und helfen würde. Überraschenderweise stellten sie fest, dass der wichtigste Faktor, der das Hilfeverhalten vorhersagte, die Anzahl der Zeugen des Ereignisses war.

In einem Experiment ließen Latane und Darley zum Beispiel einen Studenten allein in einem Raum einen epileptischen Anfall vortäuschen. Wenn nur eine Person nebenan zuhörte, eilte diese Person dem Studenten in 85 Prozent der Fälle zu Hilfe. Wenn die Versuchspersonen jedoch dachten, dass vier andere Personen den Anfall ebenfalls mithörten, kamen sie dem Studenten nur in 31 Prozent der Fälle zu Hilfe. In einem anderen Experiment meldeten Personen, die Rauch unter einem Türrahmen hervorquellen sahen, dies in 75 Prozent der Fälle, wenn sie allein waren, aber nur in 38 Prozent der Fälle, wenn sie in einer Gruppe waren. Wenn Menschen in einer Gruppe sind, wird die Verantwortung für ihr Handeln also verteilt. Sie gehen davon aus, dass jemand anderes den Anruf tätigen wird, oder sie gehen davon aus, dass das offensichtliche Problem – die krampfartigen Geräusche aus dem anderen Zimmer, der Rauch aus der Tür – nicht wirklich ein Problem ist, weil niemand anderes handelt. Im Fall von Kitty Genovese, so argumentieren Sozialpsychologen wie Latane und Darley, besteht die Lehre nicht darin, dass niemand angerufen hat, obwohl 38 Menschen ihre Schreie gehört haben, sondern darin, dass niemand angerufen hat, weil 38 Menschen ihre Schreie gehört haben. Ironischerweise hätte sie vielleicht überlebt, wenn sie auf einer einsamen Straße mit nur einem Zeugen angegriffen worden wäre.

Der Schlüssel, um Menschen dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern, das heißt sich um ihren Nächsten in Not zu kümmern, liegt manchmal in den kleinsten Details ihrer unmittelbaren Situation. Die Macht des Kontextes besagt, dass Menschen viel sensibler auf ihre Umgebung reagieren, als es vielleicht den Anschein hat.

4.

Die drei Regeln des Kipppunktes – das Gesetz der Wenigen, der Verankerungsfaktor, die Macht des Kontextes – bieten eine Möglichkeit, Epidemien zu verstehen. Sie geben uns eine Richtung vor, wie wir einen Kipppunkt erreichen können. Im weiteren Verlauf dieses Buches werden diese Ideen auf andere rätselhafte Situationen und Epidemien in unserer Umgebung angewandt. Wie helfen uns diese drei Regeln, zum Beispiel das Rauchen bei Jugendlichen, das Phänomen der Mundpropaganda, die Kriminalität oder den Aufstieg eines Bestsellers zu verstehen? Die Antworten werden Sie vielleicht überraschen.

ZWEI Das Gesetz der WenigenVermittler, Kenner und Verkäufer

Am Nachmittag des 18. April 1775 hörte ein Junge, der in einem Pferdestall in Boston arbeitete, wie ein britischer Offizier zu einem anderen sagte: „Morgen wird die Hölle los sein.“ Der Stallbursche rannte mit dieser Nachricht zum Bostoner North End, zum Haus eines Silberschmieds namens Paul Revere. Revere hörte ernst zu; dies war nicht das erste Gerücht, das ihm an diesem Tag zu Ohren kam. Zuvor hatte man ihm von einer ungewöhnlichen Anzahl britischer Offiziere berichtet, die sich am Bostoner Long Wharf versammelt hatten und leise miteinander sprachen. Britische Besatzungsmitglieder waren in den Booten gesichtet worden, die unter der HMS Somerset und der HMS Boyne im Hafen von Boston festgemacht hatten. Mehrere andere Seeleute wurden an diesem Morgen an Land gesehen, wo sie anscheinend letzte Besorgungen machten. Im Laufe des Nachmittags waren Revere und sein enger Freund Joseph Warren mehr und mehr davon überzeugt, dass die Briten im Begriff waren, den Großangriff zu unternehmen, über den seit Langem gemunkelt wurde – zur Stadt Lexington nordwestlich von Boston zu marschieren, um die Kolonialherren John Hancock und Samuel Adams zu verhaften, und dann weiter zur Stadt Concord zu ziehen, um die Waffen- und Munitionsvorräte zu beschlagnahmen, die einige der örtlichen Kolonialmilizen dort gelagert hatten.

Was dann geschah, ist Teil der historischen Legende geworden, eine Geschichte, die jedem amerikanischen Schulkind erzählt wird. Um 22 Uhr an diesem Abend trafen sich Warren und Revere. Sie beschlossen, die Gemeinden in der Umgebung von Boston zu warnen, dass die Briten auf dem Weg waren, damit die örtliche Miliz geweckt werden konnte, um sie zu empfangen. Revere wurde über den Hafen von Boston zum Fähranleger in Charlestown gebracht. Er schwang sich auf ein Pferd und begann seinen „Mitternachtsritt“ nach Lexington. In zwei Stunden legte er 21 Kilometer zurück. In jeder Stadt, die er auf seinem Weg durchquerte – Charlestown, Medford, North Cambridge, Menotomy –, klopfte er an die Türen und verbreitete die Nachricht, indem er den örtlichen Kolonialherren von den anrückenden Briten erzählte und sie aufforderte, die Nachricht an andere weiterzugeben. Die Kirchenglocken begannen zu läuten. Die Trommeln begannen zu schlagen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Virus, denn die von Paul Revere informierten Personen schickten ihre eigenen Reiter aus, bis in der gesamten Region Alarm ausgelöst wurde. Um ein Uhr morgens war die Nachricht in Lincoln, Massachusetts, um drei Uhr in Sudbury, um fünf Uhr morgens in Andover, 64 Kilometer nordwestlich von Boston, und um neun Uhr morgens war sie bis nach Ashby in der Nähe von Worcester vorgedrungen. Als die Briten schließlich am Morgen des 19. ihren Marsch auf Lexington begannen, stießen sie bei ihrem Vorstoß auf dem Lande – zu ihrem großen Erstaunen – auf organisierten und erbitterten Widerstand. In Concord trat den Briten an diesem Tag die Kolonialmiliz entgegen und schlug sie vernichtend. Aus dieser Auseinandersetzung entstand der Krieg, der als Amerikanische Revolution bekannt wurde.

Der Ritt von Paul Revere ist vielleicht das berühmteste historische Beispiel für eine Mundpropaganda-Epidemie. Eine außergewöhnliche Nachricht verbreitete sich in kürzester Zeit über weite Strecken und mobilisierte eine ganze Region zu den Waffen. Natürlich sind nicht alle Mundpropaganda-Epidemien so sensationell. Aber man kann mit Sicherheit sagen, dass die Mundpropaganda – selbst im Zeitalter der Massenkommunikation und millionenschwerer Werbekampagnen – immer noch die wichtigste Form der menschlichen Kommunikation ist. Denken Sie einmal an das letzte teure Restaurant, in das Sie gegangen sind, das letzte teure Kleidungsstück, das Sie gekauft haben, und den letzten Film, den Sie gesehen haben. In wie vielen dieser Fälle wurde Ihre Entscheidung, wo Sie Ihr Geld ausgeben wollten, durch die Empfehlung eines Freundes beeinflusst? Es gibt viele Werbefachleute, die der Meinung sind, dass die Mundpropaganda gerade wegen der schieren Allgegenwart von Marketingmaßnahmen heutzutage die einzige Art der Überzeugung ist, auf die die meisten von uns noch reagieren.

Trotzdem bleibt die Mundpropaganda sehr mysteriös. Menschen geben ständig alle möglichen Informationen aneinander weiter. Aber nur in seltenen Fällen löst ein solcher Austausch eine Mundpropaganda-Epidemie aus. In meiner Nachbarschaft gibt es ein kleines Restaurant, das ich liebe und von dem ich meinen Freunden schon seit sechs Monaten erzähle. Aber es ist immer noch halb leer. Meine Empfehlung reicht offensichtlich nicht aus, um eine Mundpropaganda-Epidemie auszulösen, und doch gibt es Restaurants, die meiner Meinung nach nicht besser sind als das in meiner Nachbarschaft, die eröffnen und innerhalb weniger Wochen die Kunden abweisen. Woran liegt es, dass einige Ideen, Trends und Botschaften „kippen“ und andere nicht?

Im Falle des Rittes von Paul Revere scheint die Antwort darauf einfach zu sein. Revere hatte eine sensationelle Nachricht im Gepäck: Die Briten waren im Anmarsch. Aber wenn man sich die Ereignisse dieses Abends genauer ansieht, löst auch diese Erklärung das Rätsel nicht. Zur gleichen Zeit, als Revere seinen Ritt nördlich und westlich von Boston begann, machte ein anderer Revolutionär – ein Gerber namens William Dawes – den gleichen dringenden Botengang und arbeitete sich über die Städte