Tipsy's sonderliche Liebesgeschichte / Taft zum Kragen - Else Hueck-Dehio - E-Book

Tipsy's sonderliche Liebesgeschichte / Taft zum Kragen E-Book

Else Hueck-Dehio

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Beschreibung

Vor knapp 50 Jahren veröffentlichte die Autorin zum ertsen Mal Ihre Geschichten, die in Ihrer Heimat Estland spielen. Damals schrieb Sie in einem Vorwort: "Unser baltisches Leben ist unwiederbringlich zu Ende. In wenigen Jahrzehnten wird niemand mehr da sein, der sich noch unmittelbar erinnern könnte, wie wir in der Heimat lebten, dachten und fühlten. Da ist es für uns Ältere fast eine Verpflichtung, möglichst viel von dem, was wir noch wirklich erlebten, unseren Kindern als echtes Zeugnis zu hinterlassen. Wenn wir das nicht tun, kann es niemand mehr nachholen."

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Else Hueck-Dehio

Tipsy’s sonderlicheLiebesgeschichteTaft zum Kragen

Baltische Erzählungen

Kaufmann Verlag

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

4. Auflage 2011© 1913 Eugen Salzer-Verlag, Heilbronn© 2003 Verlag Ernst Kaufmann, LahrDieses Buch ist in der vorliegenden Form in Text und Bild urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags Ernst Kaufmann unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Nachdrucke, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Umschlaggestaltung: JACDruck und Bindung: CPI books, UlmISBN 978-3-7806-5003-0 (Druckausgabe)ISBN 978-3-7806-9204-7 (ePUB)ISBN 978-3-7806-9205-4 (Kindle-Version)

Tipsys sonderliche Liebesgeschichte

Tipsy war kein Kanarienvogel. Sie war auch kein junger Wachtelhund mit langem Behang, der sich wie Seide anfühlen konnte, wenn man ihn bürstete. Sie war kein Fohlen und kein Kätzchen. Sie war ein junges Mädchen, das noch vor der Jahrhundertwende auf einem estländischen Gut heranwuchs. Sie war natürlich auch nicht Tipsy getauft, sondern Maria-Gabriele. Aber dieser schöne und edle Name wurde von den vier älteren Brüdern nie ganz ernst genommen. Da das Kind das jüngste in der Reihe der Geschwister blieb und, als es zu laufen anfing, mit unermüdlichem Eifer versuchte, hinter den großen Brüdern herzurennen, ergab sich von selber der Name ›tagga-tips[1]‹ , aus welchem dann das zärtlichere ›Tipsy‹ wurde.

Tipsy blieb Tipsy, auch als sie längst selber reiten und schwimmen konnte, und wahrscheinlich wurde sie noch als Großmutter so gerufen, denn wir wissen alle, dass sich in unserer Heimat solche Kindernamen oft bis ins hohe Alter, ja, bis in die Todesanzeigen hinein, erhielten.

Aus dem Leben dieser Tipsy möchte ich nun eine kleine Geschichte erzählen – die Verwandten, die sie mir lächelnd zugetuschelt haben, werden mir meine leichte Indiskretion hoffentlich verzeihen, denn es handelt sich immerhin um den sonderlichen Beginn von Tipsys Liebesgeschichte.

Ich habe auch lange gezögert, ehe ich beschloss, die Geschichte aufzuschreiben. Aber nun soll es doch geschehen, und während ich dieses bedenke, freue ich mich darauf, wieder einmal die Felder und den Himmel, Fluss, Wald und Schneesturm, ja, das ganze, nie vergessene Bild der Landschaft wiederzusehen, die einst unsere Heimat war.

Zunächst wuchs Tipsy auf ihrem elterlichen Gut auf, wie unzählige junge Mädchen der damaligen Zeit schon aufgewachsen waren. Die estnische Kinderfrau wiegte sie auf ihren prallen Armen in ihre ersten Träume. Die halbdeutsche Bonne bürstete ihr die Haare und wusch ihr die Hände, wenn sie vom Sandhaufen zum Mittagessen gerufen wurde. Sie trocknete ihr auch die Tränen, wenn die großen Brüder wieder einmal auf ihren Ponys über alle Berge ritten, ohne sich um den die Händchen flehend ausstreckenden Tagga-tips zu kümmern. Dann kam die deutsche Gouvernante, Fräulein Magnus, die sich mit Ernst und Strenge um Tipsys Bildung bemühte, ihr den Handkuss und die anderen, einem wohlerzogenen Kinde zustehenden Höflichkeitsformeln beibrachte und sie dabei als einziger Mensch in der Welt stets ›Maria-Gabriele‹ nannte. Schließlich kam auch noch Mademoiselle aus der Schweiz, parlierte französisch wie ein zwitschernder Garten-Laubsänger, legte sich abends Papilloten rund um den kleinen, dunklen Kopf und duftete unnachahmlich nach Maiglöckchen.

Darüber hinaus gab es natürlich noch Papa und Mama, die, wie die Götter im Olymp, über dem ganzen Leben thronten, alles Wichtige entschieden, den Morgen- und Abendkuss in Empfang nahmen und, aus einer gewissen Entfernung betrachtet, bestaunt und geliebt werden konnten.

Und dann gab es noch Tante Addi.

Tante Addi lebte in Dorpat in einem lang gestreckten, niedrigen Holzhaus an der Breitstraße. Wenn die Familie im Herbst zur landwirtschaftlichen Ausstellung in die Stadt fuhr, stieg man bei ihr ab. Aber viel öfter, zu jeder Festzeit und wann es ihr sonst richtig schien, kam Tante Addi in ihr Elternhaus nach Ilgafer. Sie brachte Mandeln und Rosinen, das Dorpater ›Studentenfutter‹, mit, schaute nach allem, was in Küche und Schafferei, Stall und Kinderstube vor sich ging, fuhr auf die Nachbargüter, und wenn sie abends nach Hause kam, steckte sie voll der lustigsten Geschichten, über welche die Großen bei Tisch schallend lachten, während Tipsy sich meistens vergeblich bemühte, herauszukriegen, was nun eigentlich so komisch war.

Aber Tante Addi verstand es, auch Tipsy die schönsten Dinge zu erzählen, Märchen oder „wie es in meiner Jugend herging“, was ebenfalls geradezu märchenhaft klang.

So war Tipsys seelisches und charakterliches Gedeihen von allen Seiten aufs Beste umsorgt und umfriedet, und es konnte eigentlich nichts anderes aus ihr erblühen als eine ganz exemplarisch wohlgeratene Mädchenknospe.

Aber wie das im Leben so ist – gerade die Menschen, von denen man sich am meisten verspricht, führen manchmal ein verhängnisvolles Doppelleben. So auch Tipsy.

Wenn Mademoiselle um die Mittagsstunde in einem Lehnstuhl und einem broschierten französischen Roman versank und Fräulein Magnus sich in ihr Zimmer zurückzog, um ernstlich nachzudenken, dann blieb Tipsy nicht auf der Veranda sitzen, damit beschäftigt, ›Karl und Marie‹ zu lesen. Wie ein Wiesel schlüpfte sie die wenigen Holzstufen in den Garten hinunter, verschwand um die Hausecke, rannte hinter den dichten Jasmin- und Fliederbüschen entlang, bis vom Hause aus kein Mensch sie mehr sehen konnte, und wanderte dann aufatmend zur Pferdekoppel. Die zweijährigen Fohlen waren ihre besonderen Freunde. Auf ihren schlanken, blanken Rücken verstand sie sich zu schwingen, um dann, die Hände in die Mähne festgekrallt, die Schenkel eng an den warmen Pferdeleib gepresst, jagte sie über die Koppel, nun selber in einen Gott, in einen jener Olympier verwandelt.

Der wellige, stellenweise moorige, stellenweise samtgrüne Boden der Koppel war das Antlitz der Erdkugel. Das abgefressene Gestrüpp wurde zum Hain, in dem Sylphen und Dryaden hausten, die modrige, zertrampelte Tränke war der Ozean, den ein Odysseus befuhr. Die Luft aber, die um das Gesicht wehte und das Haar zerzauste, die Luft war das Element, durch das man flog, grenzenlos glücklich, grenzenlos frei. Und über sich, mit Wolken, Bläue und Licht, nur der Himmel – grenzenlos... bis das fliegende Ross, der herrliche, geflügelte Pegasus, plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und man mit dem Gesicht in seine Mähne flog. Wenn man aufblickte, sah man vor sich die dunklen, blank gewetzten Balken der Umzäunung. Ach, auch die Grenzenlosigkeit hatte ihre Grenzen!

An anderen Tagen gelang es, das Heureka-Spielgewehr von Bruder Karluscha zu klauen. Dann ging der Streifzug weiter, hinter die Hofhäuser und die große Kleete bis an den Waldrand. Dort, unter einigen Eichen, war der Schweinepirk, und wenn es in seiner Nähe auch nicht gerade nach Maiglöckchen roch wie bei Mademoiselle, so gab es dort immerhin das edle Borstenwild zu erjagen. Die Patronen von Karluschas Gewehr bestanden aus einem Stäbchen mit Gummi-Saugnapf, und wenn es glückte, eine der suhlenden Sauen richtig auf ihre Breitseite zu treffen, dann war es äußerst possierlich zu beobachten, wie das verblüffte Tier versuchte, den haftenden Pfeil wieder loszuwerden.

Einer der niedrigen, breit ausladenden Äste der Eichen war als Hochsitz für dieses Jagdunternehmen besonders geeignet, und manche Stunde des Pan, in der alles zu ruhen schien, saß auch Tipsy ganz still und ohne zu zielen dort oben und horchte nur auf das Rieseln der Sonnenhitze zwischen den Eichenblättern. Alles schwieg, der Wald, die Wiese, das moosige Dach der Kleete, die Hofhäuser zwischen ihren verwilderten Fliederhecken. Sogar das Borstenwild lag und rührte sich nicht. In der flimmernden Luft aber stand ein Ton – man konnte ihn fast nur fühlen, nicht hören – ein süßer, alles verzaubernder Flötenton.

Wenn man genauer hinhörte, konnte es vielleicht auch ein Pirol sein, der fern, fern aus den Gründen des Waldes rief. Hinter den Häusern und Parkbäumen standen nämlich, noch weiß und völlig harmlos, ein paar Gewitterwolken.

Es erwies sich leider, dass der Eichenhochsitz nicht ganz ohne Tücken und Gefahren war. Eines Mittags, als Tipsy gerade ihren Pfeil mitten auf das runde Hinterquartier einer Sau platziert hatte und mit Entzücken beobachtete, wie die alte, dicke sich bemühte, den betreffenden Körperteil an einem der Eichenstämme abzuwetzen, rauschte das Laub genau neben Tipsy auf, und ein dunkler Kopf erschien wie der Kopf eines Riesen, denn kein Mensch konnte so lang sein, dass er vom Erdboden bis zu Tipsys luftigem Hochsitz reichte.

Der Kopf sprach: „Groß ist die Diana von Ilgafer, ihr ward es vergönnt, das edle Wild aufs hintere Blatt zu treffen!“

„Ich heiße nicht Diana, sondern Tipsy“, sagte diese, die nach ihrem ersten Schreck begriff, der Riese sei ein Reiter und sogar ein bekannter Reiter, nämlich der Habichtshofsche Nachbar. Übrigens ein schon älterer Herr von etwa achtundzwanzig Jahren, denn wenn man selber zwölf Jahre zählt, sind achtundzwanzig Jahre ein beachtliches Alter.

Der Kopf neben ihr mit seiner blanken, schwarzen Locke, den dunklen Augenbrauen und dem modischen Bärtchen lächelten, und dann sprachen sie: „Sehr wohl, also: Groß ist die Tipsy von Ilgafer! Und ich bitte, die olympischen Eltern zu grüßen, ich schaue nachher vielleicht herein.“

Tipsy erhob ihre Hand erschreckt zum Munde und blickte dem Habichtshofschen so dicht und glasklar in die Augen, dass dieser schon wieder zu lächeln begann. „Nein, nein“, sagte er beruhigend, „ich werde schweigen wie das Grab. Ich weiß, was sich einer so verehrungswürdigen Persönlichkeit gegenüber gehört. Die Tipsy von Ilgafer kann sich auf mich verlassen.“

Er zog seinen Kopf zurück, lenkte sein Pferd, dessen goldbraune Flanken in der Sonne spiegelten, mit einem Schenkeldruck auf die Wiese hinaus, grüßte zu Tipsy hinauf, indem er die Reitgerte leicht an die Stirn hob, und trabte davon.

Nach diesem Erlebnis wagte Tipsy es mehrere Tage nicht, ihre Jagdgründe aufzusuchen. Aber es gab ja auch noch andere Vergnügungen, zum Beispiel das ›Katte-rattas‹, zu deutsch das Zweirad. Es war ein hochrädriger, flacher, leichter Karren, mit dem man abends schnell und bequem einen Haufen Grünfutter vom nächsten Feldrain heranholen konnte. Wenn nun einer der Knechtssöhne sich bereit erklärte, das ›Katte-rattas‹ im Trabe über die Parkwege zu ziehen, dann konnte man sich selber draufstellen und träumen, man sei eine Zirkustänzerin, die schwebend und grüßend durch das Rund der Arena gefahren würde. Die Bäume am Weg waren das Publikum, sie neigten sich und applaudierten mit ihren grünen Ast-Händen. Die Fichten waren die alten Herren, Birken waren natürlich junge Mädchen; die Silberpappeln aber, die immer, auch im leisesten Windhauch, flüsterten und ihre Blätter regten, waren die Tanten, die dauernd etwas zu tuscheln hatten.

Auf einer dieser Fahrten hatte Tipsy es nicht beachtet, dass Fräulein Magnus von ihrem Giebelfenster aus Einsicht in den Park nehmen konnte. Von oben her erscholl der markerschütternde Schrei: „Maria-Gabriele, willst du dir das Genick brechen?!“ Woraufhin der Knechtsjunge vor Schrecken stolperte, das ›Katterattas‹ sich vornüberneigte und Tipsy tatsächlich auf den Sand des Weges flog.

Die mittäglichen Zirkusvorführungen nahmen also ein Ende mit Schrecken, und zur Strafe für Tipsy wurde Wanja, der russische Gymnasiast, der den Brüdern die schwierige Staatssprache beibringen sollte, beauftragt, in der Mittagsstunde mit Tipsy russisch zu lesen.

Gleich am ersten Tage wanderten beide mit ihrem Buch einträchtig zum Ententeich hinter der Brauerei. Dort gab es Kaulquappen und junge Frösche in Massen, und um Tipsy recht zu imponieren, zeigte ihr Wanja, wie man junge Frösche lebendig verschlucken konnte. Tipsy bekam ihre glasklaren Augen, und dann rannte sie einfach davon, Wanja mit seinem Buch und seinen Fröschen sich selbst überlassend. Dieser war es zufrieden. Er setzte sich ins Gras unter eine der Weiden und begann allein zu lesen.

Tipsy hingegen flüchtete zum Roggenfeld. In einer seiner Buchten war nichts anderes zu sehen als nur die jungen, grünen Ähren, die sich auf ihre Blüte vorbereiteten, und darüber der blaue Himmel. Hier lag sie mäuschenstill, bis die Panstunde vorübergegangen war und man sich mit Anstand zum Kaffeetrinken einfinden konnte.