Titus Nervianus - Sina Blackwood - E-Book

Titus Nervianus E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Als die Kunsthandwerkerin Freya Monti mit ihrem alten Fischerkahn in Seenot gerät, wird sie von einem gutaussehenden Fremden gerettet und bis in Strandnähe gebracht. Sie verabreden sich für den nächsten Morgen. Beim Abschied verschwindet der Mann plötzlich im Wasser, als habe er nie existiert. Allen Zweifeln zum Trotz steht Freya im Morgengrauen am vereinbarten Treffpunkt. Wird der Fremde erscheinen oder hat sie sich die wundersame Begebenheit nur eingebildet?

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Inhaltsverzeichnis

In Seenot

Gaben, die von Herzen kommen

Der Ausflug

Das Unwetter

Lebensunterhalt nach Meermannart

Freundschaftsdienste

Die Dankbarkeit des Monti-Clans

Neue Herausforderungen

Mit Telepathie und Spürsinn

Nixenzorn

Outing der anderen Art

Wer anderen eine Grube gräbt

In Seenot

Vor genau sechs Jahren hatte Freya das verwilderte Grundstück mit dem baufälligen Häuschen direkt am Meer übernommen, und Stück für Stück zu einem behaglichen Schmuckstück werden lassen. Hier fand sie Inspirationen für ihre kunsthandwerklichen Arbeiten, die sie in der direkt angeschlossenen kleinen Werkstatt in wundervolle Kleinode umsetzte. Für die Nachbarn war sie bis heute eine Außenseiterin geblieben, weil sie lieber allein und und sehr zurückgezogen lebte. Allerdings war ihr Atelier auch überall bekannt, denn ihre Unikate hatten Seele.

Man wusste nicht viel über die deutschstämmige Künstlerin. Aus Presse und Fernsehen hatte man erfahren, dass sie mit einem Banker in Monaco verheiratet gewesen war, der sich nach einigen Jahren wegen Kinderlosigkeit von ihr hatte scheiden lassen. Für die meisten kein wirklicher Grund, denn Freya war hübsch, intelligent und eine angenehme Gesprächspartnerin. Das wiederum machte sie zum begehrten Jagdobjekt jener besser betuchten, vorwiegend älteren, Junggesellen, denen die Adoption eines Kindes kein Dorn im Auge gewesen wäre.

Freya hasste es, auf Partys gute Miene zum offensichtlichen Spiel zu machen. Und sie würde ganz sicher nicht zwei Mal dasselbe tun, obwohl es für sie zum absoluten Vorteil gewesen war. Man kannte international ihren Namen und schwor auf die Produkte ihrer Kreativität.

Für heute hatte sie sich vorgenommen, mit dem Boot in den nächsten Ort zu fahren, um diverses Material und dringend benötigte Werkzeuge einzukaufen. Sie füllte den Tank des Außenbordmotors noch randvoll auf, ehe sie ihre Tasche und einen kleinen Reservekanister ins Boot stellte, die Leinen löste, um bei azurblauem Himmel, den keine Wolke trübte, davon zu tuckern.

Schon nach wenigen Minuten zierte ein Dauerlächeln ihr Gesicht, denn die costa azurra, machte ihrem Namen alle Ehre. An den Uferhängen blühten zwei große Agaven, deren fast elf Meter hohe Blütenstände wie kleine Leuchttürme wirkten. Es war unbestritten schön hier und sie hatte nie bereut, das Häuschen für sich auszubauen, statt es an Feriengäste zu vermieten.

Die Einkaufstage mit dem Boot betrachtete sie fast als freie Tage, und sie fuhr weite Touren, um sich einfach nur an der Küstenlandschaft zu erfreuen.

Sie malte sich gerade aus, wie sie am Abend mit einem Glas Wein und ein paar Snacks gemütlich am Steg sitzen werde, um den Sonnenuntergang zu beobachten, als der Bootsmotor zu stottern begann. Freya hob die Augenbrauen.

„Was wird das?“, murmelte sie halblaut und ziemlich überrascht, denn sie hatte das ehemalige Fischerboot erst ein paar Tage zuvor komplett warten lassen. Sie brauchte es für all jene Dinge, die nicht ins Auto passten, und da musste es topp in Schuss sein. Da lief der Motor auch schon wieder rund. Freya atmete auf.

Eine halbe Stunde später legte sie im etwa neun Kilometer entfernten San Lorenzo al Mare an, vertäute das Boot und arbeitete akribisch ihren Einkaufszettel ab.

Im Werkzeuggeschäft gab es, wie immer, wenn sie herkam, einen kräftigen Espresso, ein nettes Schwätzchen mit dem Inhaber und sie erfuhr den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Handwerkerbranche. Oder sie bekam einen Tipp, wenn sich steuerlich irgendetwas veränderte, das sie wissen musste.

„Ich brauche eine kleine Bandschleifmaschine“, fiel es ihr heute blitzartig ein.

Der Inhaber blätterte im Katalog. „Kleiner, als die hier, aber nicht“, schmunzelte er, auf ein handliches Gerät in Größe einer mittleren Mikrowelle deutend. „Alles andere ist Spielzeug.“

„Hast du sie am Lager?“

„Nein. Aber ich kann sie dir für nächsten Mittwoch bestellen.“

„Mach das!“, bat Freya. „Mitsamt drei Ersatzbändern in unterschiedlicher Körnung.“

Er blinzelte ihr lachend zu. „Immer diese Sonderwünsche! Und das, wo ich so schlecht ‚nein‘ sagen kann.“

Freya zahlte die Maschine an und verabschiedete sich.

Er wünschte: „Bis nächste Woche und komm gut nach Hause!“

Wie immer hatte er ihre Einkäufe wasserfest verpackt, und Freya deponierte die Kiste im Heckteil des Bootes. Die anderen Dinge waren weniger gut geschützt und sollten am Bug Platz finden.

Auf dem Heimweg verdrehte Freya ein paar Mal die Augen. Die direkte Uferzone erinnerte heute fast an eine vollgestopfte Autobahn. So zog sie etwas weiter hinaus, um entspannter fahren zu können. Im nächsten Augenblick stotterte der Motor erneut, ging aus und ließ sich auch, trotz aller Bemühungen, nicht mehr starten.

„Aus dem Weg!“

Freya zuckte erschreckt zusammen. Es reichte schon, dass ihr Außenbordmotor streikte, da musste man sie nicht auch noch dumm anmachen. „Wenn ich es nicht bald in den Griff bekomme, sollte ich die Küstenwache anrufen“, überlegte sie angesäuert, denn das Boot wurde immer weiter aufs Mittelmeer hinaus getragen und die Sonne ging langsam unter. „Ach verdammt, ich rufe sofort an!“

Sie zog das Smartphone aus der Tasche, um im Internet die Nummer zu suchen. Der Akku war zwar voll, aber sie bekam kein Netz. Beim zehnten erfolglosen Versuch hockte Freya in ihrem Fischerkahn und zog die Nase hoch. „Fehlt nur noch, dass ich losheule.“

Sie fasste nach den Paddeln, die sie für den Notfall immer dabei hatte, und begann zu rudern. Die Küste war in der Ferne zu erkennen, irgendwann würden zudem in den Häusern die Lichter angehen und sie in der Dunkelheit leiten.

Eine halbe Stunde später begriff sie, dass sie dem Strand kein bisschen näher kam und sie der auffrischende Wind weiter abdrängte. Sie zog völlig geschockt die Ruder ein, um den Tränen nun doch freien Lauf zu lassen.

Das Handy stellte sich noch immer tot, der Magen begann zu knurren und die nächtliche Kühle kroch in die dünne Kleidung.

Schließlich gab sie alle Bemühungen auf, kauerte sich zusammen, um möglichst wenig Wärme abzugeben, und hoffte darauf, von einem Schiff gefunden zu werden. Erschöpft schlief sie ein.

Vom überlauten Schrei einer Möwe im ersten Licht des Tages geweckt, kam die Erinnerung wieder. Das Tier saß auf der Bordwand über ihr und schien zu überlegen, wie man am besten ein Stück Fleisch aus der vermeintlichen Leiche hacken könne. Als Freya vorsichtig die Augen öffnete, stob der Vogel mit einem entsetzten Kreischen davon. Freya musste grinsen. Das fügte sich wieder mal komplett zu all dem Verrückten, das ihr ständig passierte.

„Na schauen wir mal, wo wir sind“, murmelte sie, sich aufrappelnd.

„Einen Steinwurf vom Strand entfernt“, ertönte es hinter ihrem Rücken mit ungewöhnlichem Akzent.

„Huch!“ Freya fuhr herum und lugte ins Wasser, wo ein gut aussehender, äußerst muskulöser Schwimmer ihr Boot vorwärts schob.

„Alles in Ordnung?“, fragte er, auf ihren völlig irritierten Blick.

Freya nickte, ihn und die Umgebung mit großen Augen betrachtend. „Haben Sie mein Boot etwa mit purer Muskelkraft bis hierher gebracht?“

„Ja. Mir stand nichts anderes zu Verfügung“, erklärte er leichthin.

Freya bedachte ihn mit einem Blick, der ihn hellauf lachen ließ.

„Teuerste, ich bin weder verrückt noch will ich Sie veralbern.“

Freya erschrak. „Verzeihen Sie bitte“, stammelte sie. „Ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt. Ich kann es nicht wirklich fassen, dass ich in Sicherheit bin. Seien Sie mir bitte, bitte nicht böse ...“ Statt den Satz zu beenden, riss sie die Augen auf, schlug die Hände vor das Gesicht und hauchte: „Sie haben auf meine Gedanken geantwortet!“

„Das ist exakt“, erwiderte der Fremde, den Kahn emsig weiterschiebend. „Ich bringe Sie da an den Strand, wo der kleine Überhang die Sicht von oben verbirgt. Es wäre nicht in meinem Interesse, entdeckt zu werden.“

„Wer sind Sie?“, staunte Freya.

„Mein Name ist Titus Nervianus.“

„Angenehm, Freya Monti. Leben Sie hier, in Imperia?“

„Nicht in. Vor“, schmunzelte Titus, ahnend, dass sie dies auf die Besiedlung auf dem Ufer beziehen werde. Da begann sie auch schon, die vielen kleinen Orte aufzuzählen, und Titus machte sich den Spaß, jedes Mal: „Nein. Nein. Nein“, zu sagen. Er stoppte das Boot 50 Meter vor dem Strand. „Das letzte Stück müssen Sie allein zurücklegen.“

„Ist, nicht entdeckt zu werden, der Grund, warum Sie das Boot geschoben haben, statt herein zu kommen und zu rudern?“

Titus grinste vergnügt. „Das könnte man als einen ernsthaften Grund anführen.“

„Ich möchte Sie gern wiedersehen“, sagten beide gleichzeitig und begannen, wegen dieser Tatsache, herzlich zu lachen.

„Morgen bei Sonnenaufgang gleiche Stelle?“, fragte Titus. „Also genau hier, nicht da draußen und auch nicht am Strand“, fügte er rasch hinzu.

Freya spitzte die Lippen. „Sie meinen es offenbar ernst, im Wasser bleiben zu wollen.“

Titus nickte. „Es geht nicht anders.“

„Ich habe im Künstlerbezirk ein Häuschen direkt am Ufer. Wenn Sie dort aus dem Meer steigen, wird Sie keiner sehen“, schlug Freya als geeigneteren Treffpunkt vor. „Sie können sogar Ihr Boot am Steg vertäuen, ohne dass es andere merken werden.“

Nach kurzem Überlegen sagte Titus: „Abgemacht. Ich werde pünktlich da sein. Ich freue mich auf Sie. Kommen Sie gut nach Hause. Bis morgen!“

Freya war mit einem Satz am Heck, denn Titus hatte sich einfach absinken lassen und tauchte auch nicht wieder auf. Sie begann sogar zu überlegen, ob sich alles nur in ihrer Fantasie zugetragen habe. Kopfschüttelnd nahm sie das Smartphone aus der Tasche, das volles Netz zeigte. Ehe sie allerdings eine Nummer wählte, versuchte sie noch einmal, den Motor anzulassen. Ohne Erfolg.

„Ach, was soll es“, murmelte sie, sich in die Riemen legend, um den letzten Katzensprung zum Strand zu überwinden. Sie schlang das Bootstau um einem Felsbrocken und rief den Servicepunkt des nahen Yachthafens an. Wenige Minuten später nahte schon der Techniker mit dem passenden Ersatzteil.

Freya tuckerte nach Hause. „Titus Nervianus“, rekapitulierte sie den Namen ihres Retters, falls sich alles tatsächlich zugetragen hatte. „Hm, ist wahrscheinlich ein Künstlername, wenn auch ein besonders klangvoller, für einen wirklich gutaussehenden Mann. Den Muskeln nach, sicher ein Akrobat.“ Sie zog das alte Boot geschickt an den Liegeplatz, vertäute es, hievte ihre Besorgungen auf den Steg und kletterte über die kleine Leiter hinterher. Dann stand sie eine Weile, das herrlich azurblaue Meer betrachtend, das heute glatt wie ein frisch polierter Spiegel aussah. Am Horizont verschmolz es mit dem wolkenlosen Himmel, der makellos fast seidig wirkte und sich in völlig identischem Farbton präsentierte. „Phänomenal“, flüsterte Freya, sich mühsam von diesem Anblick losreißend und alles zum Haus tragend.

Dort suchte sie schnurstracks die Speisekammer auf. Sie hoffte inständig, ihren ungewöhnlichen Gast zu mehr, als Frühstück mit Espresso, bewegen zu können. „Hoffentlich hat er nicht den Gemüsewahn, um kein Gramm Fett zu viel anzusetzen“, huschte es durch ihre Gedanken. „Ach was! Ich werde deutsches Essen kochen. Ein bisschen gehaltvoller, als man es hier gewohnt ist, aber vielleicht punkte ich damit am besten. Italienische Küche kann er schließlich jeden Tag haben. Es gibt panierte Schweineschnitzel mit Salzkartoffeln und in Butter geschwenktem Mischgemüse. Basta! Zum Nachtisch Pistazienpudding – nicht deutsch, aber lecker. Einen duftenden Kuchen werde ich auch noch backen ...“

Freya begann zu lachen. „Oh Mann! Ich plane hier ein halbes Hochzeitsbankett, dabei will er vielleicht nur einen kleinen Schwatz halten!“

Dass ausgerechnet solch ein Prachtexemplar sagte, es wolle sie wiedersehen! Gleich darauf seufzte sie. „Na hoffentlich ist er nicht so drauf wie Gaspare.“ Mit jeder Stunde wuchs die Vorfreude, ihren geheimnisvollen Retter wiederzutreffen, was sich als deutliches Kribbeln im Bauch manifestierte. Selbsterklärend, dass sie nachts nicht einmal schlafen konnte, und schon auf dem Steg stand, noch bevor die Sonne aufging, um Titus nicht eine einzige Sekunde warten zu lassen. Sie spähte aufmerksam umher und lauschte. Aus welcher Richtung mochte er wohl kommen?

Als der erste Lichtschimmer am Horizont zu erahnen war, plätscherte es direkt neben der Leiter. Freya drehte sich wie in Zeitlupe um.

„Guten Morgen!“, wünschte Titus aus dem Wasser, wobei seine ungewöhnlich großen Augen wie Sterne funkelten.

„Guten Morgen! Sie sind doch nicht etwa bis hierher geschwommen?“, staunte Freya.

Titus lächelte verschmitzt. „Aber natürlich.“

„Gesundheitsfanatiker?“, schmunzelte Freya. „Kommen Sie, ich habe uns Frühstück gemacht. Sie haben doch hoffentlich ein halbes Stündchen Zeit für mich?“

Diesmal seufzte Titus. „Zeit für Sie habe ich unendlich, wenn es rein danach geht.“

„Aber?“

„Ich bin nicht der oder das, für den oder was Sie mich halten“, erwiderte er leise, ohne Anstalten zu machen, aus dem Wasser zu steigen. „Wenn es Ihnen nicht zu viel Aufwand ist, das Frühstück hierher zu bringen, nehme ich gern Ihr Angebot an.“

Freya musterte ihn verblüfft. „Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, sollte es sich um einen körperlichen Makel handeln. Na, kommen Sie schon raus!“

„Körperlicher Makel“, paraphrasierte Titus amüsiert. „Okay, ich komme raus. Auf Ihre Verantwortung. Dann werden Sie sogar ganz freiwillig das Frühstück hierher bringen. Oder aber schreiend davon rennen und sich im Haus verbarrikadieren.“ Er tauchte unter und katapultierte sich regelrecht auf den Steg neben sie.

„Oh ... mein ... Gott ...“ Freyas Unterkiefer wanderte langsam Richtung Schuhspitzen. An den sehenswerten muskelbepackten Oberkörper schlossen sich gar keine Beine an! Statt diesen gab es einen türkis schillernden gigantischen Fischschwanz mit atemberaubender Flosse.

„Es war Ihr Wunsch und Wille“, flüsterte Titus, weil er ihre Reaktionen nicht deuten konnte.

Freya nickte. „Können Sie eine Weile an Land überstehen? Ich würde Sie lieber mit ins Haus nehmen, statt hier draußen zu essen. Nicht, dass doch einer irgendwo mit dem Fernglas spannt!“

„Ich kann es. Nur, wie komme ich da hin?“, fragte der Meermann.

Freya war es beim ersten Blick klar gewesen, dass er sich keinen dummen Scherz mit ihr erlaubte, auch wenn sie nicht fassen konnte, dass es solche Wesen wirklich gab. Innerhalb weniger Wimpernschläge hatte sie ihre Gedanken wieder im Griff. „Ich habe eine Idee! Damit kriege ich sie ganz sicher unverletzt ins Haus!“

Sie rannte los, polsterte die Karre der Gasflaschen mit einer flauschigen Decke und kam sofort zurück. „Ich lege es neben Sie, damit Sie sich bequem daraufwälzen können. Dann halten Sie sich oben am Griff fest und ich ziehe Sie vorsichtig ins Haus!“

„Ich glaube, wir sind beide ein bisschen verrückt, da passt das schon.“ Titus brachte sich in Position und Freya bugsierte ihn ins Haus, wo er den Relaxsessel mit tausend Verstellmöglichkeiten als Sitzgelegenheit erhielt. Nur sein überlautes Herzklopfen zeugte von der gigantischen Aufregung, nicht nur das Wasser verlassen zu haben, sondern in einer menschlichen Behausung praktisch gefangen zu sein.

„Sie bleiben erstaunlich gelassen“, stellte Freya blinzelnd fest.

„Sie aber auch!“, schmunzelte er, gleichzeitig die vielen unbekannten Dinge im Zimmer betrachtend.

Freya lachte. „Ich erlebe ja laufend merkwürdige Sachen, doch unsere Bekanntschaft schlägt dem Fass voll den Boden ins Gesicht.“

Titus stimmte in das Lachen ein. „Ich beobachte Sie schon seit ein paar Wochen“, gab er schließlich zu. „Warum ist eine so hübsche Frau, wie Sie, immer allein unterwegs?“

„Oh je, das ist eine lange, verworrene Geschichte“, stöhnte Freya, die Augen verdrehend.

„Erzählen Sie sie mir!“, forderte Titus schmunzelnd.

„Na gut. Sie geben ja doch nicht eher Ruhe“, murmelte Freya. „Ich habe vor elf Jahren aus Deutschland nach Monaco eingeheiratet.“

Titus machte eine überraschte Handbewegung, denn so einfach, wie das klang, war das nicht zu bewerkstelligen.

Freya nickte bekümmert, atmete tief durch und beschloss, ihm wirklich die ganze Wahrheit zu beichten. „Ich bin Malerin und Kunsthandwerkerin und war auf einer Vernissage von einem jungen Banker angesprochen worden. Er hatte sich einschlägige Informationen besorgt und war auf die gleiche Frage, wie Sie, gestoßen: warum ich immer allein unterwegs bin. Er machte mir unverblümt das Angebot, mich in einer Scheinehe zu heiraten, was hieß, er werde mich mit allem unbehelligt lassen, ich müsse nur hin und wieder mit auf Verwandtenbesuch fahren. Natürlich bekäme ich lebenslang Unterhalt, damit das Ganze nicht auffliege. Der springende Punkt war, dass sein Großvater bestimmt hatte, er bekäme dessen Millionenerbe nur, wenn er mit einer Frau verheiratet sei. Seine homosexuelle Neigung war in den Augen des Großvaters ein schwarzer Fleck auf der Familienehre und er glaubte, ihn anders polen zu können, indem ein gewisser Zwang hinter der ganzen Sache stand. Gaspare hatte versprochen, ich könne mir die Werkstatt nach Gutdünken in seiner Villa einrichten, ich hatte nichts zu verlieren und noch am selben Abend zugesagt. Ich habe also fünf Jahre die brave Ehefrau gespielt. Eben so lange, bis der Großvater gestorben war. Dann konnte Gaspare endlich die Scheidung einreichen. Wir einigten uns auf den Grund Kinderlosigkeit. Ich bekam eine recht ansehnliche Abfindung und dieses Grundstück mit Häuschen, das damals halb verfallen war. Ich habe mich sofort in diesen wundervollen Landstrich verliebt, und bin in Ligurien geblieben. Mein ziemlich breit gefächertes Kunsthandwerksprogramm machte die Sache einfach. Warum ich immer allein bin, ist schnell erklärt. Ich ziehe jegliche Sorte Tohuwabohu magisch an. Wie gestern gerade wieder. Ohne Sie wäre ich jetzt vielleicht sogar tot.“ Sie streichelte mit den Fingerspitzen Titus‘ Handrücken.

„Daran könnte ich mich gewöhnen“, erklärte er, erfreut lächelnd.

„Ohhhh. Im Ernst?“ Freya bekam sogar einen Hauch Farbe im Gesicht. „Wie wäre es, Du zu sagen?“

„Super! Du bist wirklich ungewöhnlich und ich bin sicher, dass mein Geheimnis bei dir in guten Händen ist“, strahlte der Meermann.

Freya schenkte Kaffee ein, hatte aber auch Wasser und verschiedene Säfte bereitgestellt, da sie ja mit einem Gesundheitsfanatiker gerechnet hatte. Das tat sie Titus auch lächelnd kund.

„Ich versuche es mit dem dunklen heißen Gebräu“, gab er bekannt. „Alles andere ist mir auch fast unbekannt. Vom Geschmack her, meine ich, gesehen habe ich vieles schon oft, auf den Booten und Schiffen der Menschen. Ich taste mich einfach ran.“

„Prima! Ich denke, das meiste wird dir schmecken“, erwiderte Freya vergnügt, ihm unaufdringlich beim Zubereiten eines belegten Brötchens zur Hand gehend. „Erzähle ein bisschen über dich“, bat sie.

Titus nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee, kaute ihn wie ein Weintester, nickte zufrieden und begann: „Ich bin so eine Art Ureinwohner. Mein Name Nervianus stammt daher, dass ich im Nervia-Delta geboren bin. Damals, als noch alle Schiffe aus Holz waren und von Sklaven gerudert wurden. Die Römer hatten gerade begonnen, ganz Ligurien mit einem Netz von gepflasterten Straßen zu durchziehen ...“

„Du bist über 2000 Jahre alt?“, hauchte Freya ungläubig erschreckt, ihn mitten im Satz unterbrechend.

Titus zuckte mit den Schultern. „Ich habe die Jahre nicht gezählt. Ich weiß nur, dass ich viele, viele Generationen Menschen habe kommen und gehen sehen. Seit ich dich das erste Mal erspäht habe, ist alles anders. Ich bin ganz Neugier. Ich habe so viele Fragen, die nach Antworten schreien, und möchte in deiner Nähe sein und dich vor allen Gefahren des Meeres beschützen. So war ich gestern da, als du wirklich Hilfe brauchtest. Und weil du keins von den hysterisch kreischenden Weibern bist, wenn es brenzlich wird, hatte ich beschlossen, mich dir zu offenbaren. Vielleicht können wir da draußen ja ein bisschen was zusammen unternehmen?“

„Oh ja! Das wäre super!“, jubelte Freya. „Ich wüsste sogar, wie ich dir ein Stück von meiner Welt zeigen könnte, ohne dass jemand merkt, dass du kein Mensch bist.“

Titus lächelte vergnügt. „Ich freue mich darauf.“

„Auf eine fantastische Zeit!“ Freya hob ihre Kaffeetasse und Titus besiegelte es in gleicher Weise.

Gaben, die von Herzen kommen

„Ich muss nur immer erst schauen, wie das Wetter werden soll. Nässe bekommt mir nämlich nicht so gut, wie dir“, blinzelte sie. „Und dann muss ich es mit meiner Arbeit koordinieren“, fügte sie seufzend hinzu.

„Das verstehe sogar ich alles“, sagte Titus. „Ich habe ja genug Zeit, die Menschen auf dem Meer zu belauschen. Die einen sind dort, weil sie sich mit Fischfang und Muschelzucht ernähren müssen, die anderen wollen sich erholen oder Abenteuer erleben. Und selbst die behalten ständig ihre Arbeit im Auge. Deshalb weiß ich auch, was ein Banker ist und was auf einer Vernissage passiert.“

„Das hast du hervorragend analysiert“, lobte Freya. „Du kannst ja auch mit in meine Werkstatt kommen, damit wir trotz Arbeit Zeit miteinander verbringen können.“ Sie nippte am Kaffee. „Frage mich bitte sofort, wenn dir irgendetwas nicht geläufig ist, damit nicht irgendwelche Missverständnisse entstehen. Ich habe nämlich keine Ahnung, ob wir immer das dasselbe meinen, wenn wir das Gleiche sagen.“

„Ich verspreche es!“, schwor Titus. „Und du sagst mir sofort, wenn du von meiner neugierigen Fragerei genervt bist.“

„Großes Ehrenwort“, blinzelte Freya vergnügt. Sie öffnete eine Mineralwasserflasche. „Du wirst außerhalb des Meeres sicher viel trinken müssen, damit du nicht zu schnell austrocknest.“

„Das könnte stimmen“, gab Titus zu, das volle Glas dankbar entgegennehmend. Er ließ sich auch die einzelnen Speisen ganz genau erklären. „Alles schmeckt super!“, freute er sich, mit diesen Worten Freya ein glückliches Lächeln ins Gesicht zaubernd. „Der schwarze Kasten da drüben – macht der Musik?“, fragte er plötzlich, auf die Stereoanlage deutend.

„Ja, das tut er!“, bestätigte Freya, ihre Lieblings-CD mit Kuschelmusik startend.

„Oh!“, hauchte Titus. „Das geht mir tief unter die Schuppen.“

„Ich mag Leute, die einen Sinn für Schönheit haben“, seufzte Freya, Titus ihr bezauberndstes Lächeln schenken.

Titus lächelte erfreut zurück. „Ich mag jene, die so wunderschöne Gedanken haben, wie du.“

„Ich hatte schon wieder völlig verdrängt, dass du sie lesen kannst“, schmunzelte Freya.

„Wärst du so lieb, mich zum Wasser zu schieben?“

„Aber natürlich!“ Freya half ihm, auf der Karre Platz zu nehmen.

Als er „kipp mich ganz einfach vom Steg, ich gehe nicht kaputt“ sagte, blieb ihr fast der Mund offen stehen. „Ich meine es ernst“, fügte Titus deshalb an. „Und ich fühle mich dadurch auch nicht wie Abfall behandelt.“

„Doofe Gedankenleserei“, grinste Freya. „Ich zermartere mir das Gehirn und du lachst dich innerlich scheckig.“

„Aber du nimmst es mit Humor, was nicht vielen gegeben ist“, blinzelte er und hechtete ins Wasser, um sie nicht in einen Zwiespalt der Gefühle zu stürzen.

Freya ließ die Karre stehen, eilte in ihre Werkstatt und kam mit zwei dicken Gymnastikmatten zurück, die sonst als Polster für zerbrechliche Werkstücke dienten. Titus sollte es in jeder Weise bei ihr gut gehen, auch dann, wenn er sich wieder aus dem Wasser katapultierte. Mit langen Edelstahlschrauben befestigte sie die Matten an allen vier Ecken übereinander auf dem Steg. Zufrieden das Mittagessen vorbereitend, wartete sie auf Titus‘ Rückkehr. Eine halbe Stunde, hatte er gesagt, auf die Kirchturmuhr zeigend.

„Extra wegen mir?“, staunte er, über die unerwartet weiche Landung.

Freya nickte. „Mein Herz krampft sich regelrecht zusammen, wenn ich daran denke, dass du dich beim Aufprall verletzen könntest. Das würde ich mir nie verzeihen.“

„Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch, der gegenüber einem Monster freundliche Gefühle empfindet“, murmelte Titus.

Freya schaute ihn entsetzt an. „Man hat dich Monster genannt?! Du bist keins, du bist ein Held, ein Lebensretter und ein absolut angenehmer Gesprächspartner!“

„Tut mir leid, ich wollte dir nicht die Laune verderben“, seufzte Titus.

„Wir beide lassen uns von niemandem die Laune verderben!“, rief Freya, fest seine Hand mit den dolchspitzen Fingernägeln fassend.

Ein paar Augenblicke später saßen sie bereits wieder im Wohnraum und frönten der Konversation, während Freya das Mittagessen auftrug.

„Hmm, das duftet!“, schwärmte Titus. „Und es ist so lecker!“

Freya strahlte mit der Sonne um die Wette. Ihr geheimnisvoller Gast bescherte ihr den wundervollsten Tag, seit sie hier lebte.

„Heute Abend, wenn die Sonne untergeht, machen wir einen kleinen Bootsausflug ohne Motorenlärm“, versprach Titus soeben. „Du sagst mir, wann ich anhalten soll, damit du die Silhouette der Stadt fotografieren kannst, von wo aus immer du möchtest. Ich kenne ein paar Stellen, die fernab der Schiffsrouten liegen, sodass wir dort niemandem in den Weg kommen werden.“ Plötzlich begann er zu lachen. „Du machst dir viel zu viele Sorgen um mich. Pack für dich ein, was du brauchst. Ich lebe von allem aus dem Meer. Und ich bin schon ein großer Junge, der weiß, wo er etwas findet.“

Freya musste auch lachen. „Glaube ich unbesehen. Im Vergleich bin ich doch ein frisch geschlüpfter Fisch.“

„Aber einer, der aus dem ganzen Schwarm funkelnd heraussticht“, blinzelte Titus, mit dem Fingerrücken ihre Wange berührend. „Ich habe Sorge, dass ich dich mit meinen Raubtierkrallen verletzen könnte oder damit Schaden an deinem Eigentum anrichte.“

„Für das Leben in der Tiefe sind sie unerlässlich“, überlegte Freya laut. „Du packst damit perfekt Fische oder andere Nahrungstiere. Genau wie du die Haifischzähne brauchst, um dein Essen zerkleinern zu können. Haben sie dich deswegen als Monster beschimpft?“

Titus nickte.

„Idioten“, stellte Frey wenig damenhaft, aber sehr zutreffend fest.

„Ich habe niemals irgendeinem Menschen Böses zugefügt. Von da an habe ich ihnen aber auch nie mehr geholfen. Ich bin einfach im Verborgenen geblieben, egal was passierte“, erklärte Titus mit den Schultern zuckend.

„Hätte ich wahrscheinlich auch nicht anders gemacht“, gab Freya zu. „Sag mal, können Meermänner eigentlich Alkohol trinken?“

Titus schüttelte den Kopf. „So etwas bekommt uns nicht.“

„Dann packe ich für unseren Ausflug alkoholfreien Sekt ein, um mit dir auf einen zauberhaften Abend anzustoßen!“, rief Freya.

„Du ziehst wirklich alle Register“, staunte Titus. „Ich werde ganz bestimmt nicht dagegen reden! Weil es bei dir aus tiefstem Herzen kommt.“ Und in seinem Inneren rumorten die Gedanken: „Ich glaube, ich bin gerade dabei, mich bis in den letzten Flossenzipfel zu verlieben.“

Freya packte für das nächtliche Dinner zu zweit ihre schönsten Sektkelche in einen großen Korb, mehrere Windlichter, die mit Kerzen bestückt waren und Knabberkram jedweder Art. eine Kamera steckte immer mit im Rucksack. Sie deponierte auch ein warmes Poncho und eine Decke im Boot, um wirklich nicht zu frieren. Titus schaute schmunzelnd zu. Er freute sich genau so sehr. Als das Boot beladen war, schloss Freya das Haus ab, und schaltete die Alarmanlage scharf.

Titus hatte auf den Filmen ihrer Überwachungskamera gesehen, dass der gesamte Steg, außerhalb der Reichweite lag und ihn auch niemand durch einen dummen Zufall auf irgendwelchen Bildern entdecken werde.

„Und ich werde das auch ganz bestimmt nicht ändern“, schwor Freya.

„Das weiß ich“, gab Titus bekannt, diesmal mit einem Salto in Wasser springend.

„Wow!“, entfuhr es Freya überrascht. Dann deponierte sie Karre und Decke hinter den Turnmatten, löste die Leinen und stieg ins Boot, das Titus zusätzlich in Position hielt.

„Du verwöhnst mich!“

„Gern und mit wachsender Begeisterung“, verriet er vergnügt, langsam das Boot anschiebend, das bald ordentlich Fahrt aufnahm.

Nun wunderte sich Freya auch nicht mehr, wie es ihm gelungen war, sie gegen den Wind in Strandnähe zu schieben. Jetzt, wo er ablandig wehte, unterstützte er Titus ganz wunderbar. Der erklärte ihr, wie es auf dem Grund aussah, welche Pflanzen und Tiere auf seinem Speiseplan standen.

Einige Fische, die er beschrieb, hatte Freya nur auf Bildern im Internet gesehen. „Ich bin froh, dass es so viel Leben da unten gibt. Bezeichnet man unser Meer doch oft als Mülleimer Europas“, seufzte sie.

„Das ist wirklich übertrieben“, überlegte Titus laut. „Es ist in den letzten Jahren viel getan worden, dass nicht jeder Unrat ins Wasser gespült wird. So, wie es früher einmal war, wird es wohl nicht mehr werden. Da gibt es jetzt einfach zu viele Menschen. Besonders im Sommer, wenn sie wie eine Plage in diese Region einfallen.“

„Du hast ja recht“, murmelte sie. „Und viele sind absolut unvernünftig. Aber auch das weißt du besser als ich.“