Töchter des Mondes - Schicksalsschwestern - Jessica Spotswood - E-Book

Töchter des Mondes - Schicksalsschwestern E-Book

Jessica Spotswood

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Beschreibung

Ein Fieber wütet in New London. Doch da allen Hexen die sofortige Hinrichtung droht, ist die Schwesternschaft machtlos gegen die Krankheit. Cate hat sich bereits durch ihre Magie verraten und gilt nun als die meistgesuchte Hexe in ganz Neuengland. Schwerer wiegt für sie jedoch der Verlust ihres geliebten Finn, dessen Gedächtnis gelöscht wurde, sodass er sich nun nicht mehr an ihre einstige Liebe erinnern kann. Und die Visionen, die Cates kleine Schwester Tess immer häufiger heimsuchen, lassen keinen Zweifel daran, dass sich die unheilvolle Prophezeiung erfüllen wird. Cates, Tess‘ und Mauras vorherbestimmtes Schicksal scheint nicht aufzuhalten zu sein: Eine Schwester wird die andere vor Beginn des neuen Jahrhunderts töten ...

"Eine Geschichte, so fesselnd und bezaubernd, dass man hofft, sie möge niemals enden." Andrea Cremer, New-York-Times-Bestseller-Autorin der Serie NIGHTSHADE

The Cahill Witch Chronicles - mystische Spannung und eine fesselnde Liebesgeschichte. Lass dich verzaubern!

Töchter des Mondes - Cate
Töchter des Mondes - Sternenfluch
Töchter des Mondes - Schicksalsschwestern

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.



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Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagung

Impressum

Weitere Titel der Autorin

The Cahill Witch Chronicles

Töchter des Mondes – Cate

Töchter des Mondes – Sternenfluch

Töchter des Mondes – Schicksalsschwestern

Über dieses Buch

Ein Fieber wütet in New London. Doch da allen Hexen die sofortige Hinrichtung droht, ist die Schwesternschaft machtlos gegen die Krankheit. Cate hat sich bereits durch ihre Magie verraten und gilt nun als die meistgesuchte Hexe in ganz Neuengland. Schwerer wiegt für sie jedoch der Verlust ihres geliebten Finn, dessen Gedächtnis gelöscht wurde, sodass er sich nun nicht mehr an ihre einstige Liebe erinnern kann. Und die Visionen, die Cates kleine Schwester Tess immer häufiger heimsuchen, lassen keinen Zweifel daran, dass sich die unheilvolle Prophezeiung erfüllen wird. Cates, Tess‘ und Mauras vorherbestimmtes Schicksal scheint nicht aufzuhalten zu sein: Eine Schwester wird die andere vor Beginn des neuen Jahrhunderts töten …

The Cahill Witch Chronicles – lass dich verzaubern!

Töchter des Mondes – Cate

Töchter des Mondes – Sternenfluch

Töchter des Mondes – Schicksalsschwestern

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Jessica Spotswoods Leidenschaft fürs Schreiben und für Bücher begann schon in frühester Kindheit. Bis heute liebt sie romantische Geschichten und lässt sich von ihnen und ihren Figuren verzaubern. Nach ihrem Studium versuchte sie sich zuerst am Theater, merkte aber schnell, dass ihre wahre Berufung das Schreiben ist. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer Katze Monkey lebt die Autorin in Washington D. C.

Schicksalsschwestern

Aus dem Englischen von Stefanie Lemke

Für meine Schwestern, Amber & Shannon, ohne die ich über all die Liebe und den Zank der Cahill-Schwestern nicht hätte schreiben können.

Und für meine Freundinnen Jenn, Jill, Liz & Laura, die mir – genauso wie Cates Freundinnen – wie Schwestern ans Herz gewachsen sind.

Prolog

Fünf Minuten vorher

Brenna tanzt die Marmorstufen zur Eingangstür hinauf, und ich folge ihr. Da höre ich auf einmal ein Geräusch – das Geräusch von jemandem, der auf das nasse Pflaster fällt. Ich drehe mich um und sehe Finn auf Händen und Knien; er ist über die Bordsteinkante gestolpert. Er steht auf, rückt seine Brille zurecht und geht zurück zur Kutsche, doch seinem Gang fehlt die übliche Schlaksigkeit. Er hält kurz inne und betrachtet die Kutsche, als würde er sich über irgendetwas daran wundern.

»Ist alles in Ordnung?«, rufe ich.

Er sieht mich an, dann zieht er den Kopf ein. Seine Ohren sind vor Scham rot angelaufen. »Entschuldigung, Miss … Ist das hier meine Kutsche?«

Seine Stimme klingt verlegen, formell. Als würde er mit einer Fremden sprechen.

Die Worte hallen in meinem Kopf wieder: Entschuldigung, Miss.

Und ich dachte vorher, ich wäre innerlich zu Eis erstarrt. Doch dies hier ist noch schlimmer. Ich zittere nicht mehr, sondern ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich kann nicht zu ihm gehen, kann kaum noch atmen. Nur das schnelle, entsetzte Schlagen meines Herzens zeigt mir, dass ich noch am Leben bin.

Ich verstehe das nicht. Ich blicke die leere Straße hinab. Es sind doch nur Brenna und ich und Maura hier …

Maura.

Meine Schwester steht auf dem Gehweg und sieht Finn mit zusammengekniffenen Augen an. Meinen Finn.

Das würde sie nicht tun.

Nicht meine eigene Schwester.

Kapitel 1

Ich lasse Maura im wirbelnden Schnee und Eis zurück. Ich kann nicht einen Augenblick länger in ihr intrigantes Gesicht sehen, sonst kann ich für nichts garantieren.

Drinnen im Kloster lehne ich mich gegen die schwere Eingangstür aus Holz. Mein schwarzer Umhang tropft, aber meine Augen sind trocken. Es fühlt sich alles so … unwirklich an. Harwood ist befreit, Zara ist tot, und Finn wird sich an nichts davon erinnern, auch nicht an uns. Die Aussicht auf unsere gemeinsame Zukunft war das, was mir die Kraft gegeben hat, diesen Krieg durchzustehen. Die Aussicht, dass wir am Ende dieses Krieges zusammen sein könnten, hat mich angetrieben, auch wenn die Hürden unüberwindbar schienen.

Wie soll ich ohne diese Aussicht weitermachen? Ohne ihn?

Tess kommt den Flur hinuntergelaufen und wirft sich mir entgegen. Sie muss die Tür gehört haben. »Du bist zurück! Wie ist es in Harwood gelaufen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht, ich …« Als ich ihre Umarmung nicht erwidere, löst sie sich von mir und blickt mich an. »Was ist?«

»Maura weiß, dass du die Seherin bist.« Ich schlinge die Arme um mich, als ob ich verhindern wollte, in tausend Stücke zu zerspringen, da sehe ich die dunkelrote Spur auf meiner rechten Hand.

Zaras Blut.

Tess kaut auf ihrer Unterlippe. »Woher soll Maura das wissen?«

Ich lasse die Schultern hängen. »Ich habe es ihr gesagt.«

»Aber …« Meine Schwester sieht mich fassungslos an. »Du hast es mir doch versprochen.«

Es ist nicht meine Art, die Versprechen meinen Schwestern gegenüber nicht einzuhalten. Eigentlich egal wem gegenüber. Ich verspreche auch nichts leichthin.

Das ist allein Mauras Schuld. Sie hat eine Lügnerin aus mir gemacht.

Tess zieht die blonden Augenbrauen zusammen, ihre grauen Augen sehen so stürmisch wie Gewitterwolken aus. »Und warum hast du es ihr erzählt, wenn wir damit doch noch warten wollten?«

Die Wahrheit kommt mir ganz leicht über die Lippen. »Ich wollte sie verletzen. Mir ist nichts anderes eingefallen.« Maura wollte unbedingt die Seherin sein – die Prophezeite, die Hexe, die Neuengland retten würde. Sie wollte es so sehr, dass es ihr wert war, mich dafür zu verraten.

Was hat sie noch ausgelöscht außer mir? Finns und mein Leben waren über die letzten Monate eng miteinander verwoben. Er wird nicht verstehen, warum seine Mutter die Buchhandlung geschlossen hat. Er wird sich dafür verachten, der Bruderschaft beigetreten zu sein, besonders jetzt, da die Brüder unschuldige Mädchen in Kerker sperren und sie foltern und Hunger leiden lassen.

Ich balle die Hände so fest zu Fäusten, dass ich mir mit den Nägeln Halbmonde in die Haut bohre. Ich könnte schreien, aber ich weiß nicht, wann ich wieder aufhören würde, wenn ich erst einmal damit anfinge.

»Du wolltest sie verletzen«, wiederholt Tess, als wäre das vollkommen unbegreiflich. Sie sieht mich an, als wäre ich eine ganz andere als die, die Stunden zuvor aufgebrochen ist, um die Mädchen aus Harwood zu befreien. »Und du hast mich dazu benutzt. Du solltest …«

»Zara ist tot«, unterbreche ich sie. Ich bin auf einmal so wütend. »Und du hast es kommen sehen. Du hättest ruhig den Anstand besitzen können, es mir zu sagen!«

Tess’ Augen füllen sich mit Tränen. »Es tut mir leid. Sie hat mich gebeten, es für mich zu behalten, und ich … ich hatte Angst, dass es dich ablenken würde. Du hättest es nicht ändern können.« Sie seufzt und lässt die Schultern hängen. Sie sieht auf einmal viel älter aus als zwölf. Der Anblick tut mir in der Seele weh. »Hast du es Maura deswegen erzählt? Um dich an mir zu rächen?«

»Nein.« Es ist alles schrecklich, aber Tess trägt daran keine Schuld.

»Da ist ja die Kleine!« Brenna Elliott kommt wie ein unheimlicher Springteufel aus dem Salon gesprungen. »Du bist sicher! Ich habe nichts gesagt. Sie wollten mich zwingen, aber ich habe nichts gesagt. Noch nicht einmal, als sie mich geschlagen haben.«

Tess steht ganz starr da, als die verrückte Seherin ihr über die blonden Locken streicht. »Danke?«

»Sie haben mir die Finger gebrochen.« Brenna wackelt mit ihren krummen Fingern vor Tess’ Augen herum. »Aber die nette Krähe hat mich geheilt.«

Sie meint Schwester Sophia. Sophia hat auch mich das Heilen gelehrt. Es ist die einzige Art von Magie, in der ich jemals richtig gut war. Es verschafft mir eine gewisse Befriedigung, den Kranken zu helfen – und zu beweisen, dass die Brüder falsch liegen, wenn sie behaupten, dass Magie egoistisch und böse ist.

Doch heute Nacht habe ich durch meine Gabe Zaras Herz stehenbleiben lassen.

Sie hat mich gebeten, ihr zu helfen, in Würde zu sterben, und das habe ich getan. Aber der leere Blick ihrer braunen Augen und der Kupfergeruch ihres Atems verfolgen mich jetzt schon.

»Du bist jetzt auch sicher. Hier wird dir niemand etwas tun«, sagt Tess und tätschelt Brennas Arm.

»Rory wird auch bald hier sein. Mit ihrer Schwester.« Brenna blickt uns abwechselnd an. Ihre Augen flitzen wie verrückte blaue Schmetterlinge hin und her. »Du und Cate und die andere. Die drei Schwestern!«

»Ist Cate da?« Alice Auclair kommt um die Ecke und grinst wie eine Katze, die gerade einen Vogel verspeist hat. »Der Höchste Rat ist vernichtet. Elf von zwölf jedenfalls, Covington eingeschlossen!«

»Ich habe davon gehört.« Wenn sie denkt, dass ich ihr gratulieren werde, kann sie lange warten. Ihr Grinsen verursacht mir eine Gänsehaut. Sie und Maura und Inez haben mit ihrer Gedankenmagie das Gedächtnis der Mitglieder des Höchsten Rats so vollständig ausgelöscht, dass die Männer jetzt auf dem geistigen Stand eines wimmernden Säuglings sein werden. Und die Bruderschaft bewegt sich die ganze Zeit schon am Rande der Gewalt. Es ist keine hundert Jahre her, dass sie die Hexen beinah bis zum völligen Untergang verfolgt haben – und dabei auch noch eine ganze Menge unschuldiger Mädchen umgebracht haben. Die Brüder warten schon lange auf einen Grund, zu den alten Zeiten zurückkehren zu dürfen, und jetzt hat Inez ihnen eine geliefert.

Die Frauen von Neuengland werden unter den Folgen von Inez’ Torheit leiden müssen. Jede, die auch nur ein bisschen zu gebildet, zu exzentrisch oder zu direkt ist, könnte sofort ermordet werden, statt wie bisher bloß nach Harwood verschleppt zu werden. Und was kann ich tun, um das zu verhindern? Nichts. Es gibt Zehntausende Brüder und nur ein paar Hundert Hexen, um sie zu bekämpfen. Unsere einzige Hoffnung ist, die Gunst der Bevölkerung zu gewinnen, aber diese Hoffnung wurde durch Inez nun auch zerstört. Die Brüder haben den Leuten eine wahnsinnige Angst vor Gedankenmagie gemacht. Nach einem so furchtbaren Angriff wie diesem werden wir wieder die Schreckgespenster sein, über die Schauergeschichten erzählt werden, um Kindern gutes Benehmen beizubringen.

Brenna zieht mit ihren knochigen Fingern an meinem Ärmel, und ich schrecke aus meinen Gedanken auf. »Sie war’s«, flüstert sie. Entsetzt sieht sie Alice an. »Das ist die Krähe, die all meine Erinnerungen aus mir herausgepickt hat!«

Alice stolpert rückwärts. Sie sieht von Brenna zu mir und wieder zu Brenna. Ihre porzellanfarbene Haut wird ganz rot und fleckig.

Tess legt einen Arm um Brenna, obwohl sie ihr gerade mal bis zum Kinn reicht. »Sie wird es nicht wieder tun. Es war ein Versehen«, versucht sie, Brenna zu beruhigen. Brenna wimmert wie ein kleines Kind.

Alice dreht sich um und will offenbar gehen. Sie hat wohl gedacht, sie werde Brenna nie wieder zu Gesicht bekommen. Ein Versehen.

Ich mache einen Schritt auf sie zu und stelle mich ihr in den Weg. »Sieh sie an. Sieh dir an, was du getan hast.«

Alice blickt sie an. Brennas schmutzige weiße Bluse, den braunen Rock aus Sackleinen, die verfilzten Haare. Das abgemagerte Gesicht, die Prellung am Auge, wo die Brüder sie geschlagen haben, weil sie nicht kooperieren wollte. Die Arme so dünn wie bei einer Vogelscheuche. Die Narben an den Handgelenken, die von ihrem Selbstmordversuch vor sechs Monaten herrühren.

»Es tut mir leid«, flüstert Alice. »Es war keine Absicht.«

Sie hatte versucht, Brenna vergessen zu lassen, dass die gesamte Schwesternschaft aus Hexen besteht, aber der Zauber ist ihr missglückt.

Gedankenmagie ist unberechenbar.

»Das reicht nicht.« Ich fasse sie an den Schultern. »Du kannst es nicht rückgängig machen. Du kannst es niemals rückgängig machen!«

»Lass mich los!« Alice windet sich, aber ich halte sie fest und schüttele sie.

Es ist keine Kleinigkeit, in jemandes Gedächtnis einzudringen.

Unser erster Kuss, als draußen vor der Tür die Brüder waren und Finns Hände im Dunkeln auf meiner Taille und überall um uns herum Federn.

Unser zweiter Kuss, in dem Pavillon auf dem Hügel, als der Wind mir durch die Haare fuhr und der Geruch von Sägespänen und nasser Erde uns umgab.

Unser dritter Kuss, an dem Tag, als ich ihm erzählt hatte, dass ich eine Hexe bin, und er trotzdem um meine Hand angehalten hat.

»Cate!« Tess zieht mich am Arm.

Ich lasse Alice los und mache einen Schritt zurück. Mein Atem geht schnell, und die Tränen schnüren mir die Kehle zu, aber ich werde sie nicht – auf keinen Fall – fließen lassen. Ich starre auf den Holzfußboden. Auf den runden, grünen Teppich, der vom schmelzenden Schnee an meinen Stiefeln ganz nass ist.

»Bist du verrückt geworden? Was ist los mit dir?«, keift Alice mich an und jagt den Flur hinunter ins Wohnzimmer. Sie drängt sich durch eine Gruppe jüngerer Mädchen, die in der Tür stehen, um sich das Spektakel anzusehen.

»Was hat Maura getan?«, fragt Tess mit angsterfüllter Stimme.

Ich sehe sie an. »Sie hat Finns Gedächtnis ausgelöscht. Er weiß nicht mehr, wer ich bin.«

Tess schlägt sich die Hand vor den Mund. »Warum hat sie das getan?«

»Sie ist neidisch auf das, was wir zusammen haben. Was wir hatten«, korrigiere ich mich. »Sie wollte, dass ich genauso einsam und verbittert bin, wie sie es ist. Es hat funktioniert. Ich bin so wütend, ich könnte sie umbringen.«

Tess sieht mich mit großen Augen an. Das sind nicht bloß Worte. Nicht, seitdem wir von der Prophezeiung wissen, die besagt, dass eine von uns dreien noch vor der Jahrhundertwende eine der anderen beiden töten wird. Ich habe es immer für unmöglich gehalten. Wir sind Schwestern, wir lieben uns und schützen einander. Nichts ist stärker als das.

Nichts war.

Brenna guckt aus der Wohnzimmertür. »So wird es aber nicht sein.«

»Still!«, fährt Tess sie an.

Tess fährt nie jemanden an.

Was hat sie gesehen?

»Niemand bringt irgendwen um.« Tess bohrt mir die Finger in den Arm und versucht, mich zur Treppe zu ziehen. Ich meine, leichte Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören, und frage mich, ob sie mich davon überzeugen will oder Brenna oder vielleicht sich selbst. »Wir bringen das wieder in Ordnung. Komm, wir gehen rauf, Cate.«

»Es kann nicht wieder in Ordnung gebracht werden.« Finns Erinnerungen sind für immer ausgelöscht, kein Zauber kann sie wieder zurückholen. Maura hat mein Vertrauen zerstört, und auch das wird nie wieder zurückkommen. »Und ich werde nicht vor Maura davonlaufen. Außerdem muss ich Lucy und den anderen erzählen, wie es in Harwood gelaufen ist«, sage ich, als ich am Ende des Flurs Tess’ Freundin Lucy Wheeler stehen sehe.

Ich winke Lucy heran, und sie kommt auf mich zugelaufen. Ihre runden Wangen sind ganz rot, ihre Augen voller Sorge. Ehe ich ihr sagen kann, dass es ihrer großen Schwester gut geht, dass wir sie aus der Anstalt befreit haben, geht die Haustür auf und lauter Mädchen in schwarzen Umhängen der Schwesternschaft strömen herein.

»Wir sind wieder da!«, verkündet meine Zimmergenossin Rilla das Offensichtliche. »Die mit der anderen Kutsche werden auch gleich da sein. Sie fahren hinten rum.«

Sie strahlt, so sehr freut sie sich über unseren Sieg. Wir haben unzählige unschuldige Mädchen aus Harwood befreit. Einige sind in dem Chaos auf eigene Faust weggelaufen, einige werden in geheime Unterschlupfhäuser auf dem Land gebracht, und sechs Mädchen mit besonderen Gaben oder Verbindungen zur Schwesternschaft kommen hierher. Hier sind sie sicher – zumindest sicherer, als sie es in Harwood waren, wo die Brüder nach Blut lechzten. Zara war das einzige Todesopfer. Unser Unternehmen war ein Erfolg – und doch kann ich mich nicht daran erfreuen.

»Grace!«, kreischt Lucy.

»Lucy?« Grace Wheeler sieht aus wie Lucy, bis darauf, dass sie größer und dünner ist als sie, ihre karamellfarbenen Haare verfilzt und ihre braunen Augen für ihr ausgemergeltes Gesicht viel zu groß sind.

Lucy wirft sich ihrer Schwester entgegen, die Tränen strömen ihr übers Gesicht. »Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«

»Ich dachte, ich würde da nie wieder rauskommen. Ich dachte, ich müsste da bleiben, bis ich sterbe.« Beklommen sieht Grace sich um. »Du bist … eine Hexe?«

Lucy nickt. »Wir alle. Aber wir sind nicht so, wie die Brüder behaupten, Grace, wir sind nicht schlecht …«

»Von mir aus könnt ihr die ganze Nacht mit dem Teufel tanzen«, sagt ein anderes, etwas älteres Mädchen mit leuchtend roten Haaren und Sommersprossen. »In meinen Augen seid ihr Engel, dafür dass ihr uns aus dieser Hölle befreit habt.«

»Caroline«, tadelt Maud sie. Der Rotschopf muss ihre Cousine sein.

Caroline verdreht die blauen Augen. »Ich nenne das Kind nun mal gerne beim Namen. Das Loch war voller Ratten, und das Fleisch, das sie uns gegeben haben, lebte meistens schon wieder. Die Brüder, die uns besuchen kamen, sind den Hübschen gerne mal an die Wäsche gegangen. Und wenn wir uns gewehrt haben, haben wir noch mehr Laudanum bekommen als ohnehin schon.«

Mein Blick wandert zum dritten Neuankömmling, dem hübschen indisch aussehenden Mädchen in meinem Alter, das gegen den Flurtisch gelehnt dasteht und mit dem Briefständer in Form einer Leier herumspielt. Laut Aussage der Krankenschwestern in Harwood gehörte Parvati zu den Lieblingen der Brüder.

»Du bist jetzt sicher«, sage ich zu ihr. »Niemand wird …«

Die Worte bleiben mir im Hals stecken, als Maura plötzlich hinter den anderen hervortritt. »Willkommen bei der Schwesternschaft, Mädchen. Ich bin Maura Cahill. Ihr seid hier sicher – so lange wir an eure Loyalität glauben können.«

Mein ganzer Körper steht unter Anspannung, wie eine Bogensehne, ehe man den Pfeil abschießt. »Oh, du musst gerade von Loyalität reden!«

»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Cate.« Ihre saphirblauen Röcke rauschen, als sie sich in der Mitte des Flurs positioniert, wie eine Blaumeise zwischen lauter Krähen. »Wir würden alle umgebracht werden, wenn die Brüder erfahren, was wir sind. Die Geheimnisse der Schwesternschaft dürfen nicht leichthin geteilt werden. Besonders nicht mit Außenstehenden.«

»Grace ist meine Schwester«, protestiert Lucy.

»Aber sie ist keine Hexe.« Maura wedelt geringschätzig mit der Hand in Grace’ Richtung. »Die Schwesternschaft steht an erster Stelle, Lucy.«

Lucy schüttelt den Kopf, dass ihre Zöpfe nur so fliegen. »Aber nicht vor meinem eigenen Fleisch und Blut.«

Ich gebe ein ersticktes Lachen von mir. »Oh, bei Maura ist das anders.«

Rilla runzelt die Nase voller Sommersprossen. »Ich weiß sowieso nicht, warum Maura irgendwas dazu zu sagen haben sollte. Sie hat nicht einen Finger gerührt, um diese Mädchen zu befreien.«

»Es ist alles der Verdienst von Cate. Von Elena und Cate und ihrem wunderbaren Freund.« Violet van Buren blickt mich schelmisch an, und mir zieht sich der Magen zusammen. »Jetzt verstehe ich, warum du Finn nicht aufgeben willst. Mein Gott, wie er dich ansieht!«

»Vi…«, fängt Tess an, und ihre Finger flattern wie gefangene Motten.

»Ich würde alles dafür geben, so angesehen zu werden.« Vi schlägt sich seufzend die Hände vor die Brust. »Das ist so romantisch. Du wirst ihn heiraten, oder? Wenn das hier alles vorbei ist?«

Das wollte ich. Mehr als alles andere auf der Welt.

Ich hatte Finn wochenlang geheim gehalten. Weil ich fürchtete, je mehr Leute davon wissen, dass er für die Schwesternschaft spioniert, desto größerer Gefahr wäre er ausgesetzt. Aber die ganzen Mädchen aus Harwood haben ihn gesehen. Und jetzt werden sie mich alle nach ihm fragen, und …

Ich weiß nicht, ob ich das aushalte.

»Ich glaube nicht«, bringe ich schließlich hervor.

»Warum nicht?« Vi sieht mich mit ihren violetten Augen verwirrt an.

»Frag Maura.« Ich reiße den Kopf zu ihr herum. »Erzähl ihnen, was du getan hast.«

Maura erwidert meinen Blick nicht. »Darum geht es jetzt nicht. Es gibt wichtigere Dinge zu besprechen.« Sie dreht mir den Rücken zu, und für ihre herablassende Art würde ich ihr gerne die roten Locken an den Wurzeln ausreißen. Ich wünschte, wir könnten diesen Streit genauso einfach beilegen, wie wir es in unserer Kindheit getan haben.

»Dann erzähle ich es ihnen eben.« Ich trete in die Mitte des Flurs, das Zentrum der Aufmerksamkeit – ein Platz, an dem ich mich noch nie besonders wohl gefühlt habe. Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. »Finn ist meinetwegen der Bruderschaft beigetreten. Er hat die Bruderschaft und alles, wofür sie steht, von Anfang an gehasst. Er wusste, dass ich eine Hexe bin, und er hat mich trotzdem geliebt – nein, nicht trotzdem. Er war stolz auf mich. Er hat sein Leben riskiert, indem er für die Schwesternschaft spioniert hat und geholfen hat, euch alle zu befreien. Wenn er erwischt worden wäre, hätten sie ihn dafür hingerichtet.« Es fühlt sich an, als würde ich eine Grabrede auf ihn halten. »Aber Schwester Inez wollte, dass Maura ihr zeigt, wie skrupellos sie sein kann. Es gefiel ihr nicht, dass ein Bruder über unsere Geheimnisse Bescheid wusste. Und Maura – sie war schon immer neidisch, weil ich Finn hatte, also ist sie in seine Gedanken eingedrungen und hat seine Erinnerungen an mich ausgelöscht. So ein Mädchen ist Maura. So eine Schwester ist sie. Sie würde jede von uns ohne zu zögern verraten.«

Wortlos starrt Maura mich an. Ihre Wangen glühen. Die anderen Mädchen schrecken vor ihr zurück, als könnten sie sich bei der Berührung mit Mauras Rocksaum eine ansteckende Krankheit zuziehen.

»Geh, Maura. Geh auf dein Zimmer«, sagt Tess schließlich mit leiser Stimme. »Cate sollte dich nicht länger ertragen müssen. Und ich will es, ehrlich gesagt, auch nicht.«

Maura wirbelt herum. »Was glaubst du, wer du bist? Mir zu sagen, was ich zu tun habe?«

Die Seherin. Die Prophezeite. Ich wünschte, Tess würde es Maura ins Gesicht schleudern, aber ich weiß, dass sie es nicht tun wird. Sie ist nicht so machtbesessen wie Maura oder so rachsüchtig wie ich.

Tess schürzt die Lippen. »Ich bin die Schwester, die immer noch mit dir spricht.«

Maura ist sichtlich enttäuscht. »Du hast dir noch nicht mal angehört, was ich dazu zu sagen habe!«

Tess steht zwischen Maura und mir. Ihre grauen Augen blitzen wie Messer. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendetwas dazu sagen könntest, wodurch ich verstehen würde, warum du es getan hast.«

»Gut. Dann stehst du also auf ihrer Seite, so wie immer. Ich brauche keine von euch beiden! Das werdet ihr schon noch sehen.« Maura drängt sich durch die gaffenden Mädchen und läuft polternd die Treppe hinauf.

Und ich bleibe zurück und fühle mich – wie?

Unzufrieden mit meinem unbedeutenden Racheakt.

Rilla ist die Erste, die wieder zu sich kommt. Voller Mitgefühl sieht sie mich mit ihren haselnussbraunen Augen an und nimmt meine Hand. »Komm, wir gehen rauf, Cate. Du musst …«

Ich reiße mich los. »Nein.« Sie meint es gut – das tut sie immer – aber ihre liebenswürdige Art bewirkt, dass ich mich auf den Boden werfen und heulen will.

Ich blicke all die Mädchen auf dem Flur an, eine nach der anderen. Ich kann jetzt nicht zusammenbrechen, denn sie brauchen mich. Ich bin nicht die Einzige, die Maura heute Abend verletzt hat. Jetzt in diesem Moment werden die Mitglieder des Höchsten Rats wahrscheinlich gerade von ihren Untergebenen gefunden. Sie werden verwirrt und auf dem geistigen Niveau von kleinen Kindern sein und sich noch nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern. Und morgen wird ganz New London in Aufruhr sein, und es wird nur noch schlimmer werden, sobald die Meuterei in Harwood bekannt wird.

Die Bruderschaft wird zurückschlagen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.

Die Mädchen in Harwood mussten Hunger leiden, sie standen unter ständigem Medikamenteneinfluss und wurden brutal behandelt. Sie brauchen einen Ort, an dem sie wieder sie selbst werden können, aber das Kloster ist kein solcher Zufluchtsort mehr. Nicht mehr, seit Schwester Cora gestorben ist und Inez jetzt die Führung übernehmen wird. Sie wird alles daran setzten, die Brüder zu entmachten, um selbst Neuengland zu regieren. Wer dabei vernichtet wird, ist ihr gleichgültig.

Mir allerdings nicht.

Ich habe mich heute Nacht von einer Schwester losgesagt, aber dafür habe ich jetzt Dutzende.

Für sie alle will ich Neuengland zu einem sicheren Ort machen.

Die Magie steigt in mir auf und strömt aus meinen Fingerspitzen. Die Kerzen auf dem Flurtisch entzünden sich, gefolgt von den altmodischen Messingleuchtern an den Wänden.

Ich habe es satt, mich zu verstecken. Es muss einen besseren Weg geben. Nicht Inez’ Weg. Und auch nicht Bruder Covingtons.

Wenn die Brüder und Maura unbedingt Krieg wollen, werden sie ihn bekommen. Ich werde beide Parteien bekämpfen.

»Willkommen bei der Schwesternschaft.« Ich hebe den Blick und sehe jedes einzelne Mädchen an. »Wie ihr euch wahrscheinlich bereits denken könnt, bin ich Cate Cahill, und das hier ist meine Schwester Tess. Ihr bekommt jetzt erst einmal etwas zu essen, und dann bringen wir euch zu euren Zimmern. Das hier ist jetzt euer Zuhause. Ich werde alles tun, damit ihr hier sicher seid.«

Wir setzen die sechs Mädchen aus Harwood vor den Kamin im Wohnzimmer und geben ihnen Butterbrote mit Erdbeermarmelade und heiße Schokolade. Sobald ich mich überzeugt habe, dass Rilla und Vi sich um sie kümmern, gehe ich hinauf in den zweiten Stock zu Schwester Coras Suite.

Ich klopfe an, und Schwester Gretchen öffnet die Tür. Ihre braunen Augen sind ganz rotgeweint. »Cate. Du hast es schon gehört?«

Ich nicke und fahre mir mit der Hand durch die verworrenen blonden Haare. »Ich werde sie vermissen, aber ich bin froh, dass sie jetzt ihren Frieden gefunden hat.«

Gretchen unterdrückt ein Schluchzen. »Ich wusste, dass sie sterben würde, aber ich weiß nicht, was ich ohne sie machen soll.« Sie und Cora waren beste Freundinnen, seit sie sich als junge Mädchen in der Klosterschule kennengelernt hatten.

»Ich weiß.« Ich drücke ihre Hand. »Ich würde mich gern von ihr verabschieden, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Natürlich.« Gretchen winkt mich herein, und wir gehen durch Coras dunkles Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Auf der Frisierkommode brennen Kerzen. Cora liegt in einem schlichten, schwarzen Kleid auf dem Himmelbett, ihre weißen Haare fallen ihr über die Schultern, und ihre dünnen Hände sind ohne die ganzen Ringe nackt wie Bäume im Winter. »Ich lasse dich einen Moment allein mit ihr.«

»Danke.«

Ich trete näher ans Bett heran. Meistens weiß ich nicht so genau, an was ich glauben soll, wenn es um Religion geht, aber ich vermute, Coras Seele ist jetzt woanders. Instinktiv blicke ich nach oben an die Decke, als ob ich ihren Geist dort schweben sehen könnte.

Ich habe nie besonders viel Trost darin finden können, mir vorzustellen, dass meine Mutter mich vom Himmel aus beobachtet. Bei ihrer Beerdigung war das die Lieblingsplattitüde der Vertreter der Bruderschaft. Sie konnten sich gerade noch zurückhalten, mir zu raten, Mutters Geist darum zu bitten, mir zur Seite zu stehen. Das wäre auch frevelhaft gewesen. Ein Mädchen sollte ihren Vater oder Ehemann oder die Bruderschaft selbst um Beistand bitten. Aber sie beharrten darauf, dass meine Mutter vom Himmel aus nach mir sehen würde, weil sie dachten, das würde mich trösten. Aber Mutters Bitte, gut auf meine Schwestern aufzupassen, lastete mir schon schwer genug auf den Schultern, da gefiel mir die Vorstellung, dabei auch noch die ganze Zeit von ihr beobachtet zu werden, nicht besonders.

Doch Schwester Cora hat mich vor eine noch viel größere Aufgabe gestellt – die gesamte Schwesternschaft zu beschützen. Tess ist zwar die prophezeite Hexe, aber sie ist noch zu jung, um die Schwesternschaft anzuführen. Und wir beide misstrauen Inez viel zu sehr, um es sie tun zu lassen.

»Ich werde es nicht zulassen, dass Inez alles zerstört, wofür Sie gekämpft haben«, schwöre ich. Meine Stimme ist leise und wird durch den Teppich und die schweren grünen Vorhänge, hinter denen die verschneite Nacht verborgen liegt, gedämpft.

Die Vorstellung, dass Cora zu mir herunterschaut, gefällt mir besser, merke ich. Sie hat eine Menge von mir verlangt, aber auch sie hat ihre Fehler gemacht, wie zum Beispiel mit Zara. Sie würde mir meine Fehler verzeihen.

Das macht mir Mut.

»Danke«, sage ich noch. »Dass Sie an mich geglaubt haben.«

Dann gehe ich ins Wohnzimmer, wo Gretchen zusammengesunken in Coras grün-geblümten Sessel sitzt.

»Wachen Sie bei ihr?«, frage ich, und Gretchen nickt. »Soll ich Sie irgendwann ablösen?«

Sie schüttelt den Kopf, sodass ihre grauen Korkenzieherlocken tanzen. »Sie brauchen Ihren Schlaf. Wie ist es eigentlich in Harwood gelaufen? Entschuldigung, ich hätte gleich danach fragen sollen.«

»Es ist gut gelaufen, größtenteils jedenfalls.« Ich schürze die Lippen. »Zara ist tot. Sie wurde von einer Wache erschossen.«

»Oh, Cate.« Gretchens Unterlippe zittert, aber sie verliert trotz allem nicht die Fassung. »Das tut mir so leid. Zara war eine gute Frau. Sie wäre Ihnen eine große Hilfe gewesen.« Gretchen strafft die Schultern und sieht mich mit ihren braunen Augen an. »Wenn ich irgendwie helfen kann, ich bin auf Ihrer Seite. Was Inez dem Höchsten Rat angetan an – das war einfach nicht richtig. Cora hätte das nicht gewollt.«

»Ich hätte tatsächlich eine Bitte.« Ich hole tief Luft. »Ich würde gern mit Bruder Brennan sprechen. Ich muss ihn so schnell wie möglich treffen.«

Brennan war Coras Spion im Höchsten Rat. Sein Gedächtnis wäre jetzt auch wie das der anderen Mitglieder ausgelöscht, aber Finn hatte ihm Kräuter in den Tee gemischt, die ihn krank machen sollten, sodass er nicht an der Sitzung teilnehmen konnte.

Ich hoffe, dass Brennan zum neuen Vorsitzenden des Nationalrats gewählt wird. Allem Anschein nach gehört er zu den progressiven Kräften bei der Bruderschaft. Wenn ich ihm begreiflich machen kann, dass längst nicht alle Schwestern hinter Inez stehen, wird er die Bruderschaft vielleicht auf einen nicht ganz so rachsüchtigen Weg führen. Dafür müsste er uns allerdings eine Menge verzeihen können. Die Mitglieder des Höchsten Rats waren Brennans Kollegen. Vielleicht war er mit einigen befreundet. Und so lange wir keine Möglichkeit finden, es irgendwie zu verhindern, wird Inez die Schwesternschaft anführen, bis Tess in vier Jahren volljährig sein wird.

»Im Marktviertel gibt es einen Schreibwarenladen, O’Neill’s, bei dem wir immer Nachrichten für Brennan hinterlassen haben«, erklärt Gretchen. »Sie kennen den Code, den er und Cora benutzt haben, ja bereits. Wenn Sie möchten, kann ich einen Brief für Sie kodieren. Obwohl Tess es wahrscheinlich genauso gut kann.« Tess ist unschlagbar was Geheimschriften angeht, so wie auch bei fast allem anderen.

Gretchen öffnet die Kette mit dem Rubinanhänger um ihren Hals und lässt die Goldkette in ihre Hand gleiten. Da fällt mir ein, dass sich Zaras Kette – das Medaillon mit Mutters Foto – immer noch in meiner Umhangtasche befindet. Der Rubin in Gretchens Hand verwandelt sich vor meinen Augen in einen Messingschlüssel. »Mit dem Schlüssel gelangen Sie durch die Hintertür in den Laden. Wir könnten natürlich auch Magie benutzen, aber die anderen haben auch Schlüssel, und sie werden Ihnen eher trauen, wenn Sie Coras benutzen. Vom Lagerraum aus führt eine Treppe in den Keller. Dort werden die Widerstandstreffen abgehalten.«

Sie reicht mir den Schlüssel. Er ist klein und kalt und wirkt unbedeutend in meiner Hand, doch die Information, die Gretchen mir damit gibt, fühlt sich unglaublich bedeutend an. »Widerstandstreffen?«, frage ich.

Soll das heißen, außer den Hexen gibt es noch andere, die im Verborgenen gegen die Brüder vorgehen? Zara hatte so etwas angedeutet, und wir haben darauf gesetzt, dass es sie immer noch gibt, als wir die Flüchtlinge aus Harwood zu verschiedenen Unterschlüpfen von ihnen geschickt haben. Ich hatte nur nicht gewusst, dass Cora etwas mit ihnen zu tun hatte.

Gretchen streicht sich mit der Hand über die runden Wangen. »Brennan ist nicht der einzige Mann in Neuengland, der mit den Methoden der Bruderschaft nicht einverstanden ist. Die Anführer der Widerstandsbewegung treffen sich einmal die Woche. Das nächste Treffen ist für Freitagabend angesetzt. Ich gehe mit Ihnen hin, wenn Sie mögen. Es wird allerdings nicht leicht sein, ihr Vertrauen zu gewinnen. Cora hat Jahre dafür gebraucht. Sie wussten, dass Cora eine Hexe war, aber sie wissen nicht, dass wir alle Hexen sind. Und auch die, die nichts gegen Hexen haben, sehen Frauen nicht als gleichberechtigt an. Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Cate. Alistair Merriweather für Sie zu gewinnen, wird kein Zuckerschlecken.«

Ich runzle die Stirn. »Wer ist das?«

Gretchen sieht mich mit großen Augen an. »Guter Gott, Mädchen, lesen Sie denn nicht die Zeitung? Er ist Herausgeber der Gazette.«

Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie die Gazette gelesen. Der Sentinel ist das offizielle New Londoner Blatt und Sprachrohr der Bruderschaft. Es ist verboten, irgendeine andere Zeitung zu lesen, aber ich habe schon oft dürftig versteckte Ausgaben der Gazette gesehen, als wir Essen an die Armen ausgeliefert haben.

»Sie sollten sich eine Ausgabe besorgen und sich etwas informieren, bevor Sie ihn treffen«, sagt Gretchen. »Wenn Sie ihn auf Ihre Seite bekommen können, wäre das ein Segen für uns. Ein Fünftel der Bevölkerung New Londons liest seine Zeitung, was er Ihnen natürlich auch noch zu gern erzählen wird.«

Ich hebe den Kopf, und ein Funken Hoffnung macht sich in mir breit. »Das sind ganz schön viele Leute, die anscheinend unzufrieden mit der Bruderschaft sind.«

»Und das sind nur die, die mutig genug sind, die Zeitung zu kaufen. Wie viele wird es wohl geben, die sie sich vom Nachbarn ausleihen oder vielleicht gar nicht lesen können?« Ein bitteres Lächeln formt sich auf Gretchens Gesicht. »Die Armen sind frustriert wegen der neuen Gesetze. Denken Sie nur an die vielen Leute, die letzten Monat auf dem Richmond Square protestiert haben.«

»Die Hälfte der Leute ist deswegen auf Gefängnisschiffe gekommen«, erinnere ich sie, als mir Meis Schwestern wieder einfallen. »Meinen Sie nicht, das hat ihrem Drang nach Rebellion einen Dämpfer gegeben?«

Gretchen schüttelt den Kopf. »Ich glaube, das hat das Feuer erst recht geschürt. Es war eine friedliche Demonstration. Das sollte kein Verbrechen sein, für das die Leute jahrelang mit Gefängnis bestraft werden, oder? Ohne die Hilfe ihrer Familien, wenn sie denn welche haben, oder unsere Unterstützung würde es ihnen sehr schlecht gehen. Das Volk ist wütend, vor allem die armen Arbeiter sind erzürnt. Sie sehnen sich nach neuer Führung.«

»Nach jemandem wie Tess«, sage ich. Sie ist die Seherin, die das Volk wieder für uns Hexen gewinnen soll.

»Und Ihnen, Cate«, sagt Gretchen. »Sie und Merriweather würden ein großartiges Gespann abgeben.«

Zweifelnd blicke über die Schulter zu Coras halb offener Schlafzimmertür. Wenn Cora Jahre gebraucht hat, das Vertrauen der Widerstandsanführer zu gewinnen, wie soll ich es dann schaffen? Ich bin noch nicht einmal halb so klug, wie sie es war.

»Cora hat Ihnen vertraut, Cate«, sagt Gretchen. »Enttäuschen Sie sie nicht.«

Ich verwandele den Schlüssel zurück in einen Rubin und hänge ihn mir an der Kette um den Hals. Er ist angenehm schwer. Wie ein Talisman.

»Das werde ich nicht.«

Kapitel 2

Alle mal herhören«, durchdringt Inez’ Stimme am nächsten Morgen beim Frühstück meine Müdigkeit. »Ich habe etwas bekanntzugeben.«

Ich habe sie und den triumphierenden Blick, den sie garantiert aufgesetzt hat, bisher geflissentlich ignoriert. Ihr Plan ist aufgegangen. Sie hat den Höchsten Rat vernichtet. Schwester Cora ist tot. Maura hat ihre absolute Loyalität bewiesen, und Inez glaubt, mich gebrochen zu haben.

Soll sie es denken. Ihr Triumph wird nicht von Dauer sein. Die Schwesternschaft und Neuengland wird sie nur über meine Leiche regieren.

Ich sitze zwischen Rilla und Mei an einem der fünf langen Tische im Esszimmer und schiebe das Rührei auf meinem Teller hin und her. Ich nehme einen Bissen gebutterten Toast. Tess sitzt am Tisch mit den jüngeren Mädchen hinter uns, aber ich vermute, dass sie ganz genau darauf achtet, ob ich auch ordentlich esse.

Inez erhebt sich. Sie trägt wie eh und je ein schwarzes Bombasinkleid ohne jegliche Verzierung, bis auf die Elfenbeinbrosche an ihrem Kragen. Sie wirkt gar nicht wie eine von Brennas Krähen – mit ihrer Hakennase sieht sie vielmehr wie ein räuberischer Habicht aus. Auf ihren scharfen Wangenknochen lässt sich bestimmt kalte Butter schneiden.

Meine Müdigkeit ist mit einem Mal verflogen. Es war zwar Maura, die Finns Gedächtnis ausgelöscht hat, aber Maura hat es auf Inez’ Wunsch hin getan. Maura ist immer so besessen davon, dass jemand sie auswählt, sie am meisten liebt, und das hat Inez ausgenutzt. Ich will Maura gar nicht von der Verantwortung freisprechen – doch Inez hatte es von ihr verlangt.

»Diejenigen von euch, die gestern Nacht aus Harwood zu uns gestoßen sind, willkommen«, sagt Inez ohne das kleinste Lächeln. »Es tut mir leid, was ihr unter den Brüdern erdulden musstet. Ich versichere euch, ihr werdet die Gelegenheit bekommen, euch zu rächen.«

Ich senke den Blick und sehe, wie Parvatis Hand, die mit der Gabel über ihrem Teller Rührei innehält, zittert. Mauds Cousine Caroline ist ein bisschen grün im Gesicht. Auch die anderen neuen Mädchen – Grace Wheeler, Livvy Price und Schwester Ediths Nichte Angela – sehen krank und ziemlich schwach auf den Beinen aus. In Harwood wurde ihr Tee mit Laudanum versetzt. Jetzt leiden sie unter Entzug. Mei und ich haben ihnen Heilkräuter gegeben, aber die helfen nur gegen die schlimmste Übelkeit. Diese Mädchen brauchen keine Rache, sie brauchen Fürsorge und Zeit, um wieder zu genesen.

»Ihr habt sicherlich inzwischen alle mitbekommen, dass Schwester Cora gestern Abend gestorben ist.« Inez macht eine kurze Pause, und die Mädchen um mich herum senken die Köpfe. »Ich mache keinen Hehl daraus, dass Cora und ich keine Freundinnen waren. Wir stimmten nicht darin überein, wie die Schwesternschaft geleitet werden soll, und ich habe sie schon immer für übertrieben vorsichtig gehalten.« Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Gretchen sich empört erheben will. Inez hält beschwichtigend die Hand hoch, und der Silberring der Schwesternschaft glitzert im Morgenlicht. »Nichtsdestotrotz hat Cora ihr Leben der Schwesternschaft gewidmet, und dafür sind wir ihr unseren Respekt schuldig. Die Beerdigung wird morgen früh in der Richmond Kathedrale stattfinden. Ich erwarte, dass ihr alle daran teilnehmt. Laut der Nachfolgeregelung bin ich, als die Älteste, die der Gedankenmagie fähig ist, die neue Schulleiterin.« Inez sieht mich mit ihren dunklen Augen an. »Die Schwesternschaft war jahrelang gespalten, aber ich hoffe, dass ihr bald merkt, dass ich nur das Beste für euch im Sinn habe. Wir haben jetzt alle die gleichen Ziele und die gleichen Feinde, nicht wahr?«

Die Gabel fällt mir aus der Hand und landet mit einem Klirren auf meinem Teller. Ich versuche, meinen Ärger hinunterzuschlucken. Ich weiß, wer meine Feinde sind.

Inez kichert, und es klingt wie das Zerbrechen eines alten, trockenen Zweiges. »Cora hat viel auf die Prophezeiung gegeben, dass eine der Cahill-Schwestern uns ins neue Jahrhundert führen würde. Sie glaubte, dass mit großer Wahrscheinlichkeit Cate die Seherin ist. Allerdings …«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Hat Inez wirklich vor, ihre Unterstützung für Maura zu verkünden? Es gibt nicht mehr Anhaltspunkte dafür, dass Maura die Seherin ist, als für mich.

»Allerdings …«, wiederholt Inez und genießt es sichtlich, wie wir an ihren Lippen hängen, »… ist mir zu Ohren gekommen, dass es nicht Cate ist, die von Persephone mit Visionen der Zukunft gesegnet wurde. Es ist unsere kleine Tess. Nicht wahr, Tess?«

Alle drehen sich nach Tess um. Bis auf ich. Ich starre Maura an, die mit gesenktem Blick an der Spitzentischdecke herumspielt. Ich hätte niemals gedacht, dass sie es Inez erzählen würde.

Ich vertraue ihr offenbar immer noch viel zu sehr.

Tess hebt ihr spitzes Kinn. »Ja, Ma’am.«

»Wie reizend«, schnurrt Inez. »Es gab noch nie zuvor eine Seherin, die auch eine Hexe war, noch dazu eine, die der Gedankenmagie fähig ist. Das bist du doch?«

»Ja, Ma’am.« Tess wird wegen der vielen Aufmerksamkeit ganz rot. Ich denke schon, dass sie bestimmt gleich anfängt, sich auf ihrem Platz zu winden, und in sich zusammensinkt, aber das tut sie nicht. Sie sitzt kerzengerade da, und ich bin richtig stolz auf sie.

»So, so. Nun, es war nicht besonders nett von dir, es niemandem zu erzählen.« Inez schüttelt missbilligend den Kopf, als würde sie ein Kind tadeln, das einen Bonbon geklaut hat. »Aber ich verstehe natürlich, warum du deine Schwester nicht aus dem Rampenlicht verdrängen wolltest …«

»Das war nicht der Grund«, unterbricht Tess sie. »Es ging dabei um meine eigene Sicherheit.«

Die jetzt gründlich gefährdet ist. Tess ist die prophezeite Seherin, die das Volk für sich gewinnen und ein neues goldenes Zeitalter der Magie hervorbringen wird – oder, wenn sie in die Hände der Bruderschaft fällt, eine zweite Schreckensherrschaft. Die Brüder haben Mädchen schon allein wegen des Verdachts, dass sie Visionen haben könnten, umgebracht. Und jetzt sind es nicht mehr nur drei, die von Tess’ Visionen wissen – Tess, Mei und ich –, sondern das ganze Kloster weiß Bescheid: über fünfzig Schülerinnen, ein Dutzend Lehrerinnen und noch ein Dutzend mehr Gouvernanten. Was hat Inez vor?

Inez schlägt sich die Hände vor die Brust. »Dein Geheimnis ist bei uns sicher. Wir sind deine Schwestern. Wir würden dich mit unserem Leben beschützen!«

Würden sie das? Alle? Können wir das wirklich von ihnen erwarten? Was bedeutet Tess den anderen im Esszimmer? Sie wird von allen gemocht, sicherlich, aber das eigene Leben für sie zu opfern, ist keine Kleinigkeit.

»Ich bin jedenfalls hoch erfreut, so eine begabte Schülerin zu haben«, sagt Inez, und allmählich begreife ich, worauf sie hinauswill. »Denn Tess ist begabt, ja, aber sie ist noch ein Kind. Eine Zwölfjährige kann die Schwesternschaft nicht leiten, besonders nicht in solch einer unruhigen Zeit. Sie braucht Führung, und ich bin gern bereit, sie zu übernehmen – statt ihrer zu regieren, bis sie volljährig wird und wir absehen können, ob an der Prophezeiung wirklich etwas dran ist.«

Tess fährt sich mit der Hand durch die blonden Locken. Die Verärgerung ist ihr anzusehen, so wie sie mit den Kiefern mahlt und die Schultern verkrampft. Sie wird Inez nicht öffentlich herausfordern, dafür ist sie zu schlau. Doch sie kann es gar nicht leiden, derart von oben herab behandelt zu werden.

»Danke«, murmelt sie. »Ich weiß Ihre Unterstützung zu schätzen.«

»Gern geschehen.« Inez streift den Gang zwischen den Tischen entlang. »Ich habe noch etwas zu verkünden. Nach dem Ausbruch aus Harwood und dem Angriff auf den Höchsten Rat wird die Bruderschaft jetzt in höchster Alarmbereitschaft sein. Es ist wichtig, dass wir, sollten wir festgenommen werden, in der Lage sind, uns selbst zu befreien, sei es durch Bewegungs- oder Illusionszauber. Miss Auclair, was würden Sie tun, wenn Sie in einer Menschenmenge von den Brüdern als Hexe bezeichnet werden?«

Alice lächelt. Im Handumdrehen hat sie sich in ein dunkelhäutiges Mädchen mit schwarzen Locken und rotkariertem Kleid verwandelt. »Oder noch besser …«, murmelt sie, und einen Augenblick später hat sie den Anschein von einem stämmigen chinesischen Jungen in einem Jeanshemd angenommen.

»Bravo, Miss Auclair!« Inez applaudiert. Alice war schon immer ihre Lieblingsschülerin. Rilla ist in Illusionszauber sogar noch besser, aber sie benimmt sich nicht halb so unterwürfig. »Wir wissen nicht, wie die Brüder Vergeltung üben werden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es tun werden. Es wird zunehmend schwerer werden, ihrer Aufmerksamkeit zu entgegen. Deshalb ändere ich euren Lehrplan und verdoppele die Stunden in Illusions- und Bewegungszauber. Kunst, Musik, Botanik und alle anderen Wahlfächer werden bis auf Weiteres ausgesetzt.«

Rilla hebt die Hand. »Werden Sie weiterhin als Illusionslehrerin unterrichten, wenn sie jetzt Schulleiterin sind?«

»Ich werde vormittags die fortgeschrittenen Schülerinnen unterrichten. Miss Auclair übernimmt die Einführungskurse am Nachmittag.« Inez legt Alice eine knochige Hand auf die Schulter, und Alice – die sich wieder in ihr hübsches blondes Selbst verwandelt – platzt fast vor Stolz.

Ich blicke zum Tisch hinter mir. Rebekah Reed sieht aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, und Lucy ist ängstlich zusammengesunken. Alice ist eine Tyrannin, und die jüngeren Mädchen haben auch so bereits ganz schön unter ihr zu leiden.

»Warum Alice?«, fragt Mei. »Warum nicht Rilla?«

»Rilla wäre eine tolle Lehrerin! Sie ist die Beste in unserer Klasse!«, ruft Pearl.

»Das ist Geschmackssache, nicht wahr?«, fährt Inez sie an. »Außerdem muss ich meine Entscheidungen das Personal betreffend ja wohl nicht vor meinen Schülerinnen rechtfertigen. Abgesehen davon wird Miss Auclair im März siebzehn und hat bereits ihre Absicht verkündet, der Schwesternschaft beizutreten. Miss Stephensons Geburtstag ist erst im September, und sie hat noch keine derartige Erklärung abgegeben. Warum sollte ich ein Mädchen als Lehrerin ausbilden, wenn sie nachher eh das Kloster verlässt, um zu heiraten?«

Rilla errötet hinter ihren Sommersprossen. Sie ist romantisch veranlagt, ja, aber sie hat keinen Verehrer. Keins der Mädchen im Kloster hat das. Es gibt ja auch nicht besonders viele Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen, wenn wir die ganze Zeit als Klosterschülerinnen verkleidet sind.

»So, wenn es dann keine weiteren Unterbrechungen gibt« – Inez wirft Mei und Pearl einen vielsagenden Blick zu – »wir sind bereits spät dran. Miss Kapoor, Miss Price, ich würde Sie bitten, nach dem Vormittagsunterricht zu mir zu kommen, wenn Sie sich dem gewachsen fühlen.«

Als Inez sich umdreht und mit ihren Absätzen den Flur hinunterklappert, fangen alle an zu tuscheln.

Rilla streckt den Arm nach dem Marmeladenglas aus. »Was will sie denn von Parvati und Livvy?«

Ich reiche ihr das klebrige Glas. »Sie können Gedankenmagie.« Die meisten Mädchen, die wir aus Harwood befreit haben, sind gar keine Hexen, weswegen sie zu einem der Unterschlüpfe auf dem Land gebracht wurden. Und Grace, Caroline und Angela sind bloß dank ihrer verwandtschaftlichen Verbindungen mit anderen Schülerinnen oder Angestellten im Kloster untergekommen. Parvati und Livvy allerdings sind hier, weil ich im Nationalarchiv ihre Akten gefunden und festgestellt habe, wie mächtig sie sind. Gedankenmagie ist eine äußerst seltene Gabe; bisher waren nur meine Schwestern, Alice, Elena, Inez und ich dazu fähig.

Ich würde Tess gern fragen, ob alles in Ordnung ist, aber sie ist von ihren Freundinnen umzingelt, die alle aufgeregt auf sie einreden. Als sie mich sieht, nickt sie mir kurz zu. Sie kommt allein zurecht.

Ich wende mich an Parvati und Livvy. »Könnt ihr beide mal kurz mitkommen?« Vielleicht kann ich Inez’ Pläne ja auf andere Art durchkreuzen.

Parvati zuckt zusammen, als ich ihr eine Hand auf die Schulter lege. »Gibt es Probleme?«

»Nein, ganz und gar nicht.« Ich lächle sie beruhigend an. »Ich möchte nur mit euch reden.«

Letzte Nacht haben wir ein paar Kleider für die neuen Mädchen zusammengesucht. Livvy, eine kleine, dralle Brünette, trägt ein rosa-rot kariertes Kleid von Alice. Ich war ziemlich überrascht, dass Alice es hergegeben hat – sie ist nicht gerade für ihre Wohltätigkeit bekannt –, aber es steht Livvy. Ich habe Parvati ein navy-blaues Kleid geliehen, das allerdings wie ein Leichentuch an ihrem klapperdürren Körper hängt. Mei kann gut nähen, vielleicht kann sie es enger machen.

Ich führe die beiden nach oben in mein Zimmer, das ich mit Rilla teile, und bedeute ihnen, sich auf mein Bett zu setzen. Parvati lässt sich auf dem Rand der Matratze nieder, während Livvy ihre geborgten roten Schuhe fallen lässt und es sich auf meinem Bett bequem macht.

»Warum will die Schulleiterin uns sehen?« Parvatis Hand zittert, als sie sich eine Strähne ihres schwarzen Haares hinters Ohr streicht.

»Wegen eurer Gedankenmagie.« Ich ziehe die Bank von der Frisierkommode durchs Zimmer und setze mich den beiden gegenüber. »Sie will euch prüfen.«

»Uns wie prüfen?« Livvy runzelt die Stirn.

Ich spanne unwillkürlich die Schultern an. »Sie wird euch auffordern, in die Gedanken der anderen Mädchen einzudringen. Mich hatte sie aufgefordert, die anderen dazu zu bringen, aus dem Wohnzimmer in Inez’ Unterrichtsraum zu gehen.«

»Hast du es gemacht?« Parvati hat blaue Schatten unter den Augen.

Ich schüttele den Kopf. »Es hat mir nicht behagt, ohne ihre Erlaubnis in die Gedanken meiner Freundinnen einzudringen.«

»Aber du hättest es gekonnt, wenn du gewollt hättest? Du hast doch bei den Krankenschwestern in Harwood Gedankenmagie angewendet, oder?«, drängt Parvati, und ich nicke. »Bringst du mir bei, wie es geht? Ich habe es nie geschafft, jemanden zu bezwingen. Durch das Laudanum konnte ich mich nie lang genug auf etwas konzentrieren.«

»Das werde ich – auch wenn ich hoffe, dass du keinen Gebrauch davon machen musst. Ich denke, Gedankenmagie sollte nicht leichthin benutzt werden. Aber – nun ja, nach dem, was du durchmachen musstest …« Ich kann den Satz nicht zu Ende bringen und merke, wie ich rot werde. »Wenn du dich dadurch sicherer fühlst …«

»Ich würde mich besser fühlen, zu wissen, dass, sollte ich Bruder Cabot jemals wiedersehen, ich ihn bezwingen kann, sich eine Kugel durchs Hirn zu schießen«, sagt Parvati grimmig. »Ich weiß dein Feingefühl zu schätzen, aber Livvy weiß Bescheid. Alle wissen, was mir passiert ist, und keine kam, um mir zu helfen.«

»Parvati, ich …«, fängt Livvy an und beugt sich zu ihr vor.

»Ich verurteile dich ja gar nicht.« Parvati sieht mich an. »Ich habe versucht, mich zu wehren. Ich habe ihn einmal mit seinem eigenen Halstuch gewürgt, aber er hat nach mir geschlagen und ist dann abgehauen, als ich nur noch Sterne gesehen habe. Ein anderes Mal habe ich versucht, ihn zu bezwingen, sich selbst zu blenden, aber der Zauber hat nicht lange genug gehalten. Er hätte sich beinah mit dem Brieföffner der Vorsteherin ins Auge gestochen. Er hat mich dafür verprügelt, aber das war es beinah wert.«

»Oh, Parvati.« Livvy will sie umarmen, aber Parvati entzieht sich ihr.

»Ich will kein Mitleid«, fährt sie Livvy an. »Ich will Rache, so wie Schwester Inez es versprochen hat.«

»Schwester Inez«, sage ich leise, »solltet ihr nicht trauen. Ich kann verstehen, dass …«

»Nein«, unterbricht mich Parvati. Ihr Rücken ist durchgedrückt, die Füße sind brav gekreuzt, aber sie zittert förmlich vor Wut. »Du kannst das nicht verstehen. Nicht, wenn du es nicht selbst erlebt hast.«

Ich fahre die blauen Nadelstreifen auf meinen Rock nach und versuche, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Inez will die Schwesternschaft in einen Krieg führen, den wir nicht gewinnen können. Wir sind mächtig, ja, aber wir sind in der Unterzahl. Die Prophezeiung besagt, dass Tess das Volk für uns gewinnen kann – aber wir müssen mit den gemäßigten Brüdern zusammenarbeiten und den Frieden erhalten. Wenn Inez weiterhin so schreckliche Sachen macht, wird nie ein Kompromiss zustande kommen.«

»Gut«, keift Parvati mit zusammengekniffenen braunen Augen. »Ich will keinen Kompromiss. Wie kannst du von uns verlangen, mit den Brüdern zusammenzuarbeiten, nach dem, was sie uns angetan haben?«

»Die Brüder sind nicht alle schlecht«, sage ich und denke an Finn. Ich denke immer an Finn. Er hat mir erzählt, dass es Gemäßigte unter den Brüdern gibt, Männer wie er, die der Bruderschaft beigetreten sind, um ihre Frauen oder Schwestern oder Liebsten zu beschützen. »Und wenn wir nicht unmenschlich behandelt werden wollen, sollten wir selbst uns auch so verhalten. Denn auch wenn Bruder Covington und die anderen ziemlich verbohrt waren, haben sie es nicht verdient …«

»Verbohrt?« Parvati springt auf. »Du nennst sie verbohrt? Findest du etwa, sie haben es nicht verdient, was ihnen passiert ist? Findest du, ich habe verdient, was mir passiert ist?«

Ich zucke zusammen. »Nein! Natürlich nicht. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Sie waren – sind – grausam. Aber so wie Inez es angehen will, werden wir nie das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen. Wer weiß, was sie noch alles vorhat. Sie ist so eine Intrigantin, ich würde ihr nicht mal …«

»Inez ist eine Intrigantin?« Parvati stützt die Hände in die dünnen Hüften. »Du hast uns hier heraufgeholt, um sie zu untergraben. Du bist wahrscheinlich wütend auf sie wegen dem, was sie und Maura mit deinem Geliebten gemacht haben?« Das kann ich nicht abstreiten – aber es ist nicht nur das. Parvati verzieht angewidert den Mund. »Ich kann nicht glauben, dass du dir von einem Bruder den Hof machen lässt!«

»Er war nicht – du versteht das nicht«, sage ich. »Finn ist kein …«

»Du bist diejenige, die nicht versteht.« Parvati läuft durchs Zimmer und reißt die Tür auf. »Du warst dein ganzes Leben lang behütet. Versetz du dich erst mal in meine Lage, dann können wir darüber reden, was die Bruderschaft verdient.«

Mist!

Livvy starrt auf ihre roten Schuhe. »Ich sollte – entschuldige, Cate«, murmelt sie und läuft Parvati hinterher.

Oh, verdammt!

Ich hätte Elena bitten sollen, an dem Gespräch teilzunehmen. Sie hätte gewusst, wie mit so einer schwierigen Situation umzugehen ist. Jetzt hält Parvati mich für einen Dummkopf, der mit der Bruderschaft sympathisiert, und Inez hat mindestens eine Hexe mit Gedankenmagie mehr auf ihrer Seite.

Ich trete ans Fenster, schiebe Rillas gelbe Vorhänge zur Seite und blicke hinaus in den trostlosen grauen Morgen. Was passiert gerade dort draußen? Hält die Bruderschaft bereits eine Versammlung ab, um einen neuen Anführer zu wählen? Es hängt so viel davon ab, wer der neue Vorsitzende wird und ob er sich in seinen Entscheidungen durch Rache oder Gnade leiten lässt. Finn hat gesagt, es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bruderschaft den Scheiterhaufen wieder einführt. Ich schlinge die Arme um mich und wünschte, er wäre hier, um mich zu trösten.

Ich vermisse ihn schon jetzt.

Im Herbst, als ich bereits in New London und er noch in Chatham war, hatte ich gehofft, dass er vielleicht auch an mich denken würde.

Jetzt wird er noch nicht einmal wissen, warum er mich vermissen sollte.

Ich schiebe die Gedanken beiseite. Wenn ich aufhöre, mich zu bewegen – wenn ich aufhöre, etwas zu unternehmen –, breche ich zusammen. Und die Genugtuung kann ich Inez und Maura nicht geben.

Ich habe nicht besonders viel Vertrauen in die Bruderschaft, aber ich muss einfach daran glauben, dass die meisten Männer dagegen stimmen würden, mich für das, was ich bin, auf den Scheiterhaufen zu werfen. Es ist eine Sache, ein Mädchen für den Rest seines Lebens in Harwood einzusperren. Doch es ist noch mal etwas ganz anderes, sie bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

Oder?

Haben Parvati und Inez vielleicht doch recht? Werden die Brüder so weit gehen?

Jetzt hinunterzugehen und mich in den Unterricht zu setzen ist für mich unvorstellbar. Wie soll ich mich denn konzentrieren, wenn ich nicht weiß, was die Brüder gerade tun oder wie die Leute auf den Ausbruch aus Harwood oder den Angriff auf den Höchsten Rat reagieren? Der Sentinel wird sicherlich beide Ereignisse über einen Kamm scheren – gefährliche Hexen, die frei herumlaufen. Aber was ist mit der Gazette? Ob Alistair Merriweather den himmelweiten Unterschied zwischen dem, was Inez getan hat, und der Befreiung unschuldiger Mädchen sehen kann?

Da klopft es an der Tür. »Herein«, rufe ich, und Tess erscheint.

Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn tritt sie die Tür hinter sich zu und lässt sich auf mein Bett fallen. »Alle starren mich an«, sagt sie mit versteinerter Miene. »Ich würde Schwester Inez am liebsten erdrosseln. Und Maura auch.«

»Dann müsste ich die Erste in der Reihe sein.« Seufzend drehe ich mir die Haare zu einem Knoten. »Maura hatte kein Recht, es irgendjemandem ohne deine Erlaubnis zu erzählen. Aber das hatte ich auch nicht.«

»Nein, hattest du nicht«, sagt Tess mürrisch. »Trotzdem verzeihe ich dir. Es ist unter schrecklichen Umständen passiert. Ich weiß, dass du nicht vorhattest, mich zu verletzen.«

»Das würde ich niemals«, verspreche ich ihr, während ich mir Nadeln in die Haare stecke.

»Maura allerdings hatte Zeit, darüber nachzudenken. Und Inez hat mich dastehen lassen wie ein kleines Kind.« Tess zieht die Augenbrauen zusammen. »Deswegen wollte ich es noch niemandem erzählen. Bekah und Lucy verhalten sich schon ganz anders mir gegenüber. Viel vorsichtiger. Als könnte ich jeden Moment zerbrechen.«

»Du wirst nicht zerbrechen«, versichere ich ihr. »Sie haben es gerade erst erfahren. Gib ihnen etwas Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.«

Tess stöhnt. Sie ist viel geduldiger, als ich es bin, aber das heißt nicht viel. »Verstehst du denn nicht? Ich werde nicht mehr einfach nur Tess sein! Alle werden mich nur noch als die Seherin betrachten. Die Prophezeite.«

»Es wird nicht ewig so sein.« Das hoffe ich zumindest. Ich steige in meine Stiefel und sage: »Ich gehe raus. Magst du mitkommen? Den starrenden Blicken für eine Weile entkommen?«

»Wir haben Unterricht«, erinnert mich Tess und nimmt das Geschichtsbuch vom Fußende meines Bettes auf.

»Ich gehe nicht hin. Ich muss herausfinden, ob die Brüder bereits einen neuen Vorsitzenden gewählt haben. Und ich muss noch etwas Dringendes erledigen. Für die Schwesternschaft.« Ich nehme den elfenbeinfarbenen Umschlag mit grünen Vögeln darauf in die Hand – er stammt aus dem Briefpapierset, das Tess mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat, obwohl ich nicht weiß, wem ich damals hätte schreiben sollen – und wedele damit in ihre Richtung.

Sie schnappt ihn mir aus der Hand und zieht den Briefbogen hervor. Oben auf dem Blatt ist ein grün-blauer Kolibri eingeprägt, und der Brief selbst ist verschlüsselt – nach der Caesar-Verschiebung mit drei Verschiebungen nach links. »Hast du das selbst gemacht?«

Ich nicke. Ich wusste einfach nicht wohin mit mir, als Rilla heute Morgen um viertel vor fünf schnarchend im Bett lag und ich versucht habe, nicht an Finn zu denken. Also bin ich mit einer Kerze hinunter in die Bibliothek gegangen und habe den Brief geschrieben. Ich habe drei Anläufe gebraucht, bis ich es richtig hinbekommen habe, und dann habe ich den Brief auf mein bestes Papier übertragen. Vielleicht legt ein Mann wie Bruder Brennan Wert auf solche Kleinigkeiten. Ich weiß es nicht, schließlich bin ich ihm noch nie begegnet.

»Findest du, ich kann ihn so abgeben?«, frage ich.

Tess überfliegt den kurzen Brief: Schwester Cora ist gestorben. Ich vertraue ihrer Nachfolgerin nicht, die den Angriff auf den Höchsten Rat angeführt hat. Ich hoffe, dass Sie und ich für Frieden zusammenarbeiten können. Ich habe Coras Schlüssel und würde mich freuen, Sie morgen Abend bei der Versammlung zu treffen.

Ich habe den Brief nicht unterschrieben. Auch wenn er verschlüsselt ist, bin ich nicht so naiv, für alle sichtbar meinen Namen darunterzusetzen.

»Ich finde ihn gut.« Tess blickt mich mit ihren grauen Augen an. »Willst du ihn jetzt abgeben? Hast du schon mit Schwester Gretchen gesprochen?«

Ich nicke. »Ich werde ihn in einem Schreibwarenladen abgeben. Und Weihnachten steht vor der Tür. Zu dumm, dass ich keine Ahnung habe, worüber du dich freuen würdest.«

Allein für Tess’ Lächeln hat es sich schon gelohnt. Sie könnte Tage in einem Schreibwarenladen verbringen, genauso wie in einer Buchhandlung.

»Dafür verpasse ich gern den Unterricht«, sagt sie und springt auf.

»Gut. Dann kannst du mir ja helfen. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich es anstellen soll, eine verbotene Zeitung zu kaufen.«

Kapitel 3

Tess und ich schlüpfen unbemerkt durch die Klostertür und gehen durch das stille Wohngebiet. Der Himmel über uns ist grau verhangen, die Rosen an der Pforte zum Nachbargrundstück sind verdorrt. Ein paar Straßen weiter werden die Rasenflächen kleiner, die Bäume weniger, und die Häuser rücken enger zusammen. Das Marktviertel ist geprägt von schmalen zwei- oder dreistöckigen Ziegelsteinhäusern. Im Erdgeschoss befinden sich Geschäfte und darüber Wohnungen. Menschen aller Klassen eilen über die Gehwege aus Kopfsteinpflaster. Straßenhändler bieten Fleischpasteten und frisches Brot feil, polieren den feinen Herren die Schuhe – und verkaufen Zeitungen.

Ich gehe geradewegs auf den nächsten Zeitungsjungen zu. »Hexen attackieren den Höchsten Rat! Bruder Covington im Richmond Krankenhaus! Gefangenenausbruch aus der Irrenanstalt in Harwood!«, ruft er. »Lesen Sie selbst die furchtbaren Neuigkeiten! Zwei Pennies!«

Ich fummele in meiner Tasche nach Kleingeld. »Ist das der Sentinel?« Ich kann es nicht erkennen, weil er so wild mit der Zeitung in der Luft herumwedelt. Er sieht ziemlich anständig aus, aber Mei hat geschworen, dass ihr Bruder die Gazette von ganz normalen Zeitungsjungen kauft, was ich ganz schön mutig finde.

Der Junge grinst mich frech an, die schwarzen Haare fallen ihm in die Augen. »Na klar, Schwester. Was sollte ich denn sonst verkaufen?«

Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu und senke die Stimme. Was soll er schon machen? Mich fürs Fragen festnehmen lassen? Er wird nicht älter als Tess sein. »Weißt du, wo ich … die andere Zeitung bekommen kann?«

»Ich weiß nichts von einer anderen Zeitung, Schwester.« Er weicht zurück und meinem Blick aus. »Ich arbeite für Bruder Augustus Richmond, den Verleger des New LondonSentinel. Das ist die einzige erlaubte Zeitung in der Stadt.«

»Natürlich ist sie das.« Ich lächle ihn verschwörerisch an. »Aber vielleicht weißt du ja, wo ich eine Ausgabe der …«

»Nein, tue ich nicht! Was wollen Sie denn damit?!« Der Zeitungsjunge entfernt sich.

»Meine Güte, Cate.« Tess zieht mich seufzend am Ärmel. »Du gehst das ganz falsch an. Er dachte, du willst ihn auffliegen lassen!«

Ich werde rot. »Wie soll ich es denn dann anstellen?«