Tod am Silsersee - Duri Rungger - E-Book

Tod am Silsersee E-Book

Duri Rungger

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  • Herausgeber: Orte Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Caminada ermittelt im eleganten Umfeld von Sils Maria Der Tod eines Zürcher Unternehmers im Engadin könnte ein banaler Unfall gewesen sein, doch auffällige Kratzspuren im Gesicht des Toten erwecken den Verdacht, er sei absichtlich verursacht worden. Inspektor Caminada führt die Ermittlung im eleganten Umfeld des Hotels Waldhaus in Sils Maria. Da der Tote auch Kriminalromane schrieb, nimmt der Kommissar vor allem die Schriftsteller unter den Hotelgästen unter die Lupe. Die Untersuchung verläuft im Sand, und Caminada und Zinsli wollen den Fall schon abschliessen, als eine neue Spur nach Zürich und zur wahrscheinlich richtigen Lösung führt.

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Seitenzahl: 252

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Duri Rungger

Tod am Silsersee

Duri Rungger

Tod am Silsersee

Kriminalroman

orte Verlag

Die Handlung und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit reellen Begebnissen und lebenden Personen wären zufällig.

Für Lisi, mit herzlichem Dank für ihre kritischen Kommentare.

Der Autor

© 2017 orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

Gesetzt in Times New Roman

ISBN: 978-3-85830-219-9

ISBN eBook: 978-3-85830-226-7

www.orteverlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

1

Samstag, 7. 7. 1962

Der Aufenthaltsraum im Hotel Waldhaus in Sils Maria war heute schwach besetzt. Die meisten Gäste hatten sich bei diesem prächtigen Wetter auf ausgedehnte Wanderungen begeben und waren noch nicht zurückgekehrt. Im Verlauf des Teekonzerts würden sie nach und nach hereintröpfeln. Anita Iseli, geborene Gloor, Apothekerin aus Aarau, hatte sich einen Tisch am Panoramafenster in einiger Entfernung vom Orchesterpodium ausgesucht, um noch einigermassen in Ruhe lesen zu können, wenn die Musik einsetzte. Sie war Mitte vierzig, schlank, und trug ein anthrazitfarbenes Kostüm mit langem Rock und einer modischen kragenlosen Jacke. Die blassgrüne Bluse passte gut zu ihrem dunkelblonden, gewellten Haar, durch das sich erste graue Strähnen zogen. Am Tisch neben ihr hatte sich Margrit Morf aus Basel niedergelassen. Anita plauderte manchmal mit der untersetzten, grauhaarigen Dame, die oft mit ihrem verwirrten Mann Konrad hier sass und vergeblich versuchte, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen. Doch heute war sie allein und derart in ihr dickes Buch vertieft, dass sie ihren Tee unberührt erkalten liess.

Anita war nicht in der richtigen Stimmung, um zu lesen, und sah sich ein wenig in der Halle um. Durch die riesigen Fenster des nach Norden ausgerichteten, halbrunden Vorbaus, in welchem sie sass, drang am Nachmittag nur indirektes Sonnenlicht, was an einem heissen Tag wie diesem vorteilhaft war. Der hintere Teil des Saals wurde durch zwei grosse Oberlichter sanft erhellt. Die farblich fein abgestimmten, um kleine Tische gruppierten Polstersessel, die edlen Perserteppiche und die prächtigen, auf Marmorsockeln aufgestellten Blumensträusse ergaben eine leicht pompöse und doch äusserst gemütliche Atmosphäre.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle besprach eine Familie ihre Reisepläne. Der Vater, ein knochiger älterer Herr, der farblose Sohn und das kecke Töchterchen kamen im Moment zwar nicht dazu, etwas zu sagen. Die Mutter, eine aufgedonnerte Dame in schwarzer Seidenbluse, weiten Hosen und silbernen, hochhackigen Schuhen fuchtelte mit der Strassenkarte in der Luft herum und bemängelte lautstark die Nachteile der vorgeschlagenen Routen: zu viele staubige Naturstrassen bei der einen, schäbiges und unzumutbares Hotel für den Zwischenhalt bei der andern. Die hochgeschraubten Ansprüche der Frau passten zu ihrem übertriebenen Make-up und den krallenartigen, silbernen Fingernägeln.

Schliesslich wurde es dem Papa zu bunt. Er stand auf und bemerkte trocken: «Umso besser! Du wolltest ja unbedingt nach Venedig. Für mich ist die Stadt in der Hochsaison sowieso unerträglich. Verschieben wir das auf ein anderes Mal. Ich gehe gleich zur Réception und verlängere unsern Aufenthalt hier um ein paar Tage.» Er liess seine verdutzte Gattin sitzen, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Anitas Blick wanderte zu zwei französisch sprechenden Paaren, die einige Tische von ihr entfernt derart erregt diskutierten, dass sie jedes Wort hätte verstehen können, wenn ihr Französisch etwas besser gewesen wäre. Die häufige Erwähnung des Wortes «Oran» machte ihr aber rasch klar, dass es um das schreckliche Massaker ging, das dort durch die Unabhängigkeitserklärung Algeriens ausgelöst worden war. Die heutigen Zeitungen hatten ausführlich darüber berichtet.

Die Musiker nahmen ihre Plätze ein und stimmten die Instrumente. Anita schaute auf die Uhr. Es war kurz vor vier, und ihr Mann war noch nicht von seinem Spaziergang zurückgekehrt. Erwin hatte sich nach dem Mittagessen verabschiedet, um im Zwiegespräch mit der Natur Inspirationen für ein neues Gedicht zu schöpfen, wie er sagte. Sie hatte nie verstanden, wie er unter blauem Himmel in einer Blumenwiese sitzen und dabei Zeilen von abgrundtiefer Traurigkeit in sein Heft kritzeln konnte. Seine Gedichte waren sprachlich und rhythmisch ausgefeilt, wenigstens soweit sie dies beurteilen konnte, doch schlicht und einfach deprimierend. Im gegenwärtigen Wirtschaftsboom hatten die Leute weder Zeit noch Lust, Klagelieder zu hören, geschweige denn solche zu lesen. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die so dachte. Auf jeden Fall hatte ihr bedauernswerter Poet trotz unermüdlicher Bemühungen keinen Verleger gefunden, der bereit gewesen wäre, auch nur ein einziges seiner Gedichte zu veröffentlichen – und schon gar nicht einen ganzen Band davon. Seine gesammelten Werke hätten ein Buch ergeben, das selbst in Kleindruck noch dicker ausgefallen wäre als die Lektüre ihrer Nachbarin am Nebentisch.

Sie zog tief die Luft ein. Erwin tat ihr leid. Für ihn stand früh fest, dass er Germanistik studieren und Literaturwissenschaftler werden wollte. Doch im Gymnasium war er von den technischen Fächern völlig überfordert. Nach zwei Rückversetzungen verliess er gezwungenermassen die Aargauer Kantonsschule und arbeitete als Aushilfe in der Buchhandlung am Graben, die zu seinem Verdruss bald zum bevorzugten Treffpunkt seiner ehemaligen Klassenkollegen wurde. Anita war eifrige Leserin und treue Kundin in diesem Laden und hatte Erwin dort kennengelernt. Der scheue junge Mann, der aufblühte, wenn er sie beraten konnte, hatte ihr gefallen. Wenn er mit ihr über Literatur diskutierte, vergass er seine Zurückhaltung und konnte geistreich, ja manchmal auch witzig diskutieren. Sonst hätte sie ihn nicht geheiratet, so gutaussehend er auch war – damals wenigstens.

Ihr gemeinsames Glück dauerte jedoch nicht lange. Erwin zog sich immer mehr in sich zurück und wurde griesgrämig. Es war klar, dass dies mit seiner unbefriedigenden Arbeit zusammenhing, und so schlug sie vor, er solle die Buchhandlung verlassen und zu Hause ungestört an seinen Gedichten arbeiten. Finanziell gesehen war diese Lösung sogar von Vorteil. Sie hatte die Apotheke ihres Vaters in Aarau übernommen, und der diplomierte Apotheker, welcher sie bis dahin halbtags vertreten hatte, verdiente bedeutend mehr als Erwin mit seiner Vollbeschäftigung in der Buchhandlung. Nun konnte sie unbeschwert ganztags in der Apotheke arbeiten, während ihr Mann über Haus und Garten wachte. Für praktische Arbeiten war er zwar nicht geeignet, liess aber die Putzfrau und den Gärtner ungestört arbeiten – und leerte zuverlässig den Briefkasten. Spitze Bemerkungen über sein Dasein als Hausmann bekam er kaum zu hören, da er mit niemandem verkehrte.

Anfänglich war er begeistert, sich ganz seiner Dichtkunst widmen zu können, sass zu Hause, im Garten oder an der Aare, nagte an seinem Bleistift, feilte an seinen Gedichten und schien zufrieden. Doch als er versuchte, seine Werke zu publizieren und eine Absage nach der anderen erhielt, verbitterte er zusehends. Um ihn aufzumuntern, hatte sie vorgeschlagen, zumindest einen ersten Band von Gedichten im Selbstverlag herauszugeben. Sie wäre gerne für die Kosten aufgekommen, doch ihr gutgemeinter Vorschlag hatte ihn tief beleidigt.

Anita seufzte und trank einen Schluck von ihrem Weisswein, der inzwischen lauwarm geworden war. Sie nahm ihr Buch zu Hand, kam aber nicht dazu zu lesen, denn soeben erschien ihr Mann unter der Türe. Seine gebeugte Haltung und das schüttere Haar liessen ihn viel älter erscheinen, als er war, und sein jämmerlicher Gesichtsausdruck verstärkte diesen Eindruck. Anita runzelte die Stirn. Der Tag im Freien hatte ihn offensichtlich nicht aufgeheitert.

Iseli kam mit schweren Schritten auf sie zu, liess sich schlaff in den Plüschsessel fallen und stiess mit rauer Stimme hervor: «Hesse kommt nicht!» Er sah seine Frau vorwurfsvoll an, als ob sie an diesem Unheil Schuld wäre. Nach längerem Schweigen fügte er erklärend bei: «Der Concierge hat mir eben anvertraut, der alte Herr sei schwer erkrankt und seine Frau habe die bereits gebuchten Ferien absagen müssen.»

Sie liess ihr Buch sinken. «Der Ärmste, hoffentlich erholt er sich bald wieder.» Dann schüttelte sie den Kopf und sah ihren Mann missbilligend an. «Und wie hast du das in Erfahrung gebracht? Hast du wieder einmal den halben Tag an der Réception deinem Opfer aufgelauert, statt wie vorgesehen draussen zu arbeiten?»

Er ging nicht auf ihre Frage ein und brütete finster vor sich hin. Sein Plan war gescheitert, den grossen Schriftsteller als Sprungbrett zur Anerkennung zu benützen. Dabei war die Idee gar nicht so abwegig gewesen, wie Anita meinte. Während des Aufenthalts des berühmten Mannes wären bestimmt einige Journalisten im Hotel aufgetaucht, nur schon um zu erfahren, wie es um seine Gesundheit stand. Dabei hätte sich bestimmt eine Gelegenheit ergeben, sich mit auf ein Bild zu bringen und es dem Fotografen abzukaufen. Er hatte auch mit der Idee gespielt, seine Anita solle mit ihrem Charme Hesse dazu bewegen, sich mit ihm ablichten zu lassen – am liebsten an einem der kleinen Tischchen in der Bibliothek über eines seiner Gedichte gebeugt. Ein kurzer Artikel mit diesem Bild und einem schmeichelhaften Kommentar hätte sicher einen Verleger dazu gebracht, eine Auswahl seiner Werke herauszugeben. Nun wurde nichts daraus – und zu allem Unheil hatte er hinter dem Rücken seiner Frau bei seiner Schwester Geld geborgt, um diese Ferien, von denen er sich so viel erhofft hatte, selbst bezahlen zu können. Er hatte es satt, sich als erfolgloser Schreiberling von Anita aushalten zu lassen – egal wie viele grosse und kleine Künstler sich anscheinend nicht scheuten, eine reiche Frau aufzugabeln und sie sitzen zu lassen, sobald sie ihr Vermögen verpulvert hatten.

Erwin kam nicht dazu, sich länger seinen düsteren Gedanken hinzugeben, denn Martin Brunner betrat den Salon in Begleitung seiner Frau Selina. Brunner hatte sich nach dem Ausflug anscheinend noch nicht umgezogen und trug eines dieser bunten Hawaii-Hemden, die gerade in Mode waren. Aber auch sonst gab ihm dieser steinreiche Zürcher Spekulant gewaltig auf die Nerven. Der konnte es sich spielend leisten, ausgedehnte Ferien in einer Suite der Bel Etage zu verbringen und einen silbernen Cadillac convertible zu fahren. Was ihn besonders störte, war Martins joviales Auftreten, das er als hochnäsig empfand. Bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit bestellte der Angeber eine Flasche vom teuersten Champagner des Hauses. Dass er jeweils Anita und ihn dazu einlud, machte die Sache fast noch unerträglicher. Seine Frau behauptete zwar, er sei bloss eifersüchtig, weil der Grundstückmakler nebenbei auch einen Krimi geschrieben hatte, der zum Bestseller geworden war. Das war eine lächerliche Unterstellung! Wie konnte sie bloss annehmen, er beneide den Verfasser eines billigen Kriminalromans?

Selina Brunner war bestimmt zehn Jahre jünger als ihr Mann. Es war ja nicht aussergewöhnlich, dass gutsituierte Herren eine viel jüngere Frau heirateten, sie mit sündhaft teuren Kleidern und kostbarem Schmuck dekorierten und als Aushängeschild ihres Erfolges missbrauchten. Er empfand sonst eine tiefe Abneigung gegenüber derartigen Luxusweibchen, doch Selina bewunderte er. Sie war eine selbstbewusste, eigenständige Person, hatte Musik studiert und war daran, eine Karriere als Pianistin aufzubauen. Und sie war schön! Ihr ausdrucksstarkes und doch liebliches Gesicht war umrahmt von tiefschwarzem, lockigem Haar. Heute war sie besonders reizend. Mit ihren von der Sonne geröteten Wangen, der weissen Bluse und dem bauschigen, kurzen Rock sah sie aus wie ein fröhliches Schulmädchen.

«Dürfen wir Ihnen Gesellschaft leisten?» Brunner richtete die Frage an Frau Iseli, doch bevor diese dazu kam zu antworten, war ihr Mann schon aufgesprungen und rückte Selina, die ihm dankbar zulächelte, einen Sessel zurecht.

Anita versuchte, dem übertriebenen Getue Erwins keine Aufmerksamkeit zu schenken, und musterte die Gesichter der beiden. «Sie sind braun geworden. Haben Sie eine Spritztour in Ihrem Cabriolet gemacht? Warm genug dafür wäre es heute.»

«Nein, wir sind mit dem Kutschenbus ins Fextal gefahren und haben dort im Hotel etwas gegessen. Danach sind wir zum kleinen See hinten im Tal aufgestiegen und auf der linken Talseite über Wiesen- und Waldwege bis Sils Maria zurückgewandert. Es war herrlich …» Martin warf seiner Frau einen neckischen Seitenblick zu, «… wenn du mir nur nicht dauernd Blumen- und Vogelnamen an den Kopf geschmissen hättest.»

«Ich wollte doch nur meine Begeisterung mit dir teilen», protestierte sie mit gespielter Entrüstung. «Ich bin oft draussen in der Natur, und du kommst nie mit. Wenn du ausnahmsweise zu Hause bist, so hockst du an deinem Schreibtisch und bewegst dich kaum.» Dann räumte sie ein: «Trotzdem bist du erstaunlich gut zu Fuss.»

«Bitte sehr, Golf und Tennis halten auch fit.» Dann winkte er den Kellner zu sich und bestellte eine Flasche Champagner, wie erwartet den teuersten auf der Getränkekarte.

Iseli verzog angewidert das Gesicht.

Nachdem der Champagner eingeschenkt war, hob Brunner sein Glas. «Zum Wohl, Liebste!» Er stiess mit seiner Gattin an und wandte sich dann den Iselis zu. «Prosit, Anita, Erwin – ah, Herr Morf, möchten Sie auch ein Glas mit uns trinken?»

Der alte Herr, der unbemerkt an ihren Tisch getreten war und sich hinter Iselis Sessel aufgepflanzt hatte, schien die Einladung nicht verstanden zu haben und staunte Brunner mit grossen Augen an.

Brunner zuckte die Schultern und hob sein Glas. «Trotzdem, alles Gute auch Ihnen, Herr Morf.» Der Angesprochene reagierte nicht und blieb teilnahmslos stehen.

Trotz seiner Abneigung gegen Brunner kostete Iseli den Champagner andächtig und nickte anerkennend. Dann fischte er die Flasche aus dem Sektkübel und las mit zusammengekniffenen Augen: «Bedel Françoise et fils … Champagne brut comme autrefois.» Er liess die Flasche wieder ins Eis gleiten. «Trinken Sie immer Champagner gegen den Durst?»

«Nicht immer», lachte Brunner. «Nach dem heutigen Gewaltmarsch sind wir nicht direkt ins Hotel gekommen, sondern durch die Schlucht ins Dorf hinuntergestiegen. Dort habe ich im ‹Edelweiss› ein grosses Bier getrunken, wenn Sie das beruhigt. Jetzt ist Champagner angebracht, denn ich habe etwas zu feiern.»

Iseli fragte nicht nach dem Grund und seine Frau sprang ein: «Haben Sie Geburtstag?»

«Nein, ich habe gestern im Manuskript meines neuen Kriminalromans die letzten Korrekturen angebracht.»

«Gratuliere!» Anita zögerte ein wenig, Brunners schriftstellerische Tätigkeit zum Gesprächsthema zu machen. Ihr Mann war krankhaft eifersüchtig auf jeden, der etwas publizieren konnte. Doch im Moment schien Erwin derart in den Anblick der bezaubernden Selina vertieft, das sie es wagen durfte: «Ich habe Ihr erstes Werk mit viel Vergnügen gelesen. Trotz der grausigen Handlung ist es humorvoll geschrieben. Das ergibt einen packenden Kontrast. Etwas wundert mich: Wie finden Sie neben Ihrer Tätigkeit noch Zeit, Romane zu schreiben?»

«Den Ersten, und bislang Einzigen, habe ich geschrieben, kurz nachdem ich mein Maklerbüro eröffnet und noch beträchtliche Anlaufschwierigkeiten hatte. Ohne die nötigen Beziehungen war es schwierig, Liegenschaften zu finden, und wenn ich endlich eine ausfindig gemacht hatte, sass ich tagelang an meinem Schreibtisch und hoffte, es würde sich ein Interessent finden. Um mir die Zeit zu vertreiben, habe ich angefangen zu schreiben. Meine ganze Frustration und die schlechten Erfahrungen mit unfairen Konkurrenten sind in meine mörderische Geschichte eingeflossen. Meine Widersacher sind jetzt alle tot – wenigstens auf dem Papier.»

«Doch jetzt läuft Ihr Geschäft offensichtlich auf Hochtouren. Sind Sie nicht überlastet?»

«Wenn Sie mit ‹offensichtlich› auf unser Cabriolet und die Suite hier anspielen, so muss ich doch darauf hinweisen, dass ein teurer Wagen öfter mit Schulden als mit Vermögen einhergeht. Aber unsern Cadillac habe ich tatsächlich bar bezahlt. Was das Schreiben betrifft, meine Agentur läuft ausgezeichnet. Ich habe tüchtige Angestellte, welche die Kleinarbeit für mich erledigen, und lasse nur noch meine Beziehungen spielen, spüre unbebaute Wiesen auf, stecke meine Nase in jedes baufällige Haus und entscheide, welche Objekte uns interessieren könnten. Dann nehme ich Kontakt mit widerstrebenden Grundbesitzern auf, und meistens kriege ich sie herum.» Brunner lächelte zufrieden. «Meine schriftstellerische Tätigkeit wird dadurch erleichtert, dass Ingrid Koch, meine rechte Hand im Büro, so liebenswürdig ist, mir den Text vom Diktiergerät ins Reine zu tippen.»

«Tönt sehr bequem», warf Iseli geringschätzig ein. Er hatte das Gespräch doch mitgehört.

«Agatha Christie hat das auch so gemacht und trotzdem einige Bücher verkauft», bemerkte Brunner schlagfertig. Dann wandte er sich wieder Frau Iseli zu: «Wie dem auch sei, die Handlung meines Romans ist fertig, doch etwas fehlt noch: Der Mörder in meiner Geschichte ist Schriftsteller, und ich möchte jedes Kapitel mit einem Gedicht einleiten, das die Stimmung und den Ablauf der Handlung untermalt. So werde ich notwendigerweise zum ‹Verslibrünzler›, wie Sie, Erwin, einen Anfänger wie mich wohl bezeichnen würden. Perfekt müssen die Verse nicht sein. Ich schiebe sie ja dem Dichterling meiner Geschichte unter – und der ist alles andere als genial.» Brunner lachte zufrieden.

Iseli kaute an etwas herum, blieb jedoch lange stumm. Endlich bezwang er seinen Widerwillen und schlug vor: «Wie wäre es, wenn Sie Gedichte von mir in Ihrem Roman verwenden würden? In meiner Sammlung findet sich bestimmt ein Passendes zu jedem Thema Ihrer Geschichte.»

«Davon bin ich überzeugt», mischte Anita sich ein, die noch über Erwins abschätzige Bemerkung von vorhin erbost war. «Deine Gedichte sind finster wie die Nacht und würden bestimmt in den schauerlichsten Kriminalroman passen.»

Brunner suchte nach einem Ausweg. «Nun, wenn es mit meiner Dichtung nicht klappt, komme ich gerne auf Ihr freundliches Angebot zurück, aber ich habe bereits einige Ideen und möchte es zuerst einmal selbst versuchen. Auch wenn die Verse etwas holperig herauskommen, kann ich sie im Krimi trotzdem publizieren …»

«… und bleiben nicht jahrelang darauf sitzen wie ich. Danke, das ist sehr liebenswürdig.» Iseli stand abrupt auf und ging. Nicht einmal Selinas entschuldigende Geste vermochte ihn zurückzuhalten.

2

Samstag, 7. 7. 1962

Caminada blätterte entnervt im Papierstapel, der sich während der vergangenen hektischen Wochen auf seinem Schreibtisch aufgetürmt hatte. Ein Arbeitsunfall mit einem Toten, eine Messerstecherei mit einem Schwerverletzten, ein Säufer, der seine Familie drangsalierte, und eine Serie von Einbrüchen hatten ihn auf Trab gehalten, und er war nie dazugekommen, die dazugehörigen Rapporte zu schreiben. Er dachte mit Wehmut an die Zeit, als Tscharner noch bei ihnen im Büro arbeitete und ihm jeweils saubere Zwischenrapporte mit angehefteten Belegen auf den Tisch legte. Aber Claudio war wieder zur Stadtpolizei zurückberufen und dank des halben Jahres, das er bei der Kriminalpolizei verbracht hatte, an eine höhere Stelle befördert worden. Caminada mochte ihm dies von Herzen gönnen, doch die Rapporte musste er nun wieder selbst schreiben. Wenigstens hatte er die Fresszettel mit seinen hastig hingeworfenen Notizen thematisch geordnet – er konnte nur hoffen, dass in der Eile keiner in der falschen Beige gelandet war.

Er kaute an seinem Bleistift und schaute aus dem Fenster auf den Pizokel hinüber. Der bewaldete Kegel des Churer Wahrzeichens gefiel ihm zwar, doch der Berg stand einfach am falschen Ort. Im Winter raubte er bis auf wenige Morgenstunden einem Grossteil der Stadt die Sonne, und im Sommer spendete er nicht den geringsten Schatten. Und heute war es wieder einmal drückend schwül. Doch er musste durchhalten. Die Hochjagd wurde erst im September eröffnet, und er wollte seine Ferien für diese Zeit aufsparen.

Mit einem unwilligen Knurren zog er den dünnsten Stapel zu sich, legte ein leeres Blatt Papier daneben und schrieb:

Messerstecherei, Samstag, 5. Mai 1962. Weiter kam er nicht. Sein Chef, Kommissar Raeto Zinsli, stürmte ohne anzuklopfen ins Büro. «Lass alles liegen, Roc! Wir haben einen Toten!»

Caminada wagte nicht auszusprechen, wie gelegen ihm dieser Todesfall kam und beschränkte sich auf ein trockenes:

«Wo?»

«Im Engadin.» Der kleingewachsene Zinsli kletterte auf einen Stuhl und erklärte: «Ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, liegt am Ufer des Silsersees – kein Badeunfall, die Leiche ist bekleidet. Er scheint von einem Felsen der Halbinsel Chasté gestürzt zu sein.»

«Und was ist daran verdächtig? Gewöhnliche Unfälle werden doch sonst von der lokalen Polizei untersucht.»

«Das war auch der Fall, aber der Polizist von Sils hat bemerkt, dass der Tote auffällige Kratzspuren im Gesicht trägt.»

«Die kann er sich doch auch beim Sturz durch ein Gebüsch zugezogen haben.»

«Der Landjäger behauptet, das sei unmöglich, und hat sich deshalb entschlossen, uns zu alarmieren. Ich weiss nicht, was an diesen Kratzern besonders sein soll … aber egal, ziehst du es vor, hier am Schreibtisch zu hocken, oder fährst du lieber ins schöne Engadin?»

«Was für eine Frage!» Caminada stand auf und deutete auf seinen Schreibtisch. «Dann müssen die Rapporte eben noch länger warten.»

«Frau Rizzi kann ja während deiner Abwesenheit daran arbeiten», schlug Zinsli vor. «Sie macht das sehr gut, wenn ich sie nett darum bitte.» Zinsli musterte mit zusammengekniffenen Augen die Notizen seines Freundes und fügte dann einschränkend bei: «Wenn sie deine Handschrift nicht lesen kann, bist du allerdings selbst schuld.»

Eine halbe Stunde danach hatte Caminada die Lenzerheide bereits überquert. Der Ausblick ins Oberhalbstein und auf die Berge vermochte ihn heute nicht zu begeistern. Zu viele unangenehme Erinnerungen an einen brutalen Mord waren mit der Gegend verbunden. Erst nachdem er Savognin hinter sich gebracht hatte, konnte er sich von diesen düsteren Gedanken befreien und begann, die Fahrt zu geniessen. Die Alpenrosen am Julier standen in prächtiger Blüte. Am liebsten hätte er eine kurze Rast eingelegt, hatte aber keine Zeit dazu.

Während er den Silvaplanersee entlang fuhr, wähnte er sich in einem Touristenprospekt: hellblauer Himmel, weisse Gipfel und Firne, grüne Wiesen, blaues, vom Malojawind gekräuseltes Wasser. In Sils Baselgia stellte er den VW vor der Pensiun Chasté ab, wo der Dorfpolizist, Peider Clalüna, auf ihn wartete. Caminada begrüsste den knochigen, braungebrannten Kollegen, bestellte sich einen Kaffee und nachdem sie ein wenig geplaudert hatten, liess er sich über den Leichenfund informieren.

«Ein Feriengast ist heute früh in seinem Boot um die Halbinsel Chasté gerudert. Da sah er einen farbigen Fleck zwischen den Bäumen hervorleuchten. Er legte an, kletterte den steilen Abhang hoch und fand den Toten mit einem lose um den Hals geschlungenen roten Seidenschal. Ohne dieses auffällige Tuch wäre die Leiche wohl noch lange nicht entdeckt worden.» Clalüna nickte nachdenklich, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und fügte dann bei: «Der Schädel des Toten ist eingeschlagen, doch das kann auch beim Aufprall geschehen sein. Ich habe Chur alarmiert, weil sich im Gesicht des Toten zwei seltsame, auffallend ähnliche Kratzspuren befinden. Auf der einen Wange verlaufen sie fast senkrecht, auf der anderen horizontal. Sie können nicht durch Äste eines Gebüschs verursacht worden sein.»

Caminada nickte. «Es ist gut, dass Sie uns alarmiert haben. Ich werde mir die Sache natürlich auch noch ansehen.»

«Die Leiche ist bereits nach Samedan ins Spital Oberengadin transportiert worden. Der Arzt hat leider nicht auf Sie warten können», entschuldigte sich Clalüna und sah Caminada fragend an, doch dieser zuckte nur lässig die Schultern.

Plötzlich schlug sich der Dorfpolizist die Hand vor die Stirn. «Ich habe ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass seit gestern Mittag ein Feriengast im Hotel Waldhaus vermisst wird – Martin Brunner, ein Zürcher Grundstückmakler und Bauunternehmer von der besseren Sorte. Sobald wir hier fertig sind, muss ich wohl seine Ehefrau nach Samedan bringen, damit sie die Leiche identifizieren kann. Dabei weiss ich noch nicht einmal, ob es sich beim Toten wirklich um den Vermissten handelt.»

Caminada musste sowieso mit dem Arzt sprechen, um Genaueres zu Todesursache und Zeitpunkt zu erfahren. «Das kann ich Ihnen abnehmen, aber zuerst muss ich mir den Fundort der Leiche ansehen.» Er stand auf, setzte sich aber gleich wieder und bat seinen Kollegen: «Könnten Sie bitte noch rasch die Frau Wirtin fragen, ob sie am Sonntag um die Mittagszeit etwas Auffälliges beobachtet hat. Einer der Wege nach Chasté führt ja gleich hier am Haus vorbei.»

Clalüna stand auf und verschwand im Korridor. Anscheinend kannte er sich hier aus. Nach wenigen Minuten kam er zurück und hob entschuldigend die Achseln. «Die Wirtin stand am Sonntag den ganzen Morgen in der Küche, und das einzige, was sie mir erzählen konnte, war das Menu. Sonst hatte sie Augen für nichts.»

«Nun, dann wird es Zeit, uns die Stelle anzusehen, wo das Unglück geschehen ist.»

Sie überquerten die Wiese zum See und setzten mit Clalünas Boot zum Fundort der Leiche über, der zu Fuss schlecht erreichbar war. Der Körper war etwa zwanzig Meter über dem Seeufer aufgefunden worden. Unterhalb der Fundstelle waren die Heidelbeersträucher und das Gras von den Rettern und dem Arzt zertrampelt, doch glücklicherweise war niemand in das darüberliegende Gelände eingestiegen. Caminada spähte den steilen Hang hoch, über welchen der Verunfallte heruntergekollert sein musste. An einigen Stellen war das Gesträuch flach gedrückt und einige Äste geknickt. Er folgte dieser Spur aufwärts bis zum Fuss einer fast senkrechten Felswand. Hier musste der Körper aufgeschlagen sein. Und richtig, auf einem grossen Steinbrocken entdeckte er einen Blutfleck. Clalüna hatte gesagt, dass der Schädel des Toten eingeschlagen war. Das war wohl hier beim Aufprall geschehen.

Caminada kehrte zu Clalüna zurück, der im Boot auf ihn wartete. «Waren Sie schon oben auf der Anhöhe?»

«Noch nicht, ich wollte keine Spuren verwischen und habe es vorgezogen, auf Sie zu warten. Den Spazierweg entlang der Krete habe ich natürlich gesperrt. Oben, ziemlich genau über dem Fundort, gibt es einige Mauerreste, wahrscheinlich die Überbleibsel einer alten Burg – vielleicht heisst die Halbinsel deshalb Chasté. Der Verunfallte muss von dort hinuntergestürzt sein.»

«Gut, gehen wir hinauf und schauen nach, ob wir etwas finden.»

Sie fuhren mit den Boot zum Ansatz der Halbinsel zurück und nahmen den schmalen Weg, der durch dunklen Nadelwald leicht anstieg, eine grosse, mit Birken gesäumte Sumpfwiese durchquerte und wieder in den Wald führte. Gegen die Anhöhe hin wurde der Abhang zu ihrer Rechten immer steiler und fiel an einigen Stellen fast senkrecht zum Wasser ab. Oben angekommen, zeigte Clalüna seinem Kollegen die im Gebüsch versteckten kaum kniehohen Mauerreste. Bevor er die ummauerte Fläche betrat, musterte Caminada von aussen sorgfältig den Boden. Das Gras war an mehreren Stellen niedergetrampelt, doch da es seit Langem nicht mehr geregnet hatte, konnte das schon vor Tagen geschehen sein. Dann stutzte er. Auf dem Mäuerchen vor dem Abgrund lag ein schwarzes Heft. Er suchte vergeblich in seinen Taschen nach einem Säckchen, um es sicherzustellen.

«Suchen Sie so etwas?» Clalüna hielt ihm eine Tüte und Gummihandschuhe hin.

«Danke, genau!» Nachdem er sich die Handschuhe, die viel zu klein für seine kräftigen Hände waren, mit Mühe über die Finger gezogen hatte, hob er das Heft hoch. Darunter lag ein Bleistift. Er steckte beide Fundstücke in den Papiersack. Dann trat er ans Mäuerchen und sah in die Tiefe. Der Seespiegel lag etwa hundert Meter unter der Kuppe, auf der sie standen. Der Stein, auf welchem er den Blutfleck entdeckt hatte, befand sich senkrecht unter ihrem Standort. Caminada seufzte: «Zwanzig Meter reichen für einen tödlichen Sturz – vor allem, wenn man mit dem Kopf auf einem Stein landet.»

Er setzte sich auf das Mäuerchen und wollte sich der Handschuhe entledigen, entschied sich jedoch anders. «Wenn ich schon diese lästigen Dinger anhabe, könnten wir uns gleich das Heft ansehen. Vielleicht gehörte es dem Toten, und wir erfahren etwas über ihn.»

Mit einer Handbewegung lud er Clalüna ein, sich neben ihn zu setzen. Dann zog er das schwarze Leinenheft aus der Tüte und öffnete es. Die erste Seite trug den Vermerk: Sils Maria, Sonntag 8. Juli, 1962 und den Titel: Tödliche Reime.Auf der zweiten Seite fand sich der Untertiitel: Kapitel 1: Tod am Silsersee.

«Diese Notizen sind mit Tinte geschrieben,» bemerkte Caminada, «und nicht mit dem Bleistift, den wir hier gefunden haben. Das muss der Besitzer noch zu Hause geschrieben haben, und Sils Maria würde zu dem im ‹Waldhaus› vermissten Hotelgast passen.»

Der Rest der Seite war mit hastig hingeworfenen und wieder durchgestrichenen Wörtern, halben Sätzen, und sich reimenden Wortpaaren mit Bleistift vollgekritzelt. Dann folgten vier, etwas sorgfältiger geschriebene Zeilen:

Im vom Wind gekräuselten Wasser

bricht sich das Licht der Sonne

und zwischen dunklen Stämmen

glitzern tausend Sterne.

«Ein Dichter – oder einer, der es werden möchte. Wahrscheinlich gehört das Heft doch nicht dem Vermissten. Grundstückmakler sind zwar gut im Erzählen von Märchen, aber dass sie auch noch anfangen zu dichten … »

Caminada ging unentschlossen vor dem Hotel Waldhaus hin und her und überlegte, wie er in dieser heiklen Sache vorgehen sollte. Clalüna hatte die Absicht, mit Frau Brunner nach Samedan zu fahren, damit sie feststellen könne, ob es sich beim aufgefundenen Toten um ihren Mann handle. Aber Caminada wollte die Frau des Vermissten nicht unnötig beunruhigen. Er wusste ja nicht, ob der Tote von Chasté wirklich der hier vermisste Gast war. Ein Angestellter des Hotels, der Brunner kannte, konnte die Identifikation ebenso gut vornehmen. Danach sollte ein Geistlicher die Gattin informieren – der konnte das bestimmt besser als er.

Der mögliche Ausweg gab Caminada den nötigen Mut, die wenigen Stufen zum Eingang des Hotels in Angriff zu nehmen. Ein uniformierter Portier öffnete ihm die Türe und zeigte beflissen den Weg zur Réception, die sich gleich rechts vom Eingang befand und kaum zu übersehen war.

«Wie kann ich Ihnen behilflich sein?» Der Concierge musterte den unerwarteten Gast prüfend.

Caminada hatte das Gefühl, sein Anzug von der Stange passe schlecht in die noble Umgebung. «Ich bin Roc Caminada von der Kantonspolizei und komme wegen des Vermissten.»

«Ah endlich! Gibt es Neuigkeiten über den Verbleib von Herrn Brunner?»

«Heute früh ist ein Toter bei Chasté gefunden worden. Es könnte sich um den Mann handeln, den Sie als vermisst gemeldet haben, doch die Leiche ist vor meiner Ankunft abtransportiert worden. Ich habe den Toten noch nicht gesehen und weiss auch nicht, wie Herr Brunner aussieht. Aber wir werden bald herausfinden, ob er der Tote ist, der heute aufgefunden wurde. Am besten begleitet mich einer Ihrer Angestellten, der Brunner kannte, nach Samedan und identifiziert die Leiche.»

Der Concierge sah Caminada tadelnd an. «Sie wollen doch nicht weggehen, ohne die Frau des Vermissten informiert zu haben?»

«Doch, das möchte ich. Stellen Sie sich vor, ich erzähle der Gattin, wir hätten einen Toten gefunden, von dem wir nicht wissen, ob es ihr Mann sei – und nachdem sie vor Schreck in Ohnmacht gefallen ist, spaziert der Vermisste hier zur Türe …» Weiter kam er nicht.

«Haben Sie vom Vermissten gesprochen? Ich bin seine Frau und habe ein Recht zu erfahren, was Sie wissen.»

Caminada drehte sich zu der jungen Frau um und erstarrte. Sie sah seinem verschollenen Patenkind Julia ähnlich: bildhübsch mit hellblauen, mandelförmigen Augen, leicht vorstehenden Backenknochen und schwarzem Haar, doch im Unterschied zu Julia, die ihr glattes Haar kurz trug, war es bei der Frau, die jetzt vor ihm stand, wild gelockt. Er schloss die Augen. Wie viele Jahre waren vergangen, seit Julia verschwunden war?

«Bitte, ich habe Sie etwas gefragt.»

Caminada erwachte aus seiner Starre. «Entschuldigung, Frau Brunner, natürlich – vielleicht könnten wir uns an einem ruhigeren Ort unterhalten.» Er sah sich suchend um, und der Concierge deutete auf den Korridor, der zur Bibliothek führte. Er wusste, dass sich im Moment kein anderer Gast dort befand.

Der dunkel getäferte Raum mit seinen kleinen Schreibtischchen und vollen Bücherregalen strahlte Ruhe aus. Kein übler Ort für eine heikle Unterredung, auf die Caminada trotzdem gerne verzichtet hätte. Nachdem sie sich gesetzt hatten, fiel es ihm nicht leicht, einen unverfänglichen Anfang zu finden. «Ich bin nicht sofort zu Ihnen gekommen, weil wir noch nichts Genaues wissen, und ich Sie nicht unnötig aufregen wollte.»

«Aufregen? – Also ist etwas Schlimmes passiert», schloss die junge Frau scharfsinnig.