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Die dienstliche Beurteilung, die der Mittelschullehrer Staab von der Schulrätin Merz erhält, fällt vernichtend aus. Deprimiert macht er sich auf den Heimweg. Zufällig fährt die Schulrätin vor ihm auf der Landstraße und biegt zu seiner Überraschung auf eine Seitenstraße ab, die zu einem abgelegenen Weiler führt. Neugierig geworden folgt Staab ihr und entdeckt wenige Minuten später ihre Leiche auf einem Wanderparkplatz. Der Fall lässt Staab keine Ruhe und er beginnt, das ausdrückliche Verbot der Polizei missachtend, mit seiner Kollegin Eva nach dem Mörder zu suchen. Bald finden sie heraus, dass die Schulrätin ein Doppelleben führte und sich in dem einsamen Dorf mit einem Liebhaber traf. Da sich die Schulrätin im Kollegium von Staabs Schule viele Feinde gemacht hat, verfestigt sich Staabs Verdacht, dass der Mörder unter seinen Kolleginnen und Kollegen zu suchen ist. Im Laufe seiner Recherchen erkennt Staab, dass der Mörder ihn zu verfolgen beginnt. Ein Zweikampf mit dem Unbekannten entbrennt.
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2021
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
»Lässt du es schneien?«, sagte Staab in das geschminkte Gesicht der Schulrätin Merz hinein, in die empörten, aufgerissenen und von einem grünlichen Lidschatten umflorten Augen. Haben diese Augen jemals liebend oder begehrend geblickt, überlegte er kurz. Angeblich war sie verheiratet, hatte sogar Kinder, vielleicht mittels Jungfernzeugung ins Leben gebracht. Überraschenderweise trug sie ein ‘duftiges’ Sommerkleid, das allerdings um ihr knochiges Gestell flatterte wie ein Rupfen an einer Teppichstange. Sie machte es jedem leicht, sie zu hassen.
»Ein Zitat, übrigens aus der Bibel«, meinte Staab noch.
Gerade hatte sie seine Deutschstunde genüsslich, wie ihm schien, zerpflückt, vor allem seine Lehrersprache und noch mehr die Vertiefung, mit der er den Sinn des Gedichtes Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, das er mit den Schülern gelesen hatte, herausarbeiten wollte.
»Das ist ja nun…«, sie rang nach Worten, »…völlig daneben. Bleiben Sie doch lehrplankonform. Vermitteln sie Kompetenzen«, sie zog die Augenbrauen hoch. »Um die Schüler fit für das digitale Zeitalter zu machen, müssen wir ihnen Kompetenzen vermitteln.«
Sie wiederholte das Wort und während sie jede Silbe betonte, Kom-pe-ten-zen, tippte sie mit ihrem knochigen Zeigefinger auf die Tischplatte.
»Aber…«, wollte er einwenden, doch sie wischte sein ‘aber’ mit einer herrischen Geste hinweg.
»Kompetenzen, kein ‘aber’«, sie grinste. Offenbar war sie der Meinung, einen guten Scherz gelandet zu haben. Sie blätterte in seinen Unterlagen. »Mit der Hand geschrieben«, murmelte sie kopfschüttelnd.
Trotzig dachte er sein ‘aber’ weiter, denn die meisten Schüler hatten den grundgütigen Herrn Ribbeck verstanden, seinen unvermittelten Ruf, der ein Kind so beglückend traf: ‘Lütt Dern, kumm man röwer, ich hebb ‘ne Birn‘. Das war Menschlichkeit, keine abstrakte, im Wesenlosen geisternde, sondern eine, die, wenn auch nur für Augenblicke, eine echte Freude bereitete. Sogar der dicke Jens hatte es verstanden, hatte, ebenfalls nur für einige Momente, gelächelt, hinten in der letzten Bank, überbequem hingefläzt, aber er hatte gelächelt und das Gedicht gleich noch einmal gelesen, obwohl er sich eigentlich schon mit den Arbeitsaufträgen eins bis drei hätte auseinandersetzen sollen.
»Jens hat es jedenfalls kapiert«, unterbrach Staab den Vortrag der Schulrätin, die ihn verständnislos und verärgert anstarrte, nahm sie sich doch gerade seine Schülerbeobachtungen sowie seine Sequenzplanung vor.
»Oberflächlich hingehudelt«, und damit lag sie nicht einmal so verkehrt. »Sehr unzulänglich«, sagte sie. »Eigentlich alles. Wir sehen uns nächste Woche im Schulamt, dann legen Sie mir ihre Unterlagen vollständig vor, und zwar ausgedruckt und nicht mit der Hand hingeschmiert.«
Sie erhob sich, ragte vor ihm wie ein Trockengestell auf, an dem einer ein Kleid aufgehängt hatte, verdunkelte das einzige Fenster in dem Besprechungszimmer, ragte, schwieg, sah sekundenlang auf ihn herab, der sich unwillkürlich duckte.
»Was wir brauchen, sind top Leute, Profis«, sagte sie – ‘und keine Versager wie dich‘, ergänzte er den Satz so, wie sie ihn sicherlich gemeint hatte – und wandte sich zur Tür.
Staab blieb noch ein paar Minuten sitzen, starrte auf die leere, spiegelnde Tischfläche, dann auf das weiße, gleißende Rechteck des Fensters. In seinen Ohren hallten noch die Worte der Schulrätin nach, die seine eigenen Gedanken erdrückten, nicht zuließen. Schließlich erhob er sich, schlurfte zur Tür und auf den Gang hinaus, wurde von einer Schar lärmender Zweitklässler überholt und sperrte, vom Getobe genervt, das Lehrerzimmer auf, wankte zu seinem Platz, wo seine Tasse mit dem kalt gewordenen Kaffee stand, registrierte, dass irgendwo an dem langen Tisch noch jemand saß, und versank in dumpfes Brüten. Gab es Alternativen? Ein Café eröffnen? Journalismus? Ranger in einem Nationalpark? Alles Wunschträume, Illusionen, unmöglich zu verwirklichen oder den Hungertod nach sich ziehend. Er trank von dem kalten Kaffee, auf dem Blättchen aus Milchhaut schwammen.
»Genau so«, sagte er laut, denn irgendwo saß ja jemand, »Genau so, wie der Kaffee schmeckt, fühle ich mich.«
»Nicht nur du«, Evas grämliche Stimme erhob sich wie eine zerschlissene Krähe von einem Abfallhaufen.
»Scheiße«, meinte er noch.
»Schulrätin?«, fragte sie.
Er nickte. Sie schob den Heftstapel, den sie gerade korrigierte, von sich, ihr Gesicht wurde rot, dann weiß. Sie blickten beide hinaus auf den nebligen Parkplatz, wo abfahrbereite Autos standen. Der Tank von Staabs altem Peugeot war halb voll, er käme mindestens bis München, ohne anzuhalten. Eva hatte wohl ähnliche Gedanken.
»In Avignon findet gerade ein Open-Air-Konzert statt, habe ich in der Zeitung gelesen«, meinte sie.
Avignon. Er stand auf, machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Statt Orangen oder Zitronen in Avignon blühten ihm noch drei Stunden Unterricht in schwierigen Klassen, Mathe, Sozialkunde, Religion – er, Religion!
Auf dem Gang wurde es unruhig, manche Lehrer ließen ihre Schüler bereits in die Pause, bevor der Gong ertönte, was den Rektor täglich zur Weißglut brachte, ohne dass es ihm je gelungen wäre, diesen Missstand abzustellen. Staab war unkonzentriert, hatte zu viel oder zu wenig Kaffee in den großen Filter gelöffelt, Plörre oder Teer für die Kollegen, beides sorgte für schlechte Laune, und er war schuld.
Eva trat neben ihn, gemeinsam sahen sie zu, wie ein dünner, heißer Wasserstrahl zischend in das Kaffeepulver rann. Es beruhigte, stellte er fest und atmete das sich verbreitende Kaffeearoma ein.
»Sie macht jeden fertig«, sagte Eva, und Staab glaubte aus ihrer Stimme etwas wie Mitgefühl für ihn herauszuhören. »Jeden«, wiederholte sie.
Ja, sie unternahm tatsächlich den Versuch, ihn aufzumuntern. Er roch ihr etwas zu aufdringliches Deodorant, das den Kaffeeduft verdrängte. Konnte er sie sich vorstellen, wenn er die Augen schloss? Eva, Ende dreißig, nicht verheiratet, täglich ihre demenzkranke Mutter im Heim besuchend, sportliches Auto, gelegentlich Raucherin, weiße Fäden im schwarzen Haar, fast immer in Zerwürfnis mit ihrer Umwelt. Mehr wusste er nicht von ihr, höchstens noch, dass ihr Dalmatiner vor kurzem eingeschläfert werden musste.
Eckert platzte herein, aufgedreht, hochrotes Gesicht, knallte die Büchertasche auf einen freien Stuhl, schimpfte los, wie er es immer tat, hatte es in seiner Klasse, in allen Klassen, nur mit Kretins zu tun, mit Vollidioten, manchmal waren es auch Ignoranten oder ‘Gschwartl’ – er stammte aus Mittelfranken.
»Der Kaffee braucht noch ein paar Minuten«, unterbrach ihn Staab, denn er konnte Eckerts Gebrüll nicht ertragen, an diesem Tag noch weniger als sonst. Eckert setzte sich, stellte beleidigt, weil es noch keinen Kaffee gab, seine leere Tasse vor sich auf den Tisch und starrte ins Leere.
Ging, gang, gong, jetzt begann die Pause offiziell. Das Schulgebäude füllte sich mit Geschrei und Gejohle. Nach und nach trafen die Lehrer ein, manche mitgenommen, andere gut gelaunt und augenblicklich entwickelte sich im Lehrerzimmer dieses eigenartig gehetzte, durch verschiedene Stimmungslagen genährte, zusammengestückte, bunt schillernde, hin- und herschwappende Kollegengespräch, Fußballexpertisen, Witzchen, Beschwerden über Schüler, Dossiers über den eigenen Gesundheitszustand, die Zumutungen des Schulamts.
Staab saß schweigend auf seinem Stuhl. Wenn er hinüber zu Eva sah, trafen sich für Momente ihre Blicke; sie redete ebenfalls mit niemandem. In der nächsten Stunde musste Staab Mathe unterrichten, Zinsrechnen. Wie waren doch gleich die Formeln? Sein Gehirn war benebelt wie draußen der Parkplatz.
Inzwischen war der Kaffee durchgelaufen, vor der Maschine bildete sich eine Schlange, die Situation für Belz, den Possenreißer, der den vor ihm stehenden Kollegen Meier schubste, damit er gegen die junge, attraktive Lehramtsanwärterin Jeske stieß.
»Schneidig, schneidig, dieser Meier«, dröhnte Belz. Irgendwann, dachte Staab, sage ich ihm, dass er ein Arschloch ist, vielleicht noch heute nach dem Unterricht. Meier und Jeske lächelten hilflos.
»Wie viele Stunden hast du noch?«, fragte er Eva über den Tisch hinweg.
»Drei«, antwortete sie tonlos.
Ging, gang, gong, so schnell ging die Pause zu Ende. Manche Kollegen sprangen auf, andere blieben sitzen, als hätten sie das Signal nicht gehört. Staab nahm seine Tasche, verließ das Lehrerzimmer und traf auf dem Gang auf zwei freundliche Jungs aus seiner Klasse, die auf ihn gewartet hatten, und, während sie nun vor ihm zum Klassenzimmer gingen, von ihren neu gekauften Computerspielen erzählten. So ist es erträglich, dachte Staab, nein, so ist es gut.
Keine gute Stelle zum Überholen, dachte Staab, als ihn der silberne Sportwagen überholte, und prompt tauchte ein Getränkelaster in der weit gezogenen Linkskurve auf. Leicht schlingernd schlüpfte der silberne BMW noch gerade rechtzeitig zurück auf die rechte Fahrbahnseite. Er hatte sie erkannt, Schulrätin Merz, natürlich in Eile, unterwegs zu wichtigen Terminen – das Leben bedeutender Menschen war ausgefüllt mit entscheidenden Besprechungen, Zusammenkünften. Trotzdem hätte ihr Staab weder diesen Fahrstil noch den Sportwagen zugetraut, und noch mehr überraschte es ihn, dass sie einige hundert Meter weiter nach rechts in Richtung Oberhohl abbog, ein Weiler mit nicht einmal hundert Einwohnern. Was wollte sie dort? Keine Schule, keine Lehrer, die sie drangsalieren konnte, dafür ein Dutzend kläffender, bissiger Hunde, wie Staab von einer Wanderung wusste, und ein seit Jahren geschlossenes Gasthaus. Er überlegte nicht einmal eine Sekunde und folgte dem BMW, musste allerdings das Gaspedal seines altersschwachen Peugeot durchtreten, wollte er von ihr nicht abgehängt werden. Aber nach zwei Kurven war sie schon außer Sichtweite, doch er blieb gelassen, denn die Straße endete in Oberhohl; sie konnte ihm nicht entkommen.
Das heimliche Leben der Schulrätin M., er fühlte sich wie ein Privatdetektiv, war gespannt, welche Entdeckung ihm bevorstand, freute sich auf die Geschichte, die er am nächsten Tag in der Pause im Lehrerzimmer zum Besten geben konnte. Doch da glänzte ihm, noch waren es fünf Kilometer bis Oberhohl, von einem Parkplatz das Silber ihres Sportwagens entgegen. Wollte sie wandern? Er bremste und ließ den Peugeot langsam näher rollen. Seine Neugier überwog seine Bedenken, denn er hätte der Schulrätin nicht erklären können, was ihn ebenfalls in diese Nebenstraße verschlagen hatte. Die Fahrertür stand offen, und während er an dem Parkplatz vorbeifuhr, sah er sie am Steuer sitzen und sich mit einem Menschen unterhalten, der neben ihr hockte, obwohl Staab sicher war, dass sie zuvor allein im Auto gewesen war. Ein Date? Aber mit wem? Ein zweites Auto war nicht zu sehen. Ein Mann, soweit er es hatte sehen können. Ihr Lover? Die Merz? Unvorstellbar. Jetzt verschwand der Parkplatz aus Staabs Sichtfeld.
Was sollte er tun? Er bog in einen Waldweg ein, schaltete den Motor aus, öffnete die Tür, überlegte, fühlte sich unwohl, knipste das Radio an, hörte eine Weile einer Beethoven-Sonate zu, startete wieder den Motor, wendete und fuhr mit Vollgas zurück, in der Hoffnung, dass die Merz nichts von seiner Aktion bemerkte.
Der Parkplatz tauchte auf, das schimmernde Silber, die Fahrertür stand noch weiter offen als zuvor. Und sie lag davor. Erst dachte er in seiner Verwirrung, dass sie etwas am Wagen reparieren wollte – sein Gehirn konnte das, was er sah, nicht richtig verarbeiten –, aber diese Interpretation war natürlich Unsinn, denn sie lag auf dem Rücken, trotz ihres duftigen Sommerkleides, auf dem staubigen Schotter, die Beine grotesk abgespreizt, wie es von einer Schulrätin nicht denkbar war, zumindest nicht von Schulrätin Merz. Staab musste voll abbremsen, weil er auf das Bankett geraten war und einen Wirbel aus Split und dürrem Laub aufgerührt hatte, riss das Lenkrad nach links, stoppte, stieß zurück und jagte, aus dem Motor alles herausholend, zu dem Parkplatz zurück.
So wie die Merz lag, war in ihr kein Leben mehr, so hingestreckt waren nur Leichen. Er stieg aus, näherte sich, sah ihr verwirrtes Haar, die von blauen Adern durchzogenen nackten Oberschenkel und den krebsroten Striemen über den Hals, daneben eine dunkle Lache. Kehle durchgeschnitten. Der Anblick war ihm vom Tatort im Fernsehen durchaus vertraut, realiter aber benahm es ihm für einige Sekunden den Atem. Als er sich schließlich, nach Luft schnappend, bezwingen konnte und Schulrätin Merz an den Hals fasste, um sicher zu gehen, dass sie wirklich nicht mehr lebte, fühlte er nur weiche, tote Haut.
Über ihm im Wald krachten im trockenen Laub die Schritte eines rennenden Menschen. Der Mörder! Vielleicht nur fünfzig Meter entfernt. Floh er oder griff er an? Bestürzt erkannte Staab, dass er in Lebensgefahr war und packte einen trockenen, am Boden liegenden Ast, mit dem er sich zur Wehr setzen konnte. Aber die Schritte entfernten sich hangaufwärts, wurden leiser, verstummten. Da war ihm einer nahe gewesen, der einer Frau den Hals durchgeschnitten hatte, nach den Geräuschen der Schritte zu schließen nur wenige Meter! Ein Mörder! Ein Monster! Ein Mensch! War er wirklich fort? Die Front der Bäume wirkte bedrohlich und verhinderte, dass man tiefer in den Wald hineinsehen konnte.
Staab vermochte sich erst nach einigen Minuten aus seiner Erstarrung zu lösen, tastete nach seinem Handy, wählte 112, erklärte der müden Stimme einer offenbar jungen Frau, dass er vor einer Leiche stehe, am Wanderparkplatz an der Straße zwischen Burgroth und Oberhohl.
Schweigen, dann die Frage: »Eine Leiche?«
»Ja, eine tote Frau, sie heißt Merz, ich kenne sie…«
Er verstummte, denn beinahe hätte er gesagt, und ich mag sie nicht. Die Frau in der Notrufzentrale hatte sich inzwischen gefasst, fragte nach seinem Namen und nochmals nach seinem Standort. Er solle warten, die Polizei komme demnächst, er solle sich auf keinen Fall entfernen. Dazu hatte er allerdings große Lust, der Anblick der toten Schulrätin war nicht leicht zu ertragen. Dennoch beugte er sich über sie.
Im Blick der toten Augen stand noch das Erstaunen darüber, was mit ihr geschehen war, die blassen Lippen waren verächtlich nach unten gezogen. ‘Ich kenne sie‘, hatte er gesagt, aber das entsprach nicht der Wahrheit, sie war eine Unbekannte. Schulrätin, nun gut, aber darüber hinaus?
Ein Eichelhäher krächzte und ein Buchenblatt schwebte herab, durch eine unbekannte Ursache in diesem Augenblick von seinem Zweig gelöst, taumelte neben ihn auf den Boden. Staab riss sich vom Anblick der ermordeten Schulrätin los, der ihn in Bann geschlagen hatte, ging zur Straße und begann ein sinnloses Hin und Her, aufgewühlt wie er war und unfähig, die Situation zu begreifen, in die er geraten war.
Der Eichelhäher maunzte und raunte heiser. Ein Auto fuhr vorbei. Der Fahrer glotzte ihn an, als wäre es ein Verbrechen, am Bankett auf und ab zu gehen, und übersah dabei, dass auf dem Parkplatz eine Leiche lag, dass das Verbrechen dort geschehen war. Vogelstimmen, das ferne Rauschen eines Zuges, am Himmel brummte ein Flugzeug, eine große Fliege prallte gegen seinen Arm. Ein Mensch war tot, den er hasste – ja, Hass war das richtige Wort –, ermordet auf grausame, archaische Weise, geschächtet. Im Aufruhr seiner Gefühle, er konnte diese Empfindung nicht unterdrücken, schwang auch etwas wie Genugtuung mit – unmöglich sich gegen diese Regung zu wehren. So lernt man sich kennen.
Wieder ein Auto, dieses Mal von der anderen Seite. Am Steuer eine Blondine, die nicht nach links oder rechts sah, und schon vorbei war. Ein Windstoß, der das Kleid der toten Schulrätin bewegte, an den Buchenzweigen riss und, sich abschwächend, in Richtung Oberhohl davonmachte. Nein, dachte Staab, keine Genugtuung, eine Frau ist tot, schrecklich, unfassbar. Er kam wieder auf das richtige Gleis, lief gleich mit längeren Schritten, sehnte die Ankunft der Polizei herbei, wartete bestimmt schon fünfzehn Minuten. Das nächste Fahrzeug war ein altersschwacher Traktor, der mit polternden Fehlzündungen heranwackelte. Der Alte auf dem Sitz, hochrotes, aufgedunsenes Gesicht, blickte ihn ausdruckslos, aber unentwegt an, drehte sogar im Vorbeizockeln den Kopf nach ihm um, ohne eine Miene zu verziehen, glotzte, bis er sich schließlich mit einem Ruck nach vorne wandte. Die Leiche hatte er nicht bemerkt.
Hatte da jemand gesprochen? Gar die Schulrätin? Sie lag regungslos, die bleichen Beine grotesk von sich gestreckt, ein Anblick, der Staab seltsam genierte. Er hatte sich getäuscht. Wahrscheinlich hatte der Eichelhäher einen eigenartigen Laut von sich gegeben. Gerade flog der Vogel auf einen niedrigen Ast, schien den Leichnam zu betrachten und verdrückte sich dann ins Waldinnere.
Endlich tauchte ein Polizeiauto auf, ein normaler Streifenwagen, zwei Beamte stiegen aus, einer lief sogleich zu der Ermordeten, der andere kam auf Staab zu.
»Sie haben uns angerufen, Herr Staab?«
Staab bejahte. Lag es an der Frage oder an dem Blick des Beamten, plötzlich fühlte er sich angeklagt und berichtete hastig, wobei er sich ständig verhaspelte und Dinge durcheinanderbrachte, was geschehen war. Der Polizist sah ihn schweigend an. Nachdem er alles berichtet hatte, trat Staab einen Schritt zurück. Seine nicht zu unterdrückende Schadenfreude, als er sie hatte liegen sehen, fiel ihm ein. Da war eine Menge Häme im Spiel gewesen, nicht mehr als ein kurzes Aufflackern, das er sofort von sich gewiesen hatte, doch die Genugtuung, sie auf dem staubigen Schotter des Parkplatzes hingestreckt vorzufinden, war deutlich gewesen, eine seltsame Erregung.
Staab fasste sich, beantwortete die Fragen des Polizisten, der, vielleicht interpretierte er seinen Gesichtsausdruck falsch, ihn misstrauisch und abschätzig betrachtete, sah, wie der andere Beamte telefonierte und erkannte, ohne genau sagen zu können, was auf ihn zukam, dass er in einer schwierigen Lage steckte, weniger, weil natürlich der erste Verdacht auf ihn fiel, sondern weil er sich mit Schuld, aufgrund seiner eigenartigen, befremdlichen Empfindung, beladen, nein, befleckt hatte; er war befleckt.
Ein Krankenwagen kam. Der Arzt eilte zu der Leiche, ein Sanitäter schleppte unnötigerweise einen schweren Koffer hinterher. Staab wurde angewiesen, sich in das Polizeiauto zu setzen, in der Nähe baute sich unübersehbar einer der Beamten auf.
Die letzten Dunstschleier, die Erinnerung an das nächtliche Gewölk, das sich nicht hatte zu einem Gewitter durchringen können, lösten sich auf, immerhin war es Sommer, Ende Juni, gleißende Sonnenstrahlen durchbrachen das Laubdach. Avignon, hatte Eva gesagt, Süden, Rotwein, schläfrigmelancholische Nachmittage im Schatten von Olivenbäumen – träumen konnte er gut. Das hätte er der Schulrätin entgegenhalten sollen.
Ein dunkelblauer Wagen bog in den Parkplatz ein. Die Kriminalpolizei, ahnte Staab. Ein Mann und eine Frau stiegen aus, gingen zu der Toten, bückten sich, redeten mit dem Polizeibeamten, der zum Streifenfahrzeug deutete. Jetzt geht es los, dachte Staab. Jetzt bin ich dran. Er stieg aus, plötzlich aufgeregt, sich wieder schuldig fühlend. Warum nur? Die Kriminalbeamten stellten sich vor, Herr Baumann, Frau Schumann. Obwohl Staab die Lippen bebten, konnte er wegen der Ähnlichkeit der Namen ein Grinsen nicht unterdrücken. Frau Schumann überging seine Grimasse mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Sie haben die Leiche entdeckt?«
Diese Frage war noch leicht zu beantworten und auch die nächste nach seinem Wohnort, schwieriger war es mit der darauffolgenden, warum er auf dieser Straße gefahren sei, wo er doch in Schachten wohne.
»Nicht leicht zu erklären…«, Staab schwitzte, nicht nur wegen der Junisonne, die sich inzwischen freigekämpft hatte und ihm ins Gesicht schien. Er beschloss, die Wahrheit zu sagen und schilderte seine Neugier, als er entdeckte, dass die ihm bekannte Schulrätin in diese Landstraße, die nicht zum Schulamt führe, abgebogen sei. Peinlich, er gebe es zu, seine Neugierde, fast etwas unangenehm Voyeurartiges, aber es sei nun mal geschehen, und dann habe er sie liegen gesehen. Weiterhin berichtete er von seiner Beobachtung einer zweiten Person am Wagen und von den Schritten später im Wald, gefährlich nahe, wahrscheinlich, nein, sicher der Mörder.
»Ein Mann?«, fragte die Kommissarin.
So sein Eindruck, meinte er und unterdrückte gerade noch seine Ansicht, dass eine solche Bluttat nur von einem Mann begangen werden konnte – ein Wissen, das er den zahlreichen Krimisendungen im Fernsehen verdankte.
Ein weiteres Fahrzeug erschien mit den Leuten der Spurensicherung, wie sich herausstellte. Drei Menschen, in weiße Plastikfolien gehüllt, stiegen aus und machten sich augenblicklich an der Leiche zu schaffen. Die Kommissarin blickte Staab nachdenklich ins Gesicht.
»Sie haben die Frau wohl nicht besonders leiden können?«
»Nein. Aber wenn man sie jetzt so liegen sieht, ist das alles vorbei, ich meine, dass sie mir nicht sympathisch war.« Er redete wirr. Sie schwieg.
Die zwei Polizeibeamten und ein Mann von der Spurensicherung begannen, den Waldrand abzusuchen, drangen auch tiefer in den Wald ein, scheuchten den Eichelhäher auf, der kreischend protestierte und über die Straße davonflog.
Frau Schumann blieb neben Staab stehen, obwohl ihre kurze Befragung längst beendet war. Sie betrachtete ihn unentwegt, vermutlich ihre Methode, einem Verdächtigen auf den Zahn zu fühlen. Staab zog unbehaglich die Schultern hoch und ahnte, dass jede seiner Bewegungen ihn verdächtiger machte, auch wenn er nichts getan, außer diesem Gefühl der Schadenfreude Raum zu geben, Gott sei’s geklagt, dem er sich nicht hatte erwehren können. Aber diese Regung gehörte in eine andere Sphäre, für die die Kommissarin nicht zuständig war und er ihr darüber keine Rechenschaft ablegen musste.
Ein Ruf aus dem Wald, schnelle Schritte im trockenen, krachenden Laub, einer der Polizisten erschien, hielt etwas in der Hand, das er Kommissar Baumann zeigte, der, nachdem er Handschuhe angezogen hatte, sich den Gegenstand von allen Seiten besah und dann zu Staab und der Kommissarin herüberkam, die noch immer kein Auge von ihm ließ.
»Augenscheinlich die Tatwaffe«, sagte Baumann und hielt ihnen ein blutverschmiertes Messer unter die Nasen, ein normales Küchenmesser, zum Zerschneiden von Gemüse oder Schweinebraten, irgendwo beiläufig aus dem Block gezogen und der Merz durch den Hals gerammt. Hass, viel Hass war da im Spiel gewesen. Nein, einen derartigen Hass hatte Staab nicht verspürt. Jetzt, da er die grässliche Mordwaffe vor Augen hatte, wurde es ihm sogar ein wenig leichter ums Herz, da es vollkommen unvorstellbar war, dass er sich je zu einem solchen Verbrechen hinreißen ließ. Er war unschuldig, sein Gewissen unangetastet. Unbehagen, nicht mehr.
Die Schumann ließ sich nach wie vor keine seiner Bewegungen entgehen. Wie ihre Prüfung ausfiel, konnte er ihr nicht ansehen.
»Sieht nach Fingerabdrücken aus«, murmelte Baumann und versenkte das Messer in einem Plastikbeutel.
Staab musste weg, und zwar auf der Stelle. Er hatte mit dem Mord nichts zu tun, konnte der Polizei nicht weiterhelfen, hatte alles gesagt, war unversehrt – ein unbeschreibliches, fast wonniges Gefühl der grenzenlosen Freiheit durchströmte ihn.
»Brauchen Sie mich noch?«, fragte er.
»Sie warten«, zischte die Schumann.
Der Eichelhäher war zurückgekehrt, schaukelte auf einem niedrigen Ast und beäugte neugierig die Vorgänge auf dem Parkplatz. Staab beobachtete ihn, da man sich nicht weiter um ihn kümmerte. Der Vogel kennt den Mörder, überlegte er, aber dann dachte er nicht mehr an die tote Schulrätin, sondern an die fünfeinhalb Wochen, die ihn noch von den Sommerferien trennten. Eigentlich hatte er geplant, nach Schottland zu reisen, aber vorhin hatte Eva von Avignon gesprochen, die Provence, der Gorge du Verdon…mal sehen.
»Morgen, um 14.00 Uhr im Polizeipräsidium in Würzburg!«, platzte die Schumann in seine Gedanken hinein. »Und Sie halten sich auch weiterhin zu unserer Verfügung.«
Ihre Stimme war das Befehlen gewohnt. Er nickte. In Sekundenbruchteilen war seine Euphorie verflogen.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte er. Ohne zu antworten drehte sie ihm den Rücken zu und ging wieder zu der Leiche hinüber, die von den Leuten der Spurensicherung verdeckt wurde, sodass Staab, ohne noch einmal einen Blick auf die Tote werfen zu können, in sein Auto stieg und davonfuhr.
Er konnte einfach nicht den Mund halten, egal, ob er in Mathe versuchte, eine Aufgabe zu lösen – bei ihm blieb es bei Versuchen –, ob er in der Gruppe mit anderen etwas erarbeitete oder einen Eintrag schrieb, ständig laberte dieser Typ, ignorierte Ermahnungen, kritzelte ungerührt Strafarbeiten und grinste, wenn an die Eltern eine Mitteilung erging. Staab hatte bereits mehrere Male von seinem roten, pickeligen Gesicht geträumt, in das er dann sinnlos hinein brüllte.
Noch sieben Minuten bis zur Pause.
»Boris«, sagte er und musste den Namen drei Mal wiederholen, bis der Kerl reagierte. »Wir haben keine Kreide mehr, geh’ doch mal ins Sekretariat und hole welche.«
Boris stand langsam auf, seinen Auftritt genießend, stelzte breitbeinig los, klappte der vor ihm sitzenden Daniela das Buch zu und fegte dem schüchternen Jan das Mäppchen vom Tisch, aber so, dass es als Versehen durchgehen konnte, wandte sich an der Tür nochmals um, zog eine Grimasse und verschwand endlich.
Noch fünfeinhalb Minuten. Unruhe in der Klasse, die nur langsam abebbte. Staab entschied, sich nicht einzumischen, manche schrieben, einige tuschelten, ein paar starrten ins Leere. Die Zeit verging.
Ging, gang, gong. Pause. Boris? War noch nicht zurückgekehrt, war gleich in den Pausenhof gegangen. Egal. Staab freute sich auf den Kaffee, kämpfte sich durch das Gedränge und Gejohle der Schüler in den Gängen und erreichte aufatmend das Lehrerzimmer, eine Oase der Stille, weil Eckert noch nicht da war und auch Schubert wegen Krankheit fehlte, der mit jedem Menschen, dessen er habhaft werden konnte, eine politische Diskussion anfing, dabei immer auf Krawall und Angriff gebürstet war.
Staab setzte sich auf seinen Platz. Vor ihm lag die Main-Post, den Bericht über die Ermordung der Schulrätin hatte jemand rot angestrichen. Am Tag zuvor hatte man ihm auf dem Polizeipräsidium mitgeteilt, dass die Mordwaffe zwar eine Menge Fingerabdrücke aufweise, aber keine von ihm dabei waren, außerdem seien auf der Leiche DNA-Spuren, mutmaßlich des Mörders, gefunden worden, die noch untersucht werden würden. Die Schumann hatte beim Abschied sogar gelächelt, zumindest hatte Staab ihren in die Länge gezogenen Mund so interpretiert. Seine Mundschleimhaut, von der er eine Probe hinterlassen hatte, würde letzte Zweifel an seiner Unschuld beseitigen.
Staab war von dem Polizeipräsidium direkt in das nächste Café gegangen und hatte sich einen Cappuccino und sogar einen Cognac geleistet, hatte von dem Mord nichts mehr wissen wollen, hatte in die Unendlichkeit der Möglichkeiten, die ihm das Leben bot, eintauchen wollen, und auch gleich heftig mit der jungen Bedienung geflirtet.
Doch jetzt hockte er im Lehrerzimmer, klappte die Zeitung zu, rührte in seiner Kaffeetasse, hörte dem heute entspannten Geplauder des Kollegiums zu und ihm fiel auf, dass er an diesem Morgen der einzige Mann im Raum war. Niemand sprach ihn an, was er genoss. Sein Peugeot, durch das Fenster des Lehrerzimmers betrachtet, wirkte nicht so altersschwach, wie er in Wirklichkeit war, stand zur Abfahrt bereit. Avignon wartete.
Born, der Schulleiter erschien, jovial grinsend, hatte an diesem Tag für jeden ein nettes Wort auf den Lippen, die feisten Wangen glänzten. Dennoch wohnte hinter der freundlichen Maske ein knallharter Chef, der jeden, der ihm nicht passte, gekonnt zur Schnecke machte, was aber glücklicherweise nur selten vorkam. Doch wer ihn schon einmal in Rage erlebt hatte, ließ sich von seinem gemütlichen Buddha-Gesicht nicht mehr täuschen, auch Staab nicht. Er grüßte und wollte sich wieder in seinen Kaffee vertiefen, aber da schlug neben ihm ein Papierstapel ein.
»Die VERA-Arbeiten«, kommentierte Born knapp, »für die nächste Woche.«
Die hatte Staab völlig vergessen. VERA-Arbeiten bedeuteten nicht unerhebliche Mehrarbeit. Offen geäußerte Zweifel an ihrem Sinn wollte Born nicht hören, schon bei der leisesten diesbezüglichen Bemerkung wurden seine sonst rosigen Wangen fahl. Man schwieg lieber und rührte noch heftiger in seiner Tasse, obwohl sich der Schluck Milch schon längst verteilt hatte.
»Unmöglich!«, rief laut eine Kollegin. Sie empörte sich über einen Schüler und dessen Eltern.
»Aber nicht doch«, Born schüttelte missbilligend sein Haupt.
Die Kollegin, Julia, wirkte fast selbst noch wie eine Schülerin, war von Staab, als sie vor zwei Jahren an die Schule gekommen war, am ersten Tag nach den Ferien in den Pausenhof geschickt worden, weil er sie mit einer Neuntklässlerin verwechselt hatte. Seitdem verstanden sie sich recht gut, und Staab war sich sicher, dass ihre Aufregung berechtigt war, obwohl er den Burschen, dem ihre Wut galt, nicht weiter kannte. Aber er kannte sie und sie gefiel ihm jeden Tag besser.
»Bestimmt ein Idiot«, sagte er zu ihr. Born schüttelte nun heftiger seinen Schädel, die Farbe der Wangen Altrosa. Julia bedachte Staab mit einem dankbaren Blick.
»Geht es dir wieder gut?«, fragte sie über den Tisch herüber. Sie meinte, mitfühlend wie sie war, den Mord an der Schulrätin, und, vor allem, seine Rolle bei der Auffindung der Leiche.
»Alles klar«, sagte er überzeugt, spürte aber augenblicklich, kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dass es überhaupt nicht so war, dass er sich seit zwei Tagen etwas vormachte. Er hatte eine schrecklich zugerichtete Tote entdeckt und der Mörder war nur wenige Meter entfernt hinter einem Baum gestanden, während er vor der Leiche stand und zu begreifen versuchte, was geschehen war.
Der Kaffee schmeckte widerlich. Staab hoffte, dass seine Gesichtszüge sein Innenleben nicht verraten hatten und Julia gemerkt hatte, was mit ihm los war. Aber sie unterhielt sich bereits wieder mit Elke, die neben ihr saß. Nichts war in Ordnung.
»Du musst Lambl vertreten«, sagte Born zu ihm. Born genoss es sichtlich, solche unangenehmen Botschaften an den Mann zu bringen; intensives Rosa, nahezu Pink auf den Wangen. Staab konnte nicht verhindern, dass sein Blick erneut zu dem brav in der Sonne wartenden Peugeot wanderte und danach auf den großen Kalender neben der Pinwand. Noch fünf Wochen und ein Tag, dann sechs Wochen Ferien, die er komplett im Süden zu verbringen gedachte, möglichst weit weg von Schule und ermordeten Schulrätinnen.
Ging, gang, gong, die Pause war wie im Flug vergangen. Born sah ihn eindringlich an, seine Art dafür zu sorgen, dass die Lehrer pünktlich zum Unterricht gingen.
»Hat Lambl Unterlagen geschickt?«, fragte Staab im Aufstehen. »Oder soll ich mir selber eine Unterrichtsstunde ausdenken?«
»Letzteres«, Borns Wangen glühten wie ein Lavasee.
Noch eins drauf, dachte Staab. Seine Laune war inzwischen sehr schlecht geworden, nicht einmal Julia, die ihm die Tür aufhielt, konnte ihn aufheitern.
»Danke«, sagte er.
»Nicht der Rede wert«, sie schwebte davon und er sah ihr nach, bis sie nach rechts ins Treppenhaus abbog.
»Hast du auch keine Lust?«, Eva rempelte ihn an.
»Hab nur über etwas nachgedacht«, gab er kurz angebunden zurück und eilte in die andere Richtung.
Sebastian und Felix erwarteten ihn, wie fast immer nach der Pause, zwei kräftige Burschen aus einem Spessartkaff, die am Wochenende in die ‘Hecke’ gingen, wie sie hier den Wald nannten, und mit ihren Vätern Brennholz schlugen, wohltuende Kerle, die sich für Motorsägen und Traktoren interessierten oder von den Motorrollern schwärmten, die sie in einem Jahr fahren würden. Gut, dass es solche Jungs gibt, dachte Staab, auch wenn die beiden eine schriftliche Stellungnahme zum Thema ‘Geld allein macht nicht glücklich’ einfach nicht zustande brachten.
Das Geschrei vor der Klassenzimmertür ging um ein halbes Dezibel herunter, als Staab erschien. Er drängte sich durch die Traube der Schüler, roch den heißen Dampf der Pubertierenden und sperrte auf.
Es war ein Mann gewesen, den er neben der Merz hatte sitzen sehen, ohne Zweifel ein Mann, dunkel gekleidet, ihr zugewandt, wahrscheinlich eher jung. Hatte er diese Beobachtung auch der Polizei mitgeteilt? Dunkel gekleidet und jung? Warum jung? Weil er schlank war und beweglich wirkte. Er sollte noch einmal aufs Polizeirevier oder wenigstens dort anrufen.
»Was haben wir jetzt?«, seine Schüler starrten Staab an. Wahrscheinlich hatte er schon einige Minuten schweigend vor ihnen gestanden und über den Mord nachgedacht. Er wurde ihn nicht los, obwohl ihm nach seiner Befragung durch die Polizei sowohl der Cappuccino als auch der Cognac gut geschmeckt hatten.
»Deutsch«, sagte er. »Nehmt das Lesebuch heraus, Seite hunderteinunddreißig, Luisa liest vor…«
Während Luisa vorlas, erstarb allmählich das Gemurmel in der Klasse, sogar Boris hielt den Mund, vermutlich interessierte ihn die Geschichte; er war ja nicht dumm, aber ungeheuer zappelig. Vielleicht sollte auch er täglich ein paar Stunden Brennholz machen. Dunkel und jung, und ein Mann. Staab verlor den Faden der Geschichte, was aber kein Problem war, denn er kannte sie auswendig, konnte sich daher wieder die wenigen Sekunden vor Augen führen, in denen er an dem parkenden Wagen der Schulrätin vorbeigefahren war. Sie schien aufgeregt gewesen zu sein, hatte den Oberkörper gestreckt und den Kopf in die Höhe gereckt wie eine wütende Henne. Die beiden hatten sich gestritten, auch das hätte er der Polizei sagen können. Eine Beziehungstat also. Konnte man sich die Merz in einer Beziehung vorstellen, außer der mit der Lehrplanreform, die sie als die ‘längst fällige Erneuerung der Mittelschule’ anzupreisen nicht müde geworden war? Hatte sie ein Verhältnis mit einem Mann gehabt, in dem wilde Leidenschaften wühlten, die sogar zu einem Mord geführt hatten?
Gekicher, Luisa war längst mit dem Text fertig geworden. Die Schüler sahen Staab erwartungsvoll an.
»Ja«, sagte er. »Weiter mit den Fragen zum Text. Schriftlich beantworten.«
Murren, Gescharre, Klappern von Stiften. Jens sah ins Leere, er dachte über die Geschichte nach, die anderen begannen zu schreiben. Staab öffnete ein Fenster. Ein Zug rauschte, ein Lastwagen polterte, auf dem Pausenhof stritten sich Krähen und Spatzen um die Pausenbrotreste. Nach dieser Schulstunde hätte er eigentlich frei, aber Born hatte ihm ja die Vertretung von Lambl aufgehalst, sechste Klasse, ein unruhiger, wenn auch liebenswerter Haufen, und Staab hatte keine Idee, was er mit den Schülern anfangen sollte. Ein Film? Ein Unterrichtsgang? Aber wohin? Dem Lambl würde er bei passender Gelegenheit schon Bescheid geben, dass er gefälligst seine Unterrichtsvorbereitungen in die Schule per Fax oder E-Mail oder sonst wie bringen sollte.
Die Merz mit einem jungen Kerl im Auto, ein abgelegener Parkplatz an einer abgelegenen Straße. Wer fuhr schon freiwillig nach Oberhohl? Er. Er würde am Nachmittag, wenn er die sechste Klasse heil überstanden haben würde, nach Oberhohl fahren und sich dort umsehen. Warum nicht?
Boris kam allmählich wieder in Gang. Geschrieben hatte er noch kein Wort, dafür flüsterte er mit seinem Nachbarn umso heftiger. Eine Ermahnung sparte sich Staab, da sie zwecklos wäre; in dieser fünften Stunde würde Boris den Mund nicht mehr zukriegen. Bis zu seinem Nachbarn, dem trägen Tino, drangen seine Worte ohnehin nicht durch.
Staab überlegte, wann er zum letzten Mal in Oberhohl gewesen war, zwei, drei Jahre war es bestimmt schon her. Vielleicht zwanzig Häuser und jede Menge giftiger Köter. Was hatte die Merz dort gewollt? Oder hatte sie nur einen verschwiegenen Platz gesucht, wo sie niemand kannte? Vermutlich. Also, ein Nachmittag in Oberhohl, mal was anderes.
Schwarze Flecke sammeln sich unter den Obstbäumen, wandern über die fleckige Wiese, sickern durch das Fenster, tröpfeln auf den Boden, dringen in die Zimmerecken vor. Er zieht die Füße an. Das Sonnenlicht steht als gleißende Wand hinter dem Garten, gesprenkelt von großen Vögeln, Krähen oder Elstern. Eine Kreissäge seziert die Luft über dem Nachbargrundstück. Er sitzt, blickt auf seine Füße, zu denen die schwarzen Pfützen herankriechen, eine Masse wimmelnder Insekten. Mittag, Nachmittag. Ein Windstoß fährt in das Laub des Apfelbaumes, die müden Blätter schwanken wie betrunken, oder winken ihm hämisch zu. Seine rechte Hand liegt auf dem Tisch, gekrümmt, so wie sie sich um das Messer bog, sieht harmlos aus, lächerlich fast, die Hand eines Jungen, eine blaue Ader sitzt darauf. Abend. Die Sonne dunkelt. Die Schatten schieben sich weiter vor, erheben sich aus den Winkeln des Zimmers, der Garten füllt sich mit Tinte, während seine Hand sich wie ein hilfloser Fetus windet.
Das Handy spielt seine Melodie, der zerhackte Rhythmus eines Raps, den er früher originell fand. Er haut darauf, bis der Apparat schweigt. Die Hand schmerzt, und dieser Schmerz ist angenehm.
Später Abend. Die Nacht lässt sich Zeit, es ist Ende Juni, Sommeranfang, aber in die Schatten gießt sich immer mehr Schwärze, die an seinen Beinen hochkrabbelt. Er springt auf, rettet sich auf die kupferrote Stelle mitten im Zimmer, die noch nicht von der Flut der finsteren Insekten erfasst wurde. Jetzt wird es Nacht. Er steht und schaut den Leuchtzeigern seiner Uhr zu, die sich beeilen und gleichmütig durch die Nacht wandern.
Einmal schreit ein Vogel oder ein anderes Tier. Im Garten plumpst etwas ins Gras. Leute lachen auf, verstummen, ersticken an der schweren, schwarzen Nachtluft. Er steht ohne Bewegung, will sich nicht mehr bewegen, da es nur so auszuhalten ist und er sicher weiß, dass die Zeiger sich bis zum Morgen durchfressen werden und es dort im zweiten Fenster, auf der anderen Seite des Zimmers, wieder hell werden wird, ein mildes Grau zunächst, auf das er sich freut, das ein, zwei Stunden später bereits zu lodern anfangen wird, aber diese kurze Zeitspanne wird es geben, muss es geben. Er wartet. Die Zeit, die Nacht wälzt sich weiter.
Der Morgen enttäuscht, denn es stiehlt sich nur ein verwischtes Grau ins Zimmer, so flüchtig, dass es augenblicklich vor der anschließend hereinstürmenden, tosenden Lichtflut verjagt wird, als wäre es nie da gewesen.
Eine Amsel schreit, andere Vögel bringen knirschende Laute hervor, Autos fahren. Seine Füße brennen, da er seit Stunden unbeweglich steht. Die Büchertasche, die er seit zwei Tagen nicht mehr angefasst hat, ist irgendwann in der Nacht umgefallen, von der Zähigkeit der Schwerkraft zu Boden gezogen. Auch ihn saugt es hinab auf das Laminat und er fällt mit einem Ächzen auf den Hintern. Unten, denkt er, betäubt von dem schwarzen, gnadenlosen Sonnenlicht, unten. Er versucht die Uhr auf dem Schreibtisch zu erkennen, Viertel nach Sechs, bald muss er los, damit niemandem etwas auffällt, damit er die Chance, unentdeckt zu bleiben, wahren kann.
»Tschüss, Herr Staab«, zwei Mädchen winkten ihm zu, als er zu seinem Peugeot ging, und während er an der Gruppe der auf den Bus wartenden Schüler vorbeifuhr, waren da noch weitere wedelnde Hände und freundliche Blicke. So schlecht war er als Lehrer also doch nicht, wie ihn die Schulrätin hingestellt hatte. Aber die Merz war tot. Die Gurgel mit einem Küchenmesser durchgeschnitten, hatte sie, die Beine fast obszön gespreizt, das Sommerkleid, das ihr nicht gestanden hatte, unanständig hochgerutscht, auf dem Kalkschotter des Wanderparkplatzes gelegen.
Sie ließ ihn nicht los, deshalb nahm er die Abzweigung von der Landstraße nach Oberhohl, wollte sich den Tatort noch einmal anschauen, auch deshalb, weil er hoffte, seinem Gedächtnis noch weitere Einzelheiten zu entlocken, die zur Aufklärung der Tat beitragen konnten.
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