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Das mysteriöse Treffen mit einem Informanten führt den Investigativ-Journalisten Heino Brandstetter auf die Spur eines Netzwerks internationaler Waffenschieber. Zur selben Zeit wird auf einem Industriegelände im Deutzer Hafen eine Leiche entdeckt. Hauptkommissar Alexander Berger und sein Kollege Jan Scheuer von der Kölner Mordkommission nehmen die Ermittlungen auf. Schon sehr bald führen beide Spuren in die höheren Ebenen der Politik und der Geheimdienste. Macht, Bestechung, Korruption und Mord sind die Werkzeuge dunkler Machenschaften. Als Oberkommissar Jan Scheuer bei einer Polizeiaktion schwer verletzt wird und das BKA ihnen den Fall entzieht, nimmt sein Kollege Berger die Verfolgung der Täter auf eigene Faust auf. Am Ende kommt es in der niederländische Hauptstadt Amsterdam zu einigen überraschenden Wendungen der Ereignisse.
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Seitenzahl: 632
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Ben Kossek
Tod in Amsterdam
Thriller
Amsterdam-Trilogie
Band 1
Impressum:
Copyright © 2020 by Ben Kossek
Umschlaggestaltung: Bernd Moch
Verlag und Druck: tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
ISBN 978-3-347-01710-8 (Paperback)
ISBN 978-3-347-01711-5 (Hardcover)
ISBN 978-3-347-01712-2 (e-Book)
Ein besonderes Augenmerk der Polizei bei der
Bekämpfung der Waffenkriminalität
gilt dem international organisierten illegalen
Handel mit Schusswaffen.
Quelle:
„Bundeslagebild Waffenkriminalität 2017“
des Bundeskriminalamts.
Prolog
Sieben Monate zuvor
Es lag nicht in der Absicht von Simon Kaluschek, ihn zu beunruhigen. Das wusste er. Aber nun war er genau das – beunruhigt. Er war sogar hochgradig beunruhigt, um nicht zu sagen: Er war entsetzt! Er hatte Kaluschek den Auftrag erteilt, und dieser hatte ihn ausgeführt und ihm nun Bericht erstattet. Das Ergebnis, von dem nur Kaluschek und er wussten und möglicherweise noch eine dritte Person, die sie beide jedoch nicht kannten, würde zu einem politischen Skandal auswachsen, wenn er an die Öffentlichkeit geraten würde. Simon war der einzige, den er mit diesen Recherchen beauftragen konnte, denn auf ihn konnte sich Wolfram Brosenius zu hundert Prozent verlassen. Und sein Anfangsverdacht hatte sich nun erhärtet!
Wolfram Brosenius, Leiter der Gruppe Projektcontrolling und Risikomanagement des Bundesverteidigungsministeriums, hatte zunächst nur einen leisen Verdacht, dass hier etwas nicht ganz in Ordnung war. Merkwürdige Telefonate seines Vorgesetzten, des Staatssekretärs Jens Walther Kramm, die sofort beendet wurden, wenn er den Raum betrat, und letztendlich dieser merkwürdige Briefumschlag ohne Absender, der eines Morgens versteckt unter der Schreibunterlage auf seinem Schreibtisch auftauchte, in dem er Fotokopien von E-Mails fand, die Jens Walther Kramm verschickt hatte! Keine Ahnung, wer den dort hinterlegt hatte, so dass er, Wolfram Brosenius, ihn unbedingt finden musste. Offenbar hatte Staatssekretär Jens Walther Kramm nicht nur Freunde in seinem unmittelbaren Umfeld.
Er hatte einige Tage überlegt, was nun am besten zu tun sei. Danach hatte er seinen Vertrauten Simon Kaluschek angewiesen, nachzuforschen, ob es weitere Bestätigungen dieser Verdachtsmomente gab. Und nun hatte Kaluschek ihm mitgeteilt, dass von Jens Walther Kramms Büro-PC verschiedene E-Mails versendet wurden, die Kramm danach eigenhändig wieder gelöscht hatte. E-Mails an einen gewissen Ruud van Dongen, dem leitenden Mitarbeiter eines bekannten deutschen Waffenmaklers, und an den Inhaber einer niederländische Spedition, Claudius Steelmans.
Jedoch musste es jemandem gelungen sein, diese E-Mails aufzurufen und auszudrucken, bevor Kramm sie wieder löschen konnte. Und zwar, ohne dass es von ihm bemerkt wurde. Dieser oder diese Unbekannte war die dritte Person, die möglicherweise genau im Bilde war. Doch welches Interesse hatte der- oder diejenige, Kramm zu schaden?
Wolfram Brosenius tat nun das, was er für richtig hielt. Er rief einen guten alten Freund an, einen Freund, der bis vor kurzem in Diensten der Dortmunder Kripo gestanden hatte, und der in der Lage war, hier durch gezielte Nachforschungen einige tragfähige Beweise zu liefern. Diesen Mann würde er anrufen, jetzt sofort, und ihn bitten, sich dieser Sache anzunehmen …
1.
Vielleicht steckte es schon von Anfang an in ihm. Vielleicht war es auch nur eine besondere Fügung des Schicksals. Denn Heino Brandstetters besondere Aufmerksamkeit galt schon immer genau jenen Dingen, die andere gerne unter den Teppich kehrten. Dinge, die im Interesse einiger weniger Personen nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten, oder besser gesagt, die Dinge, die sich am treffendsten mit den Worten Skandal, Affäre oder Korruption umschreiben ließen. Sein Job brachte es nun einmal mit sich, dass er nach genau solchen Dingen auf der Suche war, und dies mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit. Diese Dinge zogen ihn geradezu magisch an und ließen ihn nicht eher wieder zur Ruhe kommen, bis es ihm endlich gelungen war, sie aufzuspüren, zu enträtseln und sie dann ans grelle Tageslicht zu bringen. Und dies tat er mit einer unermüdlichen Leidenschaft und Besessenheit, wie es wohl nur ein Investigativ-Journalist vollbrachte. Er war einer jener wackeren Aufklärer, die sich ständig und mit einem bewundernswerten Eifer auf die Suche nach ihrem „Watergate“ machten, um es dann eines Tages gnadenlos aufzudecken und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Und darin war er wirklich gut!
Schon als kleiner Junge hatte er allen nur denkbaren „Unregelmäßigkeiten“ den Kampf angesagt, etwa, wenn ein Nachbar sein Altöl nicht vorschriftsmäßig entsorgte oder sich seiner abgefahrenen Autoreifen der Einfachheit halber kurzerhand im nahegelegenen Wald entledigte. Dann war er stets mit seiner kleinen Kamera zur Stelle, die er als Überraschung zum siebten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Seinen größten Coup landete er schließlich, als er im zarten Alter von zehn Jahren herausfand, dass einer der größeren Jungs in der Straße das nagelneue Fahrrad seines besten Freundes Jannes Seewald vom Schulhof gestohlen und verhökert hatte, um danach den Erlös in Zigaretten zu investieren, die er anschließend in der Manier eines Drogendealers gewinnbringend auf dem Schulhof verkaufte.
Brandstetters Beliebtheitsgrad in der Schule war dies zwar in keiner Weise dienlich, und auch sonst machte er sich mit seinen Schnüffeleien unter seinen Mitschülern keine Freunde, aber es verschaffte ihm jedes Mal dieses ganz besondere Gefühl von Zufriedenheit und Stolz, das man immer dann verspürte, wenn man der Gerechtigkeit und Wahrheit Genüge getan hatte. Und genau das war seine Berufung – der Gerechtigkeit und Wahrheit Genüge tun. Es widerstrebte ihm, wegzusehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, als würde ihn das alles nichts angehen. Er stand nun einmal dafür, die Dinge wieder geradezurücken, auch wenn ihn niemand darum gebeten hatte. Und nur zu gerne ließ sich schon der junge Heino Brandstetter von diesem Gefühl der Zufriedenheit und des Stolzes tragen!
Wäre es nach dem Willen seines ehrgeizigen Vaters gegangen, hätte er nach dem hervorragenden Abitur natürlich ein Jurastudium absolviert, um einer guten alten Familientradition Folge zu leisten. Er konnte sich nicht erinnern, dass irgendjemand aus seiner Familie nicht Jura studiert hätte. Allen voran sein Vater, zu dessen größter Befriedigung es gehörte, die alteingesessene Kanzlei seines Großvaters zu übernehmen und diese mit beachtlichem Erfolg fortzuführen. Doch allen Planungen und Bemühungen des Vaters zum Trotz schien der Werdegang des Sohnes schon sehr früh eine völlig andere Richtung einzuschlagen.
Nach einem äußerst erfolgreich verlaufenen Journalismus-Studium in Leipzig, welches beide Elternteile trotz aller Zielstrebigkeit des Sohnes mit einer ausgesprochenen Skepsis begleiteten, arbeitete Heino Brandstetter die ersten vier Jahre danach als Polizeireporter bei der „Berliner Morgenpost“.
Erst viele Jahre später begann er seine Laufbahn als investigativer Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, darunter die „WELT“, und dabei hatte er mit Neugier und Sensibilität jenen ganz besonderen Spürsinn entwickelt, der ihm letztendlich zu dem Ruf verhalf, einer der Besten seiner Branche zu sein. Seit geraumer Zeit arbeitete er nun schon als freier Journalist und hatte sich mit mehreren aufsehenerregenden Enthüllungsstorys, seinen vielbeachteten Büchern und Artikeln über die Jahre hinweg einen ausgezeichneten Ruf unter den Kennern der schreibenden Zunft erarbeitet.
Seine Spezialität, und das machte seinen Erfolg in erster Linie aus, war das gezielte Aufspüren von sogenannten „Whistleblowern“, Informanten also, die über ein wertvolles Insiderwissen verfügten und ihr Tätigkeitsfeld nahe bei den Zielobjekten oder Zielpersonen hatten. Auf diesem Gebiet hatte er eine Art siebten Sinn entwickelt, und so kam er immer wieder an wichtige Informationen, die er dann mit der ihm eigenen Akribie wie einzelne Puzzleteile geduldig zu einem Ganzen zusammensetzte.
Die Gefahren, die sich unweigerlich mit dieser besonderen Art des Journalismus verbanden, ignorierte er so gut es ging, was jedoch nicht bedeutete, dass er ein unvorsichtiger Mensch war. Aber es lag einfach in seiner Natur, dass er ein gutes Stück mehr ins Risiko ging als die meisten seiner Mitstreiter. Und genau das machte in vielen Fällen den Unterschied!
Und so war es keine besondere Überraschung, dass auch der aktuelle Fall, den er gerade recherchierte und bearbeitete, nicht ganz ungefährlich war. Ein bekannter, im Ruhrgebiet ansässiger Pharma-Konzern hatte vor etwa zwei Jahren ein neues Medikament auf den Markt gebracht, welches, wie sich kürzlich herausstellte, unter Verwendung von giftigen synthetischen Substanzen aus China hergestellt wurde. Der Gerinnungshemmer, der insbesondere bei Herzoperationen oder Thrombosegefahr zum Einsatz kam, verursachte bei einigen Patienten bisweilen starke allergische Reaktionen. Heino Brandstetter trug sich mit dem Gedanken, über dieses Thema ein neues Buch zu schreiben und hatte sich heute aus diesem Grund mit seinem Verleger getroffen, um gemeinsam mit ihm die nächsten Schritte zu besprechen. Dr. Klaus-Jürgen Wiegand vom Rhein-Verlag in Köln, der bislang die meisten Bücher Brandstetters veröffentlicht hatte, in erster Linie die aus der erfolgreichen neueren Generation, war sofort begeistert. Obwohl die Arbeit an diesem Projekt noch ziemlich am Anfang stand und die Recherche-Phase gerade erst begonnen hatte, kannte Wiegand den Journalisten Brandstetter seit vielen Jahren und unterstützte dessen Projekte nahezu vorbehaltlos.
Als Heino Brandstetter am späten Abend des 22. März seine kleine Wohnung in Köln-Wahnheide betrat, war es bereits kurz nach 23 Uhr. Es hatte den ganzen Abend geregnet und er hatte sich beeilt, nach Hause zu kommen. Er erwartete noch einen wichtigen Anruf von Elsa Groninger, seiner Mitarbeiterin, weshalb sein erster Blick dem altmodischen Anrufbeantworter neben dem Telefon im Flur galt.
Elsa unterstützte seine Arbeit seit nunmehr zwei Jahren und war eine trickreiche Meisterin der Online-Recherche, um die Bezeichnung Hackerin zu vermeiden. Und sie war mindestens genauso hungrig wie er, weshalb sie sich nahezu perfekt ergänzten.
Elsa studierte Wirtschaftswissenschaften, war intelligent und außerdem verstand sie es hervorragend, Informanten mit ihrer charmanten, gewinnenden Art zum Reden zu bringen. Auf diesem Gebiet hatte sie Brandstetter einiges voraus, denn etwas wie Charme gehörte ohne Zweifel nicht zu seinen hervorstechenden Eigenschaften. Heino Brandstetter mochte Elsa Groninger aber vor allen Dingen als Mensch. Sie hatte das Herz am rechten Fleck und war stets mit ganzem Engagement und viel Kreativität bereit, für „die gerechte Sache“ einzutreten. Das hatte ihm von Anfang an imponiert, und in diesem Punkt waren sie sich wiederum sehr ähnlich.
Natürlich hätte zwischen ihnen auch weit mehr als nur dieses Verhältnis guter Zusammenarbeit entstehen können, doch war es irgendwie nie dazu gekommen. Vielleicht hatten sie den richtigen Zeitpunkt hierfür irgendwie verpasst. Und nun schien es für so etwas einfach zu spät. Die Gefühle, die er ihr entgegenbrachte, waren mehr die eines sorgenvollen väterlichen Freundes als die eines Liebhabers.
Der Anrufbeantworter auf der Kommode im Flur blinkte, was darauf schließen ließ, dass Elsa Groninger wohl schon angerufen hatte. Im Vorbeigehen drückte er auf die Wiedergabetaste und begab sich auf direktem Weg in die Küche, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen – stets seine erste Handlung, wenn er nach Hause kam. Er hatte kein Problem damit, spät abends noch Kaffee zu trinken. Jedenfalls redete er sich das ein. Wahrscheinlich würde es mal wieder wie so oft eine lange Nacht werden, und Kaffee half ihm immer, wenn er noch zu arbeiten hatte. Und außerdem liebte er es, des nachts zu arbeiten, weil er dann die nötige Ruhe hatte und ihn niemand störte.
Noch während er den Wassertank der Maschine auffüllte und ein Kaffeepad einlegte, lauschte er mit einem Ohr der Bandansage im Flur. Wahrscheinlich hatte Elsa wichtige Neuigkeiten. Sie sollte den Kontakt zu einem Insider des Pharmakonzerns herstellen, der über äußerst brisante Informationen verfügte. Doch plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne. Es war nicht Elsa Groninger, die ihm eine Nachricht auf den Anrufbeantworter hinterlassen hatte! Stattdessen hörte er eine ihm nicht bekannte männliche Stimme.
„Heino Brandstetter? Bitte hören Sie mir gut zu: Wenn Sie Interesse an Informationen haben, die für reichlich Wirbel in diesem Land sorgen werden, kommen Sie morgen Abend um 22 Uhr zum Parkplatz Helenenwallstraße unter der Severinsbrücke in Deutz. Ich hoffe, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht! Seien Sie unbedingt pünktlich. Ich kann es mir nicht leisten, auf Sie zu warten.“
Überrascht wandte er sich halb um und starrte auf den Anrufbeantworter auf der Kommode. Die Stimme des Anrufers kam ihm in keiner Weise bekannt vor, es konnte demnach niemand sein, mit dem er im aktuellen oder vielleicht in einem früheren Fall zu tun hatte. Aber wer war der unbekannte Anrufer und von welchen Informationen sprach er? Nachdem er etwas irritiert die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, ging er zurück in den Flur und drückte auf Wiederholung. Er lauschte mit voller Aufmerksamkeit der Ansage auf dem Band. Die Stimme klang leicht nervös, aber doch bestimmt und klar. Im Hintergrund konnte man leise Musik und entferntes Stimmengemurmel hören, als würde sich eine größere Ansammlung Menschen miteinander unterhalten. Dies ließ darauf schließen, dass der geheimnisvolle Anrufer von einem öffentlichen Anschluss aus telefoniert hatte. Wahrscheinlich rief er aus einer Hotellobby, einem Restaurant oder einer Bar an. Außerdem musste er wohl ziemlich in Eile gewesen sein, denn kaum hatte er seine mysteriöse Nachricht hinterlassen, wurde die Verbindung jäh unterbrochen.
Heino Brandstetter ahnte in diesem Moment noch nicht, welche Folgen dieser unerwartete Anruf für ihn mit sich bringen würde. Wie sollte er auch. Informationen, die für reichlich Wirbel in diesem Land sorgen werden! Was in aller Welt hatte das zu bedeuten?
Er ging zurück in die Küche, nahm die Tasse von der Kaffeemaschine und überlegte, ob er Elsa anrufen sollte. Sie hatte sich bisher noch nicht gemeldet. Aber vielleicht war sie gerade auf dem Heimweg. Mit der freien Hand angelte er sein Handy aus der Jackentasche und wählte ihre Nummer, während er nachdenklich den ersten Schluck seines schwarzen Kaffees schlürfte. Es hatte bereits mehrmals geklingelt, bevor sich am anderen Ende Elsas Stimme meldete.
„Hallo Heino, bist du schon zu Hause?“ Sie klang etwas müde und gleichzeitig aufgedreht.
„Ja, ich bin vor etwa zehn Minuten gekommen. Wo bist du gerade, Elsa?“
„Noch in Düsseldorf. Wird heute leider spät werden, aber ich habe eine kleine Überraschung für dich: Bender spielt jetzt doch mit. Er ist bereit, auszupacken und bittet dich um ein Treffen. Offenbar plagt ihn nun doch sein Gewissen. Die einzige Bedingung, die er stellt: Wir sollen seine Frau und die Kinder außen vorlassen. Die Familie soll so wenig wie möglich mit der Sache konfrontiert werden.“
„Gut. Wir müssen sehen, dass wir das irgendwie einrichten können. Ich kann verstehen, weshalb er da vorsichtig ist. Aber das ist wirklich eine phantastische Nachricht, Elsa. Gut gemacht! Denn du weißt selbst, ohne seine Hilfe wäre es für uns wirklich schwierig geworden. Er sitzt eben mal genau an der richtigen Stelle. Hoffentlich springt er nicht wieder ab.“
Brandstetter musste daran denken, dass Ulf Bender schon einmal versprochen hatte, sich mit ihm zu treffen, um ihm Informationen zukommen zu lassen, hatte dann aber unerwartet wieder einen Rückzieher gemacht. Leider kam das nicht selten vor. Informanten bekamen des Öfteren im letzten Moment aus Angst vor Repressalien kalte Füße. Doch Elsa schickte sich sofort an, ihn zu beruhigen.
„Das glaube ich dieses Mal nicht.“ Sie klang sehr überzeugt.
„Und weshalb bist du dir da so sicher? Woher kommt bei ihm der plötzliche Sinneswandel? Beim letzten Mal hatte er noch erhebliche Bedenken.“
„Die Situation hat sich für Ulf Bender wohl grundlegend geändert. Man will ihn offensichtlich loswerden, und das mit äußerst fadenscheinigen Argumenten. Scheinbar traut man ihm nicht mehr so recht über den Weg und zweifelt an seiner Loyalität. Einige in der Chefetage von Ruhr-Pharma sehen in ihm ein großes Risiko. Er meint, man habe ihm schon eine beträchtliche Summe angeboten, will ihn aber im Gegenzug zum Schweigen verdonnern. Ulf Bender ist jedoch nicht der Typ, der sich einfach mal zum Schweigen bringen lässt. Auch nicht für Geld.“
„Gut, ich rufe ihn gleich Morgen an. Schicke mir mal per SMS seine Nummer rüber.“
„Alles klar. Und was ist mit dir, Heino? Du klingst irgendwie abwesend.“ Er registrierte sofort den leicht besorgten Unterton in ihrer Stimme.
„Hast du einen Moment, Elsa? Ich habe hier was, das musst du dir unbedingt mal anhören.“
„Ja, klar.“
„Warte kurz.“ Heino Brandstetter ging zurück in den Flur, immer noch die Tasse Kaffee in der Hand, die er nun neben dem Telefon abstellte. Er drückte noch einmal die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters und hielt sein Handy nahe genug an den Lautsprecher des Geräts, damit Elsa gut mithören konnte. Während er die Nachricht nun schon zum dritten Mal abspielte, versuchte er, vielleicht doch noch etwas Neues herauszufiltern, etwas, das er vielleicht bisher nicht beachtet oder einfach überhört hatte. Irgendein Geräusch oder ein Hinweis. Aber Fehlanzeige. Nachdem die Ansage geendet hatte, fragte er in die Stille am anderen Ende der Leitung:
„Und? Alles verstanden? Was hältst du davon? Die Nachricht war auf dem Anrufbeantworter, als ich nach Hause kam.“
Am anderen Ende der Leitung war Elsa Groninger merkwürdig still, was ihn etwas irritierte. Dann, nach einer Weile, hörte er, wie sie sagte: „Hm. Klingt mir irgendwie seltsam. Kommt dir die Stimme bekannt vor?“
„Nein, absolut unbekannt.“
„Mal ehrlich, Heino. Ich habe kein gutes Bauchgefühl dabei.“
„Dachte ich mir schon.“
„Was wirst du tun? Willst du ihn treffen?“
„Ich denke schon. Du kennst mich doch, Elsa, ich bin von Natur aus neugierig. Und gib es doch zu, du an meiner Stelle würdest es ebenfalls tun, oder etwa nicht? Wer weiß, was am Ende dabei herauskommt. Klingt jedenfalls nach einer größeren Sache, und wenn nicht, kann ich immer noch ablehnen.“ Brandstetter wusste in dem Moment, als er es aussprach, dass dies nicht der Fall sein würde. Er wollte Elsa nur beruhigen, und ihm war klar, dass sie genau das spürte. Aber man lehnte nicht ab, wenn man eine heiße Story angeboten bekam. Und das hier klang nach einer verdammt heißen Story!
„Irgendwie gefällt mir seine Stimmlage nicht. Es klingt fast, als wolle er dich unter Druck setzen und dir gar keine andere Wahl lassen.“ Elsa schien gar nicht begeistert.
„Komm schon, Elsa, was soll denn passieren? Treffen dieser Art sind unsere Chance, an wirklich gute Informationen zu kommen. Ich schaue mir den Typen mal an. Aber wenn wir solche Gelegenheiten nicht nutzen, sind wir in diesem Job am falschen Platz.“
„Ich weiß. Vielleicht hast du ja Recht. Wie gesagt, es war nur so ein Bauchgefühl. Aber sei vorsichtig und rufe mich danach unbedingt an. Ich bin morgen den ganzen Tag bei mir zu Hause und bereite mich auf die kommende Klausur vor. Meine letzte, und die wird nicht gerade leicht.“
„Alles klar, dann bis morgen Abend. Schlaf gut.“
Nachdem Brandstetter aufgelegt hatte, dachte er nach. Elsas Zweifel ließen ihn insgeheim nun doch etwas unruhig werden. Er kannte sie einfach zu gut und er wusste, dass sie ein äußerst feines Gespür für derart merkwürdige Situationen hatte. Und sie hatte oft schon im Vorfeld ein untrügliches Gefühl, wenn etwas nicht ganz „koscher“ war. Er nahm sich fest vor, morgen Abend beim Treffen mit dem unbekannten Anrufer besondere Vorsicht walten zu lassen.
Er ging hinüber ins Wohnzimmer zu seinem Schreibtisch und holte einige Unterlagen und seinen Laptop aus der Tasche. Der ersten Tasse Kaffee folgte eine zweite und danach eine dritte. Er sah sich noch einmal die Notizen an, die er heute im Gespräch mit seinem Verleger zu Papier gebracht hatte. Dann sichtete er auf seinem Laptop die Dateien im Ordner „Ruhr-Pharma.“ Hier hatte er alle bisher zu diesem Thema gesammelten Informationen abgelegt. Er hatte umfangreiche Recherchen im Netz zum Konzern und seinen Geschäftsverbindungen nach China und Indien angestellt. Zwar arbeitete er recht zügig, doch Elsas Bedenken hingen ihm an diesem Abend wie ein unheilvoller, düsterer Nebel im Kopf. Vergebens versuchte er, die Gedanken daran beiseite zu schieben und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er durfte sich jetzt nicht zu sehr damit beschäftigen! Gegen vier Uhr morgens beschloss er endlich, den Laptop herunterzufahren und zu Bett zu gehen. Er wollte sich wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf gönnen, bevor es am Morgen weiterging.
2.
Alexander Berger, Hauptkommissar der Mordkommission bei der Kölner Polizei, erschien in seinem Büro gegen 7 Uhr 30. Zu dieser Uhrzeit ein eher seltenes Ereignis. Doch an diesem wolkenverhangenen Morgen wurde er von seinem jungen Kollegen Jan Scheuer bereits mit großer Ungeduld erwartet.
„Morgen Alex, du kannst die Jacke gleich anbehalten, Kaffee gibt es auch erst später. Wir haben einen Leichenfund, männlich, am Deutzer Hafen. Ein Arbeiter hat den Toten vor etwa einer Stunde in einem Container entdeckt und sofort die Polizei verständigt. Die Kollegen der Polizeiwache Deutz und die Spurensicherung sind bereits draußen vor Ort.“
„Dann mal los“, antwortete Berger, ohne groß Fragen zu stellen. Alex Berger kannte Jan Scheuer bestens, und man konnte gut und gerne von ihnen behaupten, dass sie nicht nur ein hervorragend eingespieltes Team abgaben, sondern dass sie auch so etwas wie eine Freundschaft verband. Bereits seit vielen Jahren waren sie Partner und hatten so manchen Einsatz gemeinsam mit Bravour hinter sich gebracht. Und nicht nur das: Es gab Zeiten, und die waren noch gar nicht so lange her, da hatte Alexander Berger von seinem jungen Kollegen sehr viel Unterstützung erhalten.
Berger war mittelgroß, hatte dunkelbraunes Haar, war Ende vierzig und stets darauf bedacht, sich körperlich fit zu halten. Er hatte dafür sogar schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, jedoch mit einer Unterbrechung, die mehrere Monate andauerte. Damals, mittlerweile war das alles schon drei Jahre her, als das große Leid über sein Leben hereinbrach, wurde er noch einmal schwach und griff erneut zur Zigarette, um sich an irgendetwas festhalten zu können. Doch auch diese Zeit ging dank des fürsorglichen Beistands von Jan vorüber, der nahezu jede Minute an seiner Seite stand, als alles um ihn herum zusammenbrach und in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte. Alex Berger war sich damals nicht sicher gewesen, ob er überhaupt noch in der Lage war, weiterhin Polizeidienst zu machen, aber Jan Scheuer hatte ihn immer wieder motiviert und ihm gezeigt, wie sehr er ihn brauchte, und dass es keine Option war, jetzt einfach aufzugeben. Er war es, der ihn in dieser schweren Zeit stützte, ihm half, über den unendlichen Schmerz so gut es ging hinwegzukommen und den plötzlichen Unfalltod seiner Frau Rebecca, die er über alles liebte, hinwegzukommen. Rebecca war damals bei einem Verkehrsunfall auf der Heimfahrt von einer Freundin auf tragische Weise ums Leben gekommen. Der Verursacher des Unfalls, der mit seinem Wagen zu weit in die Mitte der Fahrbahn gekommen war und sie abgedrängt hatte, war unerkannt entkommen, während seine Frau damals noch am Unfallort verstarb. Die Suche nach dem flüchtigen Fahrer blieb trotz aller Anstrengungen erfolglos, eine Tatsache, die er selbst heute nur schwer akzeptieren konnte.
Das Rauchen hatte er wieder aufgegeben und joggte nun lieber zwei- bis dreimal die Woche am Rheinufer entlang, wenn draußen nicht gerade Sauwetter war oder ein Fall seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Alex Berger war nicht nur ein guter Polizist, er war auch ein Sturkopf und Pedant, der gerne in den Krümeln suchte. Aber er erledigte seinen Job mit einer bemerkenswerten Ausdauer, die ihn von anderen Kollegen unterschied. Nur nicht von seinem jungen Kollegen Jan Scheuer. In diesem Punkt waren sich beide sehr ähnlich.
Jan Scheuer war Mitte dreißig, trug längeres blondes Haar, Dreitagebart und war gut durchtrainiert. Er hasste jede Form von Schreibtischarbeit. Aber er war ein hervorragender Polizist, in jeder Hinsicht verlässlich und immer dann zur Stelle, wenn er gebraucht wurde. Er fragte nicht lange, was zu tun sei – er tat es einfach. Und er tat fast immer das Richtige. Alex Berger war froh, dass er einen Mann wie Scheuer an seiner Seite hatte und nicht einen, den man erst zum Tatort tragen musste. Von denen gab es auch genug!
An diesem kühlen Morgen wartete nun eine Leiche auf sie, und das noch vor dem ersten Kaffee! Überhaupt kein guter Anfang für einen Tag, fand Berger. Als sie wenig später mit ihrem Dienstwagen auf das Gelände der Metallhandel Stoll AG einbogen, hatten beide das Gefühl, dass dies wohl kein gewöhnlicher Morgen werden würde. Zumindest regnete es im Augenblick nicht mehr, was die Kollegen der Spurensicherung wohlwollend zur Kenntnis genommen haben dürften. Die erfolgreiche Sicherung von Spuren an einem Tatort im Freien war wesentlich vom Wetter abhängig. Bei Regen waren viele Spuren nicht mehr erkennbar oder zumindest unbrauchbar.
Vor einem flachen Gebäudekomplex gleich neben der Firmeneinfahrt standen mehrere Polizeifahrzeuge. Auch ein Notarztwagen war vor Ort, in dem ein Mann mit einem dunkelblauen Overall saß. Die beiden Kommissare stiegen aus und gingen auf zwei Polizeibeamte von der Streife zu, die gerade vor dem Eingang des Gebäudes standen.
„Guten Morgen. Hauptkommissar Berger, mein Kollege Jan Scheuer, Mordkommission. Wo befindet sich die Leiche? Dort entlang?“ Alex Berger zeigte mit seinem Dienstausweis nach links in die Richtung, wo er einige Beamte damit beschäftigt sah, etwas sicherzustellen, dass sie offenbar dort auf dem Boden gefunden hatten.
„Ja, und dann gleich nochmal nach links“, erwiderte einer der Beamten.
Berger und Scheuer folgten der angegebenen Richtung und schlüpften unter dem rotweißen Absperrband hindurch, welches den Bereich des Tatorts kennzeichnete. Die Kollegen der Spurensicherung untersuchten gerade mit der für sie unerlässlichen Sorgfalt eine vor einem Müllcontainer liegende Leiche und deren näheres Umfeld.
„Guten Morgen, Köster, alter Schnüffler. Was haben wir?“ fragte Berger etwas unlustig, während er sich das nähere Umfeld aufmerksam ansah.
Einer der Männer im weißen Overall der Spurensicherung drehte sich zu ihnen um. Arndt Köster war ein erfahrener Spezialist auf dem Gebiet der Rechtsmedizin. Er blickte fast etwas mitleidig auf den am Boden liegenden Toten. Ohne auf die Nettigkeiten des Kollegen Berger einzugehen, begann er seinen kurzen Bericht.
„Männliche Leiche, etwa Mitte bis Ende dreißig. Sieht eindeutig nach einer Hinrichtung aus“, antwortete er, ohne auf die erstaunten Gesichter der beiden Kommissare zu achten. „Ein aufgesetzter Schuss von oben in den Hinterkopf. Die Kugel trat unterhalb des Kinns wieder aus, mit relativ kleiner Austrittswunde. Außerdem Blutspuren an der Leiche selbst und auch hier auf dem Boden, des Weiteren einige Blutspritzer außen am Container. So wie es aussieht, wurde er hier an Ort und Stelle in knieender Haltung erschossen und dann einfach in den Container geworfen. Die haben sich nicht viel Mühe mit ihm gemacht. Das Projektil suchen wir gerade noch. Einer der Arbeiter hat ihn heute Morgen entdeckt, als er etwas in den Container werfen wollte.“ Und nach einer kurzen Pause: „Es gibt wohl schönere Arten zu Sterben.“
„Und wo ist dieser Arbeiter jetzt?“ fragte Berger nach.
„Sitzt vorne beim Hauptgebäude im Rettungswagen.“ Köster deutete mit dem Daumen nach hinten über die Schulter, um die ungefähre Richtung vorzugeben.
„Gut, den schau ich mir mal an“, versprach Jan Scheuer kurz entschlossen und ging den Weg zurück zum Rettungsfahrzeug.
Etwas unschlüssig wanderte Bergers Blick über das vor ihm liegende Gelände. Es war ein auf den ersten Blick unüberschaubares Chaos von Metallabfällen, die man sortiert zu Bergen aufgetürmt hatte, dazwischen Container, Paletten, und ein paar Kabeltrommeln, die sich über das gesamte Areal verteilten. Einige niedrige Betonmauern waren dazu gedacht, das Gelände in verschiedene Bereiche zu unterteilen. Berger fragte sich, warum der Mann ausgerechnet hier erschossen und in einen Container geworfen wurde. Hatten die Täter zum Tatort einen bestimmten Bezug oder war er rein zufällig ausgewählt worden? Für das Gelände als solches sprach, dass es ziemlich unübersichtlich und abgelegen war. Hier musste man nicht damit rechnen, dass des Nachts jemand rein zufällig vorbeikommen.
„Hatte der Tote etwas bei sich, das uns helfen könnte, ihn zu identifizieren?“ brummte Berger, dessen anfangs noch einigermaßen erträgliche Laune sich nun doch langsam aber sicher verschlechterte. Er überlegte, dass ein heißer Kaffee jetzt keine üble Idee wäre.
„Nein, Fehlanzeige. Keine Brieftasche, kein Handy, nur die Klamotten, die er auf dem Leib trägt. Die sind allerdings nicht von der Stange, alles Markenware der gehobenen Preisklasse. Alleine diese Schuhe, sind von Salvatore Ferragamo“, Köster verdrehte die Augen, „im Handel nicht unter achthundert Euro zu bekommen. Und von seinem ebenso teuren Anzug fehlt uns das Jackett.“
„Das Jackett fehlt?“ Alex Berger blickte sich verwundert um, als könne er es hier irgendwo finden.
„Genauso. Es fehlt.“
„Ihr habt alles abgesucht?“
„Natürlich. Was denkst Du?“ Köster bedachte Berger mit einem Blick, als hätte der ihn gerade gefragt, ob er in seiner Freizeit Damenunterwäsche trage.
„Seltsam. Gibt‘s auffallende Verletzungen an seinem Körper?“
„Ja. Er hat vor seinem Tod mehrere heftige Schläge ins Gesicht abbekommen, die Prellungen belegen das. Genaueres aber erst nach der Obduktion. Du weißt ja, Alex, so manches Mal kommen bei einer Obduktion noch die merkwürdigsten Sachen zum Vorschein. Wäre nicht das erste Mal.“
Das stimmte zweifellos, da musste er dem Kollegen Köster Recht geben. Er würde nie vergessen, wie Arndt Köster bei der Obduktion einer Frauenleiche einen kleinen Wundhaken zum Vorschein brachte. Der war offenbar bei einer zuvor stattgefundenen OP der Frau nicht einmal vermisst worden und hatte über einen längeren Zeitraum unbemerkt in ihrem Körper für stetiges Unbehagen gesorgt. Die Frau hatte sich immer wieder über undefinierbare Schmerzen im Bauchbereich beklagt, jedoch wurde dem seitens der behandelnden Ärzte keine besondere Beachtung geschenkt.
„Könnt ihr schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“ Mit dieser Frage versuchte Alex Berger, seine Gedanken wieder in die richtigen Bahnen zu lenken und sich auf den vorliegenden Fall zu konzentrieren.
„Der liegt mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen 23 Uhr 40 und 2 Uhr morgens. Aber auch da genaueres erst nach der Obduktion“, erklärte Arndt Köster. Berger stutzte erneut.
„23 Uhr 40? Wie kommt ihr auf diese Uhrzeit? Gibt es dafür etwa einen konkreten Anhaltspunkt?“
„Ja. Die Reifenspuren, die wir sichergestellt haben, sind erst nach dem starken Regen heute Nacht entstanden …“
„Ihr habt Reifenspuren?“ platzte Berger in die Ausführungen des Kollegen und war plötzlich auch ganz ohne Kaffee hellwach. „Nun, das ist doch schon mal ein verdammt guter Anfang.“
Berger wusste, dass die Reifenspur eines jeden Fahrzeugs ein einzigartiges Muster aufwies, ähnlich wie bei einem Schuhabdruck. Durch die Art, wie eine Person sich beim Gehen bewegt, nutzen sich die Schuhsohlen auf eine unverwechselbare Weise ab. So konnte man zwei verschiedene Personen, die exakt die gleiche Schuhmarke und Schuhgröße trugen, anhand ihres Gehverhaltens am Schuhabdrucks klar voneinander unterscheiden. Ebenso verhält es sich bei Autoreifen. Zwei Fahrzeuge gleichen Fabrikats mit identischer Bereifung können verschiedene Reifenspuren durch unterschiedliche Abnutzung des Profils hinterlassen, die wiederum bedingt ist durch eine ganze Reihe von weiteren Faktoren.
„Allerdings, haben wir, Kollege. Und jetzt wird‘s interessant.“ Arndt Köster grinste zufrieden. „Wir haben einen einwandfreien und vollständigen Reifenabdruck dort vorne direkt hinter der Absperrung gefunden. Das Gelände ist zwar durchgehend asphaltiert, jedoch hat sich in diesem Bereich eine dicke Schicht Erde angesammelt, die sich dort möglicherweise durch verschmutzte LKW-Reifen in Verbindung mit dem starken Regen abgelagert hat. In der nassen Erde fanden die Jungs den gut ausgeprägten Abdruck, und zwar nicht vom Regen verwischt. Demnach ist er erst entstanden, nachdem der Regen aufgehört hat. Das war so gegen 23 Uhr 40. Soviel können wir schon mit ziemlicher Gewissheit sagen. Was den Abdruck selbst angeht, weist er unverwechselbare Merkmale im Profil auf. Das könnte uns entscheidend weiterhelfen. Wir können zwar noch nicht genau sagen, zu welchem Fahrzeugtyp er gehört. Aber spätestens heute Nachmittag wissen wir es.“
Alex Berger blickte sich nach allen Richtungen um. „Könnte der auch von einem anderen Fahrzeug stammen, vielleicht von einem Privatfahrzeug der Mitarbeiter oder einem der Firmenfahrzeuge?“
„Wohl eher nicht. Der Parkplatz für das Personal befindet sich vorne beim Hauptgebäude, und die Firmenfahrzeuge haben diesen Bereich heute noch nicht befahren. Das haben wir schon abgeklärt.“
Berger dachte nach. Die Erkenntnisse hier am Tatort ließen bisher folgenden Schluss zu: Der Tote war nach dem gestrigen Regen, frühestens kurz vor Mitternacht, mit einem noch unbekannten Fahrzeug hier auf das Firmengelände gebracht worden. Zu diesem Zeitpunkt war er noch am Leben. Erst hier an Ort und Stelle wurde er dann vor dem Container erschossen, wie die erwähnten Blutspuren eindeutig belegen, und anschließend in den Container geworfen. Und es gab brauchbare Reifenspuren – gar kein so schlechter Anfang. Das alles konnte dazu beitragen, die wichtigen Fragen, die im Raum standen, zu klären: Wer war der Tote, der hier so elend sterben musste, warum musste er sterben und wer waren die Täter?
„Gut, Arndt, melde dich, wenn du mehr weißt, klar?“ Berger wandte sich zum Gehen, als Arndt Köster ihm hinterherrief:
„Aber natürlich. Wir schauen uns noch den Inhalt dieses Containers an. Wenn wir den geleert haben, kommt vielleicht ja noch etwas Interessantes zum Vorschein. Und mit ein wenig Glück finden die Jungs auch das fehlende Projektil. Ihr hört von mir.“
Alex Berger unternahm einen kleinen Rundgang über das Firmengelände in der Hoffnung, in diesem Chaos doch noch etwas Brauchbares zu entdecken, bevor er wieder zurück in Richtung Rettungswagen ging. Dort fand er den Kollegen Scheuer noch im Gespräch mit dem Mann im blauen Overall. Als Scheuer seinen Kollegen kommen sah, ging er ihm ein paar Schritte entgegen.
„Er steht noch leicht unter Schock“, sagte er. „Er hat die Leiche heute Morgen gegen 6 Uhr 30 entdeckt, als er einige Stahlteile in den Container werfen wollte. Beinahe hätte er den Toten übersehen, weil etliches Material auf ihm lang. Nur eine Hand ragte durch die Stahlteile. Er habe sich erschrocken, sei dann aber sofort nach vorne zum Hauptgebäude gerannt, um von dort die Polizei und seinen Chef anzurufen.“
„Ist ihm sonst etwas aufgefallen? Irgendetwas, das am heutigen Morgen anders war als sonst?“
„Nein, nichts dergleichen.“
Der Mann im blauen Overall rauchte mit zittrigen Fingern eine Zigarette. Berger reichte ihm seine Karte und sagte nur: „Rufen Sie uns an, wenn ihnen noch irgendetwas einfällt. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, es könnte wichtig sein und uns weiterhelfen. Wo finden wir Ihren Chef?“
„Dort im Büro.“ Der Arbeiter zeigte mit einer Kopfbewegung auf einen der einfachen Flachbauten auf der rechten Seite. Berger und Scheuer gingen hinüber und traten, nachdem sie angeklopft hatten, durch eine graue Holztür mit dem Hinweis „Büro“.
In dem engen Raum bildeten lediglich zwei wuchtige ältere Holzschreibtische, allem Anschein nach Überbleibsel aus einem anderen Jahrhundert, sowie ein ebensolches Regal, das bis unter die Decke mit schmutzigen Aktenordnern jeglicher Couleur vollgestopft war, das hauptsächliche Mobiliar. Hinter einem der beiden Schreibtische saß ein untersetzter Mann mit lichtem, grauem Haar, das einfach glatt nach hinten gekämmt war. Das Kinn in beide Hände gestützt, starrte er verwirrt vor sich auf die Schreibtischplatte. Ihm war anzusehen, dass ihn der Leichenfund von heute Morgen hier auf seinem Firmengelände ziemlich aus der Fassung brachte.
„Herr Stoll?“ Berger zeigte seinen Dienstausweis.
„Ja, Harry Stoll. Mir gehört der Laden hier. Wie kann ich Ihnen helfen, meine Herren?“
„Berger, Mordkommission, und das ist mein Kollege Scheuer. Hätten Sie einen Moment Zeit für uns? Wir haben noch ein paar Fragen und hoffen, Sie können uns dabei helfen.“
„Natürlich, aber ich habe ihren Kollegen bereits gesagt, dass ich nichts weiß. Ist ´ne schöne Sauerei, das mit der Leiche. Einer meiner Leute hat ihn heute Morgen entdeckt und danach erst die Polizei und dann mich angerufen. Ich bin dann sofort hierhergefahren, aber da waren ihre Kollegen schon hier.“ Er wischte sich mit einem Baumwolltaschentuch, das noch um einiges älter aussah als er selbst, und dessen ursprüngliche Farbe selbst mit gutem Willen nicht mehr zu erkennen war, die schweißnasse Stirn und fragte dann: „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“
Ein kurzer Blick auf etwas auf einem wackligen Beistelltisch, das früher einmal eine Kaffeemaschine gewesen sein könnte, nun aber mit einer eingebrannten braunen Kruste und Kaffeepulver überzogen war, ließ selbst Alex Berger trotz seines Verlangens dankend ablehnen. Jan Scheuer blickte dabei drein, als versuche er abzuschätzen, wann hier das letzte Mal die Filtertüte gewechselt worden war.
„Ist Ihnen in den letzten Tagen etwas Verdächtiges aufgefallen? Eine Kleinigkeit vielleicht nur? Personen oder Fahrzeuge, die hier nicht hingehörten? Selbst der kleinste Hinweis könnte hilfreich sein“, fragte Jan Scheuer.
„Nee. Nicht das ich wüsste. Alles war wie immer. Alle Männer, die hier bei mir arbeiten, sind schon seit mehr als zehn Jahren in der Firma. Jeder kennt hier jeden, und vor allem: Ich kenne hier jeden Einzelnen. Man schätzt und hilft sich untereinander, so gut es nun mal eben geht.“
„Wird das Gelände nachts gesichert?“ wollte Berger wissen.
„Aber meine Herren! Wer sollte hier denn etwas klauen? Das Tor steht immer offen, ich weiß gar nicht, ob es sich überhaupt noch schließen lässt. Wir hatten diesbezüglich noch nie Probleme hier. Das ist überhaupt das erste Mal, dass hier etwas passiert ist. Hierher verläuft sich normalerweise keine Menschenseele. Weiß man denn schon, wer der Tote ist? Von meinen Leuten ist es jedenfalls keiner.“
„Nein, das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es herausfinden, darauf können Sie wetten. Aber der Kleidung nach ist es tatsächlich keiner von Ihren Leuten.“ Scheuer drehte sich etwas zur Seite und grinste verstohlen nach Bergers Bemerkung.
„Und was geschieht nun mit der Leiche?“ wollte Harry Stoll wissen, wobei seine rechte Hand aufgeregt mit der linken rang.
„Die Kollegen nehmen sie später mit. In zwei Stunden sind wir hier weg, wenn die Spurensicherung abgeschlossen ist. Die nehmen sich jetzt noch den Container vor und das war es. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie uns an.“ Berger legte seine Visitenkarte auf den Schreibtisch und ging hinaus. Scheuer folgte ihm ohne ein Wort.
3.
Fiona Kleinschmidt hatte schon so einiges mit ihrem Mann durchgemacht. Mit anderen Worten: Sie war Leid gewohnt. Der Hang ihres Mannes zu jungen Frauen und Alkohol hatte schon in ihrem gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis für Diskussionsstoff gesorgt, da er sich nicht im Geringsten die Mühe machte, diese „Leidenschaften“ zu verbergen oder etwas daran zu ändern. Seine ungezügelten Eskapaden hatten sogar schon dazu geführt, dass Freunde sich von dem Paar abwandten und die Frauen sie mit gutgemeinten Anrufen bedachten, um ihr nahezulegen, sich doch endlich von ihrem Mann zu trennen. Das könne ja nicht ewig so weitergehen.
Sie mochte auch nicht die vielen Male zählen, an denen er erst lange nach Mitternacht, oft betrunken bis unter die Hutschnur, nach Hause gekommen war. Meistens schlief sie schon, wohlwissend, dass sie keine Chance hatte, daran etwas zu ändern. Oftmals wurde sie von seinem lauten und rücksichtslosen Gepolter geweckt, wenn er sich zum Abschluss noch eins, zwei Gläser Whiskey genehmigte, bevor er zu ihr ins Bett kroch. Doch eine Scheidung kam für sie nicht in Frage. Sie konnte nicht sagen, warum sie ihn noch liebte – aber sie liebte ihn. Zumindest glaubte sie das. Vielleicht weil er der Vater ihrer Kinder war oder weil er sie noch nie geschlagen hat. Sie hatten schließlich auch schon viel bessere Zeiten erlebt. Ihren Freundinnen gegenüber, die Robert wegen seines Fehlverhaltens ihr und den Kindern gegenüber verachteten, verteidigte sie ihn immer wieder mit abenteuerlichen Ausreden und Argumenten.
Wie oft war er erst spät nach Hause gekommen in den letzten Monaten und Jahren, aber immerhin – er hatte bisher noch jede Nacht den Weg nach Hause gefunden! Bisher zumindest, zwar spät und betrunken, aber er war gekommen. Heute Nacht offenbar nicht …
Gegen 7 Uhr war sie aufgestanden und hatte nachgesehen, ob er es nicht vielleicht mal ausnahmsweise geschafft hatte, sich leise ins Haus zu schleichen, um dann auf dem Sofa im Wohnzimmer einzuschlafen. Aber nein. Alles war ruhig und leer. Bis auf die Kinder, die nebenan schliefen, war sie alleine. Entweder hatte er sich schon wieder auf den Weg ins Büro gemacht, oder es war nun endlich soweit, dass er nicht einmal mehr nach Hause kam, nachdem er die halbe Nacht mit seinen Flittchen herumgehurt hatte. Auch das Ledersofa schien unberührt.
Deutlich spürte sie die unbändige, aber hilflose Wut, die nun langsam in ihrem Inneren nach oben kroch wie ein bösartiges Geschwür, das immer mehr von ihr Besitz ergreifen wollte. Sie konnte sich diese Wut erst gar nicht erklären, denn er betrog sie schließlich schon einige Jahre. Aber vielleicht war die Tatsache, dass er nicht nach Hause gekommen war, nun die letzte Bastion, die gefallen war. Sie ging in die Küche und machte sich erstmal einen Kaffee, um sich abzulenken. Mit zitternden Händen angelte sie eine Zigarette aus der Packung, die sie gestern Abend auf der Küchenbar hatte liegen lassen. Sie trank ihren Kaffee, inhalierte den Rauch der Zigarette mit gierigen Zügen und dann stand sie auf, zog ihren Morgenmantel über und öffnete die Terrassentür zum hinteren Garten. Mit Kaffeetasse und Zigarette in der Hand trat sie hinaus.
Ein frischer, kühler Morgenwind wehte ihr entgegen, aber sie bemerkte ihn nicht. Sie sah hinüber zu der Kinderschaukel, die Robert erst im letzten Sommer für Ben und Lara gebaut hatte, eine der wenigen Male, dass er wirklich etwas für die Kinder getan hatte, um ihnen eine Freude zu bereiten. Vielleicht hatte er damit auch nur sein schlechtes Gewissen beruhigt, denn sonst nahm er sich kaum Zeit für die Kleinen. Ben war fast sechs und Lara vier Jahre alt. Oft fragten sie nach ihrem Vater, und immer häufiger merkte Fiona, dass ihr langsam aber sicher die Ausreden ausgingen, um ihnen zu erklären, weshalb ihr Papa nicht zu Hause war und gerade in diesem Moment keine Zeit für sie hatte. Und natürlich bemerkten auch die Kinder, wenn er mal wieder betrunken war und seine schlechte Laune an ihrer Mutter ausließ.
Aber heute Nacht war er das erste Mal nicht nach Hause gekommen …!
Mit einem Mal brach es aus ihr heraus. Sie begann zu weinen und zu schluchzen und konnte nicht mehr damit aufhören – immer weiter – immer weiter ohne Ende. Der Garten mit seinem ersten Frühlingsgrün verschwamm vor ihren Augen in einem wahren Meer aus Tränen. So verging wohl gut eine halbe Stunde. Dann aber, ganz plötzlich und unerwartet, schien eine unsichtbare Kraft den Schleier, der über ihr hing und ihr die klare Sicht auf die Realitäten des Lebens zu verwehrten schien, wegzuziehen. Sie fühlte sich entblößt, aber auf seltsame und angenehme Weise auch befreit. Langsam wurde sie immer ruhiger, und ihr Blick klärte sich und verriet plötzlich eine Entschlossenheit, die ihr beinahe Angst machte. Mit dem nächsten Gedanken wusste sie, was zu tun war! Sie würde es jetzt ändern, hier und heute und an diesem Tag. Sie würde sich ihr Leben zurückholen, das er Tag für Tag mit Füßen getreten hatte! Und sie hatte es zugelassen, erduldet aus Feigheit vor sich selbst und aus der Angst heraus, allein könnte sie es mit den Kindern nicht schaffen. Nein – es musste nun ein für alle Mal ein Ende haben! Ihre Freundinnen hatten wohl doch Recht! Fast trotzig drängte sich dieser Gedanke in ihren Kopf. Ihre Eltern würden ihr sicher helfen. Sie hatten nie so richtig verstanden, warum ihre Tochter Fiona sich und ihren Kindern dieses Leben angetan hatte.
Kurz nach 8 Uhr war Ben aufgewacht, wenig später auch Lara. Mit einer seltsamen, fast stoischen Ruhe bereitete Fiona Kleinschmidt den Kindern ihr Frühstück. Sie konnten sich heute Zeit lassen, alle Zeit der Welt, Ben und Lara würden nicht in die Kita gehen müssen … heute und wahrscheinlich auch die nächsten Tage nicht.
Nach dem Frühstück kleidete sie zunächst die Kinder an und nahm dann eine heiße Dusche, bevor sie sich ebenfalls anzog und zurechtmachte. Ben und Lara spielten im Kinderzimmer. Während sie begann, die beiden Koffer zu packen, einen für sich und einen für die Kinder, fragte Ben:
„Fahren wir in Urlaub, Mama?“
„Ja, mein Schatz, in Urlaub, wir fahren heute zu Opa und Oma. Freust du dich?“
„Oh ja!“ strahlte Ben über das ganze Gesicht, und seine kleine Schwester fragte: „Und Papa auch?“
„Nein, Lara, Papa muss mal wieder arbeiten. Ich glaube, er hat keine Zeit, mitzukommen.“
„Hat er ja nie! Dann fahren wir eben ohne Papa“, sagte Ben trotzig und bestimmt, aber doch mit einem resignierenden Unterton in der Stimme. Und damit war die Sache geklärt.
Um 9 Uhr 30 waren die Koffer gepackt, und Fiona Kleinschmidt überlegte, ob sie ihren Mann nicht anrufen und ihm mitteilen sollte, dass sie mit den Kindern das Haus verlassen hatte und zu ihren Eltern gefahren war, dass sie endlich genug hatte von diesem Leben mit ihm und er sie nicht anrufen und in Ruhe lassen sollte. Entschlossen wählte sie die Nummer seines Handys. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bevor abgenommen wurde. Nur seltsam – niemand sagte etwas! Nur tiefes, abwartendes Schweigen und ein regelmäßiges Atmen waren am anderen Ende zu hören!
„Robert?“ fragte sie verunsichert. „Robert, bist du es? Warum sagst Du nichts?“
In der Leitung herrschte eine unheimlich anmutende Stille. Aber jemand hörte doch zu, sagte aber nichts! Sie konnte die andere Person deutlich atmen hören!
„Gut, Robert, ich wollte dir nur sagen, wenn du nach Hause kommst, sind wir nicht mehr da. Jetzt ist es vorbei, ein für alle Mal. Und rufe mich nicht an, hörst du?“
Keine Antwort! Dann plötzlich wurde die Verbindung so abrupt unterbrochen, dass sie sich erschrak und augenblicklich den Atem anhielt. Was war das? Weshalb kam keine Reaktion auf ihre Ankündigung, ihn zu verlassen? Hatte er sie etwa nicht verstanden? Oder war er zu betrunken? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen! Er musste doch im Büro sein, und dort trank er nie. Fiona Kleinschmidt starrte nun verstört und unschlüssig auf ihr Handy, bevor sie nochmals eilig die Nummer ihres Mannes wählte. Doch dieses Mal nahm niemand auf der anderen Seite ab! Nein – das war nicht typisch für ihren Mann! Er hätte reagiert, ihr lautstark die Meinung gegeigt, was ihr denn einfiele, und dass sie ohne ihn sowieso nicht alleine klarkäme. Mit einem Mal wäre ihr seine ungehaltene, schlechtgelaunte Stimme viel lieber gewesen als dieses unheimliche und nicht greifbare Schweigen!
Nach kurzem Nachdenken wählte sie Roberts Büronummer in Bonn. Aber nicht ihr Mann, sondern sein Kollege Werner Steinmetz nahm den Anruf entgegen.
„Ihr Mann ist heute Morgen nicht erschienen, Frau Kleinschmidt, was für ihn sehr ungewöhnlich ist“, grübelte Steinmetz. „Wir haben schon mehrfach versucht, ihn zu erreichen, denn für 8 Uhr war ein wichtiges Meeting angesetzt, und er hätte dringend dabei sein sollen. Aber er ging nicht ans Handy. Sie wissen auch nicht, wo er steckt?“
„Nein.“ Sie zögerte einen Augenblick, dann erklärte sie: „Er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Können Sie ihm bitte ausrichten, er soll mich sofort anrufen, falls er noch ins Büro kommt?“
„Kein Problem. Ich sage ihm Bescheid.“
Fiona Kleinschmidt legte auf. Ein Gefühl der Ungewissheit ergriff Besitz von ihr. Was war mit Robert? Wo steckte er? Warum war er nicht im Büro, wenn er schon nicht nach Hause gekommen war? Er mochte ein mieser Ehemann und ein schlechter Vater sein, aber seine Arbeit war ihm heilig. Niemals wäre er ohne einen triftigen Grund zu spät im Büro erschienen – oder etwa gar nicht! Die Ungewissheit schlug langsam in eine untergründige Angst um, die sie sich zunächst nicht erklären konnte. Sie konnte nicht greifen, was sie da gerade fühlte, nicht mit dem Kopf und schon gar nicht mit den Händen. Was war geschehen? War ihm vielleicht sogar etwas zugestoßen? Hatte er etwa einen Unfall? In diesem Augenblick bereute sie, es sich so einfach gemacht zu haben! Einfach die Koffer packen und mit den Kindern verschwinden! Es fühlte sich für sie in diesem Moment an wie Verrat, als würde plötzlich etwas Beständiges in ihrem Leben in tausend Einzelteile zerbersten und in alle Richtungen auseinanderdriften. Und sie, Fiona Kleinschmidt, versuchte ohne jede Chance auf Erfolg, alle Teile gleichzeitig wieder einzufangen, um sie wieder zu etwas zusammenzufügen, das es gar nicht mehr gab. Doch eines war ihr plötzlich klar – etwas stimmte nicht an diesem Morgen des 23. März! Etwas stimmte nicht mit ihrem Mann Robert Kleinschmidt!
Die Digitaluhr in der Küche zeigte genau 9 Uhr 48, als Fiona Kleinschmidt mit zittrigen Fingern die Notrufnummer der Polizeidienststelle wählte ….
4.
Die Firma Brunex AG in Bonn-Beuel war ein zuverlässiger und angesehener Partner der Rüstungsindustrie. Das Unternehmen wurde gerne von verantwortlichen Regierungsstellen damit beauftragt, auf offizieller Ebene Waffengeschäfte zu organisieren, die entsprechenden Verträge auszuhandeln und schließlich die genehmigten Waffenlieferungen durchzuführen. Die Brunex AG war einer der größten Waffenmakler in der Bundesrepublik Deutschland. Beim Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft, das für die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen zuständig ist, wurde die Brunex als sehr kompetent eingestuft. Insbesondere wenn es darum ging, ausgemustertes Kriegsmaterial, vorzugsweise Waffen aus den Altbeständen der Bundeswehr und der NVA, an Interessenten zu vermitteln, war das Unternehmen aus Bonn-Beuel oftmals erste Wahl. Hierbei spielten sicher auch die sehr guten Geschäftsbeziehungen der Brunex AG zur VTME, der bundeseigenen Verwertungs- und Treuhandgesellschaft für militärisches Eigentum, eine gewichtige Rolle. Die beiden Unternehmen kooperierten schon seit vielen Jahren.
Nach festgelegten Standards des Vorstandes hatte man die Brunex AG in drei selbständig agierende Abteilungen mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen gegliedert, um die inneren Abläufe optimal gestalten zu können. In erster Linie wollte man damit sicherstellen, dass niemals nur einzelne Mitarbeiter der Firma einen kompletten Auftrag von der Anfrage bis zur Lieferung und Ausfuhr bearbeiten konnten, sondern dass stets mehrere interne Stellen in einen Vorgang involviert waren.
So hatte zum Beispiel die „Abteilung Planung und Prüfung“, kurz AP genannt, die Aufgabe, die Prüfung aller eingehenden Anfragen auf Grundlage der politischen Grundsätze vorzunehmen. Zu diesen zählten unter anderem die Einhaltung der Menschenrechte sowie das Verhalten der Empfängerstaaten.
Aber auch regionale Stabilität, internationale Beziehungen und eine besondere Prüfung bei Drittländern. Die AP war die erste Anlaufstelle im Unternehmen, wenn es darum ging, einen Deal in die Wege zu leiten und am Ende traf diese Abteilung auch die Entscheidung, ob ein solcher überhaupt zustande kam.
Die „Abteilung Koordination“ war schwerpunktmäßig für das Verhandeln von Verträgen zwischen der deutschen Rüstungsindustrie und ausländischen Interessenten sowie für die Beschaffung und Vorlage der sogenannten Endverbleibs-Erklärungen zuständig. Diese galten als Garantien der Empfängerländer, dass das gelieferte Rüstungsmaterial auch in den genannten Staaten verblieb und nicht an unerwünschte Drittstaaten weitergegeben wurde. Ohne eine solche Endverbleibs-Erklärung kam ein Waffengeschäft in der Regel erst gar nicht zustande. Letztendlich sorgte die Abteilung Koordination auch für die Erteilung der Auslieferungs-Genehmigungen durch das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft. Die AK, wie sie sich intern nannte, betreute außerdem auch alle Vorgänge, die im Zusammenhang mit ihrem Kooperationspartner, der in Frankfurt am Main ansässigen VTME standen. Von hier bezog die Abteilung für diverse Kunden auch einen Großteil der Waffen, wie gesagt, meist aus Altbeständen der Bundeswehr oder der Nationalen Volksarmee der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.
Nachdem ein Waffenhandel geprüft, ausgehandelt und auch offiziell genehmigt war, kam die „Abteilung Logistik“ ins Spiel. Die AL sorgte für die Organisation und den Ablauf der Transporte im Inland zum Empfänger oder ins Ausland bis zu den jeweiligen Ausfuhrhäfen und der Verschiffung der Lieferungen. Sie stellte die Frachtpapiere aus und erledigte alle Zollformalitäten für einen reibungslosen Ablauf.
Mit dieser Dreiteilung der Kompetenzen erhofften sich die Geschäftsführer der Brunex AG höchstmögliche Sicherheit, was den korrekten und störungsfreien Ablauf ihrer Geschäfte mit Rüstungsgütern anbelangte, denn der Industriezweig, in dem sie tätig war, stand unter ständiger Beobachtung von Behörden und der Öffentlichkeit, insbesondere der Medien.
Werner Stamm, langjähriger Leiter der „Abteilung Logistik“ bei Brunex, hatte heute einen äußerst ungemütlichen Vormittag zu überstehen, denn einer seiner zuverlässigsten Mitarbeiter, Robert Kleinschmidt, war heute Morgen entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten nicht im Büro erschienen und auch nicht auf seinem Handy zu erreichen gewesen. Es gab keinerlei Hinweise, wo er sich im Augenblick aufhielt. Auch hatte er keine Nachricht hinterlassen. Mit seinem Nichterscheinen hatte Kleinschmidt für gehörige Unruhe gesorgt, denn für heute Morgen war ein wichtiges Meeting geplant gewesen und ausgerechnet seine Anwesenheit wäre dringend erforderlich gewesen. Ein bedeutender Waffentransfer von Hamburg nach Chennai in der indischen Provinz Tamil Nadu sollte in Kürze zum Abschluss gebracht werden – ein Auftrag, der von Robert Kleinschmidt in der Endphase bearbeitet wurde.
Allerdings war dies nicht der entscheidende Grund, weshalb Abteilungsleiter Werner Stamm sich Sorgen machte. Die Aktivitäten der Brunex AG unterlagen aufgrund ihrer besonderen Brisanz der strengen Geheimhaltung und man konnte sich sehr gut vorstellen, was das plötzliche spurlose Verschwinden eines langjährigen Mitarbeiters bei einem solchen Unternehmen in den Medien wie auch in der Öffentlichkeit an lebhaften Spekulationen auslösen konnte. Insofern war die Unruhe Stamms an diesem wolkengrauen Vormittag, an dem alles irgendwie schiefzulaufen schien, mehr als nachvollziehbar.
Es war gegen 11 Uhr 20, als Ludger Brunnhausen, Firmeninhaber der Brunex AG und einer der beiden Geschäftsführer, mit einem deutlichen Ausdruck der Verärgerung und Sorge im Gesicht in Werner Stamms Büro auftauchte, das im dritten Stock des Gebäudes zur Rheinseite hin gelegen war. Er schien sichtlich beunruhigt über die Möglichkeit, dass der Vorfall nach draußen an die Öffentlichkeit gelangen konnte. Ein Medien-Rummel war so ziemlich das Letzte, was ein Unternehmen wie die Brunex AG gebrauchen konnte. Mit ungewollt mürrischem Ton wandte er sich an seinen Abteilungsleiter „Logistik“, der mit ratloser Miene hinter seinem Schreibtisch saß:
„Was ist denn los, Werner? Haben wir immer noch nichts von Kleinschmidt?“ Mit einer ungeduldigen Bewegung schloss er die Bürotür hinter sich und steuerte auf den leeren Sessel gegenüber von Stamms Schreibtisch zu.
„Nein, Ludger, tut mir wirklich leid, keine Spur von ihm. Aber ich denke, du kannst zumindest beruhigt sein, was den Auftrag angeht. Reinhard Loose hat die Sache gestern Mittag nach seinem Unfall wieder übernommen, und ich glaube fest daran, dass wir pünktlich liefern können.“
„Das ist meine kleinste Sorge! Was ist mit Kleinschmidt?“
Stamm ging langsam zur raumhohen Fensterfront und blickte mit grübelnder Miene hinunter zum Rheinufer. „Ich verstehe das alles auch nicht“, sagte er mehr zu sich selbst. Dann wieder zu Brunnhausen gewandt: „Ausgerechnet Kleinschmidt, die Zuverlässigkeit in Person. Steinmetz sagte mir vor wenigen Minuten, er habe vorhin mit Roberts Frau gesprochen. Die hatte ihm gesagt, dass ihr Mann heute Nacht erst gar nicht nach Hause gekommen war. Ich kann mir nicht helfen, Ludger, aber das passt nicht zu Kleinschmidt! Da stimmt doch was nicht!“
„Hat der Mann vielleicht noch andere Probleme, von denen wir bisher noch nichts wissen?“ fragte Brunnhausen, wobei er die Betonung ganz bewusst auf das Wort „andere“ legte. Werner Stamm brauchte nicht lange nachzudenken, um diese Frage zu beantworten.
„Sicher nicht. Außer seiner Vorliebe für Alkohol und Weiber? Nichts, was uns nicht schon bekannt war und was wir billigend in Kauf genommen haben. Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dazu kenne ich ihn schon zu lange und zu gut. Er mag kein guter Vater und auch kein guter Ehemann sein, aber dafür ein hundertprozentig zuverlässiger Mitarbeiter. Du kennst ihn doch selbst gut genug, oder?“
„Natürlich kenne ich ihn, Werner. Aber wir können hier kein Spektakel gebrauchen, weder von der Presse noch von der Öffentlichkeit! Unser Ruf steht auf dem Spiel, das ist dir doch klar? Wenn sich das herumspricht und wir erst einmal in die Schlagzeilen geraten, kommen wir nicht mehr so leicht raus aus der Kiste. Du kennst die Presse. Auf so etwas stürzen die sich wie die Aasgeier. Man wird man uns das Vertrauen entziehen, das wir uns über Jahre hinweg mühsam aufgebaut haben. Unser guter Leumund begründet sich darin, dass wir unsere Arbeit im Stillen und ohne großes Tamtam erledigen. Das schätzen unsere Auftraggeber an uns. Also, denk bitte nochmal genau nach: Ist dir an ihm irgendetwas aufgefallen? War er in den letzten Tagen anders als sonst?“
„Nein, nichts Außergewöhnliches, abgesehen davon, dass er letzte Woche einige Male erst ziemlich spät das Büro verlassen hat. Die Spedition, die für den Cennai-Deal den Transport nach Hamburg übernehmen soll, hatte logistische Probleme, und er wollte sicherstellen, dass dort alles reibungslos über die Bühne gehen würde. So war Kleinschmidt nun mal, alles hundertprozentig im Griff haben, das war seine Art.“
„Die Niederländer, Steelmans Transporten?“ fragte Brunnhausen, während er nun seinerseits einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster warf.
„Ja, die Steelmans Transporten aus Amsterdam. Ich weiß zumindest, dass er mehrfach etwas ungehalten mit denen telefoniert hat. Scheint jetzt aber alles geregelt zu sein. Jedenfalls gab er gestern Abend noch grünes Licht.“
Die Steelmans Transporten waren auf Anregung von Reinhard Loose verpflichtet worden, erinnerte sich Werner Stamm. Keiner von ihnen außer Loose kannte die Niederländer von einem vorangegangenen Auftrag. Auch gab es keinerlei Referenzen über die Spedition und das Personal. Stamm hoffte insgeheim, dass hier nichts schief ging, denn das käme einer Katastrophe gleich. Als hätte Brunnhausen Werner Stamms Gedanken gelesen, sagte er ziemlich ungehalten:
„Warum beruhigt mich das nicht? Wir müssen Kleinschmidt finden, egal wie! Versuche es weiter, auch bei seiner Familie. Vielleicht taucht er ja zuhause irgendwann noch auf, hat mal eine Nacht über die Stränge geschlagen oder dergleichen. Aber wir brauchen den Mann, Werner! Wir können uns die Ungewissheit über den Verbleib seiner Person nicht leisten. “ Ludger Brunnhausen wusste Kleinschmidts Loyalität und Professionalität sehr wohl zu schätzen. Vielleicht machte er sich gerade deshalb große Sorgen um den Vermissten.
„Mensch, Ludger, er ist wohl dafür bekannt, mal ab und an einen über den Durst zu trinken, aber nicht dafür, am nächsten Tag nicht im Büro zu erscheinen. Und seine Weibergeschichten sind seine Privatangelegenheit …“
„Solange er den Mund hält …“
„Kleinschmidt hätte eine ganze Bar leeren können, ohne auch nur ein Sterbenswörtchen über seinen Job zu verlieren und vor allem hätte er am nächsten Morgen hier in seinem verdammten Bürostuhl gesessen und seine Arbeit gewissenhaft erledigt! Das weißt du. Er hat noch nie auch nur einen einzigen Tag gefehlt. Kleinschmidt hätte selbst betrunken noch besser funktioniert als andere nüchtern, und er hat sich in all den Jahren noch nie einen Fehler erlaubt! Sonst wäre er mit Sicherheit schon lange nicht mehr in dieser Abteilung. Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl bei dieser Sache.“
„Bleib´ einfach dran und informiere mich sofort, wenn du etwas hörst, klar? Ich werde jetzt Brüggemann in Kenntnis setzen. Der müsste inzwischen wieder zurück sein.“
Natürlich musste auch der zweite Geschäftsführer schnellstens über den Vorfall und die verzwickte Lage in der Firma informiert werden. Ludger Brunnhausen verließ den Raum mit der gleichen schlechten Laune, mit der er vor ein paar Minuten gekommen war und ließ Werner Stamm mit der gleichen Ungewissheit zurück, die diesen schon während des gesamten Vormittags geplagt hatte!
5.
„Die Kollegen sagen, der Anruf kam heute um kurz vor zehn Uhr. Die Frau heißt Fiona Kleinschmidt, sie hat ihren Mann als vermisst gemeldet. Sie gab an, dass Robert Kleinschmidt heute Nacht nicht nach Hause gekommen und auch nicht an sein Handy gegangen ist. Für eine Vermisstenmeldung ist es zwar noch recht früh, er ist nur ein paar Stunden überfällig, aber die Frau klang sehr aufgeregt. Ansonsten liegt nichts vor“, rief Chris Dahlmann, einer der jungen Kollegen aus der Recherche, als er seinen Kopf zu Bergers und Scheuers Büro hereinstreckte. Sie hatten ihn beauftragt, bei den umliegenden Polizeistationen nachzufragen, ob in den letzten Stunden irgendwo Meldungen über vermisste Personen eingegangen waren.
„Haben wir eine Adresse?“ fragte Scheuer ungeduldig. Wenn er erst mal in Fahrt gekommen war, hielt ihn nichts mehr zurück. Jan war keiner, der unnötig Zeit verlieren wollte.
„Ja. Steht alles hier.“ Chris Dahlmann hatte einen Zettel in der Hand, den er jetzt hochhielt.
„Dann mal los.“ Scheuer hatte bereits die Jacke an und nahm mal eben im Vorbeigehen dem verdutzten Dahlmann den Zettel aus der Hand. Alex Berger versuchte, selbst erst mit einem Arm in seiner Jacke, dem ehrgeizigen Kollegen zu folgen. Schnell griff er noch nach einem Foto des Mannes, dessen Leiche sie heute Morgen im Deutzer Hafen gefunden hatten. Ein Kollege der Spurensicherung hatte es bereits vor gut einer Stunde vorbeigebracht.
„Dann wollen wir doch mal sehen, ob der Vermisste, dieser Robert Kleinschmidt, unser Toter vom Hafen ist.“ Jan Scheuer war schon ordentlich bei der Sache, als sie in ihren Dienstwagen im Hof stiegen.
„Ist zumindest naheliegend, wenn wir sonst keine Meldungen vorliegen haben“, erwiderte Berger nun mit einem vielsagendem Schulterzucken. Beide schwiegen bedrückt, denn das bedeutete, dass ihnen ein unangenehmer Besuch bevorstand.
Einige Minuten später gingen die beiden Kommissare die gepflasterte Einfahrt zu einem gut gepflegten Einfamilienhaus in Köln-Rodenkirchen hinauf. Scheuer betätigte den Klingelknopf neben der Eingangstür, aber es verging eine kleine Ewigkeit, bis eine Frau um die dreißig etwas verstört und mit fragendem Blick die Tür öffnete.
„Guten Tag. Sind Sie Fiona Kleinschmidt?“ fragte Alex Berger. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, was diesen Besuch anging.
„Ja, um was geht es bitte?“
„Hauptkommissar Berger ist mein Name, das ist mein Kollege Scheuer. Wir sind von der Mordkommission Köln. Dürfen wir einen kurzen Augenblick reinkommen, wir haben ein paar Fragen an Sie.“ Unbeholfen hantierte er mit seinem Dienstausweis vor dem Gesicht der Frau herum, bevor er ihn wieder mit einer recht unbeholfenen Bewegung in den Tiefen seiner Jackentasche verschwinden ließ.
Wortlos und etwas benommen trat die Frau einen Schritt zur Seite und ließ die Beamten eintreten. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, wer da vor ihr stand.
„Sie sind von der Mordkommission?“
„Ja, Frau Kleinschmidt. Es geht um ihre Vermisstenmeldung von heute Morgen.“ Im Hintergrund hörte Berger Kinderstimmen aus einem der Zimmer. Im Wohnzimmer rechts neben der Tür standen zwei große schwarze Koffer, fertig gepackt.
„Sie kommen wegen Robert, richtig? Mein Gott, was ist mit meinem Mann?“ Die Veränderung in ihrer Stimme ließ darauf schließen, dass sie genau verstanden hatte, weshalb die beiden Kommissare gekommen waren.
„Bitte setzen Sie sich doch erst einmal, Frau Kleinschmidt.“ Alex Berger wartete nun geduldig, bis Fiona Kleinschmidt etwas