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Das Buch beschreibt einen alten ungelösten Fall, einen sogenannten "Cold Case", über ein verschwundenes Mädchen, das höchstwahrscheinlich ermordet wurde, deren Leiche jedoch spurlos verschwindet. Es tauchen neue Hinweise und Spuren auf, die zur spannenden Handlung führen und am Ende ein lange gehütetes Geheimnis lüften.
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Seitenzahl: 542
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Ben Kossek
Wer Wut sät, wird Tod ernten
Hauptkommissar Becks erster Fall
Thriller
Impressum:
Copyright © 2023 by Ben Kossek
Umschlaggestaltung: Bernd Moch
Verlag und Druck: tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
ISBN 978-3-347-58204-0 (Paperback)
ISBN 978-3-347-58205-7 (Hardcover)
ISBN 978-3-347-58206-4 (e-Book)
Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der andere stirbt.
(Buddha)
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Erster Teil: Dunkelheit
EDWARD: Du wirst dafür bezahlen!
SEBASTIAN: Dunkle Abgründe
JOSEFINA: Korrupte Geschäfte
FRIEDER: Ein heikler Auftrag
ROBERT: Aus der Schusslinie
BRITTA: Mit allen Mitteln
ROBERT: Ein alter Bekannter
Zweiter Teil: Entdeckung
ALEXANDER: Ohne Skrupel
EDWARD: Du wirst sterben!
ROBERT: Das Internat
FRIEDER: Der Bunker
ROBERT: Nach all den Jahren
TOBIAS: Schäferstündchen
FRIEDER: Zur falschen Zeit
EDWARD: Ein rätselhafter Anruf
Dritter Teil: Verzweiflung
FRIEDER: Wo ist Josefina?
ROBERT: Kein tragischer Unfall
SIMON: Der Zeuge
EDWARD: Ein riskanter Plan
SEBASTIAN: Vater und Sohn
ROBERT: Ein diffuser Verdacht
ROBERT: Das Geständnis
SIMON: Becks verdammt gute Idee
EDWARD: Gefährliches Treffen
ALEXANDER: Täuschungsmanöver
Vierter Teil: Schuld
ROBERT: Besuch bei Rebecca
EDWARD: Unerwartete Begegnung
SIMON: Vermisst!
SEBASTIAN: Todesnachricht
ROBERT: Nächtlicher Hausbesuch
FRIEDER: Schuldgedanken
Fünfter Teil: Erkenntnis
EDWARD: Der Dämon erwacht
ROBERT: Der Kreis schließt sich
SIMON: Moldowans Tod
FRIEDER: Der unsichtbare Zeuge
ROBERT: Enttäuschte Erwartungen
SIMON: Licht ins Dunkel
SIMON: Am Ufer des Rammbach
ROBERT: Harte Fakten
DIRK: Aufgeflogen
ROBERT: Überlegte Entscheidung
DIRK: Auf der Flucht
Sechster Teil: Entscheidung
ROBERT: Die Jagd beginnt
SIMON: Showdown
ROBERT: Ein Mörder gesteht
Epilog
Danksagung
Anmerkung des Autors
Bisher sind von Ben Kossek folgende Thriller bei „tredition“ erschienen:
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Bisher sind von Ben Kossek folgende Thriller bei „tredition“ erschienen:
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Prolog
Dies ist die Geschichte von unsäglichem Leid, von tiefem, lange gewachsenem Hass, von ungezügelter Wut und hilfloser Rache, die gemeinsam hervorgerufen durch das selbstsüchtige und oftmals rücksichtslose Handeln anderer einen Menschen dazu bringen, seine eigenen Grenzen zu überschreiten und zu etwas zu werden, das er eigentlich nicht ist. Im schlimmsten Fall, wie in der vorliegenden Geschichte, wird er zum Mörder. Er entledigt sich seiner seelischen Qualen, indem er tötet, was ihn krank macht. Er entscheidet sich für den Weg, selbst Unrecht zu tun, um das an ihm begangene Unrecht aufzulösen.
Doch es ist niemals das Ende der Geschichte …
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Der Junge saß still und bewegungslos im Verborgenen und lauschte dem Rauschen der Blätter, die der Wind in immer neuen Wellen bewegte. Unsichtbar für die neugierigen Blicke anderer kauerte er hinter den weit herabhängenden Zweigen einer alten Trauerweide, die so nahe am Ufer des Sees stand, dass ihre Peitschen wie ein dichter grüner Vorhang bis hinab ins Wasser reichten. Ihre kräftigen Wurzeln klammerten sich fest in die Erde und an das harte Gestein der steil abfallenden Uferböschung, als wolle sie ihren Anspruch auf den von ihr eroberten Platz bis in die Ewigkeit und gegen alle Widrigkeiten der Natur verteidigen. Ein warmer und streichelnder Sommerwind streifte schon den ganzen Nachmittag vom See her ans Ufer und ließ die langen grünen Peitschen des natürlichen Vorhangs sich wellenförmig bewegen, und ein leises Rauschen und Säuseln schwebte wie durch unsichtbare Wellen getragen durch die Sommerluft. Fasziniert lauschte der Junge der Melodie des Windes. Hier unten am Ufer des Sees, gut versteckt unter der alten Trauerweide, war sein Platz, und genau wie die alte Trauerweide gehörte auch er hierher an diesen Ort.
Hier würde ihn niemand finden.
Hier an diesem verborgenen Ort war seine Zuflucht, wenn ihm mal wieder alles zu viel wurde. Hier konnte er in seine eigene Welt eintauchen, unter das dichte grüne Zelt der Trauerweide, in die angenehme Kühle, die ihr Blattwerk verbreitete, und dem Säuseln des Windes lauschen, um Ruhe zu finden und nachzudenken. Nachzudenken über diesen beinahe unerträglichen Hass, der sein Herz vergiftet hatte und ihn Tag und Nacht quälte, sodass er kaum noch Schlaf finden konnte. Manches Mal hörte man von hier aus die anderen Jungen und Mädchen, die den schmalen steilen Pfad durch den Wald unter dem Laubdach von Buchen, Eichen und Ulmen vom Internat hinunter an den See rannten, hörte ihr lautes und fröhliches Lachen, das in seinen Ohren Schmerz erzeugte, ihr Rufen und ihr Schreien. Man hörte, wie ihre nackten Füße über den alten Holzsteg trommelten, wenn sie mit großem Anlauf und mit einem lauten Platschen in das dunkelgrüne, trübe und kühle Wasser des Waldsees sprangen. Mit wildem Getöse wühlten sie durch das übermütige Schlagen ihrer Arme und Beine die vom Wind sanft gekräuselte Wasseroberfläche auf, tauchten unter und kamen laut prustend und johlend wieder nach oben, die zarte Melodie des Windes zerstörend. Später dann lagen sie meist ausgestreckt auf den verwitterten alten Holzplanken des Stegs und ließen sich von der Sonne die Haut trocknen, bevor sie dann wieder in ihre Kleider schlüpften und sich auf den Rückweg nach oben zum Internat machten. Sie bemerkten ihn nicht, wie er hier verborgen unter seiner Trauerweide saß und sie dabei beobachtete. Und ja, er genoss es, der stille Beobachter zu sein.
Noch hatte ihn niemand hier sitzen sehen.
Manchmal, wenn sie mal keine Lust zum Schwimmen hatten, suchten sie am Ufer nach den flachen runden Steinen, die man so kunstvoll über das Wasser hüpfen lassen konnte, wenn man beim Wurf den richtigen Winkel zur Wasseroberfläche erwischte. Sie wetteiferten darum, wer die meisten Hüpfer hatte und begleiteten jeden guten Versuch mit lautem Johlen. Doch heute war es noch ruhig, denn es war Sonntag, und viele Schüler und Lehrer waren über das Wochenende nach Hause gefahren, zu ihren Eltern und Familien. Ihm war dies leider nicht vergönnt, denn seine Eltern hatten keine Zeit für ihn. Sie mussten arbeiten, auch an Wochenenden. Er vermied es, weiter über etwas zu grübeln, das er doch nicht ändern konnte, denn es verursachte nur Schmerz und Unmut. Heute war er allein hier unten am See, auf dessen Oberfläche sich warmes Sonnenlicht brach. Er legte sich zurück in das weiche Gras der Böschung und blickte nach oben zur grünen Blätterkuppel, die von unzähligen, weit ausladenden Ästen getragen wurde. Versonnen lauschte er der betörenden und friedlichen Melodie des sanften Windes.
Hier an diesem Ort hatte ihn noch niemand entdeckt.
Wieder brachte ein leichter Windstoß das hellgrün leuchtende Blätterwerk zum Rascheln, doch es schien ihn nicht ablenken zu können von seinen Gedanken – von seinen bösen Gedanken, die er schon seit vielen Tagen mit sich herumtrug. Niemand ahnte, was gerade in seinem Kopf vor sich ging, und das war auch gut so. Niemand durfte je erfahren von seinem abgrundtiefen Hass, den er gegen sie hegte. Ein Hass, gegen den er sich nicht wehren konnte, der einfach da war und der ihn nicht loslassen wollte! Er musste befürchten, dass er eines Tages daran ersticken würde, wenn er nichts unternahm.
Dieser Hass wurde immer stärker und unerträglicher!
Kein Mensch, weder seine Eltern noch seine Lehrer oder die Mitschüler, durfte jemals davon erfahren. Sie allein hatte diesen Hass hervorgerufen. Sie war arrogant, sah von oben auf ihn herab, verachtete und verspottete ihn, aber immer nur dann, wenn es niemand mitbekam, wenn sie alleine waren. Dann setzte sie ihre vielen kleinen Nadelstiche, zeigte ihm ihre ganze Abscheu und Niedertracht, die ihn immer öfter, immer näher an den Abgrund der Verzweiflung trieb. Ausgerechnet sie! Das sie ihm das antun musste! Sein Hass war inzwischen so abgrundtief, dass er sich oftmals fragte, woher ein solcher Hass kommen konnte. Was musste alles geschehen sein, damit Gefühle wie diese gedeihen und sich ausbreiten konnten?
Sonst jedoch, wenn andere dabei waren, tat sie immer so, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun, spielte das zarte, kleine, verletzliche Mädchen, dass Schutz und Geborgenheit suchte. Eine falsche Schlange, die es immer wieder aufs Neue verstand, ihn zu demütigen und seine Seele zu verletzen. Und keiner würde sie je dafür bestrafen, wenn er es nicht selbst in die Hand nahm! Er musste sie dafür bestrafen, noch bevor er endgültig den Verstand verlor.
Langsam streifte er alle seine Kleider ab, bis auf die blaue Badehose, und ordnete sie sauber zusammengefaltet auf einen Stapel. Er tat dies mit solcher Hingabe, die allseits Erstaunen und Verwunderung hervorgerufen hätte, würde man ihn in diesem Augenblick dabei beobachten.
Das kühlte Wasser des Sees würde ihm guttun und ihn wieder ruhiger werden lassen. Er musste seine Gedanken und den Hass, mit dem sie sich beschäftigten, besänftigen. Er schob den grünen Peitschenvorhang der Trauerweide mit beiden Händen auseinander und ließ sich in das Wasser gleiten. Mit gleichmäßigen Zügen schwamm er ein Stück hinaus, ohne sich jedoch zu weit vom Ufer zu entfernen. Die Kühle erfrischte seinen Körper und die sanften Wellen, hervorgerufen durch den warmen Wind, umschmeichelten seine Haut. Er spürte, wie Ruhe in seine Gedanken einkehrte und ließ sich einfach an der Oberfläche treiben, ohne jedes Ziel, auf dem Rücken liegend und nur wenig die Arme und Beine bewegend. Er atmete ein und aus. Die Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht und er schloss die Augen. Die Stille des Wassers tat ihm gut, und eine tiefe Ruhe durchströmte ihn in diesem Augenblick.
Nach ein paar Minuten begann er, in langsamen Zügen wieder zurück zum Ufer zu schwimmen. Als er aus dem Wasser stieg, spürte er die Wärme der Sonne auf seinem Rücken, die ihn mit neuer Energie aufzuladen schien. Mit einem Mal fühlte er sich so stark wie selten zuvor!
In diesem Augenblick vernahm er auf dem steilen Pfad, der vom Internat herab durch den Wald zum See führte, das leise Knacken von trockenen Ästen. Kam da jemand herunter zum See? Nun hörte er es lauter und deutlich. Da war jemand in großer Eile. Schnell trat er durch den Peitschenvorhang in den Schutz der alten Trauerweide und lauschte dem Geräusch der nahenden Schritte. Unter der Kühle des Blätterdachs, dass von den Sonnenstrahlen nicht durchbrochen werden konnte, stand er nun ganz still und begann zu frösteln.
Und dann plötzlich sah er sie! Sie kam den schmalen Pfad vom Internat heruntergerannt und schien wütend zu sein!
Bewegungslos lauerte er hinter den dicht herabhängenden Peitschen des Weidenbaums und beobachtete sie mit starren Augen, während das Gefühl von Hass sofort wieder in ihm nach oben drängte. Was wollte sie hier, verdammt nochmal? Warum musste dieses Miststück gerade jetzt hier auftauchen und seine Ruhe zerstören? Wie scheinheilig sie sich doch von allen ,Lenchen‘ rufen ließ, die falsche Schlange!
Sie zog ihre weißen Turnschuhe aus, warf sie von sich und lief in das flachte Wasser am Ufer. Wütend trat sie mit nackten Füßen in das kühlende Nass, dass es nur so nach allen Seiten spritzte, und griff dann zu einem Ast, der dort im Wasser lag. Mit wildem Jähzorn schlug sie mit dem Ast mehrere Male auf die Wasseroberfläche, und bei jedem Schlag schrie sie ihre ungezügelte Wut laut heraus, bis sie am Ende den Ast in hohem Bogen von sich schleuderte. Könnten sie dich doch nur jetzt alle so sehen, unschuldiges ,Lenchen‘, wie du deiner Wut ungezügelt freien Lauf lässt, dachte er. Sicher würden sie dann anders über dich denken! Oh ja, sie war zornig! Sollst du ruhig, du Miststück, du sollst wissen, wie sich das anfühlt, dachte er mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Es tat ihm gut, verdammt gut sogar, sie leiden zu sehen, ganz gleich, welche Ursache dieses Leiden hatte!
Erneut näherten sich eilige Schritte vom steilen Pfad herab. Unbeweglich stand er immer noch im Schutze des dichten Peitschenvorhangs und lauschte angestrengt und neugierig auf das sich schnell nähernde Geräusch. Dann plötzlich sah er zwischen den Büschen, die das untere Ende des Pfades säumten, einen schlanken Jungen hervorhasten – Oliver Berghoff. Er rief jetzt mit unterdrückter Stimme ihren Namen, und sie blickte sich nach ihm um. Langsam kam sie aus dem Wasser auf ihn zu. Mit einem Mal hatte sich ihre ganze Wut in Luft aufgelöst. Mit einem falsch gespielten Lächeln empfing sie den Jungen und sah dann mit einem Blick, der ängstlich und besorgt wirken sollte, zum Ende des Pfades.
„Oliver! Was machst du hier? Wenn er dich hier sieht …
„Er ist noch oben. Was ist mir dir?“ „Edward ist ein mieses Schwein.“ „Hat er dir etwas angetan, Lenchen?“
„Nein, mein stolzer Ritter. Hat er nicht!“ Dabei legte sie mit der ganzen Verführungskunst einer Sechzehnjährigen einen Arm um Olivers Nacken und zeigte ihm einen mitleidigen Schmollmund. Dann richtete sie einen bitterbösen Blick in Richtung des steilen Pfades, als würde sie jeden Augenblick befürchten, dort Edward auftauchen zu sehen. Oliver konnte gar nicht anders, als ihr zu glauben, was wohl auch voll in ihrer Absicht lag. Sofort wurde durch ihr scheinheiliges und durchtriebenes Verhalten der Beschützerinstinkt in Oliver geweckt. Ohne jede Mühe schaffte sie es mal wieder, in die Rolle des unschuldigen und hilflosen Mädchens zu schlüpfen, dem man ein Unrecht angetan hatte, und ein jeder hier fiel auf dieses scheinheilige Spiel herein. Keiner der Jungs hier im Internat schien zu bemerken, dass sie eiskalt und ohne jede Gefühlsregung alle gegeneinander ausspielte. Ohne Mitleid beobachtete der Junge hinter den Weidenzweigen, was geschah, während er den aufkeimenden Hass in sich nur mit Mühe unterdrücken konnte. Am liebsten wäre er aus seinem Versteck hervorgetreten und hätte Oliver aufgeklärt, welch durchtriebene Schlange ,Lenchen‘ doch war. Allerdings wusste er, dass er damit keinen Erfolg haben würde. Oliver würde ihm nicht glauben und sich eher schützend vor sie stellen, denn offenbar hegte dieser Narr tiefere Gefühle für sie. Oh ja, sie schaffte es immer wieder, andere zu manipulieren und auszunutzen!
„Was hat Edward dir angetan, Lenchen?“, fragte Oliver mit mehr Nachdruck, und sie tat so, als würde sie seinem Drängen schweren Herzens nachgeben.
„Der miese Kerl behauptet, ich hätte ihn mit Jonas betrogen, was aber nicht stimmt“, hauchte sie mit leiser, flötender Stimme. Oliver Berghoff versank wie ein Ertrinkender in den blauen Augen, die ihn festhielten, und ein feuchter Schimmer trat in seine Augen. Natürlich stimmt es, du miese, verlogene Schlampe! Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie du dich an Jonas rangemacht hast, dachte der Junge unter dem Weidenbaum, ohne sich jedoch in seinem Versteck zu rühren.
„Der Mistkerl hat dich doch gar nicht verdient. Spürst du das denn nicht? Ich bin doch für dich da, Lenchen“, flehte er sie an. „Er ist ein arroganter, eingebildeter Egoist, der auf dich keine Rücksicht nimmt! Ganz wie sein Vater. Glaube mir, er ist nicht gut für dich! Nicht so wie ich es bin. Und ab jetzt kümmere ich mich um dich und beschütze dich.“
Edward van Grothen, um den es gerade ging, war der Sohn eines Investmentbankers, der durch das finanzielle Unglück Anderer zu einem nicht unerheblichen Reichtum gelangt war. Seine rücksichtslose Art, aus dem Leid anderer Menschen ein Geschäft zu machen, war hinlänglich bekannt.
„Ja, ich weiß. Du hast ja recht, mein weißer Ritter!“, flötete sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, löste sich dann aber wieder von ihm und drehte sich mit einem Ruck um. Wie in höchster Verzweiflung fuhr sie sich mit den Fingern durch das lange blonde Haar und vergrub anschließend das Gesicht in den Händen.
Eine schauspielerische Glanzleistung, die sie hier vor Oliver zum Besten gab, bemerkte der Junge. Das musste ihr erstmal jemand so gekonnt und überzeugend nachmachen! Leicht verwirrt und etwas unsicher, was nun zu tun sei, stand Oliver hinter ihr und legte ihr vorsichtig und zögernd die Hände um die Schultern. Er war sich nicht sicher, ob er nun das Richtige tat, indem er sie berührte. Aber ihr Verhalten hatte ihn zusehends ermuntert.
„Nicht weinen, das ist der Mistkerl nicht wert“, murmelte er leise, ohne so recht zu wissen, ob das bei ihr ankam. Sollte er sie jetzt einfach küssen? Sie drehte sich mit einem Mal um und sah ihm grinsend ins Gesicht. Er sah sie verwundert an.
„Wie kommst du darauf, dass ich weinen könnte“, sagte sie und küsste ihn erneut. „Du hast recht, das ist der miese Kerl nicht wert.“ Plötzlich drangen erneute Geräusche vom Pfad zu ihnen hinunter. Wieder knackten und brachen Zweige und raschelten Blätter im Unterholz. Eine weitere Person näherte sich offenbar sehr eilig und im Laufschritt dem Seeufer.
„Edward!“ rief Lenchen nun erschrocken und schob Oliver Berghoff in Richtung einiger Büsche, die den Waldrand zum See hin in dichter Reihe säumten. „Du musst verschwinden. Er darf dich hier auf keinen Fall sehen! Ich brauche dich noch, mein Ritter!“
„Aber Lenchen …“, wollte Oliver protestieren, aber sie war nicht umzustimmen. Mit Nachdruck gab sie ihm zu verstehen, dass er besser verschwinden sollte. Ohne Zögern schlug sich Oliver nun ein wenig zu rasch in die Büsche und verschwand im nahen Wald. Als Edward kurz darauf das untere Ende des Pfades erreichte und keuchend auf sie zu kam, war von Oliver nichts mehr zu sehen.
„Ah, hier bist du also! Hast dich wohl vor mir versteckt, was?“ Seine Augen blitzten vor Zorn, als er, noch etwas außer Atem, auf sie zu stampfte. Sie blickte ihm ungerührt, beinahe kalt und frech und ohne jede Angst entgegen und sagte nur:
„Weshalb sollte ich mich vor dir verstecken, Ed?“
Edward von Grothen war kräftig und hatte blondes lockiges Haar, dass ihm lang bis auf die Schultern fiel. Der Junge in seinem Versteck musste sich eingestehen, dass Edward wirklich gut aussah, so wie er wütend vor Lenchen stand.
„Du fragst auch noch, weshalb? Weil du eine elende Hure bist, deshalb!“ Er baute sich mit seiner ganzen Körpergröße vor ihr auf, sodass er sie gut um Kopfeslänge überragte. „Du Schlampe glaubst wohl, mich täuschen zu können. Aber ich sage dir eines, Lena, ich habe dich längst durchschaut.“ Schon dass er sie Lena nannte, zeigte ihr, wie wütend er wirklich war.
„Ich kann machen, was mir gefällt, du Schlappschwanz! Ich gehöre dir nicht, klar?“ Ihr sonst so hübsches Gesicht wurde zu einer hämischen Fratze, aus der jetzt nichts als tiefste Verachtung für ihn sprach, und ihre Stimme klang arrogant und hochnäsig. „Du glaubst wohl, du musst mir genügen? Tust du aber nicht, Ed. Du genügst mir nicht! Das hast du noch nie, verstanden? Und jetzt solltest du dich schnell verziehen!“ Der abwehrende und gleichzeitig so verletzende Tonfall in ihrer Stimme steigerte Edwards Unmut nur noch mehr.
Sein wutverzerrtes Gesicht war jetzt dem ihren so nahe, dass sie sich fast berührten. Die Wut, die er gerade empfand, ließ ihn am ganzen Körper zittern. „Du kleines, mieses, hinterhältiges Flittchen, das wirst du noch bereuen! So langsam kriegen alle hier mit, wie durchtrieben und verdorben du doch eigentlich bist! Dafür werde ich sorgen!“
„Durchtrieben und verdorben? Ha, was soll das?“
„Du glaubst wohl, dass keiner mitbekommt, wie du jeden ausnutzt, wie es dir gerade gefällt, und wie du hier deine Spielchen spielst. Ich habe zufälligerweise mitbekommen, wie du Schlampe Lisa-Marie und Veronique schamlos gegeneinander ausgespielt hast. Versuchst du nun dasselbe Spiel bei Oliver und mir? Ich kann dich nur warnen! Lass‘ die Finger von Oliver, verstanden? Sonst …“ Seine Augen verengten sich nun zu schmalen Schlitzen und er hob kurz die Hand, als wolle er sie schlagen, tat es dann aber nicht.
Wieder stellte sie ein höhnisches Grinsen zur Schau und sah ihn nur mitleidig und provozierend an.
„Sonst was, Ed Schlappschwanz?“
Edward von Grothen konnte seine Wut in diesem Moment nicht mehr zurückhalten. Mit kräftigem Griff packte er sie jetzt am Hals und begann sie zu schütteln. Lena hatte kurz mit dem Gleichgewicht zu kämpfen. Dann ließ er wieder los. Fassungslos starrte sie ihn eine Sekunde lang an, dann holte sie ganz plötzlich aus und schlug ihm mit voller Wucht die Hand ins Gesicht! Der Junge unter dem Weidenbaum erschrak und zuckte zusammen, und gespannt wartete er nun auf Edwards Reaktion, die unweigerlich kommen musste. Würde der nun zurückschlagen? Würde er dieser verdammten Schlampe endlich mal eine verpassen, so, wie sie es verdient hatte?
Das Klatschen der Ohrfeige schallte bis in den Wald hinein.
„Sieh‘ zu, dass du verschwindest, Schlappschwanz!“, schrie sie ihn nun an, und ihr hübsches Gesicht verzog sich erneut zu einer hässlichen Fratze. Und um Edward zu demonstrieren, dass sie mit ihn fertig war, drehte sie sich um und blickte über das Wasser, als sei er gar nicht mehr vorhanden. Und plötzlich herrschte Totenstille. Edward von Grothen blieb einen kurzen Moment wie angewurzelt und mit offenem Mund erstarrt stehen. Er zitterte am ganzen Körper. Die Hände hatte er nun zu Fäusten geballt und sein hasserfüllter Blick bohrte sich tief in ihren Rücken. Seine sonst so hübschen blauen Augen drückten jetzt pure Wut und schiere Verzweiflung aus!
Ja, gut so Edward, sei nur richtig schön wütend auf das verdammte Miststück, dachte der Junge. Mach‘ doch endlich was! Zeig’s ihr! Du machst nichts Falsches. Sie hat es nicht anders verdient. Und ich habe sicher nichts gesehen! Mit einem zufriedenen und schadenfrohen Lächeln beobachtete der Junge nun genau, was sich da unten am Ufer im seichten Wasser abspielte. Er war doch gespannt, wie Edward reagieren würde.
Dieser erwachte nun langsam aus der Erstarrung und bewegte sich scheinbar in Zeitlupe auf Lena zu, die etwa drei Meter von ihm entfernt stand und ihm den Rücken zuwandte. Sie tat immer noch so, als sei er nicht mehr vorhanden. Dann sah der Junge, wie Edward sich plötzlich bückte und einen mehr als faustgroßen Stein aus dem flachen Wasser aufhob. Blitzschnell holte er weit aus und schlug zu! Der Junge wollte schreien, so erschrocken war er im ersten Moment, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Wie versteinert beobachtete er, wie der Stein in Edwards Faust mit einem dumpfen Geräusch auf Lenas Kopf herabsauste und sie mit voller Wucht seitlich über dem Ohr traf! Oh Gott, er will sie doch nicht etwa umbringen? Er erschlägt die Schlampe! Hatte er sich das nicht im Stillen gewünscht? Damit er es nicht irgendwann selbst tun musste? Er wusste es nicht! Ohne den geringsten Laut sackte Lena zusammen und landete zuerst auf den Knien und dann auf den Händen. Dunkles Blut tropfte aus einer Kopfwunde, bedeckte zuerst ihr Gesicht, ihr leuchtend helles blondes Haar, die Schultern und dann ihre gelbe Bluse. Sie drehte sich noch zu Edward um, sah ihn ungläubig und verwundert mit weit aufgerissenen Augen an, als hätte sie ihm so etwas niemals zugetraut, erst dann fiel sie nach hinten in das flache Wasser und blieb regungslos liegen. Die weit geöffneten Augen starrten in den blauen, wolkenlosen Himmel, während ihr Blut langsam das Wasser um sie herum rötlich zu färben begann.
Edward stand bewegungslos und erschüttert neben ihr und schien nicht zu begreifen, was er gerade getan hatte! Oh Gott, ich habe sie doch nicht etwa getötet, schoss es ihm durch den Kopf wie der Einschlag eines Blitzes bei einem Unwetter. In gebeugter Haltung stand er neben ihrem scheinbar leblosen Körper, der von den sanften Wellen leicht hin und her bewegt wurde, starrte auf sie herab und begann plötzlich hemmungslos zu schluchzen. Sein ganzer Körper bebte, und langsam und zögerlich beugte er sich zu dem blutüberströmt im Wasser liegenden Mädchen zu seinen Füßen herab. Oh mein Gott, das habe ich doch nicht gewollt, schrie eine lautlose innere Stimme in seinem Kopf.
Lenas Gesicht war leicht zur Seite geneigt, Blut und Sand hatten es in eine seltsame, beinahe groteske Maske verwandelt, die sich durch das Wasser, dass sie umspülte, ständig veränderte. Seine zitternde Hand wollte nach ihr greifen, doch seine Muskeln weigerten sich, seinem Willen zu folgen. Mitten in der Bewegung hielten sie inne. Er schaffte es nicht, sie zu berühren! Sein Blick verharrte voll Entsetzen auf ihrem blutigen Körper. Was hatte er nur getan? Wie konnte er sich nur dazu hinreißen lassen, so auf sie einzuschlagen? War er denn völlig von Sinnen? Immer noch unfähig, sich zu bewegen und den Blick von ihr abzuwenden, stand er halb gebückt neben ihr bis zu den Knöcheln im Wasser, und starrte auf den bewegungslosen Mädchenkörper. Er fiel auf die Knie und versuchte erneut, sie zu berühren. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Er musste doch nachsehen, ob sie noch lebte! Aber die Hand verharrte wie eingefroren nur wenige Zentimeter über ihrem Kopf freischwebend in der Luft. Entsetzt starrte er auf das viele Blut. Und dann, ganz langsam, Stück für Stück, kroch er auf allen Vieren benommen zurück ans trockene Ufer. Alles in ihm schrie danach, sich einfach in den Sand fallen zu lassen und die Augen zu schließen – einfach zu vergessen, was gerade Schreckliches geschehen war. Wenn er sie dann wieder öffnete, würde er sicher feststellen, dass alles doch nur ein böser Traum war, dass seine Sinne ihm nur einen üblen Streich gespielt hatten! Das alles konnte doch nicht wirklich geschehen sein! Oder doch? Plötzlich hob er den Blick und suchte hastig den Waldrand ab. Hatte ihn jemand beobachtet? Panisch vor Angst sah er sich gehetzt um wie ein Gejagter. Aber keine Menschenseele war zu sehen! Gott sei Dank!
Alles war still bis auf das leichte Säuseln des Windes in den Blättern der Büsche und Bäume und das sanfte Plätschern der Wellen, die der Wind ans Ufer schob. Eine trügerische Ruhe, dachte der Junge in seinem Versteck. Offenbar hatte niemand ihren lauten Streit mitbekommen. Edward erhob sich, warf noch einmal einen Blick auf den regungslosen Körper im seichten Wasser und begann nun hastig, sich den Sand von den Kleidern und Schuhen zu wischen, den Blick weiter ängstlich auf den Waldrand und das untere Ende des steilen Pfades gerichtet. Dann verschwand er, noch immer in einer seltsam verkrampften und leicht gebeugten Haltung zwischen einigen Büschen und eilte, den Pfad vermeidend, durch das dichte Unterholz die Anhöhe hinauf in Richtung des Internats.
Der Junge hinter dem Vorhang aus Weidenzweigen stand noch eine ganze Weile dort, ohne sich zu bewegen, und beobachtete den Körper im Wasser, der wieder und wieder durch die Wellen leicht bewegt wurde. Der Wind wurde nun etwas stärker, und mit ihm auch die rhythmische Bewegung des leblosen Mädchens. Hatte sie also doch noch ihre gerechte Strafe bekommen, dachte er, halb lächelnd, halb entsetzt. Aber dann, ganz plötzlich, traute er seinen Augen nicht! Ihre Hand – hatte sich nicht gerade eben ihre Hand bewegt? Aber nein, es waren sicher nur die Wellen gewesen, nur die Wellen des Waldsees, angetrieben durch den stärker werdenden Wind, sagte er sich. Bestimmt nur eine Täuschung seiner Sinne. Die verdammte Schlampe war tot, erschlagen von Edward, der ihrem hinterhältigen, verlogenen Treiben endlich ein jähes Ende gesetzt hatte! Er hatte sie …
Da! Wieder die Hand! Sie bewegte sich eindeutig nach oben und schien ihm zuzuwinken, ihn um Hilfe zu bitten. Panisches Entsetzen wollte Besitz von ihm ergreifen! Das konnte doch nicht sein! Sah er Gespenster? Der Schlag – das konnte sie doch nicht wirklich überlebt haben! Er war zu heftig gewesen. Sie musste doch tot sein! Unmöglich, dass sie noch lebte!
Der Junge erwachte aus seiner Bewegungslosigkeit. Mit den Händen teilte er die Weidenpeitschen vor seinem Gesicht und suchte das Ufer und den Waldrand mit schnellen Blicken ab. Alles war still und niemand war zu sehen. Er war völlig allein hier unten am See mit Lenchen-Schlampe. Verdammt, und schon wieder! Ihre Hand hatte sich eben eindeutig gehoben! Das konnte doch nicht durch die Wellen passiert sein. Das Miststück war noch am Leben! Dieses verdammte Luder war noch gar nicht tot. Sie lebte noch!
Er warf noch einen letzten Blick hinüber zum Waldrand und dem Ende des Pfades, dann trat er aus seinem Versteck hervor und rannte eilig hinüber zu dem Mädchenkörper. Der Wind, der nun stärker wurde und einige dunkle Wolken mit sich brachte, schien ihn plötzlich wieder klar denken zu lassen. Schnell fühlte er den Puls an ihrer Halsschlagader. Er war zwar schwach, aber deutlich zu spüren. Würde sie sterben, wenn er sie jetzt einfach hier liegenlassen würde? Schnell genug, bevor sie vielleicht noch von jemand gefunden wurde, der Alarm schlagen würde? Er wusste es nicht. Also musste er handeln! Er sah auf das Blut an seinen Fingerspitzen – ihr Blut!
Fest umfasste er ihre schmalen Handgelenke und begann, sie in Richtung des tieferen Wassers zu ziehen. Fast hätte er sie vor Schreck wieder losgelassen, als er ein tiefes Stöhnen aus ihrem Mund vernahm! Dann packte er erneut zu. Plötzlich schlug sie die Augen auf und versuchte, sich mit letzter Kraft gegen seinen Griff zu stemmen! Sie stöhnte erneut laut auf. Der Junge erschrak zunächst, dann packte er jedoch fester zu. Er musste es zu Ende bringen! Mit aller Kraft zog er sie so weit ins tiefere Wasser, bis er ihren Kopf mühelos untertauchen konnte. Mit beiden Händen drückte er sie nach unten, dabei immer das Ufer im Blick behaltend. Der Junge spürte ihren verzweifelten Widerstand, als sie noch einmal versuchte, sich gegen seinen Griff zu wehren. Doch er war zu stark für sie. Kleine Luftblasen stiegen nach oben und versiegten dann. Ihre Kraft ließ nach. Dann hörte sie plötzlich auf, zu zappeln und sich zu bewegen! Lenas Körper drehte sich jetzt unter der Wasseroberfläche auf den Rücken und ihre glasigen Augen schienen ihn vorwurfsvoll anzustarren.
Nun hatte er sie getötet! Er, nicht Edward!
Was sollte er jetzt tun? Du musst sie verschwinden lassen, riet ihm seine innere Stimme. Aber wohin, antworteten seine wirren Gedanken, wohin? Zunächst hinüber unter die Weide, dass man sie nicht noch durch einen Zufall hier im Freien entdecken würde, schlug die Stimme vor.
Hastig zog er sie an den Fußgelenken am Ufer entlang bis hinter den dichten Vorhang der Weidenzweige, wobei er immer im knietiefen Wasser blieb, um keine Schleifspuren zu hinterlassen. Dort ließ er sie dann im unteren Teil der steilen Böschung fallen. Sie schien jetzt viel schwerer zu sein, weil ihrem Körper die natürliche Spannung fehlte. Schwer atmend stand er neben ihrer Leiche und suchte mit seinem Blick die Umgebung ab. Irgendwo musste er sie doch verbergen können, ohne dass man sie sofort fand, dachte er.
Unterhalb seines Standorts ragten die Wurzeln der Weide mit kräftigen Ausläufern bis hinunter ins trübe Wasser. Er überlegte kurz und stieg an dieser Stelle erneut in den See, um die Stelle zu untersuchen. Die Nachmittagssonne stand immer noch heiß am Himmel, doch der Wind hatte es geschafft, für ein wenig Abkühlung zu sorgen. Der Junge zitterte und fröstelte am ganzen Körper. Am Fuß des mächtigen Wurzelwerks tauchte er hinab in das dunkle Grün. Das Ufer fiel hier steil mehrere Meter ab und das Wasser hatte die Erde bis auf das Gestein weggespült und so eine natürliche Höhle unter den mächtigen Wurzeln der Weide entstehen lassen. Sie bildeten hier ein enges, dichtes Geflecht, das beinahe die ganze Aushöhlung ausfüllte. Dazu war die Sicht nur sehr mäßig. Aber hier hatte er ein ideales Versteck für Lenas toten Körper gefunden! Hier unten, in der Aushöhlung und zwischen dem Wurzelgeflecht, würde die Leiche wohl kaum durch den Auftrieb an die Oberfläche kommen können. Hier würde man sie nicht so leicht finden!
Er musste sich nun jedoch beeilen, wollte er vermeiden, dass sein Fehlen auffiel. Er erinnerte sich an die alte zerfallene Hütte, die etwa einhundert Meter weiter links am Ufer stand. Dort hatte er bei einem früheren Erkundungsgang alte Planen, Taue, Holzkisten und diverse verrottete Werkzeuge entdeckt. Schnell fand er dort eine alte, olivgrüne Plane, die aber noch gut erhalten war, und einige Kunststoffseile. Er raffte alles zusammen und hastete zurück zu der Leiche. Mit einiger Mühe verpackte er das tote Mädchen in der Plane und verschnürte sie sorgfältig. Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, dass ihn dabei niemand beobachtet hatte. Dann ergriff er das Paket an einem Ende, zog es zum steilen Ufer zwischen die Wurzelausläufer und ließ es langsam ins Wasser gleiten. Lenas Körper sank sofort nach unten. Der schwierigste Teil war, das Paket nun unter das dichte Geflecht von Wurzeln zu schaffen, und zwar so, so dass es dort auch sicher steckenblieb. Er holte tief Luft und tauchte hinab. Er brauchte dazu über eine Viertelstunde, bis er mit dem Ergebnis seiner Arbeit zufrieden war. Am Ende hatte der Junge den toten Mädchenkörper noch mit Seilen an einer der stärkeren Wurzelausläufer unter Wasser befestigt. Das musste reichen. Mehr konnte er nicht mehr tun. Er tauchte auf und stieg nun schwer atmend und völlig erschöpft aus dem trüben Wasser.
Er schleppte sich unter den Weidenbaum und ließ sich ins weiche Gras fallen. Sein Atem ging schnell und schwer. Mehrmals hatte er auftauchen müssen, um Luft zu holen, was ihn sehr viel an Kraft kostete. Doch allmählich beruhigte sich sein Puls wieder, sein Atem wurde gleichmäßiger und seine wirren Gedanken wurden immer klarer. Er hatte es getan! Er hatte die Chance, die ihm der Zufall vor die Füße gelegt hatte, genutzt, und seinen Hass für alle Zeiten verbannt, indem er sie getötet hatte. Nie wieder würde sie ihn quälen können, nie wieder würde er ihrer Häme und Verachtung ausgesetzt sein! Er wurde jetzt immer ruhiger und spürte, wie ein starkes Gefühl von innerem Frieden von ihm Besitz ergriff. Als hätte er eine unsichtbare Linie in seinem Leben überschritten, eine, die einen Schlussstrich zog unter Vergangenes und die Tür zu etwas Neuem öffnete. Es war ein so wunderbares, leichtes und befreiendes Gefühl, dass ihn still in sich hineinlächeln ließ.
Nachdem er sich erholt und angekleidet hatte, stand er auf und warf noch einen letzten Blick auf die Stelle im grünlich trüben Uferwasser, an der er in etwa zwei Metern Tiefe Lenas verpackte Leiche wusste, verborgen vor den Blicken der Welt. Es war vorbei mit all den Demütigungen, der Verachtung und dem Spott. Er hatte es ihr heimgezahlt, schneller als geahnt. Und er konnte die Schuld auf Edward schieben, der sie mit einem Stein hinterrücks niedergeschlagen hatte und nun wohl selbst überzeugt davon war, sie damit getötet zu haben. Das war doch nicht sein Werk! Wahrscheinlich wäre die Schlampe auch ohne sein Zutun gestorben, sagte er sich, an der schweren Kopfverletzung, die der Schlag mit dem Stein verursacht hatte. Er war nur der, der es zu Ende gebracht hatte!
Schnell hob er noch die weißen Turnschuhe auf, die sie von sich geworfen hatte. Erschöpft, aber hochzufrieden machte er sich auf den Rückweg hinauf zum Internat, in dem es am heutigen Sonntag noch sehr ruhig sein würde. Erst in den späteren Abendstunden würden sie alle wieder aus dem Wochenende zurückkehren. Er brauchte sich also keine Sorgen zu machen.
Und er war der einzige, der wusste, was hier wirklich an diesem warmen Sommernachmittag geschehen war …
Erst gegen 20 Uhr 30 wurde das Fehlen von Lena im Internat bemerkt, nachdem einige der Schülerinnen sie auf ihrem Zimmer und in den Gemeinschaftsräumen gesucht, aber nicht gefunden hatten. Die Internatsleitung in Person von Herrn Dr. Leininger ließ sogleich von den bereits anwesenden Lehrern, Schülerinnen und Schülern das gesamte Internatsgelände absuchen, allerdings ohne den gewünschten Erfolg. Einige der Schüler, die das Wochenende hier im Internat verbracht hatten, sagten übereinstimmend aus, dass Lena am Nachmittag zum See hinuntergelaufen sei, jedoch ohne ihre Badesachen mitzunehmen. Andere ergänzten diese Aussage, indem sie erklärten, dass sie das in einem sehr wütenden Zustand getan habe. Aber keiner habe sie danach wieder gesehen.
Gegen 22 Uhr 35 verständigte Dr. Leininger die Polizei und die Eltern des vermissten Mädchens. Im Vergleich zu den sonstigen Sonntagabenden, an denen es ab einer bestimmten Uhrzeit sehr ruhig in den Internatsräumen wurde, glich das großflächige Anwesen an diesem Abend einem aufgeregten Ameisenhaufen. Gegen 23 Uhr trafen mehrere Beamte der örtlichen Kriminalpolizei ein und begannen sofort, jeden der Anwesenden genau zu befragen, insbesondere diejenigen, die das Wochenende über hier im Internat geblieben waren. Nur weitere dreißig Minuten später traf die erste Hundertschaft der Polizei mit Suchhunden und Scheinwerfern ein, um das gesamte Gelände im Umkreis des Internats, dazu gehörten auch das Waldstück sowie die Ufer des nahen Waldsees, Meter für Meter abzusuchen. Doch Lena blieb verschwunden.
Aufgrund der besonderen Situation – man kam von hier ohne ein Fahrzeug kaum weg – verzichtete die Polizei darauf, erst einmal die nächsten Stunden abzuwarten, bevor sie aktiv wurde. Sie begannen jedoch sofort mit der Suche
Trotz der vielfältigen Anstrengungen der Such- und Rettungskräfte, inzwischen waren seit dem frühen Morgen auch Taucher einer Polizeistaffel eingetroffen, die den Grund des Sees absuchen sollten, blieb das Mädchen weiter unauffindbar. Es gab nicht die kleinste Spur von Lena, auch nach stundenlanger Suche nicht.
Inzwischen waren die besorgten Eltern von Lena von Wellnitz, der Vater war Inhaber einer bekannten internationalen Entsorgungsfirma für Sondermüll, und die Mutter Galeristin und oft im Ausland unterwegs, über das Verschwinden ihrer Tochter und die ersten Ergebnisse der Suchaktion informiert worden. Schon am folgenden Tag wurde der Zwillingsbruder von Lena, der ebenfalls hier auf dem Internat war, nach Hause geholt, um ihn von dem ganzen Trubel fernzuhalten. Da bisher noch keine Lösegeldforderung eingegangen war, ging die Polizei zunächst nicht von einem Verbrechen, sondern auch weiterhin von einem möglichen Unfall aus. Sie verstärkte die Suche nun gezielt durch den Einsatz weiterer Suchtrupps in der Hoffnung, das blonde Mädchen vielleicht irgendwo draußen verletzt aufzufinden. Die Medien schalteten sich, wenn auch von der Polizei unerwünscht, ebenfalls in die Suche ein und berichteten von nun an jeden Tag über das rätselhafte Verschwinden von Lena von Wellnitz. Natürlich wurde auch in Betracht gezogen, dass Lena einfach aus dem Internat davongelaufen war, jedoch nach intensiveren Nachforschungen wurde festgestellt, dass sie gar keine Möglichkeit hatte, ohne fremde Hilfe das großflächige Gelände zu verlassen, weil das Internat ziemlich abgelegen und weit entfernt von jeder Straße lag. So gab es nicht einmal eine Bahn- oder Buslinie in der näheren Umgebung, die sie in einem solchen Fall hätte nutzen können, sodass auch diese eher unwahrscheinliche Möglichkeit am Ende von der Polizei ausgeschlossen wurde.
Am Tag nach dem Verschwinden Lenas wurde der Suchradius erweitert und die umliegenden Ortschaften einbezogen. Die ganze Gegend suchte fieberhaft nach der Jugendlichen, wohl wissend, dass in einem solchen Vermisstenfall die ersten achtundvierzig Stunden nach dem Verschwinden entscheidend waren. Danach trübte sich das Erinnerungsvermögen von möglichen Zeugen, mischte sich mit Dingen, die diese irgendwo gehört oder gelesen hatten, oder ungünstige Wetterumstände zerstörten vorhandene Spuren, die man bisher noch nicht entdeckt hatte. Es wurde nun zunehmend schwieriger, je länger die Suche dauerte, von Tag zu Tag. Aber auch in den umliegenden Ortschaften gab es bis auf wenige interessante Hinweise, die sich aber sehr schnell als falsch, als Verwechslung oder als unbrauchbar herausstellten, keinerlei neue Erkenntnisse. Und es gab keine weiteren Zeugen. Lena Katharina von Wellnitz, so hieß das vermisste Mädchen mit vollem Namen, war und blieb trotz aller Bemühungen der Einsatzkräfte spurlos verschwunden.
Tage später erst fand man einen von Lenas weißen Turnschuhen auf einem engen Waldweg auf der anderen, dem See abgewandten Seite des Internats. Die Beteiligten waren sich sicher, dass man den Turnschuh bei der ersten Suche nicht hätte übersehen können. Man war sich einig, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht dort gelegen hatte. Jemand musste ihn nachträglich dort abgelegt haben, um seine Spuren zu verwischen. Dieser Turnschuh war der letzte Hinweis, den man von Lena fand. Von diesem Zeitpunkt an ging die Polizei von einem Verbrechen aus. Erst zwei Jahre später, nachdem keinerlei Erfolge bei der Suche nach dem Mädchen erzielt werden konnten und es auch keine neuen verwertbaren Spuren gab, wurde der Vermisstenfall Lena zu den Cold Cases, den unaufgeklärten Fällen, abgelegt. Diese wurden dann meist zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufgegriffen, um zu prüfen, ob es möglicherweise neue Erkenntnisse gab. Oftmals blieben diese Fälle weiter unaufgeklärt, doch hin und wieder kam es vor, dass sich nach Jahren neue Hinweise ergaben …
Lenas Zwillingsbruder, Sebastian Clemens von Wellnitz, hatte seit dem Tag des Verschwindens seiner Schwester, also seit nunmehr zwei Jahren, kein Wort mehr gesprochen. Nach Ansicht mehrerer auch namhafter Ärzte litt der Junge unter selektivem Mutismus, auch unter dem Begriff psychogenes Schweigen bekannt, einer Kommunikationsstörung, die nach übereinstimmender Diagnose mehrerer Fachleute durch das rätselhafte und immer noch ungeklärte Verschwinden seiner Zwillingsschwester ausgelöst worden war, die er laut Aussage seiner Eltern abgöttisch geliebt hatte …
Erster Teil
Dunkelheit
„Tief in die Dunkelheit blickend stand ich da, fragend, ängstlich, träumend was kein Sterblicher je zuvor geträumt hat.“
Edgar Allen Poe
EDWARD
Du wirst dafür bezahlen!
Er fuhr mit seinem Wagen von der Schnellstraße ab und schlug die Richtung zur Innenstadt ein. Dicke Regentropfen, die gerade aus noch dickeren Wolkenschleiern fallend auf die Windschutzscheibe trommelten, waren nicht normal für diese Jahreszeit. Seit zwei Tagen regnete es nun schon, und die graue Watteschicht, die sich über den Himmel spannte, ließ nicht einmal dem kleinsten Sonnenstrahl eine Chance. Inzwischen war es Ende Januar, aber in diesem Winter hatte es noch nicht ein einziges Mal Schnee gegeben – zumindest nicht in diesen Regionen. Dafür aber jede Menge Regen. Der Klimawandel war in vollem Gange, für ihn eine unumstößliche Tatsache. Die Temperaturen pendelten sich deutlich über dem Gefrierpunkt ein – viel zu warm für Schnee.
Edward van Grothen bog nun in die schmale Nebenstraße mit dem alten Baumbestand ein, der bisher allen Sanierungskonzepten der Städteplaner aus unerfindlichen Gründen getrotzt hatte, um selbst in den heißen Sommermonaten mit seinem wuchtigen und weit ausladenden Grün für eine angenehme schattige und kühle Atmosphäre in dieser Straße zu sorgen. Nun aber ragten die starken Äste der alten Platanen kahl in den grauen Morgenhimmel. Hier in der Kleiststraße war die Kanzlei angesiedelt, in der er seit drei Jahren tätig war.
Dr. Böhmer und Stark, Rechtsanwälte und Notare. Spezialgebiete waren das Wirtschafts- und Umweltrecht. Neben den beiden älteren Teilhabern der Kanzlei, Dr. Hagen Böhmer und Berthold Stark, tummelten sich noch die beiden Junganwälte, nämlich sein Kollege Sven Keppler und er selbst sowie drei Sekretärinnen in den Räumlichkeiten. Edward fühlte sich hier wohl, das Verhältnis zu den beiden Chefs, dem Kollegen und den Damen des Sekretariats war äußerst entspannt und konnte bisher kaum besser sein, was in einer Anwaltskanzlei mit mehreren Anwälten nicht immer der Fall war.
Nach seinem Aufenthalt damals im Internat Waldenberg hatte er begonnen, Jura zu studieren, zur Freude seines Vaters, dessen Erwartungen an den eigenen Sohn nicht gerade gering waren. Edward sollte so erfolgreich werden wie er selbst, das hatte sich Jon van Grothen auf die Fahnen geschrieben. Sein Ehrgeiz und sein Erfolg waren der einzig gültige Maßstab für die ganze Familie. Nur so hatte er es in die höheren Etagen einer namhaften Bank geschafft. Auch die Mutter, Sylvia van Grothen, war überaus erfolgreich. Sie saß im Vorstand eines Pharmakonzerns – als eine der wenigen Frauen in der Branche. In solch große Fußstapfen sollte der Sohn nun treten. Das war der Preis, den man zu zahlen bereit sein musste, kam man aus einem sogenannten guten Hause. Edward lernte jedoch schon immer sehr schnell, und das Jurastudium machte ihm überraschenderweise Spaß. Er liebte es, im Dickicht der Paragrafen und Absätze nach den kleinen Lücken zu suchen, die man sich anschließend zunutze machen konnte. Und in dieser Sache war Edward wirklich gut! Jedoch war er keiner dieser Winkeladvokaten, die zu ihrem eigenen Vorteil mal schnell das Recht und auch den rechten Weg aus den Augen verloren. Edward van Grothen war als ein gradliniger junger Anwalt bekannt, der auch gerne verbissen und ausdauernd für eine gute Sache kämpfen konnte, wenn er von ihrer Richtigkeit überzeugt war.
Doch seit Jahren lebte er mit dieser tief verborgenen Angst. Seit diesem verfluchten, unsäglichen Tag damals im Internat!
Man hatte Lena Katharina von Wellnitz bis heute nicht gefunden, was ihn im höchsten Maße verunsicherte. Er hatte lange versucht, diese schlimme Sache einfach zu verdrängen, und das Grausame, das damals unten am Waldsee geschehen war, das, was er dort getan hatte. Er hatte das Mädchen mit einem Stein am Ufer des Sees niedergeschlagen und war sich sicher, dass er sie dabei auch getötet hatte. Doch man hatte Lena damals nicht gefunden, weder tot noch lebendig! Und langsam, nach nunmehr zwölf Jahren, verblassten all die unheilvollen Bilder in seinem Kopf immer mehr. Lena musste auf irgendeine Weise überlebt haben und von dort verschwunden sein! Eine andere Erklärung gab es für ihn nicht. Er hatte sie dort am See niedergeschlagen, und sie hatte vor ihm im seichten Wasser gelegen und schien wirklich tot zu sein! Überall das viele Blut! Er hätte schwören können, dass sie tot war! Wie konnte sie danach, auch noch am gleichen Abend, einfach so verschwinden? War sie hinaus auf den See getrieben worden und dort untergegangen? Er hatte keine Ahnung. Dabei hatte er fest damit gerechnet, dass man Lenas Leiche sehr schnell finden würde, dort unten am Ufer, als die Polizei mit Hunden das alles abgesucht hatte.
Edward van Grothen vermutete, dass sie vielleicht jemand dort am Ufer gefunden und mitgenommen hatte. Sonst hätte man sie doch finden müssen. Jemand mit einem Boot, der vom anderen Ufer herübergekommen war. Aber dann blieb immer noch ihre schwere Kopfverletzung. Hatte er sich in seiner Panik vielleicht getäuscht, und Lena hatte nur eine stark blutende Platzwunde davongetragen? Konnte es sein, dass am Ende alles viel schlimmer ausgesehen hatte, als es wirklich war? So sehr er auch gerätselt hatte, er konnte sich Lenas Verschwinden nie ganz erklären. Aber die quälende Ungewissheit hatte auch die Angst mit sich gebracht, und beides hatte ihn über die Jahre hinweg begleitet. Inzwischen waren zwölf Jahre vergangen und er hatte nie wieder etwas gehört, weder von der Polizei noch von Lena selbst. Immerhin war es doch ebenso möglich, dass sie einfach alles hinter sich gelassen hatte, um an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen! Aber nein, das war nicht ihre Art! Wäre sie noch am Leben, hätte sie sich gewiss an ihm gerächt.
Er betrat den Empfangsraum der Kanzlei. Heute saß Elisa dort, die freche kleine Spitzmaus mit dem verschmitzten Lächeln und den unübersehbaren Grübchen, vor deren Späßen selbst die beiden Teilhaber nicht sicher waren. Aber Elisa war eine Seele von Mensch und alle mochten sie, vielleicht gerade wegen ihrer frechen und unkomplizierten Art und wie sie das Leben mit seinen Rückschlägen annahm. Vor gut einem Jahr, es war zwischen Weihnachten und Silvester, war ihre Mutter nach langer und schwerer Krankheit verstorben. Aber ihr von Grund auf fröhliches Gemüt hatte ihr geholfen, auch über den unendlichen Schmerz und bitteren Verlust hinwegzukommen, so gut es eben mal ging. Ihre Mutter war ihre Familie gewesen, oder besser, das was ihr noch davon geblieben war. Jahrelang hatte Elisa Greiling es trotz ihrer Arbeit hier in der Kanzlei geschafft, sich auch noch um ihre kranke Mutter zu kümmern, sie zu versorgen und sie am Ende bis in den Tod zu pflegen.
Böhmer und Stark hatten sie dabei tatkräftig unterstützt, wenn sie zu Hause bleiben musste, weil ihre Mutter wieder einmal eine schlechtere Phase ihrer Krankheit durchlebte. Das hatte ihr von den Chefs und den Mitarbeitern großen Respekt eingebracht, und alle in der Kanzlei hatten sie unterstützt, so gut es jedem möglich war. Und nun dankte sie allen mit ihrer fröhlichen, hilfsbereiten und zuverlässigen Art.
Elisa saß hinter dem Empfangstresen und lächelte über das ganze Gesicht, als sie Edward durch die Eingangstür kommen sah. Und wie immer hatte sie einen Scherz parat.
„Einen guten Morgen, Herr van Grothen. Ich habe mir vorgenommen, Sie morgen nicht mehr hier hereinzulassen, wenn sie nicht eine Tüte Sonnenschein mitbringen“, flötete sie auf ihre unnachahmliche Art.
Edward musste lachen. „Ich werde mir Mühe geben, Elisa.“ „Wie geht es Ihrer werten Gemahlin?“ Edward wusste, dass ihre Frage nicht nur eine Floskel war und antwortete deshalb:
„Danke, gut. Wie es eben gehen kann, wenn man im sechsten Monat schwanger ist. Und Ihnen? Was macht die Liebe?“
„Ach danke, wird schon werden. Sie wissen doch, ich gebe nie auf.“
Mit einem amüsierten Lächeln bog Edward auf den Gang zu seinem Büro ab. An diesem Morgen war er wohl einer der ersten in der Kanzlei. Er öffnete die Bürotür, streifte seinen Mantel ab und ließ ihn lässig auf das Sofa fallen, das dekorativ zwischen den beiden hohen Fenstern stand. Mit den Händen fuhr er sich durch die leicht nassen blonden Locken, die er immer noch lang trug. Dann ging er hinüber ins Sekretariat, um sich einen Kaffee zu holen und nach der Post zu fragen.
Und da saß sie, wie jeden Morgen, Britta Wiegand, Sinnbild und vollkommene Verkörperung einer Frau, mit einer engen weißen Bluse über ihrem vollen, wohlgeformten Busen, ihrem wie immer hautengen Minirock, der gut zwanzig Zentimeter über den Knien endete und den Blick auf ein paar Beine gestattete, die erotischer nicht hätten sein können. Sie trug ihr dunkles Haar lang und offen und ihre meergrünen Augen waren nur sehr dezent geschminkt. Britta Wiegand war sich ihrer Wirkung auf Männer sehr wohl bewusst und machte sich nicht selten einen Spaß daraus, ihnen nach allen Regeln der Kunst den Kopf zu verdrehen. Auf gewisse Weise erinnerte sie ihn an Lena, aber nur in einer gewissen Weise. Britta war alles andere als arrogant, herablassend, durchtrieben und verletzend. Sie war eine angenehme, sehr erotische Frau, die man gerne um sich hatte, aber man musste sich vorsehen. Sie flirtete oft und gerne, und dabei überschritt sie nicht selten mal Grenzen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.
So wie jetzt!
Ohne jede Hemmung starrte sie Edward nun ausgiebig und schamlos auf den Hintern, während dieser sich gerade an der Kaffeemaschine bediente. Er hatte den unbedachten Fehler gemacht, ihr ein zu freundliches Lächeln zu schenken, was sie sofort als Einladung zum Flirten interpretierte. Grazil erhob sie sich von ihrem Bürostuhl und näherte sich ihm von hinten. Sie griff mit der rechten Hand um ihn herum und nahm ihm die Kaffeekanne aus der Hand. Ihre andere Hand landete zufällig auf seiner linken Schulter. Leicht schmiegte sich nur für einen kurzen Augenblick ihr Körper an den seinen und ihre Blicke trafen sich. Der leichte Duft ihres Parfüms ließ ihn für einen viel zu langen Moment den Verstand verlieren, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte.
„Das ist meine Aufgabe“, sagte sie mit einem provozierenden Lächeln und füllte ihm eine Tasse mit heißem Kaffee, während er sich zu ihr umdrehte. „Und ich mache es gerne“, fügte sie noch mit einem vielsagenden Blick hinzu. Edward konnte in diesem Augenblick gar nicht anders, als ihr auf den Busen zu starren, der sich in voller Pracht vor ihm entfaltete. Wie immer hatte Britta die oberen Knöpfe ihrer engen Bluse gerade mal so weit geöffnet, dass den männlichen Fantasien nur noch wenige Grenzen gesetzt waren. Zumindest so lange, wie die beiden Senior-Chefs noch nicht im Hause waren. Das kleine Luder, dachte er amüsiert, immer verdammt hart an der Kante entlang!
„Danke, Britta. Sehr freundlich. Was ist in der Post?“
Sie registrierte seinen hilflosen Versuch, gleich wieder zur Geschäftsordnung überzugehen, mit einem erneuten Lächeln und sagte:
„Ein größerer Umschlag von Preusse, ansonsten nichts von Bedeutung.“ Britta reichte ihm einen kleinen Briefstapel und berührte dabei erneut seine Hand, bevor sie mit wiegenden Hüften zurück an ihren Schreibtisch stöckelte. Er grinste in sich hinein und trat eilig mit Kaffeetasse und der Post in den Händen den geordneten Rückzug in sein Büro an.
Bevor Edward seine Aufmerksamkeit der morgendlichen Post widmete, schaltete er seinen Rechner und den Bildschirm ein. Während sich das startende System bis zur Passworteingabe vorarbeitete, hatte er die Briefe bereits geöffnet und kurz überflogen. Er griff zur Tasse und nahm erst einmal einen Schluck Kaffee. Um die Tasse nicht abstellen zu müssen, gab er unbeholfen mit der linken Hand sein Passwort ein und klickte auf den Login-Button. Während sich sein firmeninterner E-Mail-Account öffnete, warf er noch schnell einen kurzen Blick aus dem Fenster. Wo sollte er bei diesem Wetter nur eine Tüte Sonnenschein für Elisa herbekommen? Es war fast aussichtslos. Er beobachtete, wie dicke Regentropfen gegen die Fensterscheiben klopften, sich vereinten und im nächsten Augenblick in mehreren kleinen Rinnsalen der Schwerkraft folgend nach unten rollten. Nach einer kleinen Weile, die er gedankenversunken aus dem Fenster starrend verbracht hatte, wandte er sich wieder um und schenkte seine Aufmerksamkeit dem Bildschirm auf seinem Schreibtisch. Ein weiterer Schluck Kaffee, dann überflog er die neuen ungelesenen Mails seines Accounts an diesem Morgen.
Mit einem Mal hielt er mitten in der Bewegung inne. Eine der Nachrichten hatte soeben seine Aufmerksamkeit erregt. Sie hatte offensichtlich nichts mit seiner Arbeit zu tun. Im Betreff stand nur ein Buchstabe: „L“. Er überlegte noch kurz, ob er sie einfach löschen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen und öffnete sie. Das, was nur einen Klick später auf seinem Bildschirm mit der Wucht eines Hammerschlags auftauchte, raubte ihm jedoch die Fassung! Es fühlte sich an, als habe ihm jemand Blei in die Glieder gegossen. Es erschien nur ein einziger Satz, geschrieben in großen roten Lettern. Atemlos starrte er auf die vier Worte, die ihn bösartig und herausfordernd anglotzten und leichenblass werden ließen. Jegliche Farbe verschwand aus seinem Gesicht, während er das Gefühl hatte, plötzlich könne sein Herzschlag aussetzen!
Mein Gott! Das konnte nur ein schlechter Scherz sein! Wer sollte sich denn so etwas ausdenken? Unfähig, den Blick von den roten Lettern zu lösen, begann sein Gehirn im gleichen Moment, die Worte systematisch zu erfassen und ihnen einen Sinn zuzuordnen. Mit glasigen Augen starrte er bewegungslos und unfähig, überhaupt etwas zu tun, auf die vier unheilvollen Worte in grellroten Großbuchstaben:
DU WIRST DAFÜR BEZAHLEN!
Edward van Grothen war entsetzt!
Es dauerte gefühlt eine kleine Ewigkeit, bis er nun wieder imstande war, sich zu bewegen und überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Bürotür öffnete sich gerade einen Spalt weit und der rote Lockenkopf seines Kollegen Sven Keppler schob sich herein. Wie jeden Morgen hatte er sofort einen seiner überaus coolen Sprüche auf den Lippen.
„Morgen, du Streber, schon wieder mal als erster bei der Arbeit?“ Dabei zeigte er sein breitestes Grinsen, dass sich jedoch zusammenfaltete, als er Edwards Gesicht erblickte, dass mit der perlweißen Wandfarbe des Büros gerade in heftigen Konkurrenzkampf getreten war. „He, was ist dir denn über die Leber gelaufen, Alter?“, schob er sofort nach.
„Ne, alles gut. Ist schon in Ordnung. Nur mal wieder Kopfschmerzen.“ Wie aus weiter Ferne vernahm Edward, wie seine Stimme wohl irgendetwas antwortete, ohne zu wissen, wer bei dieser Antwort die Regie übernommen hatte, während seine Hand fast schon unkontrolliert abwehrend in der Luft herumruderte. Dann sah er zu Sven, der immer noch ratlos im Türrahmen stand und besorgt dreiblickte.
„Ist alles gut, Sven, wirklich. Ab und zu habe ich nun mal diese Schmerzattacken. Ist gleich wieder besser“, erklärte er, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen. Mit einem schnellen Klick hatte er die Nachricht geschlossen und beugte sich über die Post, um seinen Händen Bewegung zu verschaffen und wieder Kontrolle über sich zu bekommen.