Verflucht sei der Totenwald - Ben Kossek - E-Book

Verflucht sei der Totenwald E-Book

Ben Kossek

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In diesem Buch geht es um drei Freunde, die in einem abgelegenen, seltsam rückständigen Dorf ein Jagdwochenende verbringen wollen. Dort geraten sie in Gefahr und müssen um ihr Leben bangen. Scheinbar lastet auf dem Dorf und dem umliegenden Wald ein böser Fluch, der sie nicht mehr loslassen will. Flucht scheint unmöglich. Und dann erwacht der Fluch erneut und bringt das Böse ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Ben Kossek

Verflucht sei der Totenwald

Thriller

© 2024 Ben Kossek

Coverdesign von: Bernd Moch

Herausgegeben von: tredition GmbH

Covergrafik von: Unbekannt, Moch, Pixabay

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN 978-3-384-20460-8 (Paperback)

ISBN 978-3-384-20461-5 (Hardcover)

ISBN 978-3-384-20462-2 (e-Book)

„Das Flüstern im Wald unter dem Tannengeäst, wo das Dunkel der Nacht uns erschaudern lässt, wo in tiefster Stille kein Laut mehr verhallt, als der Hauch unseres Atems und das Flüstern im Wald.“

Stefan Sarek

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Drei Tage zuvor

Erster Teil: Verhängnis

1. Nebelwald

2. Das Dorf

3. Ein verhängnisvoller Schuss

4. Ungebetener Besuch

5. Ein böses Erwachen

6. Kaspar Horn

7. Die Suche

8. Ein unerwarteter Fund

9. Der Geist des Waldes

10. Eine nächtliche Tour

11. Richards Auftritt

Zweiter Teil: Flucht

12. Faustdicke Überraschung

13. Ein Geheimnis Lüftet sich

14. Der letzte Morgen

15. Das Hindernis

16. Eine unruhige Nacht

17. Die Hütte im Wald

18. Nächtlicher Besuch

19. Zurück ins Dorf

Dritter Teil: Verrat

20. Der Anführer

21. Feuer!

22. Ein Geständnis

23. Das Böse erwacht!

24. Der Wald und die Schande

Vierter Teil: Erlösung

25. Drohungen

26. Der Brief

27. Gute Menschen

Epilog

Danksagung

Anmerkung des Autors

Bisher sind von Ben Kossek folgende Bücher bei „tredition“ erschienen:

Verflucht sei der Totenwald

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Epigraph

Prologue

Prolog: Drei Tage zuvor

Epilogue

Epilog

Verflucht sei der Totenwald

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

274

275

276

277

278

279

280

281

282

283

284

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

300

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

316

317

318

319

320

Prolog

Drei Tage zuvor

Sie hatten die ganze Fahrt über nebeneinandergesessen und geschwiegen. Ein Schweigen, das tief und eisig war an einem sonnigen Tag im späten September, und der Himmel zeigte sich in einem strahlenden Blau wie schon lange nicht mehr. Draußen am Straßenrand zogen die Bäume, deren Laub fast unbemerkt in herbstliche Farben überging, schnell vorüber, ohne jedoch von ihnen wahrgenommen zu werden. Veronika starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe, unbeweglich auf dem Beifahrersitz kauernd und mit beiden Händen ihren Bauch haltend, in welchem sie die unruhigen Bewegungen des Kindes spürte. Konnte dieses kleine Wesen wirklich jede ihrer Gefühlsregungen nachempfinden? So sagte man zumindest. War es deshalb gerade in diesem Augenblick so unruhig? Und er – er klammerte sich mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck und eisernem Griff an das Lenkrad. Auch er starrte geradeaus. Es lag eine seltsame Spannung in der Luft, die das Innere des Wagens bis in den allerletzten Winkel erfüllte. Und diese Spannung war beinahe unerträglich. So schwiegen sie, und keiner wollte den Anfang machen, das bleierne, bittere Schweigen zu brechen. Veronika nicht, weil sie es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn er Dinge tat, die er eigentlich gar nicht tun wollte. Und er nicht, weil er sich im Stillen dafür verfluchte, dass er genau das tat.

Es war die verrückte Idee seines älteren Bruders Matteo gewesen, wieder einmal, ihn mit auf diese verdammte Jagd zu nehmen, obwohl der genau wusste, dass sein jüngerer Bruder Leon kein Jäger war. Leon konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, und einen Rehbock erlegen schon gar nicht! Allein schon der Gedanke, ein Gewehr in der Hand zu halten und damit auf ein Tier anzulegen, verursachte in ihm Übelkeit. Er war nun mal nicht der harte, grobe Kerl wie sein älterer Bruder, der die Jagd liebte. Matteo wusste das, und dennoch hatte er ihn fast schon genötigt, ihn und seinen langjährigen Kumpel Markus am Wochenende hinaus in die Wälder zu begleiten. Vielleicht, weil Matteo dachte, es wäre längst an der Zeit, aus seinem jüngeren Bruder endlich einen Mann zu machen. Dabei war er doch schon längst ein Mann! Er war vor Kurzem siebenundzwanzig Jahre alt geworden, seit knapp zwei Jahren verheiratet, und seine Frau bekam in zwei Wochen ein Baby – ihr erstes gemeinsames Kind. Was daran ließ bei seinem Bruder Zweifel aufkommen, er sei kein Mann? Etwa die Tatsache, dass er kein Tier erschießen wollte? Er, Leon, würde bald eine richtige Familie haben, also war er doch ein Mann! Aber in den Augen seines Bruders Matteo war er nur ein Weichei, ein Ökofuzzi und Frauenversteher. Und das galt es nach Matteos Ansicht endlich zu ändern!

Irgendwann hatte Leon dann zugestimmt, widerwillig und ohne jede Freude an der Sache, aber er hatte zugestimmt. Und Veronika, seine Frau, hätte ihn dafür hassen können! Sie hatte ihren Schwager Matteo noch nie leiden können, weil er Leon immer wieder in Beschlag nahm, ihn in alles hineinzog, was er tat. Er ergriff regelrecht Besitz von ihm. Und Leon, er machte jeden Unsinn mit, weil er sich dem Einfluss seines Bruders einfach nicht entziehen konnte. Es lag nicht nur daran, dass er sieben Jahre jünger war als Matteo, eben er kleine Bruder, wie man so schön sagte. Nein, es war wohl mehr das fehlende Vertrauen in sich selbst, genauer gesagt in die Art und Weise, wie er sich selbst wahrnahm. Das war die bittere Erkenntnis, die ihn immer wieder in seinen Zweifeln wie ein böses Tier beschlich. Hatte sein Bruder vielleicht doch recht, und er war noch kein richtiger Mann? Er wusste es nicht, zweifelte weiter. Verstohlen warf er Veronika einen kurzen Seitenblick zu.

Leon verfluchte seine Schwäche. Aber das machte es nicht besser. Und vor allem: Es änderte nichts an der Situation. Er spürte, wie er Stück für Stück die Achtung seiner Frau, und mindestens genauso schlimm, die Achtung vor sich selbst verlor. Warum konnte er sich nicht widersetzen, klar Stellung beziehen und Matteo offen ins Gesicht sagen, dass er verdammt nochmal alleine auf diese dämliche Jagd gehen sollte?

Er lenkte den Wagen in die Straße, in der ihr Haus stand, und dann in die Einfahrt. Plötzlich schien Veronika aus ihrer Starre wieder zu erwachen. Sie sah ihn resigniert von der Seite an, ohne eine weitere Regung im Gesicht.

„Wenn du unbedingt glaubst, dass du springen musst, wenn er nach dir ruft, dann tue es! Aber erwarte nicht länger von mir, dass ich jedes Mal mitspringe! Du verdammter Idiot!“ Mit diesen harschen Worten stieg sie mit Mühe aus dem Wagen und warf die Autotür wütend hinter sich zu, ohne darauf zu warten, dass er ihr half, wie er es sonst die letzte Zeit immer getan hatte.

„Veronika, warte doch …“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Sie hatte ihn auch nicht mehr gehört. Deprimiert sah er durch die Windschutzscheibe und verfluchte sich selbst. Er wusste, dass sie recht hatte, aber das machte es für ihn nur schwerer. Sein verzweifelter Blick folgte ihr, bis sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte und sie im Haus verschwunden war. Dann erst stieg auch er aus dem Wagen und folgte ihr zögernd. Er fand Veronika in der Küche, mit einem Glas Wasser in der Hand lehnte sie an der Spüle und starrte aus dem Fenster. Sie wandte ihm den Rücken zu und drehte sich auch nicht um, als sie ihn kommen hörte.

„Es sind doch nur drei Tage, Veronika …“ Beinahe klang es wie ein hilfloser, flehender Versuch, sich zu rechtfertigen. Und Leon wusste, dass es verdammt danach klang.

„Dieses Mal sind es drei Tage, das nächste Mal vielleicht fünf. Aber verdammt, Leon, es geht nicht um die drei Tage, an denen du fort bist. Es geht darum, dass Matteo dich um den Finger wickeln und mit dir machen kann, was er will. Und es geht um den Zeitpunkt, jetzt, zwei Wochen vor der Geburt! Was ist, wenn das Kind früher kommt und ich dich hier brauche? Ich kann dich nicht erreichen, weiß nicht einmal genau, wo du überhaupt stecken wirst in diesem elenden Niemandsland! Wie stellst du dir das vor?“ Sie sagte diese Worte, ohne sich umzudrehen. Was würde es bringen, wenn sie ihm dabei in die Augen blickte?

Beschämt stierte er vor sich auf den Boden. Er wusste, dass sie in allem recht hatte. Ja, Veronika hatte verdammt nochmal recht! Warum hatte Matteo ausgerechnet diese abgelegene Gegend für ihren Jagdausflug ausgesucht? Was wäre nur, wenn während der Geburt des Kindes etwas schiefging, wenn seiner Frau etwas zustoßen sollte oder dem Kind? Er würde es sich sein Leben lang nicht verzeihen, in diesem Moment nicht hier bei ihr gewesen zu sein! Und seinem Bruder auch nicht. Aber er konnte jetzt nicht mehr zurück. Matteo würde ihn nicht in Ruhe lassen und allerlei Argumente finden, um ihn herumzukriegen! Und wie immer würde er einknicken. Doch in diesem kleinen Augenblick, in dem er so dastand, geschah plötzlich etwas Seltsames mit ihm! War es der Anblick seiner unglücklichen, verzweifelten Frau, die dort vor ihm am Fenster stand? Oder sogar so etwas wie Reue? Er konnte nicht erklären, was ihn da überkam, aber etwas geschah. Es geschah in ihm. Vielleicht war es die Angst vor dem, was ihm soeben bewusst geworden war.

„Ich verspreche dir, dass es das letzte Mal ist, dass ich ihm nachgebe! Das letzte Mal, versprochen!“ Es platzte so spontan aus ihm heraus, dass er selbst darüber erschrak. Selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte es nicht zurückhalten können.

„Habe ich das gerade richtig verstanden?“ Veronika stand zuerst einen Augenblick lang wie erstarrt, wandte sich dann aber erstaunt zu ihm um, stellte das Wasserglas neben sich ab und sah ihm mit großen, ungläubigen Augen ins Gesicht. „Und was genau meinst du damit? Ist das ein weiteres leeres Versprechen, oder wie?“ Ihr Blick hatte plötzlich etwas Herausforderndes angenommen, weg von der Ungläubigkeit, beinahe provozierend.

„Nächstes Mal, wenn er etwas will, werde ich nein sagen. Ich verspreche es dir! Du weißt, dass ich diese Jagd hasse. Und nicht nur die Jagd. Auch seine Art, mich zu bevormunden. Ich verspreche dir, ich lasse das alles künftig nicht mehr mit mir machen.“ Die Entscheidung, die er soeben für sich getroffen und ihr gegenüber ausgesprochen hatte, ließ urplötzlich eine tiefe, wohlige Erleichterung in ihm wachsen. Sein Inneres erfüllte sich mit einer seltsamen Wärme. Oh ja, es fühlte sich gut an! Es fühlte sich sogar verdammt gut an! Doch Leons Botschaft schien noch nicht bei ihr angekommen zu sein.

„Es geht nicht nur um diese Jagd, Leon. Das weißt du. Es geht mir um genau diese Haltung gegenüber Matteo, die du eben selbst angesprochen hast. Ganz abgesehen davon, dass es nicht dein Ding ist, auf eine Jagd zu gehen!“

„Ich weiß. Und deshalb gebe ich dir mein Wort bei allem, was mir lieb und wichtig ist. Ich meine es wirklich ernst. Es ist das letzte Mal, dass ich ihm nachgebe. Du hast recht. Es kann so nicht weitergehen. Ab jetzt treffe ich meine eigenen Entscheidungen.“

„Versprich es mir bei allem, was dir heilig ist!“ Ihre Augen hatten einen seltsam kämpferischen Glanz angenommen. „Ich will keine weiteren Enttäuschungen mehr, Leon. Nicht jetzt, wo das Kind kommt. Kannst du das verstehen? Und außerdem bin ich nur so sauer, weil ich dich liebe, du verdammter Idiot! Hast du das verstanden?“

„Ja, bei meiner Liebe zu dir und unserem Kind! Bei allem, was mir heilig ist. Ich verspreche es, und ich werde mein Wort halten! Dieses eine Mal noch, dann ist Schluss!“

Veronika neigte den Kopf leicht zur Seite, als müsse sie erst für sich prüfen, wie ernst es ihm wirklich war. Dann sah sie den feuchten Schimmer in seinen Augen und trat fast zögernd einen Schritt näher an ihn heran. Mit leichter Verwunderung blickte sie zu ihm auf, als habe sie soeben eine besondere Entdeckung gemacht. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns:

„Ich glaube es nicht! Du meinst es wirklich ernst!“

Sie sah ihn an, als hätte sie ihn gerade neu entdeckt.

„Ja, ich meine es ernst. Wirklich!“

„Also gut, Leon.“ Sie sah ihm tief in die Augen und sprach leise, langsam, eindringlich, wohl um ihren Worten Gewicht zu verleihen. „Nur dieses eine Mal noch. Und du musst mir versprechen, dass du mich mindestens einmal am Tag anrufen wirst, ganz gleich, wie du es in dieser Einöde anstellst! Damit wir voneinander wissen, dass es uns gutgeht. Das ist meine Bedingung.“

„Einverstanden.“ Nun trat auch er einen Schritt auf sie zu und nahm sie fest in die Arme. „Es tut mir leid, dass ich dir so viele Sorgen bereite, Veronika. Doch ab jetzt wird sich einiges ändern. Du musst mir nur wieder vertrauen.“

„Okay.“ Sie drückte ihn so fest an sich, wie es ihr Bauch gerade noch zuließ, und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Eine einzelne kleine Träne rollte verstohlen über ihre Wange und ein ungeahntes Glücksgefühl durchströmte sie in diesem Moment, als sie seine Körperwärme spürte. Ihre Fingerspitzen bohrten sich beinahe schon in seinen Rücken, so fest hielt sie ihn – als wollte sie ihn nie mehr loslassen.

Erster Teil

Verhängnis

„Es ist des Menschen Fluch und sein Verhängnis, dass seine Fehler sicher wirkend schreiten, und, offenkundig rings, ihm gleich bereiten, jedweden Schmerz und jegliche Bedrängnis.“

Ferdinand von Saar

1.

Nebelwald

Am Vormittag hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, der sich nicht so leicht vertreiben lassen wollte. Der Morgennebel hing noch tief und schwer zwischen den Bäumen, die bedrohlich nahe die Straße auf beiden Seiten säumten. Bisher hatte es noch kein Sonnenstrahl geschafft, die graue Wolkendecke und die Baumkronen, die sich wie ein grünes Dach über der Straße schlossen, zu durchbrechen. Leon saß mit leichtem Frösteln auf der unbequemen Rückbank des Jeeps und starrte missmutig durch eines der Seitenfenster nach draußen. Nur Wald, wo immer man hinsah! Es war lange vor Morgengrauen gewesen, als sie von zu Hause aufgebrochen waren, und jetzt fuhren sie schon eine gute Stunde durch dieses Waldgebiet, und nur hin und wieder gelangten sie in eines der wenigen kleinen Dörfer, die entlang der Landstraße lagen und das einzige Anzeichen dafür waren, dass es hier noch so etwas wie Zivilisation gab. Und dennoch hatte es den Anschein, als sei die Zeit hier einfach so stehengeblieben. Eine verdammt öde und abgelegene Gegend, dachte Leon. Und ausgerechnet hier wollten sie das Wochenende verbringen und auf die Jagd gehen! Bei dem Anblick, der sich ihm bot, verfluchte Leon sich umso mehr, dass er diesen Unsinn hier mitmachte, obwohl Veronika ihn mehrfach davor gewarnt hatte. Je mehr die Zeit voranschritt, umso klarer wurde ihm, dass er auf sie hätte hören sollen. In diesem Moment hasste er sich dafür, dass er es nicht getan hatte! Mürrisch lehnte er sich zurück und verkroch sich in Schweigen.

„Mistwetter“, fluchte Markus, der auf dem Beifahrersitz saß, leise vor sich hin. „Für dieses Wochenende war doch gar kein Regen gemeldet.“ Markus und sein Bruder Matteo kannten sich schon seit der Schulzeit. Sie waren beste Freunde, und beste Freunde gingen immer gemeinsam auf die Jagd.

„Keine Sorge, das wird schon noch“, murmelte Matteo leise zurück. Er saß am Steuer und musste sich konzentrieren. Die Sicht war miserabel. Ständig waberten dichte, schwere Nebelbänke über die Fahrbahn und erschwerten das Vorankommen. Aber Matteo ließ sich die gute Laune nicht verderben. Er war eindeutig in seinem Element. Nie hätte ihm das Wetter den Spaß daran nehmen können.

„Wie weit ist es noch bis zu diesem Dorf?“ Leons Stimme klang wie ein ungeduldiges Ultimatum aus dem hinteren Teil des Wagens. Er konnte sich andere Orte vorstellen, an denen er jetzt lieber wäre.

„Du wirst es schon noch abwarten können. Machst du dir etwa schon jetzt in die Hosen, kleiner Bruder? Der Wald hier ist riesig. Warte erst, bis wir angekommen sind.“ Ein schräges Grinsen zeigte sich auf Matteos Gesicht, als er Leon im Rückspiegel herausfordernd ansah. „Der erste Bock ist dir, damit du endlich mal erwachsen wirst!“ Sein schallendes Lachen, in das Markus verhalten einfiel, erfüllte den Innenraum.

„Leck‘ mich“, knurrte Leon verärgert, was Matteo nur zu einem erneuten Lachschwall animierte.

„Ich sage es dir, Markus, mein kleiner Bruder hat die Hosen jetzt schon voll. Was soll das erst werden, wenn wir mitten im Wald einem wütenden Keiler begegnen und der unangenehm wird? Sagt er dann auch ,Leck mich‘?“

„Lass‘ es jetzt gut sein, Matteo“, ermahnte in Markus, der wohl ein wenig Mitleid mit dem Jungspund auf der Rückbank verspürte. Doch Leon war weit davon entfernt, ihm für sein Eingreifen einen dankbaren Blick zuzuwerfen. Er starrte aus dem Fenster und in die dichten Nebelschwaden, die wie eine weiße Wand zwischen den Bäumen standen, als könne er sie mit seinem Blick durchdringen.

Eigentlich war Markus Rehm schon ganz in Ordnung. Er kannte jede von Matteos Macken, aber er war im Gegensatz zu diesem ein Mann, der seinen Kopf auch zum Denken benutzte und ihn nicht nur trug, damit es ihm nicht in den Hals regnete. Markus war stets derjenige, der vernünftig war und Matteo so manches Mal auf den Boden der Realität zurückholte, wenn der wieder einmal in seiner groben, hitzköpfigen Art abzuheben drohte. Und seltsamerweise hörte Matteo auf Markus. Offenbar hatte ihre langjährige Freundschaft einige nützliche Auswirkungen hervorgebracht. Von nun an hielt sich Matteo jedenfalls auffallend zurück.

Soeben schaffte es ein erster Sonnenstrahl durch die graue Wolkendecke. Es war bereits kurz nach Mittag, und die hellen Nebelschwaden reflektierten das Licht und blendeten Matteo. Er kniff die Augen zusammen und stieß einen leisen Fluch aus, der jedoch plötzlich in einem lauten, unerwarteten Poltern unterging. Ein kräftiger, lauter Schlag von unten erschütterte den Jeep. Im nächsten Moment herrschte erschrockene Stille im Wagen. Matteo und Markus warfen sich einen schnellen Blick zu.

„Verflucht, was war das denn eben!“, rief Matteo mehr als er fragte und sah suchend in den Rückspiegel, während er den Wagen verlangsamte.

„Wir sind über irgendetwas drübergefahren, wenn du mich fragst. Halt mal an!“, erwiderte Markus irritiert. Matteo fuhr an den Straßenrand, soweit es ging, und stoppte den Wagen dicht neben einem schmalen Graben, der unsichtbar versteckt unter hohem Gras gleich neben der Landstraße entlang verlief. Das Wasser eines kleinen Rinnsals plätscherte darin und übertönte die Stille, die sie erst jetzt wahrnahmen, als sie langsam aus dem Wagen stiegen. Mit vorsichtigen Blicken suchten sie die Baumreihen rechts und links der Straße ab. Der Wald lag in seinem hell leuchtenden Nebelbett ruhig und still da, fast friedlich. Nur ein sanfter Windstoß erfasste gerade eben die umstehenden Tannen und erzeugte ein leises Rauschen in den Wipfeln. Sonst war es merkwürdig still. Matteo ging um den Wagen und begutachtete die Reifen. Sie waren unversehrt. Dann ging er neben dem Wagen auf die Knie und holte eine Taschenlampe aus der Jackentasche. Er leuchtete mit prüfendem Blick unter die Karosserie des Jeeps.

„Scheint alles noch in Ordnung zu sein“, knurrte er stirnrunzelnd und erhob sich wieder. Noch einmal bedachte er die nähere Umgebung mit einem forschenden Blick, ohne jedoch wegen des Nebels wirklich etwas zu erkennen.

„Aber was war das, verdammt!“ Markus hielt es nicht mehr beim Wagen. Er ging rasch einige Schritte die Straße zurück, um der Ursache des Polterns auf den Grund zu gehen. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Doch plötzlich bückte er sich, richtete sich wieder auf und rief:

„Seht euch das an!“ Wie ein Denkmal stand er im sonnendurchfluteten Nebel. In seiner ausgestreckten linken Hand hielt er einen mehr als faustgroßen Stein nach oben. „Der lag hier mitten auf der Straße. Und hier sind noch mehr!“ Seine Stimme klang seltsam hell und hoch durch die feuchte Luft.

Matteo und Leon folgten ihm nun eilig zu der Stelle, an der ungefähr zehn jener faustgroßen Steine auf der Fahrbahn zerstreut lagen, als hätte sie jemand dort mit Absicht hinterlassen.

„Was soll dieser Unsinn? Hat die einer hier auf die Straße gekippt? Wir hatten Glück, dass wir nur einen davon erwischt haben! Seht euch das an!“ Matteo starrte ratlos und wütend zugleich auf die Steine, bevor er einen davon aufhob und in seiner Hand wog.

„Man könnte fast meinen, dass es jemand darauf angelegt hat, dass hier irgendwer drüberfährt. Das war doch Absicht“, murmelte Markus, während er nun ebenfalls mit prüfenden Blicken den Nebel zwischen den Bäumen auf beiden Seiten der Straße zu durchdringen suchte. Er war verunsichert und ratlos. Das sah man ihm deutlich an.

„Seht euch das mal an, an den Steinen ist noch frische Erde. Die hat jemand erst vor kurzem ausgegraben und dann auf die Straße geworfen. Der hat es tatsächlich mit voller Absicht getan. Es sieht jedenfalls doch sehr danach aus, oder nicht?“, erklärte Leon mit einem Gesichtsausdruck, der sein ganzes Unwohlsein offenbarte.

„Zum Henker, was soll diese Scheiße!“, fluchte Matteo nun lauthals und stierte herausfordernd zwischen die Bäume. Aber niemand antwortete ihm. Kein Schatten, der dort unerwartet aus dem dichten Nebel trat, kein Geräusch von knackenden Ästen und Zweigen aus dem Unterholz. Markus Rehm ergriff als erster die Initiative.

„Lasst uns die Steine von der Straße schaffen, bevor noch ein anderer drüberfährt. Aber seid vorsichtig!“ Er bückte sich und griff nach den ersten Steinbrocken, um sie neben in den Straßengraben zu befördern, als plötzlich ein lauter Knall aus der Nebelwand zwischen den Bäumen die Stille zerriss. Knapp neben Markus‘ Fuß prallte etwas auf den Asphalt und sprang nach oben weg!

„Verdammt! Da schießt jemand auf uns! In Deckung. Los, los!“, schrie er lauthals und packte Leon, der wie angewurzelt stehengeblieben war. Matteo hatte am schnellsten reagiert und sich Schutz suchend hinter den Jeep geworfen. Leon zog er mit sich. Markus folgte ihnen.

„Los, hierher! Der Schuss kam von der linken Seite!“ rief er, wild mit den Armen winkend, als ein zweiter Schuss wie aus dem Nichts kommend das der Straße zugewandte hintere Seitenfenster in tausend kleine Splitter zerfetzte, die in der nächsten Sekunde wie todbringende Granatsplitter durch die feuchte Luft zischten. Die drei Männer duckten sich tief hinter den Jeep und hoben die Arme schützend über die Köpfe. Dann war es plötzlich wieder totenstill, so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und damit jedes Geräusch abgeschaltet! Das einzige, was noch zu hören war, war ihr stoßweiser, ängstlich keuchender Atem.

„Bleibt unten! Dieser tausendmal verfluchte Hurensohn ist dort drüben irgendwo zwischen den Bäumen! Ich werde ihm mal ordentlich eine verpassen!“, zischte Matteo wütend.

„Matteo, lass‘ den Unsinn. Der Kerl verpasst eher dir eine, bevor du auch nur deinen kleinen Finger hervorstreckst!“ Die Idee schien Markus gar nicht zu gefallen.

„Willst du hier etwa versauern, Markus? Sieh‘ dir Leon an, der bekommt gleich einen Nervenzusammenbruch!“

Leon kauerte immer noch ängstlich hinter dem Jeep, fast flach auf dem Boden liegend und die Hände schützend über dem Kopf. Er zitterte am ganzen Körper. Matteo öffnete so langsam und geräuschlos wie möglich die hintere Tür auf der Beifahrerseite. Dort im Fußraum hinter dem Sitz hatte er sein Jagdgewehr deponiert. Er zog es mit einer raschen Bewegung heraus und schaffte es gerade noch, sich blitzschnell zur Seite zu drehen, als ein erneuter Schuss die Innenverkleidung der offenstehenden Wagentür zerfetzte. Matteo schob nun leicht zitternd vor Aufregung die Patronen in den Lauf und machte sich bereit. Vorsichtig spähte er um das Heck den Jeeps. Immer noch zogen dichte Nebelschwaden zwischen den Baumstämmen hindurch, doch ein überraschender Windstoß lüftete den weißen Vorhang für einen kurzen Moment. Zeit genug für Matteo, den Schatten, der sich dort zwischen den dunklen Stämmen bewegte, zu erspähen! Es war ein einzelner Mann mit einem Gewehr, der dort auf der Lauer lag! Seine Umrisse waren deutlich zu erkennen, aber das Gesicht blieb im Verborgenen. Matteo legte an und zielte auf das Bein des Mannes, in der Gewissheit, dass er es unter diesen Bedingungen sowieso verfehlen würde. Dann drückte er entschlossen ab, noch bevor sich der graugrelle Nebelvorhang wieder schließen konnte und die unheimliche, schattenhafte Gestalt darin endgültig verschwand.

Wider Erwarten musste er wohl getroffen haben!

Ein gellender Aufschrei ertönte aus der Nebelwand von der anderen Straßenseite zu ihnen herüber! Dann, Augenblicke später, knackten Äste unter sich eilig entfernenden Schritten. Der Schütze schien sich tiefer in den Wald zurückzuziehen, denn das Knacken wurde immer leiser, bis es kaum noch zu hören war. Die drei Männer kauerten noch hinter dem Jeep und lauschten in die Stille, die nun wieder den Anschein erweckte, als sei es die friedlichste Gegend auf Erden.

„Mann, du hast ihn erwischt!“, rief Markus. Leon hob zum ersten Mal wieder den Kopf und lugte misstrauisch nach allen Seiten, als erwarte er jeden Moment den nächsten Knall. Er war leichenblass und ängstlich, zeigte jedoch keine Panik und lehnte sich mit einem erleichterten Seufzer mit dem Rücken gegen die Beifahrertür des Jeeps.

„Alles gut, Leon. Bleib‘ nur unten“, flüsterte Markus ihm zu, während er sich nach hinten Matteo zuwandte.

„Kannst du ihn noch sehen?“

„Nein! Der Nebel ist zu dicht! Aber ich glaube, der ist abgehauen. Habe ihn wohl wirklich erwischt!“

Zögernd und vorsichtig erhoben sie sich aus der Deckung hinter dem Jeep und blickten um sich. Wolkenfetzen erzeugten ein Wechselspiel von Licht und Schatten. Kein weiterer Schuss unterbrach die Stille. Keine weitere Kugel zischte über den Asphalt oder schlug im Wagen ein. Der elende Mistkerl hatte sich wohl eilig davongemacht.

„Holt ihr die Steine von der Straße, ich sehe mir die Stelle mal an, von der aus er geschossen hat!“ Matteo wartete nicht auf eine Antwort der anderen, schnappte sein Jagdgewehr mit festem Griff und lief in gebückter Haltung hinüber auf die anderen Straßenseite, wo er kurz darauf zwischen den Bäumen in der weißen Wand verschwand. Man hörte seine Schritte im Unterholz, die sich entfernten. Dann Stille. Erst nach einigen Minuten kehrte er zurück.

„Ich habe die Stelle gefunden. Der Scheißkerl stand dort oberhalb hinter einem Baum, etwa dreißig Meter entfernt. Die Patronenhülsen lagen dort.“ Er hielt den beiden anderen die geöffnete Hand mit den Patronenhülsen vor die Nase. „Und dann habe ich das hier noch entdeckt, nur einige Meter weiter. Den hat er wohl verloren, als er sich eilig davongemacht hat!“ Matteo hielt einen braunen Lederhandschuh in die Höhe, an dem deutlich Blutflecken zu erkennen waren!

„Dann hast du ihn tatsächlich getroffen! Wenn wir Glück haben, erwischen wir das Schwein damit!“, freute sich Markus. „Wir sollten jetzt ins Dorf fahren und von dort die Polizei verständigen.“ Mit einem letzten ungemütlichen Blick auf den Wald ging er zum Jeep und stieg auf der Beifahrerseite ein, ohne zu warten, ob die anderen folgen würden. Matteo und Leon folgten ihm schweigend. Auch sie verspürten keine Lust, länger als nötig hier zu verweilen.

„In spätestens einer halben Stunde müssten wir am Ziel sein“, versprach Matteo, als er den Wagen startete.

„Der Kerl kann ja nur in einem Dorf in der Nähe wohnen. Möglicherweise treffen wir ihn an unserem Ziel. Mal sehen“, ergänzte Markus.

„Ich habe das Gefühl, der wollte uns nicht erschießen oder verletzten. Der wollte uns erschrecken“, warf Leon von hinten ein. „Vielleicht mag der einfach nur keine Fremden.“

„Du meinst, der wollte, dass wir uns aus Angst in die Hosen scheißen und umkehren?“ Sein Bruder Matteo antwortete mit einem trockenes Lachen. „Kann sein. Ja, er wollte, dass wir in Panik geraten und abhauen. Aber schonen wollte der uns auf gar keinen Fall! Mit etwas weniger Glück hätten wir auch im Straßengraben landen und sterben können!“

„Jetzt übertreibe nicht, Matteo“, murmelte Markus.

„He, habt ihr etwa vergessen, was da gerade passiert ist?“ Matteo wirkte wütend und aufgebracht. „Der Hurensohn hat Steine auf die Straße gelegt und provoziert, dass wir einen Unfall bauen. Und, verdammt, er hat dreimal auf uns geschossen! Glaube kaum, dass er uns nur erschrecken wollte!“

Markus schwieg, um die Diskussion nicht noch weiter anzuheizen, und Leon tat es ihm gleich, weil auch er spürte, dass es das einzig Richtige war. Also schwiegen sie für den Rest des Weges. Drei Tage, dachte Leon, drei verdammt lange Tage bis Sonntagnachmittag würden sie hier verbringen – in dieser unwirtlichen Einöde. Wahrscheinlich gab es hier nicht einmal Internet oder Handyempfang! Wie sollte er da Veronika anrufen? Er hatte es ihr doch versprochen. Mürrisch lugte er aus dem zerschossenen Seitenfenster.

Jeder brütete über seinen eigenen Gedanken, und so waren sie überrascht, als rechts von der Straße vor ihnen plötzlich aus dem Nebel die Umrisse der ersten Häuser des Dorfes auftauchten …

2.

Das Dorf

Eine Straße führte von oben hinab ins Dorf. Es war bereits kurz nach 14 Uhr, als sie endlich ihre Unterkunft am Ende des Dorfes erreicht hatten. Alles wirkte düster, die grauschwarzen Steinhäuser und die engen, gepflasterten und verschlungenen Straßen, der Nebel, der wie ein altes Geheimnis über dem Ort lag – und die wenigen Menschen, denen sie begegneten und die sie misstrauisch und scheu beäugten, als kämen sie von einem anderen Planeten. Dabei war es genau umgekehrt. Das Dorf war es, das merkwürdig war. Markus und die Brüder glaubten plötzlich, in eine andere Zeit versetzt worden zu sein – als seien die Uhren hier vor hundert Jahren einfach stehengeblieben. Und mit ihnen das Leben in diesem Dorf.

Das unscheinbare Gästehaus, in dem sie sich für die drei Nächte eingemietet hatten, wirkte etwas heruntergekommen. Es war auf einem Hof am Rande des Dorfes untergebracht und der Inhaber musterte sie neugierig, als sie mit ihrem Jeep auf den Hof fuhren und kurz darauf an den Tresen in einem engen, dunklen Empfangsraum traten, um sich anzumelden. Leon musterte den mit dunklem Holz verkleideten, niedrigen Raum mit Unbehagen.

„Anmelden? Braucht man hier nicht. Ihr zahlt im Voraus und fertig! Kein unnötiger Papierkram. Wem das nicht passt, der kann wieder gehen. Ich heiße übrigens Hilger“, erklärte der Mann hinterm Tresen, ein rundlicher Kerl mit roten Wangen und neugierigem Blick, der die Neuankömmlinge unverhohlen von oben bis unten musterte. Seine Worte ließen eine gewisse Art von Freundlichkeit und Höflichkeit vermissen, die bei Gästen üblich und angebracht war, sollte man die Absicht haben, mit ihrer Anwesenheit Geld zu verdienen.

„Schon gut, kein Problem! Ich zahle bar und im Voraus, Hilger“, erklärte Markus, weil er davon ausging, dass Kartenzahlung hier nicht möglich war. Während er die geforderte Summe auf dem Tresen abzählte, fragte er wie beiläufig:

„Gibt es hier im Ort eine Polizeistation?“

„Polizei?“ Ein trockenes Lachen folgte, als hätte Markus einen guten Witz zum Besten gegeben. „Nein, die gibt es hier nicht. Und die brauchen wir auch nicht.“ Der Mann namens Hilger sagte dies in einem überzeugenden Tonfall, während seine listigen Äuglein blitzten. „Wir im Dorf ziehen es vor, unsere Angelegenheiten stets selbst zu regeln – ohne lästige Polizei, wenn Sie verstehen, was ich damit meine.“

Hilger, der wohl auch der Inhaber dieses Gästehauses war, zeigte nun ein verschwörerisches Grinsen, begleitet von einem kumpelhaften Augenzwinkern, als er den drei Männern die Schlüssel über den Tresen reichte. Bei Markus und Leon löste diese Geste nicht gerade Wohlbehagen und keinesfalls ein Gefühl von Sicherheit aus, bei Matteo sogar offene Verärgerung. Er lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tresen und beugte sich nach vorne. Dabei zogen sich seine Augenbrauen bedrohlich zusammen wie bei einem bevorstehenden Gewitter. Seine Stimme blieb dabei betont freundlich, ohne jedoch zu verbergen, dass sich das ganz schnell ändern konnte, sollte ihm die Antwort nicht passen. Zumindest hatte Hilger jetzt offenbar verstanden, dass es an der Zeit war, zuzuhören.

„Noch einmal, Hilger. Wir haben einen Überfall anzuzeigen, und das geht nun mal nicht ohne Polizei, klar?“, knurrte er unwillig, um dem Mann zu zeigen, dass er mit ihnen nicht einfach nach Belieben umspringen konnte.

„Überfall? Was für ein Überfall?“ Der Mann horchte auf.

„Jemand hat einige Kilometer vor dem Dorf Steine auf die Landstraße geworfen, damit wir drüberfahren. Und dann, als wir ausstiegen und nachsehen wollten, hat dieser Mistkerl dreimal aus einem Hinterhalt auf uns geschossen. Genau so eine Art Überfall meine ich!“

Matteo war jetzt kurz davor, wirklich wütend zu werden. Der Kerl namens Hilger blieb unbeeindruckt. Er zuckte mit den Schultern, als ginge ihn das alles nichts an. Als er aber in Matteos Gesicht sah, dass nun jede Freundlichkeit verloren hatte, entschied er sich doch kurzerhand für eine Antwort.

„Die Polizei ist im Ort vier Kilometer weiter nach Norden. Ist aber nur ein kleiner Posten mit zwei Beamten.“

„Nichts in der Nähe?“, knurrte Matteo ungemütlich. Leon und Markus ließen ihn gewähren. Auch ihnen hatte nicht gefallen, wie der Inhaber des Gästehauses ihnen entgegentrat.

„Nichts in der Nähe, sagte ich doch schon. Und ein paar Schüsse in die Luft, dass kann hier schon mal passieren. Die Leute nehmen die Dinge hier gerne selbst in die Hand.“

„Die Dinge? Heißt das, dass hier jeder Vollidiot einfach auf harmlose und ahnungslose Touristen ballern darf, ohne dass jemand danach fragt? Ist das ein Dorf von Gesetzlosen, oder wie soll ich das verstehen?“

„So war das nicht gemeint!“, beeilte sich Hilger zu sagen.

„Und kann man bei der Polizei anrufen?“

„Nein. Vor zwei Tagen hatten wir hier ein Unwetter. Seitdem sind die Telefonleitungen tot.“

„Na, das ist ja wunderbar“, knurrte Matteo frustriert.

„Was macht ihr hier eigentlich in dieser Gegend? Ich sehe Gewehre. Wollt ihr auf die Jagd?“

„Das erwähnte ich bereits bei der Anmeldung am Telefon.“

„Nun dann, Waidmannsheil! Ein schöner Rucksack, den ihr da über eurer Schulter tragt. Vielleicht nur ein wenig zu grell für die Jagd.“ Mit diesen Worten deutete der Kerl auf Leons gelbschwarz gemusterten Rucksack. Dabei flog ein spöttisches Grinsen über sein Gesicht. Leon gab keine Antwort.

„Eure Zimmer sind fertig. Das einzige Gasthaus im Dorf liegt gerade um die Ecke die Straße hinunter. Es ist ab 18 Uhr geöffnet. Dort könnt ihr auch essen. Frühstück um Sieben hier rechts im Buffetraum. Soll ich euch noch beim Ausladen helfen?“ Matteo musterte den seltsamen Kerl. Weshalb tat der mit einem Male so entgegenkommend? Irgendwie war hier alles recht eigenartig, nicht nur der Inhaber und seine unfreundliche Art.

„Nein danke. Das machen wir schon“, entgegnete Matteo. Er wandte sich gerade um und wollte hinaus zum Jeep, um die restlichen Sachen hereinzuholen, als er plötzlich hinter sich Hilgers Stimme vernahm:

„Wenn ich euch einen guten Rat geben darf. Seid vorsichtig da draußen im Wald. Dort geschehen manchmal Dinge, seltsame Dinge, meine ich. Also seid auf der Hut.“

Matteo hielt inne und drehte sich zu dem Mann um. „Ihr meint Dinge, wie sie uns auf dem Weg hierher widerfahren sind? Was soll das? Wollt ihr uns drohen, Angst einjagen oder uns von hier vertreiben? He?“

„Nein, nein! Ich wollte nur, dass ihr vorsichtig seid. Hier ist schon so mancher nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt. Und das ist die Wahrheit. Ich wollte es nur gesagt haben.“ Mit diesen Worten drehte er sich um, ohne eine Antwort abzuwarten, und verschwand eilig in einem Raum nebenan. Matteo, Markus und Leon sahen sich überrascht und irritiert an, und Leon hatte immer mehr das ungute Gefühl, dass es keine gute Idee gewesen war, seinen Bruder auf die Jagd zu begleiten. Er zog sein Handy hervor und stöhnte nach einem kurzen Blick auf das Display.

„Wie ich erwartet habe! Kein Handyempfang! Wir sind hier am Arsch der Welt, im Niemandsland. Keine Polizei weit und breit, dafür aber Idioten, die uns nicht leiden können und auf uns schießen. Danke, Bruderherz! Das hebt meine Stimmung doch sofort! Gibt es hier wenigstens Brieftauben?“

„Halt die Klappe, Leon. Lasst uns lieber das Gepäck aus dem Jeep holen. Heute wird das sowieso nichts mehr mit der Jagd. In drei Stunden wird es dunkel. Wir gehen später essen und früh schlafen. Morgen geht es dann in aller Frühe los.“

Er stapfte missmutig hinaus zum Jeep. Markus zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Leon schüttelte nur den Kopf, bevor er ebenfalls hinterhertrottete. Bis auf das Vier-Mann-Zelt, dass sie für alle Fälle mitgebracht hatten, entluden sie den Wagen und brachten alles auf ihre Zimmer im ersten Stock. Eine enge Holztreppe führte nach oben. Leon freute sich auf eine Dusche, wurde jedoch ein weiteres Mal enttäuscht. Auf einer Anrichte in seinem Zimmer stand eine Waschschüssel, ein Keramikkrug mit Wasser, ein Stück Seife und ein paar Handtücher, die schon bessere Jahre gesehen hatten. Tatsächlich – wie vor hundert Jahren! Leon musste innerlich stöhnen. Wenigstens war das Bett sauber bezogen. Er trat an das Fenster und schob die vergilbte Gardine ein Stück zur Seite. Da plötzlich sah er Hilger, den Inhaber des Gästehauses, wie er sich im Hof verstohlen umblickend ihrem Jeep näherte und einen langen Blick in das Wageninnere warf, bevor er sich wieder ins Haus zurückzog! Was hatte der Kerl nur an ihrem Wagen herumzuschnüffeln? Hilger – allein der Name! Wo waren sie hier nur hingeraten?

Er legte sich mit seinen Kleidern auf das Bett, als erwarte er jeden Augenblick einen Bombenalarm. Im Zimmer nebenan hörte er die Schritte seines Bruders Matteo, der mehrmals auf den hölzernen Bodendielen auf- und abging. Entweder packte er gerade seine Reisetasche aus und verstaute alles im Schrank, oder er dachte nach. Das tat er immer, wenn er nachdachte – im Zimmer auf- und abgehen. Offenbar war die ganze Sache auch seinem Bruder nicht geheuer. Polizei? Nein, die gibt es hier nicht. Und die brauchen wir auch nicht. Wir ziehen es vor, unsere Angelegenheiten stets selbst zu regeln – ohne lästige Polizei, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Leon schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu ruhen. Doch trotz der Gedanken, die in seinem Kopf umherschwirrten, musste er wohl darüber eingeschlafen sein. Er hatte kein Gefühl, wie lange er so gelegen hatte, doch irgendwann wurde er durch ein leises Klopfen an der Zimmertür geweckt.

„Leon, bist du eingeschlafen? Wir wollen was essen gehen. Kommst du?“ Es war die Stimme von Markus.

„Ich komme!“, rief Leon und richtete sich auf. Als er sich zu schnell erhob, wurde ihm kurz schwindelig, aber das lästige Schwindelgefühl ging schnell vorüber. Er fühlte sich erschöpft wie nach einem anstrengenden Tagesmarsch. Er zog sich die Schuhe an und seine Jacke über und trat hinaus auf den Flur. Markus und Matteo warteten schon. Als sie draußen auf den Hof kamen, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt.

„Wie spät ist es?“, fragte Leon. Er musste wohl länger als gedacht geschlafen haben.

„Kurz nach sieben“, antwortete Matteo. An seiner Stimme war zu erkennen, dass er nicht bester Laune war. Sie folgten der Straße bis zur nächsten Kreuzung, an der das Gasthaus lag, das Hilger bei ihrer Ankunft erwähnte. Die Fenster des „Dorfbrunnens“ waren hell erleuchtet, doch ansonsten war es düster auf dem kleinen Platz davor. Hier gibt es nicht einmal eine vernünftige Straßenbeleuchtung, dachte Leon.

Sie betraten eine geräumige, aber spärlich beleuchtete Gaststube, in der eine dicke Wolke von Zigaretten-, Zigarren- und Pfeifenrauch unter der niedrigen Decke hing. Eine Musikbox links von der Theke plärrte alte Schlager in den Raum. Die meisten Tische waren bereits besetzt. Männer, die ihr Bier tranken und plauderten. Als man sie jedoch bemerkte, verstummten die meisten Gespräche auf einen Schlag. Nur ein leises Flüstern war noch von hier und da zu hören. In diese unheimliche Stille hinein trällerte Udo Jürgens seinen „Griechischen Wein“, den es hier mit Sicherheit nicht im Ausschank gab. Unzählige Augenpaare beobachteten sie teils offen und teils unauffällig und folgten ihnen an einen Tisch etwas abseits, den Matteo sofort angesteuert hatte. Erst nachdem sie sich niedergelassen hatten, kamen die Gespräche langsam wieder in Gang. Und doch wurden sie ständig aus allen Richtungen misstrauisch beäugt. Offenbar hatte man mit Absicht diesen etwas abseits gelegenen Tisch für sie freigehalten. Man hatte offenbar mit ihrem Erscheinen gerechnet, wollte sie aber wohl fernhalten von den Tischen der Einheimischen. Leon deutete dies als eindeutiges Zeichen dafür, dass sie hier nicht sonderlich willkommen waren!

Matteo blickte sich missmutig um und knurrte: „Nicht gerade ein rauschender Empfang.“ Markus nickte und Leon enthielt sich jeglichen Kommentars. Die Männer, die hier ihr Bier tranken, machten nicht gerade einen vertrauenserweckenden Eindruck. Es waren einige finstere Gestalten unter ihnen, von denen man nicht behaupten konnte, dass sie ihren Gästen mit der sonst üblichen Freundlichkeit begegneten.

Kurz darauf erschien der Gastwirt, ein fülliger Kerl mit Stoppelbart, verschwitzt und mit schmuddeliger Schürze, die er lässig um die Hüften gebunden hatte, und fragte nach ihrer Bestellung. Bevor er sich wieder entfernte, raunte er ihnen zu: „Stört euch nicht an denen. Sind einfache Leute. Ihr solltet sie nur nicht unnötig provozieren, dann bleiben sie ruhig.“

„Wir haben nicht die Absicht, jemanden zu provozieren“, knurrte Matteo in seiner unverwechselbaren Art. „Wir wollen nur etwas essen und ansonsten unsere Ruhe. Ist das klar und deutlich angekommen?“

„Natürlich. Ich hole erst einmal euer Bier.“ Mit diesen Worten verschwand er zuerst in der Küche und dann hinter dem Tresen, um das Bier zu zapfen. Sein unsicherer Blick streifte durch die Gaststube, als bete er innerlich, dass alles ruhig und friedlich blieb.

Das Essen, einfache, aber gute Hausmannskost, kam auffallend schnell an den Tisch. Es war mehr als offensichtlich, dass der Gastwirt darauf spekulierte, ihren Aufenthalt in der Gaststube möglichst kurz zu gestalten. Markus und die beiden Brüder machten sich mit Hunger und Appetit über ihre Mahlzeit her, behielten ihre Umgebung aber unauffällig im Auge.

„Ihr wollt hier auf die Jagd?“, fragte der Gastwirt, der sich mit Knut vorstellte, als er ihnen nach einer Weile zielstrebig das zweite Bier brachte. Er wirkte keineswegs unhöflich, viel eher besorgt.

„Ja, gleich morgen früh“, erwiderte Markus nun, um einen freundlichen Ton bemüht. „Weiß man schon, wie morgen das Wetter wird?“

„Nur leichter Nieselregen. Ansonsten gutes Jagdwetter. Na, dann wünsche ich mal Waidmannsheil. Und wie lange wollt ihr hier im Ort bleiben?“

„Nur übers Wochenende. Am Sonntag geht es nachmittags wieder nach Hause.“

„Dann mal viel Glück. Das kann man in diesem Wald hier gut gebrauchen“, meinte Knut, und zog dabei ein Gesicht, das keinen Zweifel daran ließ, dass er es ernst meinte.

„Wie meinen Sie das?“ Matteo warf Markus und Leon einen kurzen, vielsagenden Blick zu, bevor er sich dem Gastwirt zuwandte. „Sie sind heute schon der zweite, der diese seltsamen Andeutungen macht. Was ist hier los in diesem Wald?“

„Nichts, nichts weiter.“ Der Mann erschrak, als habe er sich dabei ertappt, dass er zu viel plauderte. Doch dann, nachdem er einen verstohlenen Blick durch den Raum geworfen hatte, beugte er sich leicht über ihren Tisch und raunte:

„Seid auf der Hut. Hier passieren ab und an merkwürdige Dinge. Erst letztes Jahr wurde einer der Männer hier aus dem Dorf auf rätselhafte Weise erschossen. Also, seid vorsichtig!“ Er entfernte sich schnell wieder hinter den Tresen, als habe er schon viel zu lange bei den drei Fremden gestanden. Einige der Einheimischen spähten mit starrem Blick zu ihrem Tisch. Dann rief einer nach dem Gastwirt, offenbar, um die nächste Runde Bier zu bestellen.

„Das war schon die zweite Warnung heute. Was um alles in der Welt geht dort draußen in diesem verdammten Wald und in diesem Dorf vor sich? Die scheinen richtig Angst zu haben. Wenn ihr mich fragt …“ Matteo wurde unterbrochen, weil Markus ihn unauffällig unter dem Tisch anstieß und mit einem leichten Kopfnicken in Richtung Tresen deutete. Einer der Einheimischen, ein älterer Mann von großer Gestalt, dem der Gastwirt gerade ein frisches Bier gezapft hatte, kam nun mit dem Glas in der Hand auf ihren Tisch zu und räusperte sich.

„Habe gehört, ihr wollt morgen auf die Jagd gehen?“

„Ja. Das scheint sich hier ja schnell herumzusprechen“, erwiderte Markus und sah dem Mann direkt ins Gesicht. Und während in diesem Augenblick die Gespräche rundherum ein weiteres Mal verstummten, zog der Hüne einen Stuhl heran und setzte sich unaufgefordert an ihren Tisch. Er strahlte eine gewisse Art von Autorität aus, als müsse er nicht erst lange fragen, wenn er etwas tat.