Tod sei Dank - Helen FitzGerald - E-Book

Tod sei Dank E-Book

Helen FitzGerald

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Beschreibung

Humor, so schwarz wie ein OP-Saal bei Stromausfall.Ein verzweifelter Vater und zwei kranke Töchter. Eine Junkie-Mutter und ihr krimineller Liebhaber. Und keine Spenderniere weit und breit! Helen FitzGerald hat einen düster-komischen Familienroman geschrieben, der kein Auge trocken lässt. Will Marion ist alleinerziehender Vater der 16-jährigen Zwillinge Georgie und Kay. Kay ist liebenswert und fröhlich, Georgie aggressiv und verschlossen. Eines haben beide gemeinsam: Sie brauchen eine Spenderniere, sonst werden sie sterben. Und Will kann nur eine Niere vergeben. Nach langem Grübeln beschließt er, lieber doch nicht die Niere eines armen Filipino im Internet zu kaufen oder einen klinisch perfekten Selbstmord zu begehen. Stattdessen setzt er einen Privatdetektiv darauf an, Cynthia zu finden. Sie ist die Mutter von Georgie und Kay und vor 13 Jahren mit Heath, ihrem Dealer und Lover, abgehauen. Ihre Niere könnte nun das Leben einer der Töchter retten, glaubt Will. Doch Cynthia hat andere Pläne, als sie nach Schottland zurückkehrt: Sie will Heroin, und sie will Heath aus dem Gefängnis freibekommen. Außerdem weigert sich der Arzt ohnehin, eine Junkie-Niere zu transplantieren. Will ist ratlos. Während es Kay immer schlechter geht und Georgie trotz Dialyse und Todesangst auf der Suche nach der großen Liebe ist, schreibt ihr Vater eines Nachts im Rotweindunst eine verzweifelte Liste: Pro und Contra, Georgie versus Kay … In Helen FitzGeralds bisher bestem Roman, wie immer mit tiefschwarzem Humor und doch voller Herzenswärme, treffen die Schicksale ihrer Protagonisten auf dramatische und oft makabre Art zusammen. Sie erzählt die Geschichte von zwei Mädchen und ihrem Vater, die verdammt übel dran sind und dennoch nicht aufgeben wollen.

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Seitenzahl: 327

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Helen FitzGerald

Tod sei Dank

Roman

Aus dem Englischen von Steffen Jacobs

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Helen FitzGerald

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigKapitel dreiunddreißigKapitel vierunddreißigKapitel fünfunddreißigKapitel sechsunddreißigKapitel siebenunddreißigKapitel achtunddreißigKapitel neununddreißigKapitel vierzigKapitel einundvierzigKapitel zweiundvierzigKapitel dreiundvierzigKapitel vierundvierzigKapitel fünfundvierzigKapitel sechsundvierzigKapitel siebenundvierzigKapitel achtundvierzigKapitel neunundvierzigKapitel fünfzigKapitel einundfünfzigKapitel zweiundfünfzigKapitel dreiundfünfzigKapitel vierundfünfzig
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Kapitel eins

Es gab gute Neuigkeiten. Jemand war gerade gestorben.

»Kommen Sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus«, hatte der Arzt gesagt, und ich flehte den Fahrer an, Gas zu geben … Herrje, nun mach schon! Wie lange ich auf diesen Anruf gewartet hatte! Eine scheinbare Ewigkeit hatte ich auf mein Spezialtelefon gestarrt – das Handy, das nur für Anrufe des Krankenhauses bestimmt war – und mich gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn es endlich klingelte. Immer wieder war ich zusammengezuckt. Jedes Mal, wenn ich merkte, dass ich vergessen hatte, es zu laden. Oder wenn ich es auf dem Tisch in der Diele liegen gelassen hatte, ehe ich aus dem Haus gegangen war. Wenn ein anderes Telefon klingelte. Wenn in der Nähe eine Sirene aufheulte.

Mir war immer klar gewesen, dass mein neues Leben mit dem Tod eines anderen Menschen zu tun haben würde. Wie hätte ich für so etwas beten können? Wie hätte ich mein Spezialtelefon streicheln und es anflehen können, zu klingeln. Bitte, bitte: klingle. Weil ich es bin. Wie hätte ich sehnlich darauf warten können, dass ein anderer eines vielleicht plötzlichen, vielleicht schrecklichen Todes starb?

Als das Auto sich dem Krankenhaus näherte, sagte ich mir, dass sein Tod nicht meine Schuld sei – dass es mir nicht zustehe, dieses Geschenk zurückzuweisen. Ich stellte mir vor, wie man den toten Mann aufschneiden, ein Stück von ihm herausnehmen, es in eine von diesen silbern ausgepolsterten Kisten legen und die Kiste rasch weiterreichen würde. Als wärs ein Schinkensandwich aus dem Lunchpaket.

Mein Atem ging schneller. Meine Hände zitterten. Es passierte. Es passierte tatsächlich.

Weil jemand tot war.

Na ja, vielleicht nicht bloß jemand …

 

Mein Vater.

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Kapitel zwei

Will hörte mit Schrubben auf und schloss die Augen. Er saß unter dem dünnen Rinnsal, das aus dem Duschkopf kam, und hatte seine Arme so lange gescheuert, bis frisches Blut herausgequollen war und sich mit dem vermischt hatte, das er eigentlich hatte abwaschen wollen. Das Wasser rann ihm über die Lippen, und er sprach murmelnd mit sich selbst … »Ich habe etwas getan. Endlich.« Er rutschte noch tiefer und streckte sich auf dem kalten Emaille der Badewanne aus. Er lächelte. Er hatte seine Töchter gerettet. Jetzt konnten sie ins Krankenhaus fahren und ihr neues Leben für sich beanspruchen.

Er musste nur noch warten. Das Blut war jetzt verschwunden. Er würde warten, und während des Wartens würde er darüber nachdenken, wie alles angefangen hatte.

Das Bothy. Vor achtzehn Jahren.

 

Auf der Bühne stand eine junge Frau und sang das neueste Lied ihrer Band Wolf Whistle. Sie hatte eine tiefe, markante Stimme, und der Song war eine zornige Hymne, die sich an alle Männer zu richten schien. Ihr schwarzes Kleid war so kurz, dass man ihr Höschen sehen konnte. Er hielt in jeder Hand ein volles Glas, weil sein bester Kumpel Si keinen Bock auf Anstehen gehabt und deshalb gleich auf Vorrat geordert hatte. Will konnte sich nicht entscheiden, mit welchem Glas er anfangen sollte. Das Bier in seiner Rechten? Oder der Cider in seiner Linken? Ihm schmeckten Bier und Cider gleich gut, aber auf unterschiedliche Weise. Er schaute auf das Bier …

Entscheide dich für mich. Ich bin ein bisschen bitter. Ich hab Biss. Mich wirst du so schnell nicht vergessen.

Die junge Frau auf der Bühne hatte blaue Augen und schwarzes Haar, das so voluminös wie ihre Stimme war. Sie musste gesehen haben, dass Will ihr in den Schritt gestarrt hatte, denn als er hochblickte, griff sie sich dorthin und zwinkerte ihm zu. Will gehörte zu jenen Menschen, denen es peinlich ist, wenn man sie beim Angaffen fremder Intimzonen erwischt. Er senkte betreten den Kopf und schaute auf seine Füße. Etwas, das sich auf halbem Weg nach dort befand, war jetzt größer als zuvor.

Trotz Sis Befürchtungen waren nur wenige Menschen gekommen: etwa um die vierzig Leute. Will hielt sich das Glas mit Cider vor den Schritt, damit niemand etwas bemerkte. Als er zur Bühne hochsah, zwinkerte sie ihm schon wieder zu. Sie war älter als Will – vielleicht fünfunddreißig – und hatte eine fremdartig-leuchtende Ausstrahlung, wie Passionsfruchtfleisch. Dann sang sie eine Zeile direkt in seine Richtung: »Your whistle pet / is the closest you’ll get.« Ihr Kopf hing ein bisschen nach unten, und sie hatte Diana-Augen, die direkt in seine schauten.

Er hatte aus keinem der beiden Gläser getrunken. Nun hob er das Glas mit Cider und überlegte, ob er damit anfangen solle.

Nimm mich! Ich bin süß und unkompliziert. Ich geh dir nicht auf die Nerven.

Das Lied war zu Ende, und ehe Will weiter über Getränke nachdenken konnte, musste er seine beiden jungfräulichen Drinks auf den Tresen zurückstellen: Die Sängerin steuerte direkt auf ihn zu.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

»Will Marion«, antwortete er.

»Du bist hübsch. Was machst du beruflich?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Dann erzähl sie mir nicht … Willst du mit mir hinter die Bühne kommen?«

»Wie ein Groupie?«, fragte er.

»Ja.«

Will war neunundzwanzig Jahre alt und hatte erst mit zwei Frauen geschlafen: Jennifer Gleeson, die ihm nahegelegt hatte, Biologieunterricht zu nehmen und sich bitte nicht mehr in ihr Schambein zu bohren, und Rebecca McDonald, die ihm vor drei Monaten den Laufpass gegeben hatte. Sie waren sieben Jahre lang zusammen gewesen, und die Trennung hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. »Du bist ein Kiffer«, hatte sie zu ihm gesagt, »du kriegst nichts geregelt. Inzwischen hasse ich es schon, dich nur zu sehen.«

Diese Frau hier, Cynthia, würde seine dritte Liebe werden. Kurz darauf fand Will sich auf einem sehr hohen und wackligen Schemel in einer versifften Künstlergarderobe wieder. Stocknüchtern hörte er zu, wie sie den Song noch einmal sang, diesmal nur für ihn. Als sie fertig war (das Lied war beim zweiten Mal nicht besser geworden), zündete sie sich einen Joint an und zog länger als drei Sekunden daran. Kurz vor dem Ausatmen fragte sie Will, ob er sie küssen wolle oder ob es ihm lieber sei, wenn sie ihn küsse.

Will war ein anständiger Kerl. Als Kind hatte er nie seine Mitschüler verprügelt oder bei Klassenarbeiten geschummelt. Er war auch nie von zu Hause abgehauen oder hatte seinen Vater ein arrogantes Arschloch genannt. Im späteren Verlauf seines Lebens war er weder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, noch hatte er einer Frau das Herz gebrochen. Er war gutherzig, so viel stand fest, aber besonders entschlussfreudig war er nicht.

»Macht das einen Unterschied?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie.

»Dann entscheide du«, schlug Will vor.

»Du küsst mich.«

Er tat es.

Ein unentschlossener Mann braucht eine entschlossene Frau.

Cynthia sagte Will, dass er hart arbeiten solle, denn mit harter Arbeit würde er der nächste Steven Spielberg werden. Er probierte es eine Weile, und sie brachte ihm starken Tee ins Arbeitszimmer und lächelte aufmunternd, während er Ideen für ein Drehbuch notierte.

Cynthia sagte Will, er solle sich ihrer Führung anvertrauen, denn dann würde er bald ein erstklassiger Liebhaber sein. Während ihres ersten Jahres verbrachten sie viele Stunden gemeinsam im Bett. Cynthia sagte, Will lerne schnell. Will sagte, Cynthias Haut mache ihn ganz wild.

Sie sagte ihm, er solle sich um sie kümmern, für sie kochen, ihr den Rücken massieren. Wenn er das tue, werde aus ihr der normale und zufriedene Mensch, der sie früher nie hatte werden können. Sie verzehrten regelmäßig wohlschmeckende Mahlzeiten, und Wills Massagen waren beruhigend und liebevoll.

Einige Zeit später sagte sie ihm, er solle die Stelle bei der Ferienhausvermietung seines Vaters annehmen. Vielleicht reichte harte Arbeit doch nicht aus: Seine Drehbuch- und Regieprojekte waren allesamt im Sand verlaufen.

Sie sagte ihm, dass sie jetzt nicht mehr so hungrig sei. Regelmäßige Mahlzeiten würden den Alltag nur mit weiteren nutzlosen Zwängen befrachten. Außerdem verwende er bei den Massagen vielleicht ein bisschen zu viel Babyöl.

Sie sagte ihm, dass sie sich um die Verhütung kümmere … und dass die Zwillinge Georgie und Kay heißen sollten.

Dann sagte Cynthia, dass Will auf die Kinder aufpassen solle, während sie einkaufen ginge.

 

Will war dreiunddreißig Jahre alt, als Cynthia einkaufen ging. Das war an einem Samstagvormittag gewesen. Georgie, die damals drei Jahre alt war, schrie: Sie wollte, dass ihre Mami sie mitnähme und ihr einen Lutscher kaufte. Kay schlief und bekam von dem Wutanfall ihrer Schwester wieder einmal nichts mit. Nachdem Kay aufgewacht war, standen sie zu dritt am Fenster und warteten auf Cynthia, um ihr zuzuwinken, sobald sie auftauchte.

Wenn Cynthia zurückgekommen wäre, hätte sie eine glückliche Bilderbuchfamilie sehen können. Der liebevolle Partner: lächelnd. Die temperamentvolle Dreijährige: gegen das Fenster hämmernd. Die hinreißende Dreijährige: vor Freude glucksend.

Aber sie kam nicht zurück. Um ein Uhr mittags rief Will auf ihrem Handy an: Sie hatte es im Haus zurückgelassen. Um zwei Uhr mittags schob er den Buggy zum Haus einer Freundin von Cynthia. Janet wohnte zwei Straßen weiter und zog gelegentlich ganz gern eine Line.

»Ach, sie ist nicht zurückgekommen?«, sagte Janet. »Ach.«

Janet war Bohemian, was bedeutete, dass ihre Wohnung wie ein Saustall aussah und ihre Haare einem Mäusenest glichen. Es bedeutete außerdem, dass ihre kürbisgroßen Hängebrüste ungezügelt herumbaumelten. Während ihr Knirps am unteren Saum ihres T-Shirt-Kleidchens nagte, erzählte sie Will, was sie wusste.

Cynthia habe die Nase voll von ihm gehabt.

Cynthia habe niemals Mutter werden wollen.

Sie habe sich wie im Gefängnis gefühlt.

Sie sei wieder auf Heroin.

Sie wolle berühmt werden!

Sie habe alle Konten leer geräumt,

Wills teure Filmausrüstung eingepackt,

und sich mit Heath aus dem Staub gemacht.

 

Ah ja, Heath. Er und Cynthia waren einander wie Bruder und Schwester – als arme, entrechtete Teenager hatten sie bei denselben Pflegeeltern gelebt, als junge Erwachsene in derselben Band zornige Lieder gespielt. Und sie teilten die Vorliebe für Drogen und freie Meinungsäußerung.

Will hatte Heath kennengelernt, als er schon ein Jahr lang mit Cynthia zusammen gewesen war. Heath war gerade aus dem Knast entlassen worden und hatte betrunken auf ihrer Türschwelle gestanden; eine blutende Schmarre hatte sein Gesicht knapp über dem Wangenknochen geziert. Er hatte Cynthia umarmt und gesagt: »Na, wenn das nicht Mrs Marion ist. Lange nicht gesehen.« Dann hatte er Will so kräftig auf den Rücken gehauen, dass sich aus dessen Speiseröhre Reste des Frühstücks gelöst hatten. Und er hatte gesagt: »Du bist also Mr Cynthia. Wie wärs mit ’nem Bier für alle?«

Sie saßen zu dritt um den Küchentisch, als Heath sein jüngstes Abenteuer zum Besten gab: Zur Feier seiner Entlassung hatte er die erste Nacht in Freiheit durchzecht; ein Baseballschläger und fünf weitere Männer spielten tragende Rollen in seiner Geschichte. Will lachte nervös. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie jemanden getroffen, der ihm so viel Angst einflößte. Würde Heath ihm den Kopf mit einem Baseballschläger zertrümmern, sobald ihm das Bier ausging? Befand sich der Baseballschläger in dem großen schwarzen Müllbeutel, den Heath bei sich trug?

»Er ist wie ein Bruder für mich«, sagte Cynthia später. »Er ist alles, was ich an Familie habe. Ich weiß, dass er anders ist als andere, dass er aus einer anderen Welt kommt, aber kannst du versuchen, mit ihm auszukommen? Meinetwegen? Bitte?«

Will versuchte es. Als Heath einen Monat später um drei Uhr früh an der Tür klingelte, noch ganz atemlos von einer Schlägerei, und nach einem Sofa, dem Fernseher und einem Schwätzchen mit der besten Freundin auf der Welt verlangte, da lächelte Will bloß und sagte, er wolle noch ein wenig weiterschlafen. Dann überließ er den beiden das Feld.

Als Heath und Cynthia ihre Band neu aufleben ließen und jedes Wochenende loszogen, um Menschenmengen zu bezaubern, die aus vielleicht fünfzehn Personen bestanden, da lächelte er bloß und sagte, wie froh er sei, dass sie etwas tue, was ihr wirklich wichtig sei.

Er versuchte, mit ihm auszukommen, aber alles, was er fertigbrachte, war, Angst vor ihm zu haben. Heath war ein gemeiner Schläger. Er war launisch. Er war gefährlich.

Und jetzt hatte seine Frau sich mit ihm aus dem Staub gemacht.

Wie konnte sie nur! War das nicht wie Inzest, wenn die beiden einander wirklich wie Bruder und Schwester waren? Würde sie nicht in dauernder Angst leben müssen? Sich Sorgen machen? Was für ein Mensch war Cynthia eigentlich, dass sie mit diesem Brutalo-Typen zusammen sein wollte? Ganz bestimmt nicht die Frau, die er bekocht und massiert hatte. Nicht die, deren weiche Haut ihn ganz wild vor Verlangen gemacht hatte.

Seine Eltern und Si hatten ihn zu warnen versucht.

»Bist du dir sicher, dass du das Richtige tust?«, hatte seine Mutter ihn gefragt, als sie zusammengezogen waren.

»Sie ist einfach zu … anders«, hatte sein Vater gesagt.

»Sie ist eine durchgeknallte Fixerin«, hatte Si gesagt. »Weißt du überhaupt, was zum Teufel du da tust, Alter?«

Sie alle hatten ins Schwarze getroffen. Cynthia und Heath gehörten zusammen. Er wusste selbst nicht mehr, warum er jemals angenommen hatte, auf Dauer mit ihr zusammenleben zu können. Mit etwas mehr Entscheidungsfreude hätte er ihre blöden Ideen auflaufen lassen: den langweiligen Job, die vorzeitige Elternschaft. Mit etwas mehr Entscheidungsfreude hätte ihm klar sein müssen, dass die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, auf Bewunderung und Sex beruhte. Sie war wie eines dieser schrillen, bizarren Kleidungsstücke, die man spontan im Urlaub kauft. Er hätte sie nie zu Hause tragen sollen.

Aber er liebte sie. Sie war Künstlerin, so wie er gern Künstler geworden wäre. Sie sang mit Heath und ihren Kumpels in Pubs, wohingegen Will seit dem Abschluss seines Kunststudiums das Regieführen nur bei einfachen Abendessen vergönnt gewesen war. Als sie sich kennengelernt hatten, war Will arbeitslos gewesen und hatte bei seinen Eltern gewohnt. Die drei Filmprojekte, die er an der Uni begonnen hatte, waren nie über das erste Entwicklungsstadium hinausgekommen. Er hatte gute Ideen und hochtrabende Pläne, aber weiter als bis zum Erstellen von Aufgabenlisten schaffte er es selten. Wenn er tatsächlich einmal ein Treatment oder ein Drehbuch schrieb und jemand anderes (ein Autor, ein Produzent, ein Finanzier) seine Meinung dazu beisteuerte, dann plagten ihn Selbstzweifel. Er ließ zu, dass seine ursprüngliche Idee immer weiter verwässert wurde, berücksichtigte alle möglichen Einwände, änderte alles, ruinierte alles, rannte im Kreis.

Ihm dämmerte allmählich, dass sein ganzes Leben ein einziges, qualvolles Entwicklungsstadium war, das nirgendwohin führte. Alles, was er tat, war Filme anzugucken, Wein zu trinken, Musik zu hören und Chips zu essen – wie ein Siebzehnjähriger.

Als sie zusammen gewesen waren, hatte er alles dafür getan, dass Cynthia in seiner Nähe blieb – so, als ob allein ihre Anwesenheit ihn mit etwas Interessantem erfüllen könnte. Denn an ihm selbst war bei Gott nichts Interessantes.

Er verstand, warum sie sich anfangs für ihn interessiert hatte. Er war jung und sah dem Vernehmen nach gut aus, und er hatte versprochen, sie reich und berühmt zu machen. Der erste Schritt hätte darin bestanden, ein umwerfendes Musikvideo zu produzieren. Während ihres ersten gemeinsamen Jahres hatte er mehrere Versuche unternommen, das Video aufzunehmen und zu schneiden, aber er war damit nie ganz fertig geworden. Vom Alkohol befeuerte Einfälle, die er abends, wenn er in seinem Büro auf dem Bettsofa saß, auf Zettel kritzelte, wurden bei den Aufnahmen am nächsten Tag nie richtig verwirklicht. Das Cynthia-Projekt endete in windschiefen Papierstapeln in seinem Büro, neben all den anderen unbeendeten Projekten, bis sie eines Tages beschloss, die Sache selbst zu Ende zu bringen. Sie stellte die Kamera auf, positionierte sich davor und sang. Sie ging mit ihren Bandkollegen unter die Leute. Nachts schnitt sie das Material mit seiner teuren Software. Sie filmte auch Will – um zu prüfen, ob alles richtig lief. Sagte sie.

 

Sie hatte nicht mal eine Nachricht hinterlassen.

»Bin gleich zurück«, hatte sie gesagt, sich ihre Patchwork-Umhängetasche mit dem Ethno-Muster geschnappt und war abgehauen. Er wusste gleich, dass sie abgehauen war.

Si kam an diesem Abend vorbei. Er wohnte immer noch in Edinburgh, eine Stunde Autofahrt von Wills Haus in Glasgow entfernt. Sie hatten sich einige Jahre lang kaum gesehen, weil Will so sehr damit beschäftigt gewesen war, Windeln zu wechseln und Cynthia zu befriedigen. »Was für eine Schlampe!«, sagte Si, »was für eine Scheiß-Schlampe.« Er spendierte Will ein paar Biere zu viel, riet ihm, sie aufzuspüren und umzubringen, und fuhr dann nach Hause, um acht Stunden lang seinen Rausch auszuschlafen. Ganz im Gegensatz zu Will, der bloß zwei Stunden lang die Augen zubekam, weil Georgie dauernd aufwachte und »Wo ist Mami?« fragte.

Verdammt gute Frage.

 

Warum versuchte Will nicht, sie ausfindig zu machen? Warum setzte er nicht alle Hebel in Bewegung, bekam den Hintern hoch und bat sie, zurückzukommen? Er wusste es jetzt. Gut möglich, dass er es damals schon gewusst hatte, aber er hatte die Wahrheit in Wein ertränkt und mit sentimentaler Musik übertönt. Der Grund war folgender: Will Marion war ein nutzloser, fauler, hirntoter Vollidiot. Immer schon gewesen. Sein Vater hatte recht gehabt. Wenn Will früher sein Jahreszeugnis bekommen hatte, hatte sein Vater immer gefragt: »Gibt es irgend etwas, worin du gut bist, Junge?« Als seine Freundinnen ihm den Laufpass gegeben hatten, sagten beide etwas in der Art von: »Du wirst es nie zu etwas bringen, Will.« Als Wills Filmprojekte sich in Luft auflösten, hatte Si gesagt: »Was hast du erwartet, Alter? Du hast es nicht mal richtig versucht.«

Aber warum nicht? Warum hatte er sich in der Schule nicht mehr angestrengt? Warum hatte er später nicht härter an seinen Beziehungen gearbeitet, an seinen Projekten? Die einfache Antwort lautete: Weil es ihm am Arsch vorbeigegangen war. Die kompliziertere Antwort lautete: Es war ihm am Arsch vorbeigegangen, weil er sich sicher gewesen war, dass er es nicht schaffte.

Anstatt also bei dem Versuch zu scheitern, sie aufzuspüren und zum Zurückkommen zu bewegen, erfand Will lieber Ausreden. Praktische Ausreden wie das Babysitting. Seine Eltern würden ihm sowieso nicht dabei helfen, selbst wenn er sie darum bäte. Sie waren froh, dass Cynthia sich vom Acker gemacht hatte. Völlig aussichtslos, sie zu fragen, ob sie einige Tage lang auf die Mädels aufpassen könnten, während er sich an Cynthias Fersen heftete. Sie waren genau die Art von Großeltern, die ihren Freunden liebend gern erzählten, wie großartig ihre Enkelinnen seien, ohne das Geringste mit ihnen zu tun zu haben. Nachdem Cynthia abgehauen war, hatten sie ein einziges Mal auf die Kleinen aufgepasst, ungefähr eine Stunde lang. Es hatte also gar keinen Sinn, sie zu fragen, oder? Si fragte er schon deshalb nicht, weil der die Kinder zuverlässig zum Schreien brachte, sobald er nur ins Zimmer kam. Er fragte auch Janet nicht, und er heuerte keinen Babysitter an. Stattdessen redete er sich ein, dass es das »Warum« sei, das ihn davon abhalte, nach ihr zu suchen.

Was hätte sich schon geändert, wenn er sie gefunden hätte? Sie liebte einen anderen. Sie nahm Heroin. Und mit tatkräftiger Unterstützung des Weins, den er trank, nachdem die Kinder schlafen gegangen waren, verstand Will sogar ihre Beweggründe und bewunderte sie dafür. Sie war besser als er. Sie hatte gehen müssen.

Die Bestätigung traf zwei Wochen nach ihrem Weggang mit der Post ein: eine DVD von Cynthia. Obendrauf hatte sie »Mir blieb keine andere Wahl« gekritzelt. Will rupfte Balamory aus dem DVD-Player (und brachte Georgie damit zum Weinen), legte die DVD seiner Frau ein und drückte auf »Play«.

Aufnahmen von ihm, im Rohschnitt.

Es ist Morgen, die Badezimmertür ist geöffnet. Will steht vor dem Klo und pinkelt. Wie immer quetscht er dabei einen Furz aus seinem schwach behaarten Hintern, was den Pissestrahl kurz unterbricht.

Er sitzt vor der Glotze und zappt sich durch die Sender. Die Babys weinen, aber er scheint es nicht zu bemerken. Sein Mund steht halb offen. Ein Curryfleck ziert sein T-Shirt. Sein blondes Haar ist nicht mehr so dicht, wie es einmal war, aber irgendwie schafft er es immer noch, es in alle Richtungen abstehen zu lassen. Er hat Bartstoppeln im Gesicht. Und seine Stirn: Da würde nur noch Botox helfen. Baden müsste er auch mal wieder.

Er schneidet Zwiebelwürfel und braucht dafür verdammt lange.

Er schnarcht im Bett. Die Decke kann seinen Bierbauch nicht verbergen.

Er sagt: »Hallo, Hübsche!«

»Was liebst du an mir?«, fragt sie hinter der Kamera.

»Ähm …«, sagt er. »Alles.«

»Nein, was ist es genau, im Besonderen?«, fragt sie.

»Alles an dir. Du bist klasse«, sagt er.

Er stellt die Musik leiser, dann etwas lauter, dann etwas leiser.

Er liest das Feuilleton, nickt erst und schüttelt dann den Kopf.

Er räumt den Geschirrspüler ein und braucht dafür verdammt lange.

»Hallo, Hübsche!«, sagt er.

»Sprich mit mir«, sagt sie. »Erzähl mir was.«

»Ähm … worüber würdest du denn gern sprechen?«, entgegnet er. »Was würdest du mir gern erzählen?«

Er sucht im Schrank nach einem Hemd und braucht dafür verdammt lange.

Zubereitung eines Sandwiches: Schinken oder Salami?

Erneutes Furzen auf dem Klo.

Erneutes Schnarchen.

Erneutes Zappen vor der Glotze.

Erneutes Nicken und Kopfschütteln beim Zeitunglesen.

Autsch! Will stoppte die DVD und legte das weitaus weniger verstörende Balamory ein.

Er hatte kapiert. Wenn es möglich gewesen wäre, dann hätte er sich selbst sitzen gelassen. Nun war es aktenkundig, dass er der langweiligste, abstoßendste, trotteligste, unentschlossenste Mensch auf dem ganzen Planeten war. Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er sich in einen Fünfundsiebzigjährigen verwandelt – einen langweiligen Fünfundsiebzigjährigen obendrein, der nicht einmal interessante Geschichten aus dem Sinai-Krieg erzählen konnte oder wertvollen Nippes besaß.

Die Aufnahmen erzeugten in seiner Magengrube eine tief sitzende Übelkeit. Wer war er eigentlich? Wie konnte er solche Abscheu hervorrufen – in Cynthia, klar, aber vor allem in sich selbst? Er hatte sich noch nie so umfassend gehasst.

Will brachte die Mädchen ins Bett, erzählte ihnen eine Gutenachtgeschichte und spielte die DVD dann noch einmal ab. Und noch einmal. Stoppte, spulte zurück und spielte den umfassenden Reinfall, der sich da vor seinen Augen zeigte, noch einmal ab – den Mann ohne Ziele, ohne Rückgrat, ohne Antrieb, ohne Stolz, ohne Frau, ohne Haargel. Den Mann ohne alles.

Er weinte.

Sie hatte sich nicht mal verabschiedet. Wäre das denn gegangen? Ein herzzerreißender, aber schöner Abschied, so tränentreibend und schnulzig wie »Time to Say Goodbye«?

Er legte die CD ein und hörte sie sich an. Wieder und wieder. Mindestens einen Abschied wäre sie ihm schuldig gewesen.

Was für ein Idiot er gewesen war, dass er das alles nicht hatte kommen sehen. Dass er angenommen hatte, sie würde ihn lieben, bloß weil er sie liebte. Dass es der Stress und zwei Gläser Wein seien, deretwegen sie jeden Abend so weggetreten gewirkt hatte. Dass sie Geld für die geplante neue Küche und das Badezimmer zurücklegte, statt in Wahrheit alles in den nächsten Schuss zu investieren. Dass sie loszog, um ein Musikvideo aufzunehmen oder mit Janet zu quatschen, statt mit Heath in dessen Wohnung in Dennistoun zu vögeln.

Dieser verdammte Heath.

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Kapitel drei

Wills Wohnviertel, ein Meer aus rotem Sandstein, war von den umliegenden Wohnvierteln durch drei Hauptverkehrsstraßen und eine Bahnlinie getrennt. Mehrere Hundert identischer Reihenhäuser aus den 1920er-Jahren reihten sich an sanft gehügelte Alleen. All diese Häuser beherbergten wohlhabende Ehepaare weißer Hautfarbe mit ein bis drei Kindern, die ausnahmslos die ausgezeichneten Schulen des Viertels besuchten. Alle Kirchgänger gingen in dieselbe Kirche der Church of Scotland. Alle Jungs gingen in dasselbe Pfadfinderzentrum. Alle Mädchen trugen die braune Eule, das Abzeichen der Girl-Scouts. Alle Anzugträger nahmen denselben Zug in die Stadt. Alle Jogger drehten dieselbe Viermeilenrunde entlang der Grenze zum nächsten Postzustellbereich. Warum sollte sich jemand dorthin wagen, wenn der Supermarkt, das Postamt, der Weinladen, der Blumenhändler, der Park und das Sonnenstudio allesamt in wenigen Gehminuten erreichbar waren? Warum sollte man abends in die Stadt fahren, wenn man zu Hause mit den Nachbarn essen, trinken, flirten konnte? Und so kam es, dass jeder jeden kannte. Und dass jeder alles über alle wusste. Und so kam es auch, dass Will in jenem Sommer das Stadtgespräch war.

Eine Woche nach Cynthias Flucht nahte für Georgie und Kay der erste Tag im Kindergarten. Auf dem Rückweg kam Will – der gerade mit tränenfeuchten Augen die Fotos begutachtete, die er mit seiner Digitalkamera gemacht hatte – an einer Gruppe attraktiver Jungmütter und Hausfrauen vorbei, die synchron in Gesten der Anteilnahme ausbrachen, sobald sie ihn kommen sahen: ein kollektives Hängenlassen der Schultern, ein allgemeines Nicken und Seufzen. Er ging so schnell wie möglich an ihnen vorbei, aber eine lockige Blondine mit Laufschuhen und einer dreiviertellangen Jogginghose rannte ihm hinterher. »Will«, sagte sie, »ich heiße Linda.«

»Hallo.«

»Wir haben … Ich habe von der Sache mit Ihrer Frau gehört … Und ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich gern alles in meiner Macht Stehende tun würde, um Ihnen zu helfen.«

Kannst du mich daran erinnern, Luft zu holen?, dachte er. Kannst du dich verpissen?

»Georgie ist in derselben Gruppe wie meine Bethanay. Ob die beiden nach dem Kindergarten vielleicht zum Spielen vorbeikommen wollen? Damit Sie mal ein bisschen verschnaufen können?«

So knatschig Georgie an diesem Morgen auch gewesen war –sie wollte doch bei Bethanay zu Hause spielen. Also folgte Will noch am selben Nachmittag Linda, ihrer hässlichen Tochter mit dem schwülstigen Namen und ihrem überdrehten Knaben im Krabbelalter zu deren Haus, das nur einen Block von seinem entfernt lag.

»Kommen Sie mit auf einen Kaffee rein.« Das war keine Frage, und weil er nicht Nein sagen konnte, folgte er ihr durch die Eingangsdiele (die bis auf einen größeren Eichentisch identisch mit seiner eigenen war) in die Küche (die bis auf die neuen Einbauelemente, die Cynthia vermutlich bei Magnet bestellt hatte, ebenfalls identisch mit seiner war). Er nippte an seinem Kaffee und fragte sich, warum um alles in der Welt diese Frau glaubte, dass es hilfreich sei, wenn sie ihn davon abhielt, nach Hause zu gehen, Abendessen zu machen, seine Arbeit zu Ende zu bringen, die Wäsche zu waschen und die Lunchpakete für den nächsten Tag zu machen.

Lindas Mann war viel auf Reisen, was dazu führte, dass Lindas extragroßes Ehebett normalerweise zur Hälfte leer war. Sie wies auf diesen Umstand während einer ausgiebigen Führung durch das Haus hin (mit Ausnahme eines Zweizimmer-Dachausbaus war alles genauso wie in seinem eigenen Haus). Aber sie sei Optimistin und betrachte ihr Bett als halb voll, sagte sie. Noch ehe Will an diesem Nachmittag ging, wusste er, dass er derjenige war, mit dem sie das Bett zu füllen hoffte. »Sie dürfen nicht zulassen, dass Sie vereinsamen«, sagte sie zum Beispiel, nachdem sie ihn auf das Original-Ölbild über dem extragroßen Ehebett hingewiesen hatte, und sie fügte hinzu: »Vergessen Sie nicht: Ich bin gern für Sie da, wenn es Ihnen nicht gut geht. Wenn Sie etwas brauchen, egal was ...« Und so weiter und so fort.

Um halb sieben brachte Will die Mädchen nach Hause und kam zu dem Schluss, dass er niemals wieder mit einer dieser Mütter sprechen dürfe, vor allem nicht mit Linda. Als er die Haustür aufschloss, fingen beide Mädchen zu weinen an, weil sie müde, hungrig und überdreht waren. Wo ist Mami? Warum ist sie noch nicht nach Hause gekommen?

Will war wie immer ehrlich zu den Kindern. Er forderte sie auf, sich hinzusetzen und sagte ihnen dann wieder einmal, dass ihre Mami an einem weit entfernten Ort sei und ein Suchtproblem habe.

»Was heißt das?«, fragte die dreijährige Kay.

»Das heißt, ihr Körper sagt ihr, dass sie schlimme Sachen braucht.«

»Was für schlimme Sachen?«, fragte Georgie.

»Man nennt das Drogen«, sagte er. »Es ist ein bisschen, wie wenn Mami krank wäre. Und deshalb denkt sie, dass sie euch zurzeit nicht sehen kann. Vielleicht sollten wir es dabei belassen. Vielleicht sollten wir dankbar für das sein, was wir haben.«

»Na gut, Papi«, sagte die kleine Kay.

»Was haben wir denn?«, murmelte Georgie.

Will schenkte sich ein Glas Wein ein. Seine Stimmung entsprach dem unguten Wechselbad, das gerade die Baked Beans auf dem Herd durchliefen: Köcheln, Kochen – so eine Scheiße, nicht mal gebackene Bohnen konnte er aufwärmen.

Georgie lehnte es ab, die Pampe zu essen. »Du verdirbst alles! Du hast sie vertrieben! Ich hasse dich! Das ist alles deine Schuld!« Sie fegte ihre Schüssel vom Tisch, und die Bohnen spritzten über den ganzen Boden. Reulos sah sie ihren Vater an und sagte: »Kein Wunder, dass sie weggegangen ist. Du bist blöd.«

Sie war erst drei, die kleine Georgie, und schon so wütend und unglücklich. Will hatte noch niemals etwas so Trauriges erlebt wie den Anblick eines traurigen Mädchens.

An diesem Abend schrieb Will einen Brief.

Liebe Cynthia,

Georgie und Kay hatten heute ihren ersten Tag im Kindergarten. Beide sind wunderschöne kleine Mädchen, aber vor allem Georgie ist wütend und versteht nicht, warum Du sie verlassen hast. Sie gibt mir die Schuld. Könntest Du ihr schreiben? Könntest Du ihr ein paar Fotos schicken? Könntest Du sie besuchen? Vielleicht kannst Du ihr erklären, warum sie keine Mutter hat, denn ich kann es nicht.

Will

Der Brief wurde natürlich nie abgeschickt.

 

Trotz Wills Schwur, nie wieder mit Linda zu reden, brachte es das bewegte Leben der beiden Mädchen mit sich, dass er in ständigem Kontakt mit ihr und den anderen Teilzeitwitwen und Bürohengst-Gattinnen stand. Ihm blieb einfach nicht genug Zeit für Männerfreundschaften. Si hatte sich seit Cynthias Weggang nicht mehr gemeldet. Warum sollte er auch? Will verfügte weder über ausreichend emotionale noch physische Reserven, um Golf zu spielen, sich zu betrinken und wild herumzuvögeln. Binnen Kurzem zählten die einsamen Hausfrauen ihn zu einer der ihren. Aber letztlich gehörte er an keinen der Orte, an denen er sich dauernd aufhalten musste: Ballettklassen, Kindergarten-Elternabende bei Käse und Wein, Erzieher-Eltern-Treffen. Er hätte genauso gut ein kleines grünes Marsmännchen sein können. Seine neuen Schicksalsgenossinnen unterhielten sich über Gesichtscremes, Vorhänge und bedingt hilfreiche Lebenspartner. Sie sahen ihn mit denselben Augen an, mit denen sie auch ihre Kinder ansahen: Ist er nicht süß? Am liebsten hätten sie ihn gefüttert und ihm den Kopf getätschelt. Sie wollten Männer haben, die beim Fleckenentfernen so gut waren wie er. Sie wollten sich vormittags zum Kaffeetrinken bei ihm zu Hause treffen, weil sie ihm dann bei der Arbeit zugucken und ihn zugleich bewundern und verachten konnten. Schau mal, er ist ein Mann, und trotzdem schneidet er Kuchen. Ist das nicht großartig? Jetzt nimm ihm schon das Messer ab! Schmier ihm ’ne dicke Salamistulle! Schalt Fußball im Fernsehen an! Biete ihm deinen Körper an!

Es dauerte drei Monate, ehe Linda ihm den ihren offiziell anbot. Die Ballettvorführung hatte sehr lange gedauert. Auf dem Heimweg war sie mit zu ihm ins Haus gekommen (Bethanay hatte ihren Lieblingsteddy im Schlafzimmer liegen lassen, oder wie auch immer der Vorwand lautete) und hatte gefragt, ob sie etwas zu trinken bekommen könne.

»Ich bringe besser die Kleinen ins Bett«, sagte Will.

»Setz sie vor eine DVD. Dann sind sie in zwei Sekunden eingeschlafen.«

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Morgen werden sie wie gerädert sein.«

»Ja, das halte ich für einen gute Idee«, sagte sie, schaltete Spongebob an und schenkte ihnen zwei Gläser Rotwein ein.

»Ich sehe dir so gern dabei zu, wie du mit den Kleinen umgehst«, sagte sie. »Da könnte man wirklich neidisch werden. So geduldig und hingebungsvoll.«

»Weißt du, was ich erstaunlich finde?«, fragte Will. »Manchmal, wenn ich sie anschaue oder an sie denke, habe ich Schmetterlinge im Bauch. Kennst du dieses Gefühl des Sichverliebens? Egal, wie knatschig sie gerade sind oder wie müde ich bin. Glück gehabt, was? Ich vermute mal, die Chemie ist eine andere als zwischen Liebenden.«

»Ich habe dieses Gefühl bei meinen nur, wenn sie schlafen«, lachte Linda und rückte näher an ihn heran. »Du bist ein toller Mann.«

Will schloss die Augen, als sie ihn küsste, und versuchte, sich vertrauensvoll ihrer Führung zu überlassen. Du bist jemand, der mich mag, sagte er sich. Da war schon die Zunge im Spiel. Du bist nicht Cynthia. Cynthia existiert nicht.

»Ich kann das nicht.« Er schob sie ein wenig unsanft zur Seite.

»Es tut mir leid …« Sie klang verärgert.

Genauso wie Will.

Es lag nicht daran, dass er sie nicht attraktiv gefunden hätte. Linda war eine gut aussehende Frau. Sie hatte die Art von Hintern, die jeder Mann am liebsten sofort mit beiden Händen gepackt hätte. Sie hatte freundliche blaue Augen. Ihre Brüste standen auch nach dreiunddreißigjährigem Einwirken der Schwerkraft und drei Jahren des Stillens frech nach oben. Das Problem war, dass Will immer noch in eine Frau verliebt war, von der er hoffte – erwartete –, dass sie eines Tages wieder auftauchen würde: voll des Bedauerns, rot vor Scham, frei von Drogen und mit der verzweifelten Sehnsucht nach Liebe. Dieser Teil von ihm starrte jeden Abend, wenn die Mädchen ins Bett gegangen waren, aus dem Fenster und ersehnte ihre Rückkehr. Dieser Teil von ihm stellte sich vor, was sie sagen würde, nachdem er ihr die Tür geöffnet hatte:

Verzeih mir.

Wie kannst du mir jemals verzeihen.

Ich flehe dich an, verzeih mir.

Wo sind sie? Schlafen sie?

Er stellte sich vor, was sie in einem Brief schreiben könnte:

Lieber Will,

hol mich hier raus! Er hält mich fest. Morgen werde ich wieder zu fliehen versuchen.

Deine C.

Oder:

Ich habe Dich verlassen, um eine Entziehungskur zu machen. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, Dir zu sagen, wie ernst meine Probleme waren. Aber ich mache Fortschritte und werde bald nach Hause kommen.

Er stellte sich vor, was sie am Telefon sagen könnte:

Ich komme jetzt nach Hause. Egal, was du sagst, nichts kann mich davon abhalten, mich mit dir zu versöhnen.

Er stellte sich vor, wie er die Tür öffnen und sie sehen würde. Erst wäre er still, dann wäre er wütend, dann voller aggressiver sexueller Energie, dann sanft, verzeihend und liebevoll für den Rest seines Lebens.

Er hielt sich von allem fern, was dieser Aussöhnung im Weg stehen könnte. Linda zum Beispiel, die sich nach jenem problematischen Zungenkuss in der Küche zurückhielt und zu einer guten Freundin wurde.

»Du Guter«, nannte sie ihn: »Hallo, du Guter, komm doch mit in den Supermarkt.«

»Komm, du Guter, wir machen einen Spaziergang. Ist doch egal, dass es regnet!«

»Komm zum Abendessen vorbei, du Guter.«

Das Abendessen war der erste in einer Reihe schlechter Einfälle. Es hatte an einem dieser nachbarschaftlichen Samstagabende stattgefunden: In jedem vierten Haus trafen sich vier Paare, um irgendetwas zu essen, das mit frischem Koriander gewürzt war. In diesem Fall waren es drei Paare und Will.

Er hatte die Kinder mitnehmen müssen. Und während Kay mit Archie und Bethanay im oberen Stockwerk spielte, konnte sich Georgie nicht von Will trennen. Während dieser ganzen Viergänge-Geduldsprobe saß sie wie eine sprungbereite Katze auf seinem Schoß, aß nichts, sagte nichts, weinte und schrie. All das Paarglück um sie herum schien die Wirkung eines Elektroschockers auf sie zu haben: So benehmen sich also verheiratete Paare, schien ihr Blick zu sagen, als sie mit weit aufgerissenen Augen im Raum herumschaute.

 

»Dein Mann ist sehr nett«, sagte Will am nächsten Vormittag zu Linda, als sie beide vor der Schule auf die Kinder warteten.

»Stimmt. Aber …«

»Aber was?«, fragte Will.

»Weiß nicht. Wir sind halt sehr lange zusammen. Nach einiger Zeit kriegt jede Ehe etwas Geschäftsmäßiges. Keine Ahnung, wer bei uns der Geschäftsführer ist. Und es besteht immer die Möglichkeit, dass der Etat gekürzt wird.«

»Ist er gut im Bett?«

Linda gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Er ist … vielleicht ein bisschen mädchenhaft.«

»Wie wärs mit einer Paartherapie?«, schlug Will vor.

»So schlimm ist es nicht. Aber klar, ist mir schon mal durch den Kopf gegangen, das kann ich nicht leugnen. Und sei es auch nur für die Kinder. Ihnen kann nicht entgangen sein, dass die Atmosphäre zwischen uns ein bisschen angespannt ist.« Linda seufzte. »Paartherapie. Alles ans Licht zerren. Ob das wirklich eine gute Idee ist?«

Das Gespräch wurde dadurch beendet, dass Bethanay und Kay aus der Schule gerannt kamen. Georgie trottete mit einem Stapel ihrer neuesten Zeichnungen hinterdrein.

»Papa!«, rief Kay und umschlang seine Beine.

Ohne die anhängliche Kay abzuschütteln, bückte er sich und umarmte Georgie. »Du Blödmann! Jetzt hast du meine Zeichnungen zerknickt«, sagte sie, befreite sich mit spitzen Ellenbogen aus seiner Umarmung und schritt von dannen.

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Kapitel vier

Aus Monaten wurden Jahre, und die Sehnsucht nach einer reumütigen Cynthia verblasste. Will richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf die beiden Mädchen und hoffte, dass sie auch ohne ihre Mutter zufriedene und glückliche Kinder seien.

Kay war tatsächlich glücklich. Sie war immer glücklich. Wie konnten Zwillinge so verschieden sein? Beide hatten braune Augen und blondes Haar, aber in ihrem Naturell waren sie völlig unterschiedlich. Kay hatte den Körper ihrer Mutter mit einem Lächeln verlassen, das seitdem niemals aus ihrem Gesicht gewichen war. Immer wenn Will sie anschaute, wurde ihm warm ums Herz. Immer wenn er an sie dachte, lächelte er. Sie war wie ein Schuss Endorphine für ihn: Schokolade, Sport – alles erdenklich Gute.

Zu Weihnachten rannte Kay immer schon um sechs Uhr morgens atemlos die Treppe hinab, schüttelte ihre verpackten Geschenke, strich erwartungsvoll mit den Fingern darüber, öffnete sie. Dann hüpfte sie auf und ab, umarmte ihn und sagte: »Du bist der beste Papa der Welt. Danke! Ich hab dich so lieb!« Und das, obwohl Will beim Aussuchen (und Einpacken) von Geschenken eine totale Niete war: Er zauderte so lange, bis das begehrte Spielzeug vergriffen war, und kaufte stattdessen ungeeignete Alternativen (einen Basketball anstelle eines Korbballs, Plötzlich Prinzessin 1 statt Plötzlich Prinzessin 11). Ganz gleich, welchen Schnitzer er sich wieder einmal geleistet hatte, Kay war glücklich. Später lachte sie darüber, aber niemals beim Auspacken.

An ihrem ersten Schultag war Kay hoch erhobenen Kopfes ins Schulgebäude geschritten. Will hatte geweint, als sie darin verschwunden war. Seit diesem Tag behielt er immer den Eingang der Schule im Auge, wenn er auf dem Schulhof stand und das Schrillen der Klingel erwartete – unfähig, sich an den üblichen Gesprächen über Badezimmerrenovierungen zu beteiligen, und in froher Erwartung ihres Lächelns, das noch nie seine aufheiternde Wirkung auf ihn verfehlt hatte.

»Papa!«, rief sie dann, rannte auf ihn zu und schlang ihre Arme um seine Beine.

»Hallo, mein Blümchen!«, sagte Will. »Wie war es in der Schule?«

Auf dem Heimweg erzählte sie ihm alles haarklein. Janey sei gemein gewesen (sie hatte mit ihrer anderen besten Freundin Charlotte ein geheimes Gespräch geführt). Mrs Jones habe ihrer Gruppe einen goldenen Stern für den saubersten Tisch verliehen. Archie stecke wieder einmal in Schwierigkeiten. Sie habe neun von zehn Punkten im Mathetest bekommen. Mittags habe es Pizza gegeben.