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Tod und Tabu in der Pandemie E-Book

Ernst Mohr

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Beschreibung

Krisen erschüttern das gesellschaftliche Denken über Leben und Tod. In der Covid-19-Pandemie wurde die Individualität des Menschen selbst im Sterben durch das Tabu des kollektiven Sterbens geschützt. Das Virus zwang die Politik in der Abwägung zwischen Gesundheits- und Freiheitsschutz zur Parteinahme für die Alten zulasten der Jungen. Ernst Mohr liefert eine kulturökonomische Autopsie der Covid-19-Politik mit Lehren für die Zukunft. Dabei fokussiert er auf den zum Selbstschutz fähigen Wirtsorganismus Mensch und entwickelt eine Krisenrationalität, die existenzbedrohenden Krisen gerecht wird. So entsteht ein konziser Blick auf ein Ereignis, das nicht das letzte seiner Art gewesen sein wird - und ein Plädoyer für eine künftige Pandemiepolitik ohne Tabus.

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Seitenzahl: 267

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Editorial

Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten.

Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

Ernst Mohr (Prof. em. Ph.D.) lehrte an der Universität St. Gallen Ökonomie und promovierte an der London School of Economics. Seine Forschung führte ihn von der Ressourcen- und Umweltökonomie zur Kulturökonomie. Er publizierte u.a. zu den Triebkräften der Konsumgesellschaft.

Ernst Mohr

Tod und Tabu in der Pandemie

Kulturökonomische Lehren aus der Covid-19-Politik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Ernst Mohr

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Lektorat: Evelin Schultheiß

Korrektorat: Florian Kohl, Berlin; Fabian Fleßner, Greifswald

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839467732

Print-ISBN: 978-3-8376-6773-8

PDF-ISBN: 978-3-8394-6773-2

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6773-8

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Wer mit dem Tod im Reinen ist, ist es auch mit dem Leben.

Inhalt

 

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Vorwort

Teil 1: Kulturevolution von Tod und Sterben

Kapitel 1: Vom Tod zum Sterben zum Leben

Tod und Sterben im Wandel

Tod dem Sterben

Tabu

Die Infrastruktur von Mort interdite

Die politische C19-Zielfunktion

Expertensystem und der Wirtsorganismus Mensch

Wider das Ende der entgrenzten Individualität

Das gute und das schlechte Sterben

Vier Einwände und eine Erwiderung

Kapitel 2: Der Wert der Sterblichkeit

Auf dem Pfad zur (Quasi-)Unsterblichkeit

Forever Young: Robuste Unsterblichkeit

Der Schaden der Unsterblichkeit

Approximative Unsterblichkeit

Das differenzierte Tabu

Der neue Kulturkampf: Overperformer versus Underperformer

Kapitel 3: Tabu und Wissenschaft: Der Utilitarismus

Das utilitaristische Angebot an die Pandemiepolitik

Das ökonomische Ende vor dem Sterben

Tod als absolute Null

Die Verfänglichkeit der Normierung

Die Doppelnull von Sterben und Tod

Deprivationismus

Deprivationsethik

Teil 2: Pandemiepolitik

Kapitel 4: Pandemiepolitik für und in der Krise

Die Mängel des Deprivationismus

New-Age-Querdenkertum

Pandemiepolitik für und in der Krise

Ethik für die Pandemie: Zur Vorenthaltung der Intensivmedizin

Ethik in der Pandemie

Kapitel 5: Die Krisenrationalität des Epikureismus

Krisenheuristik

Ethik der Krisenheuristik

Epikureische Rationalität

Kapitel 6: Infektionsschutz

Zero-Virus- versus Laissez-faire-Strategie

Die staatliche Investition ins garantiert gute Sterben

Das moralische Dilemma

Die Unverzeihbarkeit des moralischen Dilemmas

Gradueller Infektionsschutz

Infektionsschutzpolitik

Anreizsteuerung über die Intensivstation

Das (schlechtere) Sterben vor der Intensivstation

Vor die Welle kommen

Föderaler versus zentraler Infektionsschutz

Infektionsgemeinschaft

Pfadabhängigkeit der normativen Eigenschaften

Kapitel 7: Impfschutz

Gemeinsame Hoffnung versus heterogene Impfpopulation

Gamechanger

Libertäres Impfparadies

Impftriage

Impfangebot mit und ohne Infektionsschutzpflicht

3G-Freitestangebot für Impfbereite

3G-Freitesten für Impfunfähige und -skeptiker

Psychische Impfkosten

Impfpflicht

Herdenimmunisierung

Moralische Impfpflicht

Impf-Nudging

Kapitel 8: Ausblick – nach der Krise ist vor der Krise

In die Endemie hinein

Epidemie des Leichtsinns

German Angst und schwedisches Vabanque

Konsistenz und Rationalität

Konsistenz und Würde

Das neue (alte) Supremum

Sensenmann: Feind der Freiheit?

Mort interdite − quo vadis?

Ich und mein Tod

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

 

 

 

Abbildung 1:Heterogene Impfpopulation

Tabellenverzeichnis

 

 

 

Tabelle 1:Zero-Virus versus Laissez-faire

Tabelle 2:Gradueller Infektionsschutz zwischen Zero-Virus und Laissez-faire

Tabelle 3:Infektionsgemeinschaftliches Nash-Gleichgewicht von Proposition 1

Tabelle 4:Nash-Gleichgewicht von Proposition 1 ohne epidemische Interdependenz und ohne Pfadabhängigkeit

Tabelle 5:Nash-Gleichgewicht von Proposition 1 ohne Pfadabhängigkeit und mit epidemischer Interdependenz

Tabelle 6:Impfangebote an Impfbereite

Tabelle 7:Impfangebot an Impfbereite mit (un-)bedingter Zero-Virus- Infektionsschutzpflicht (ISP)

Tabelle 8:3G für Impfunfähige und Impfskeptiker

Tabelle 9:3G mit psychischen Impfkosten

Tabelle 10:Impfpflicht unter Wegfall der Infektionsschutzregeln

Tabelle 11:Endemische Phase

Vorwort

Jeder stirbt irgendwann, aber jeder soll es auf seine Weise dürfen! Dieser Glaube ans Sterben als (letztes) Ereignis im durchindividualisierten Leben wurde dem modernen Dasein durch Covid-19 (C19) jäh entrissen. Vermeintlich garantiert vom modernen Gesundheitswesen, schien diese allerletzte Freiheit nun aufgehoben. C19 wurde zur unerhörten Zumutung eines nicht mehr auszuschließenden kollektiven Sterbens − ein und derselbe Tod für den einen wie für die andere! Herbeigeführt durch eine Pandemie und – daraus resultierend – ein schon fast bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebrachtes Gesundheitssystem.

Aus diesem kollektiven Sterben wurde aber kein politisches Szenario abgeleitet, das gegen andere Szenarien hätte abgewogen werden können. Als gesellschaftliches Tabu des verbotenen Sterbens lastete es im Gegenteil in seiner ganzen Schwere auf der Pandemiepolitik. Ihr wurden dadurch die Hände gebunden, es gab keine Alternative zur lexikografischen Priorisierung des Gesundheitsschutzes vor dem Freiheitsschutz (und allem anderen) − koste es, was es wolle! Das Tabu des kollektiven Sterbens wurde so zum alles beherrschenden Treiber der Pandemiepolitik. AHA-Regeln, Infektionsschutz durch Einschränkung der Freiheit, Impfkampagne, diverse G-Regime − allesamt Maßnahmen, die primär der Wahrung des Tabus des kollektiven Sterbens dienten.

Was hier folgt, ist keine Abrechnung mit der (insbesondere deutschen) C19-Politik. Es geht vielmehr um eine nüchterne kulturökonomische Aufarbeitung ihrer Grundlagen und Entscheidungen – und zwar im Hinblick auf die (zu erwartende) nächste lebensbedrohliche Gesundheitskrise. Leitlinien wie Laissez-faire versus Null Covid, gradueller Infektionsschutz, Steuerung der Intensivmedizinkapazität und Triage, Impfstoff als Gamechanger, Impfkampagne, Impfpflicht und Herdenimmunisierung, föderale Aufgabenteilung im Gesundheitsschutz und auch der Übergang von der Pandemie zur Endemie – all dies soll aus einer einheitlichen kulturökonomischen Perspektive betrachtet werden, um wenigstens vorläufige Lehren daraus für die Bewältigung einer nächsten Pandemie ziehen zu können.

Dazu werden vier Perspektiven eingenommen. Es geht erstens darum, die pandemiepolitischen Maßnahmen konsequent auf ihre Anreizwirkung auf den Wirtsorganismus Mensch zu untersuchen, auf einen Wirt also, der zu Selbstschutz und Planung seines Daseins samt alternativen Formen des guten und schlechten Lebens, aber auch Sterbens befähigt ist. Dieser erste Pfeiler bietet eine verhaltenstheoretische Ergänzung der naturwissenschaftlich geprägten Epidemiologie, die dem Kalkül des Wirtsorganismus in der C19-Pandemie zu wenig Beachtung schenkte.

Zweitens geht es um die wichtige Unterscheidung zwischen Pandemiepolitik in der Krise und Pandemiepolitik für die Krise. Für die Krise ist Pandemiepolitik vor und nach einer Pandemie. In dieser Zeit gilt es, Vorkehrungen zu treffen, die in der Krise nicht mehr nachgeholt werden können. Dazu gehört die Bestellung des kulturellen Umfelds, in dem die Pandemiepolitik in einer neuerlichen Krise reüssieren muss. Für die Pandemiepolitik in der C19-Krise hat sich das Tabu des kollektiven Sterbens als schwere Bürde erwiesen, die ihr durch die versäumte Pandemiepolitik für die Krise hinterlassen worden war.

Drittens geht es um den ethischen Rahmen, der für die Beurteilung der Pandemiepolitik in und für die Krise abgesteckt werden muss. So schonungslos eine Pandemiepolitik für die Krise aufgrund ihrer deutlich einfacheren Rahmenbedingungen durchleuchtet werden darf, so sehr verdient die Pandemiepolitik in der Krise eine mildere Beurteilung ihrer unter Zeitdruck, Ressourcenknappheit und organisatorischen Defiziten zustande gekommenen Maßnahmen. Was aber nicht heißt, dass die Krisenethik zum Freifahrschein für die Pandemiepolitik in der Krise wird, um, wie bei C19, dem Schutz des Tabus alles andere zu opfern. Sie muss stets mindestens eine substanzielle Abwägung im Krisendasein des Wirtsorganismus vornehmen.

Schließlich bedarf es viertens der Stütze durch eine Rationalität der Verwesentlichung von Entscheidungen, auf die politische Entscheidungsträger in der Krise angewiesen sind und die dem Wirtsorganismus als Ausdruck von Loyalität dem Gemeinwesen gegenüber zuzumuten ist. Gegründet auf die epikureische Philosophie hilft sie, alle Handlungsalternativen einzig auf ihre Wirkung auf das beste Erlebnis (Supremum) und das schlimmste Erlebnis (Infimum) im sterblichen Dasein des Wirtsorganismus zu verwesentlichen. Als Handlungsanweisung der Krisenethik zwingt sie die Pandemiepolitik auch in der Krise zu einer Güterabwägung zwischen Vermeidung der schlimmsten Sterbeerfahrung und Ermöglichung der besten Lebenserfahrung im sterblichen Dasein. Der im Dienst des Tabuschutzes in der C19-Krise verfolgte Gesundheitsschutz war Infimum-Politik, der libertäre Schutz des guten Lebens wäre Supremum-Politik gewesen. Pandemiepolitik in der Krise, so die aus Krisenrationalität und von ihr gestützter Krisenethik abgeleitete Forderung, hat den Trade-off zwischen Supremum- und Infimum Politik stets zu beachten.

Aus dieser vierfach bestimmten Perspektive − dem Kalkül des Wirtsorganismus, der Unterscheidung zwischen Pandemiepolitik für und in der Krise, der Krisenethik und der sie stützenden Rationalität der Verwesentlichung − soll die C19-Politik in der Krise beurteilt werden, nicht zuletzt auch, um daraus Lehren zu ziehen. Denn wenn die C19-Pandemie als Trauma eine gute Seite hat, dann die: dass sie alle Möglichkeiten bietet, aus ihr zu lernen. Gilt doch wie für jede andere Krise auch für sie: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.

Teil 1: Kulturevolution von Tod und Sterben

Kapitel 1:Vom Tod zum Sterben zum Leben

»Komm, o Tod, du Schlafes Bruder«Johann Sebastian Bach, BWV 56,5 (»Kreuzstabkantate«, 1726) »[I]t is surprising how relatively little man’s creative imagination, which exercises itself so freely on other topics, seems concerned with the after-life.«David Pocock1 »A good death certifies a good life.«Triloki Nath Madan2

Zum Prozess der westlichen Zivilisation gehört die Emanzipation des sterblichen Daseins vom Tod als Zustand und die Wandlung des Tods als Ereignis (Sterben) von einem sozialen Rite de passage in das letzte Ereignis im durchindividualisierten Dasein. Diese Ideologie der Einzigartigkeit des menschlichen Individuums selbst im Sterben wird geschützt durch das Tabu des Mort interdite, des verbotenen Sterbens also, des sichtbaren kollektiven Sterbens: einer genau wie die andere. Dieses Tabu wurde durch die C19-Pandemie auf die Probe gestellt. Unter seiner Regie war für die Pandemiepolitik nüchternes Abwägen zwischen Gesundheits- und Freiheitsschutz zu keinem Zeitpunkt möglich. Stattdessen galt es zum Schutz des Tabus, das Volllaufen der Intensivstationen zu verhindern − koste es, was es wolle.

Tod und Sterben im Wandel

Das altägyptische Konzept Maat baut im Sinne einer intakten Weltordnung auf dem Prinzip der Ausgewogenheit auf. Da das Gleichgewicht aller vorhandenen Kräfte, sei es von Tag und Nacht, von Diesseits und Jenseits, durch falsches Handeln der Lebenden empfindlich gestört werden kann, sind alle verpflichtet, dem richtigen Handeln zu folgen und das Gleichgewicht zu erhalten, um so das Leben nach dem Tod erwarten zu dürfen. Der Totenkult regelte den rituellen und liturgischen Umgang der Lebenden mit den Verstorbenen. Sterben bedeutete nicht nur, aus dem Diesseits herausgerissen zu werden, es wurde vielmehr als Rite de passage aufgefasst,der durch Aufnahme der Toten in die Gesellschaft der Verstorbenen und Götter, aber auch durch ihre Wiederaufnahme in die Gesellschaft der Lebenden beendet wurde. Zum Totenkult gehörten nicht nur die Mumifizierung und Grablege, sondern auch regelmäßige rituelle Handlungen am Grab.

Maat war das Menschheitsprojekt des Lebens mit dem Jenseits. Der Zeitpfeil Ägyptens zeigt das Prinzip: Er weist nach hinten − aus heutiger Sicht also in die falsche Richtung. Das Wort für Vorfahren (Ha.tj) bedeutet »die vor uns« und das Wort für Kinder (pHwj) »die hinter uns«3: Die Zukunft im Leben war also der Weg zu den Toten und nur das gute Leben stand im Einklang mit Maat. Abgerechnet wurde vor dem Totengericht: Das Herz der Verstorbenen wurde gegen die Feder der GöttinMaat auf die Waage gelegt. Nur diejenigen, bei denen die Balance hielt, konnten den Übergangsrituszu seinem Ende bringen und als Tote auch zu den Lebenden zurückkehren.

Ganz anders das europäische Mittelalter, das das Menschheitsprojekt des Lebens für das Jenseits repräsentiert. Der Mensch »nahm vom Altar der Ewigkeit, was ihm das Leben nicht bot«4. Die Todessehnsucht »Komm, o Tod, du Schlafes Bruder« entsprang der Ungeduld im irdischen Jammertal, die dem Warten auf ein besseres Dasein im Jenseits entsprang. Diesseits und Jenseits waren wie durch eine Brandmauer voneinander getrennt: Das Dasein konnte nur entweder hier oder dort sein.

An die Stelle des durch Maat geregelten Handels mit dem Jenseits trat der Ablasshandel im Diesseits. Leistungsversprechen erfolgten auf Vorkasse im Diesseits, das Totengericht wurde ersetzt durch das Jüngste Gericht. Der Transaktionsgewinn des Käufers wurde erst beim Jüngsten Gericht kassiert, der des Verkäufers sofort.

Das Projekt des Lebens für das Jenseits dauerte bis ins 19. Jahrhundert hinein. Noch die Romanfigur Elias Alder, musikalisches Naturgenie und Organist eines österreichischen Bergdorfs im 19. Jahrhundert, das unberührt von der Moderne ganz im alten Glauben geblieben war, »war ein Kind seiner Zeit. Er liebte alles, was mit dem Tod in Verbindung gebracht werden konnte«5. Danach aber löschte die Moderne das Leben für das Jenseits endgültig aus und ersetzte es durch das Leben fürs Leben. Alles, was im Leben wert ist, getan zu werden, ist fürs Leben. Die gesellschaftliche Entwicklung vom bronzezeitlichen Ägypten über das Mittelalter bis hin zur Moderne zeigt sich auch im Wandel des Handels. Statt dem Handel mit dem oder fürs Jenseits regelt heute die Rentenkasse den Handel im Diesseits fürs Leben im Diesseits.

Am Ende dieser Evolution war der Tod als Zustand, Τ, tot. Vom ehemaligen Begleiter im Alltag übrig blieb der Tod als Ereignis – das Sterben, S. Der Tod als Zustand und der Tod als Ereignis stehen als Brüder in gegenseitiger Abhängigkeit. Solange S der Rite de passagezu Τ war, hatte Τ einen Wert. Ohne seinen Bruder Τ verlor S seinen Wert als Tor zu Τ.

Pandemien gab es in der Menschheitsgeschichte viele. Ihre Bekämpfung war nicht nur von Wissen und Geld angetrieben, sondern vor allem auch vom jeweils wirksamen kulturellen Substrat, dem Tod als Ereignis und als Zustand (S,T). Das jeweilige Substrat bestimmt die gesellschaftliche Wahrnehmung einer Pandemie und den Umgang mit ihr, sodass ein und derselbe Erreger je nach Umfeld eine andere Pandemie auslösen konnte. Über Tausende von Jahren blieb das kulturelle Substrat (S,T) erhalten. Erst mit dem im 17. Jahrhundert beginnenden und bis ins 20. Jahrhundert andauernden Verschwinden des Todes als Zustand aus der Gedankenwelt des Westens verwandelte es sich in (S,∙): ein Substrat also ohne die alltägliche Präsenz vom Tod als Zustand und ohne die vormalige Funktion des Sterbens als Rite de passage.

Der kulturelle Wandel war damit aber noch nicht zu Ende. Denn Sterben verlor im 19. Jahrhundert im Westen nicht nur seine Funktion als Rite de passage,sondern verschwand beinahe ganz aus dem sozialen Alltag der Menschen. Das kulturelle Substrat, in das die nächste Pandemie fallen würde, war nun (∙,∙). Und diese nächste war die C19-Pandemie, in deren Umfeld die Pandemiepolitik reüssieren musste.

Tod dem Sterben

Das Verschwinden des Sterbens aus dem sozialen Leben war das Ergebnis des medizinischen, technischen und organisatorischen Fortschritts im 18. und 19. Jahrhundert. Über Jahrtausende war Sterben fester Bestandteil des sozialen Lebens überall auf der Welt, im westlichen Teil ist es seit 100 Jahren weitgehend verschwunden. Für Deutschland kann die Verbannung des Sterbens aus dem häuslichen Umfeld durch die Erfindung der Pflegeversicherung als vorläufig letzter Akt dieses Vorgangs betrachtet werden.

Francis Bacons Werk De dignitate et augmentis scientiarum gilt als die erste Vision der naturwissenschaftlich-medizinischen Revolution zur Besserung des menschlichen Lebens. Der medizinische und organisatorische Fortschritt des Gesundheitswesens machte das Sterben zunehmend unsichtbar für die Lebenden, indem die Kranken und Sterbenden dem häuslichen Umfeld entzogen und speziellen Einrichtungen – Spitälern und Hospizen – zugeführt wurden. Am Ende der Entwicklung wurde Sterben nicht nur unsichtbar, sondern zu einem beschämenden Versagen des Systems. Folgende vier Phasen macht der Historiker Philippe Ariès für diesen Veränderungsprozess aus:6

•Mort familière – der vertraute Tod:Sterben war so omnipräsent, dass es als integraler Bestandteil des kollektiven Lebens akzeptiert war. Man starb, und es starb immer gerade jemand, und eine Seuche machte das Vertraute lediglich noch vertrauter.

•Mort de soi – Individualisierung des Todes: Der Tod wurde Einzelschicksal, man starb nicht mehr, sondern es starb jemand unter individuellen Umständen. In einer Seuche gab es lediglich viele solcher Einzelschicksale, und jeder war für sich selbst verantwortlich, es sich zu ersparen.

•Mort de toi – Kollektivierung der Abwehr des Sterbens: kollektive Seuchenbekämpfung, Hygiene- und sanitäre Maßnahmen (Trinkwasserversorgung, Unratbeseitigung), Entstehung des öffentlichen Gesundheitssystems – Seuchenbekämpfung wurde zur staatlichen Aufgabe.

•Mort interdite – Sterben als Tabu: Sterben wird als Ergebnis der Dysfunktionalität von Wissenschaft und Gesundheitssystem zur unerhörten Zumutung mit beschämender Wirkung. »Dagegen haben sie noch nichts gefunden!« ist die mildeste Form, diese Zumutung auszudrücken.

Die Entfremdung vom Sterben wurde informationstheoretisch quantifiziert und Ariès’ Phasenübergang zum Mort interditeempirisch erhärtet:7 Gegeben die Sterbetafeln der letzten 150 Jahre, wie überraschend kam der Tod im Verlauf eines statistischen Lebens? Hohe Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert war verknüpft mit einem geringen Informationsgehalt des frühen Todes. Das heißt, der Kindstod war als erwartbares Ereignis allgegenwärtig. Aber später, um die Mitte des 20. Jahrhunderts, war durch den medizinischen und medizintechnischen Fortschritt eine größere Gleichverteilung der Sterbewahrscheinlichkeit erreicht. Sterben zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde dadurch zu einem überraschenderen Ereignis. Die Verschiebung der Sterbewahrscheinlichkeit bis ins hohe Alter bei zugleich geringer Kindersterblichkeit ab Mitte des 20. Jahrhunderts machte Sterben zum informationsarmen Ereignis nur bei den Alten und sehr Alten, während es für die unter 60-Jährigen zum sehr seltenen Ereignis wurde. Die demografische Entwicklung ließ somit Sterben (vor der Zeit) zum seltenen und individuell schicksalhaften Ereignis werden, zum Ergebnis des punktuellen Scheiterns von Wissenschaft und Technik.

Mort interditeist das vorläufige Ende der Evolution des kulturellen Substrats, in das historisch eine Pandemie gefallen ist. Aus dem Substrat (S,T) wurde (∙, ∙), dessen Wirkmacht kaum überschätzt werden kann.

Tabu

Die C19-Pandemie traf also auf Mort interdite. Aus Wuhan kommend brach die unerhörte Zumutung des Undenkbaren über uns herein: Sterben, gegen das noch kein medizinisches Kraut gewachsen war und darüber hinaus ohne Garantie des Systems, dass es außer Sichtweite der noch nicht Erkrankten, wenigstens im Verborgenen der Spitäler und Intensivstationen geschehen würde. Das Undenkbare wird zur Unaussprechlichkeit von »was wäre, wenn …?«: die Rückkehr von Mort familière.

Das Wahrnehmungstabu der Bevölkerung diktierte das Wahrnehmungstabu in der C19-Politik. Wer das Undenkbare ansprach, und sei es noch so vorsichtig, wurde als Tabubrecher sanktioniert. So der (in Deutschland einem Landesminister entsprechende) St. Galler Gesundheitsdirektor Bruno Damann, wie der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach Mediziner, der in einem Interview auf die Frage, was er jenen antworte, die die Grippe für schlimmer halten als C19, sagte: »Man soll die Todesfälle nicht überbewerten. … Sterben gehört zum Leben. Unsere Gesellschaft hat verlernt zu sterben.« Woraufhin aus anderen politischen Parteien umgehend eine Entschuldigung für diese »menschenverachtenden Aussagen« und sein Rücktritt gefordert wurden.8

Das Wahrnehmungstabu wurde zum politischen Argumentations- und Handlungstabu: Es durfte nichts erwogen oder getan werden, was den Vorwurf der Inkaufnahme der unerhörten Zumutung riskierte. Befürwortern von schwachen C19-Infektionsschutzmaßnahmen wurde nur das Argument verziehen, dass in dieser oder jener Region die Intensivstationen auch bei weniger strengen Maßnahmen nicht volllaufen würden. Wer hingegen der Freiheit den Vorzug vor dem Infektionsschutz gab, wurde in die Nachbarschaft der politisch Unberührbaren gestellt. Mort interdite blockierte die Habermas’sche Diskursethik: Advokaten der Freiheit hätten nur unter Inkaufnahme des Tabubruchs einem geringeren Wert des Gesundheitsschutzes das Wort reden können, während Advokaten des allerstrengsten Infektionsschutzes als Wahrer des Tabus zu keiner Abwägung zwischen verschiedenen Zielen gezwungen worden sind. Ihr Hinweis auf die Gefahr von überfüllten Intensivstationen war das Killerargument schlechthin. Mort interdite verstieß so gegen das von der Diskursethik geforderte Prinzip von gleicher Spießlänge für die Kontrahenten. Damit war vorbestimmt, welche Seite sich im politischen Ringen durchsetzen würde.

Die Infrastruktur von Mort interdite

In Deutschland waren in der C19-Pandemie die Auslastungsziele für die Intensivstationen sichtbarster Teil der vorhandenen und zusätzlich geschärften Infrastruktur von Mort interdite. Es wurde ein dreistufiges System festgelegt: unten die Auslastungsgrenze x für den Anteil von C19-Patienten an der Gesamtkapazität als grobe politische Zielgröße; dann die mittlere Stufe mit der Auslastungsgrenze y des Gesamtsystems. Es galt: 0 < x < y < 1, das heißt, C19-Kranken durfte nur ein Teil der Betten zugeteilt werden, und die angestrebte Maximalauslastung y war kleiner als die Gesamtkapazität 1. Der Unterschied zwischen x und y hat einen sachlichen Grund in der Konkurrenz um freie Betten zwischen C19-Kranken und Patienten, die aus anderen Gründen eine intensivmedizinische Behandlung benötigen. Der Unterschied zwischen y und der Gesamtkapazität 1 hat einen sachlichen Grund in der Unterausstattung der Intensivstationen mit Personal, die einen Dauerbetrieb unter Volllast unmöglich macht. Die verbleibende Reserve auf der dritten Stufe ist lediglich als kurzfristiger Puffer für Extremsituationen wie lokale Naturkatastrophen oder Großunfälle gedacht.

Dieses dreistufige System der Intensivmedizininfrastruktur ist zugleich ein zuverlässiger Bewahrer des Tabus. Die Auslastungsgrenze für C19-Kranke ist zwei Stufen weg vom wieder offensichtlichen Sterben, und die unerhörte Zumutung des Sterbens aus anderen Gründen ist immer noch eine Stufe weg vom Tabu des wieder sichtbar gemachten Sterbens. Zudem sind die Grenzen x und y unscharf. Man kann darauf vertrauen, dass niemand bei Erreichen von x abgewiesen wird, solange y noch nicht erreicht ist, und wenn y erreicht ist, gibt es immer noch den Puffer.

Die Dreistufigkeit in der Intensivmedizininfrastruktur war ein Gebot der Vorsicht, kulturell gesehen ist sie aber auch die Watte, in die das Tabu gepackt ist. Aber das Fundament der Infrastruktur von Mort interdite reicht noch tiefer und schließt weitere Gründe für den systematischen Kontaktverlust zum Sterben ein.9

Erstens den massiven Rückgang der Sterblichkeit im 19. Jahrhundert infolge der Eindämmung von Epidemien wie Diphterie, Malaria, Gelbfieber, Cholera, Tuberkulose, die wiederum durch Verbesserungen in Ernährung und persönlicher Hygiene, sanitärer Ausstattung der Wohnstätten und urbanen Infrastrukturen (Wasserqualität, Abwasser- und Müllentsorgung) möglich wurde.Obwohl medizinisch gesehen immer noch eine echte Bedrohung, wurden Epidemien nun nicht mehr als solche wahrgenommen. So wurde die ab 1918 weltweit grassierende Spanische Grippe in den USA als Echo der mittelalterlichen Pest mit »swamped hospitals, overflowing morgues, mass graves, and corpses in homes besides the sick and dying«10 beschrieben.Und dennoch konnte selbst diese verheerend wirkende Pandemie den Glauben an die wissenschaftliche Medizin nicht mehr fundamental erschüttern.

Ein zweiter Grund für den systematischen Kontaktverlust zum Sterben liegt im Wandel des Konzepts »Spital«, das sich von einer Einrichtung der christlichen Barmherzigkeit zu einer modernen, an wissenschaftlichen Kenntnissen ausgerichteten Organisation grundlegend änderte. Eine Folge davon war die Verlegung der Krankenpflege und auch des Sterbens von der Familie weg ins Krankenhaus. Der Abstand, den Familie und Umfeld zur persönlichen Erfahrung des Sterbens so gewannen, wurde nun prägend. In diesem Professionalisierungsprozess vollzog sich auch der Wandel des Patienten vom Erkrankten, der ärztlicher Fürsorge bedarf, zum Symptomträger, der versorgt werden muss. Im Zuge dieser Verwissenschaftlichung des Arztberufs wird Krankheit vom Übel zum Untersuchungsbefund und therapeutischen Auftrag und das Spital zur Ausbildungsstätte des medizinischen Nachwuchses, der an und mit den Patienten als Träger von Gewebe seine wissenschaftlichen Lektionen absolviert.

In der Folge dieser Professionalisierung des medizinischen Versorgungsbereichs kommt es zu einem schrittweisen Rückzug der Ärzteschaft vom nicht mehr heilbaren Kranken als Verkörperung des therapeutischen Versagens und einer so erforderlich werdenden fachlich durchorganisierten Patientenpflege, die von nichtwissenschaftlichem Hilfspersonal nach ärztlicher Anweisung und im Rahmen administrativer Ordnung und Effizienz ausgeführt wird.11 Am Ende steht dann die für niemanden mehr sichtbare Entledigung des Körpers von Verstorbenen durch das diskrete Wirken von Pathologie und Bestattungsunternehmen.»Hospital discipline appears to operate according to an eschatological assumption that a dead body is almost instantaneously an empty shell.«12

Womit wir beim dritten Grund der in der Moderne lancierten Tabuisierung des Sterbevorgangs wären, der Entstehung einer Bestattungsbranche. Die rituelle Vorbereitung des toten Körpers durch Familie und Freunde als letzter Dienst am Verstorbenen wurde durch ein neues Geschäftsmodell zur professionellen Dienstleistung für die Hinterbliebenen. Im Zuge dessen wandelte sich die Bestattungszeremonie vom Dienst am Verstorbenen zum Dienst an den Trauernden und der letzte Abschied von einem Akt im Angesicht des Toten zu einer Zeremonie ganz ohne Sichtkontakt zum Toten, oder allerhöchstens mit Blick auf einen zum Schlafenden präparierten Körper.

Schließlich besiegelt viertens die Entstehung des modernen Friedhofs die Beseitigung des Sterbens aus dem Alltag der Lebenden. Mit der Verlagerung aus der innerörtlichen Nachbarschaft an den Rand oder jenseits der Siedlungen ging ein Wandel des Grabbesuchs einher, der nicht mehr als beiläufiges, aber regelmäßiges Vorbeischauen in den Tagesablauf integrierbar war, sondern zum geplanten Besuch wurde, der zudem einzupassen war in die herrschende Friedhofsordnung, die auch sonst durch allerlei Vorgaben das Entindividualisieren des Totengedenkens geradezu systematisch vorantrieb.13

Lundgren und Houseman sehen in diesen Entwicklungen die Ursache einer fortgeschrittenen Entfremdung der Lebenden von Tod und Sterben: »[T]he growth of technology and ever improving medical care causes us to regard death as an unexpected surprise rather than an inevitable consequence of life itself.«14

Die Infrastruktur des Mort interdite wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weiter komplettiert durch den Trend zu Klein- und Zweigenerationenfamilien mit korrespondierender Wohninfrastruktur, die für innerfamiliäre Pflege eher keinen Platz vorsieht; sowie durch das gemanagte Doppelverdienertum, das die Rückkehr zur Pflege gemäß christlicher Barmherzigkeit in der Familie quasi unmöglich macht und den Alten geradezu verbietet, den Jungen in diesem Sinne zur Last zu fallen. Die Pflegeversicherung wurde nicht nur eine neue Säule des deutschen Sozialversicherungssystems, ihre Erfindung besiegelte die Trennung der Lebenden von der Erfahrung des Sterbens. Der Weg ist vorgezeichnet: aus dem familiären Umfeld ins Alters- und Pflegeheim und von dort zum Sterben und in den Tod noch weiter weg.

Noch als Kind erlebte ich Anfang der 1960er-Jahre die Großfamilie mit Alten- und Krankenpflege daheim, mit dem Sterben daheim, mit dem Aufbahren des Verstorbenen daheim, mit Kondolenzbesuchen am offenen Sarg daheim und mit musikalisch begleitetem Beerdigungszug von daheim zum Friedhof mitten im Ort. Heute lesen wir: »Auf Wunsch des Verstorbenen fand die Beisetzung im engsten Familienkreis statt.« Und C19 reduzierte das soziale Sterben weiter zur leeren Menge. David Pocock beschreibt dies als Sonderweg des Westens.15 In tradierten Gesellschaften mit einer zirkulären Zeit der Wiederkehr des immer Gleichen im Rhythmus des Gewohnten (im Sinne Lévi-Strauss’) sei Sterben ein soziales Ereignis geblieben: »[F]or the majority of mankind, death is not essentially something which, at a moment somehow-to-be-definded, effects a significant biochemical change in an individual but rather … it is society in all its aspects which suffers the death, not the person, and in short, the point of death is not the point of death.«16 Im Westen (mit einer linearen Zeit, die das immer Neue bringt) habe sich hingegen in den letzten 150 Jahren das Sterben weg vom sozialen und hin zum rein individuellen Ereignis verschoben – einmalig im Dasein dieses Individuums.

Die politische C19-Zielfunktion

Tabuisierung ist ein Abwehrmechanismus, der das Aufbrechen gesellschaftlicher Konflikte durch verbergende Markierung potenziell gefährlicher Phänomene verhindern hilft: »Du sollst das eigene kollektive Böse nicht kennen.«17 Bei C19 markierte Mort interditedas kollektive Böse – hier das Versagen des Gesundheitssystemsen gros – und das eigene Böse – hier dessen Akzeptanz – als schicksalhaft.

Es gibt Tabugeber, Tabunehmer und Tabuwächter. Tabugeber von Mort interdite war wie beschrieben ursächlich der medizinische, technische und organisationale Fortschritt im 18. und 19. Jahrhundert im Zusammenspiel mit der bereits in der Aufklärung vollzogenen Erhebung des Menschen zum Einzigartigen der Schöpfung. Tabunehmer und Tabuwächter fallen häufig in eins, was die Beharrungskräfte des Tabus ungemein stärkt. Zu ihnen gehören Menschen, die, das Tabu annehmend, Tabubrechern mit Ironie, Geringschätzung oder sichtbarer Verachtung begegnen. In der Aussage »Jeder muss selbst wissen, was er tut!« drückt sich kein Bekenntnis zu Toleranz aus, sondern ironische Kritik am Tabubruch, deren strengste Form Exkommunikation und Verbannung in die amorphe Kaste der »Querdenker« war. Ein Begriff übrigens, der vor C19 eher als Kompliment für unbequeme, aber durchaus als Bereicherung erlebte Zeitgenossen Verwendung fand und von den dann selbst ernannten »Querdenkern« wahrscheinlich in etwa so gemeint war. Mort interdite machte daraus eine Kennzeichnung für Irre, deren Treiben man eigentlich ignorieren könnte, wenn sie nicht so lautstark wären.

Ein Tabu paralysiert die Argumentationsfähigkeit, und so zeigte sich der Tabubruch in symbolischen Handlungen von Demonstranten und »Spaziergängern«, deren argumentative Unbeholfenheit ihre Abstempelung als »Querdenker« in der neuen Bedeutung erleichterte. Bewegungen, die sich strikt sperren gegen eher mühsame Argumentation, ziehen politische Bauernfänger magisch an, und so konnte der Tabubruch von Mort interdite von den Tabuwächtern mit politischen Tabus in Verbindung gebracht werden. Das Narrativ sagte nicht, es gibt Radikale unter den Tabubrechern, sondern es sagte, die Tabubrecher radikalisieren sich immer mehr und sind deshalb umso mehr auszugrenzen. Die Beobachtung der »Querdenkerszene« durch den deutschen Verfassungsschutz zielte auf den Reiter, traf aber das Ross als Ganzes − und dieses war der Tabubruch von Mort interdite.

Mort interdite machte auch vor der Bildungselite nicht halt. Die Rolle von Tabunehmer und -wächter gleichzeitig übernahmen auch – und zwar an vorderster Front – die Medien. Als Tabunehmer blieben sie maulfaul in ihrer Reflexion alternativer C19-Politiken. Echte Politikalternativen waren im Gegensatz zu den täglichen Inzidenzzahlen und der Situation auf Intensivstationen kein Dauerthema in den Nachrichten. So wurde zum Beispiel der schwedische Weg in deutschen Medien in der Tendenz gleichgestellt mit Verantwortungslosigkeit, zum Scheitern verurteilt, als bereits gescheitert beurteilt, letztlich also nur aus der Perspektive von Mort interdite bewertet. Der Spin im internationalen C19-Politikvergleich zielte auf die Zertifizierung des Erfolgs der deutschen C19-Politik: geringere Inzidenzen, weniger C19-Tote, stabileres Gesundheitssystem. Es war die Story vom Gesundheitsschutz als Ziel. Dabei hätte es tabufrei auch die Story vom Gesundheitsschutz als Restriktion sein können: Welche Freiheiten zum Beispiel unter Wahrung von staatlicher Gesundheitsschutzrestriktion aufrechterhalten werden könnten. Stattdessen wurden die Bilder, die skandinavische Lebenslust vermittelten, umgedeutet zu Bildern der unerhörten Zumutung. Die Berichterstattung im Frühjahr 2020 über den schwedischen Weg als russisches Roulette war ein Spin unter dem Tabu des Mort interdite.

In ihrer Rolle als Tabunehmer und -wächter zeigten die Medien auch eine außergewöhnliche Effizienz in der Segmentierung der Bevölkerung in Gut und Schlecht: gut die ruhige und loyale Bevölkerung, schlecht die »Querdenker«; gut die Geimpften, schlecht die nicht geimpften Unwilligen, die als vernunftfeindliche Impfgegner kompromittiert wurden. Die Story hätte stattdessen auch die über heterogene Präferenzen sein können: übers reflektierte Sich-impfen-Lassen aus Selbstliebe und Altruismus und übers reflektierte Sich-nicht-impfen-Lassen aus Selbstliebe und Prinzip. Will man auch Tabubrechern Rationalität nicht grundsätzlich absprechen, dann war ihr offensichtlicher Unwille, vor laufender Kamera Rede und Antwort zu stehen, der nüchternen Erwartung des Spins geschuldet, den ihre Aussagen in der Berichterstattung erhalten würden. Was es umso leichter machte, sie nicht mehr aus der ihnen zugewiesenen Ecke herauszulassen.18

Auf diese Weise arbeiteten in der C19-Pandemie Tabunehmer und -wächter auf der einen und Tabubrecher auf der anderen Seite sogar zusammen. Dies legte die große Linie der C19-Politik fest. Die politische Zielfunktion der C19-Pandemiepolitik wurde zwar im politischen Prozess, aber nicht durch ihn bestimmt. Sie war von Mort interdite vorbestimmt. Es war die folgende lexikografische Präferenzordnung:

Mort-interdite-Zielfunktion 1: Es darf keine Vollauslastung der Intensivstationen geben. Erst wenn dies garantiert ist, darf wieder individuelle Freiheit gewährt werden.

Allein das kulturelle Substrat (∙,∙) bestimmte das Ziel, das die C19-Politik bedienen musste und aufgrund der absoluten Geltung von Mort interdite alternativlos war. Durch das unfreiwillige Zusammenwirken von Tabunehmern/-wächtern und Tabubrechern wurde es nur noch weiter gefestigt. Und selbst wenn Politiker nicht schon bereits Tabunehmer und -wächter gewesen wären, so hätte sie ihr politisches Überleben dazu gezwungen, es zu werden und im Rahmen dieser strengen Grenzen zu handeln.

Die kulturelle Alternativlosigkeit der C19-Politik macht deren normative Beurteilung vorderhand einfach: Was die Politik nicht zu leisten in der Lage ist, kann nicht von ihr verlangt werden. Insofern läuft eine libertäre Kritik an der C19-Politik ins Leere. Denn Zweifel an einem libertären Kurs ließen sich in der Pandemie immer finden. So wurde zum Beispiel Anfang 2022 als schlagendstes Argument deutscher Impfpflichtbefürworter angeführt, dass die Möglichkeit einer Remutation des Virus mit der Infektiosität von Omikron und der Letalität der Delta-Variante von der Wissenschaft nicht ausgeschlossen werden kann. Unter der Kuratel von Mort interdite stehend, kann und konnte der Politik demnach nicht vorgeworfen werden, die Freiheit vernachlässigt und damit der Wohlfahrt geschadet zu haben. Dazu waren ihr kulturell viel zu sehr die Hände gebunden. C19 war ein ethischer Freifahrschein für die Politik, wenn man dieser Argumentation folgt.

Genauso die Abwägung zwischen Infektionsschutz und Wirtschaft. Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften forderten zwar Ausnahmen für die eigene Branche, aber nie eine radikale Abkehr von der eingeschlagenen Richtung. Was ohne das Tabu zu erbitterten Richtungskämpfen geführt hätte, wurde mit Mort interdite unter Murren geschluckt.

Auch in den engeren Grenzen des Gesundheitssystems selbst griff die lexikografische Zielfunktion. Das Kapazitätsmanagement der Intensivstationen nahm Qualitätsverluste in der Versorgung von schützenswertem Leben (Verschiebung nicht dringender Operationen) zugunsten frei gehaltener Intensivbetten für (potenziell) zu erwartende C19-Kranke hin. Unter der Maßgabe der kulturellen Alternativlosigkeit der Mort-interdite-Zielfunktion lässt sich die normative Beurteilung der C19-Politik vereinfachen, indem nach ihrer Effektivität und ihrer Effizienz gefragt wird: Waren die Maßnahmen wirkungsvoll? Wurde die Freiheit durch sie nicht unnötig eingeschränkt?

Expertensystem und der Wirtsorganismus Mensch

Mort interdite