Tod zur See - Frauke Scheunemann - E-Book

Tod zur See E-Book

Frauke Scheunemann

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Beschreibung

Der 3. Fall für Radioreporterin Franziska Mai und Kommissar Kay Lorenz auf der Sonneninsel Usedom Franziska Mai ist dank ihrer Radio-Show auf Usedom inzwischen ein kleiner Star und wurde als Moderatorin für das große Abschlussspektakel des Ahlbecker Stadtfests engagiert. Was eigentlich der Höhepunkt des maritimen Sommervergnügens sein sollte, wird jedoch zur Katastrophe: Der Jetski des Stuntmans explodiert mitten im finalen Salto.  Franzis kriminalistischer Instinkt meldet sich und sagt ihr, dass Bruno Wunderlich Opfer eines Mordes geworden ist. Die lebhafte Reporterin stürzt sich gemeinsam mit Hauptkommissar Kay Lorenz in die Ermittlungen. Eigentlich hat niemand ein Motiv, Bruno zu töten, doch dann wird Rätselhaftes an den Ostsee-Strand gespült …

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Seitenzahl: 440

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Frauke Scheunemann

Tod zur See

Ein Usedom-Krimi

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Mord vor aller Augen versetzt das sommerliche Usedom in Aufruhr

 

Franziska Mai ist dank ihrer Radioshow »Die Problemlöser« auf Usedom inzwischen ein kleiner Star und wurde als Moderatorin für das große Abschlussspektakel des Ahlbecker Stadtfests engagiert. Was eigentlich der Höhepunkt des maritimen Sommervergnügens sein sollte, wird jedoch zur Katastrophe: Der Jetski des Stuntmans explodiert mitten im finalen Salto. 

Franzis kriminalistischer Instinkt meldet sich und sagt ihr, dass Bruno Wunderlich Opfer eines Mordanschlags wurde. Die lebhafte Reporterin stürzt sich gemeinsam mit Nordlicht Hauptkommissar Kay Lorenz in die Ermittlungen. Eigentlich hat niemand ein Motiv, Bruno zu töten, doch dann wird Rätselhaftes an den Strand gespült … 

 

Der dritte Fall für Radioreporterin Franziska Mai und Kommissar Kay Lorenz

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Die Sommer ihrer Kindheit verbrachte Frauke Scheunemann bei den Großeltern an der Ostsee und auch später blieb sie dieser Region treu: Ihr Volontariat absolvierte sie beim NDR und war dabei als Radioreporterin in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs. Wo immer zwischen Boltenhagen, Zingst oder Heringsdorf ein Gesangsverein Jubiläum feierte oder ein Kaninchen prämiert wurde, war sie mit ihrem Aufnahmegerät zur Stelle. Kein Wunder also, dass ausgerechnet dieser Landstrich, im Speziellen die Insel Usedom, in ihrer Krimiserie eine Hauptrolle spielt. Frauke Scheunemann lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Inhalt

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Salsa und mehr

Dank an …

Für Iris und Katja.

Und für Katharina, die sich etwas gewünscht hat.

1

»Hey, Franzi, long time no see! Oder besser: no hear.«

Ein Lachen, das fast unsicher klingt. Ich muss zweimal hinhören, bis ich erkenne, wer mir da auf die Mailbox gesprochen hat. Aber dann habe ich keinen Zweifel mehr. Es ist Henning. Henning, der Betrüger. Henning, der Vollidiot. Und Henning, dessen Stimme bei mir bedauerlicherweise immer noch Herzrasen auslöst. Verdammt! Was will der denn von mir? Ich überlege kurz, dann entscheide ich mich für das einzig Richtige. Ich höre mir die Nachricht nicht weiter an und schalte mein Handy aus. Das hätte ich schon längst machen sollen, so knapp vor der Sendung. Was auch immer Henning von mir will, er kann es sich sonst wohin stecken! In fünf Minuten gehen wir beim Strandfest in Ahlbeck live, ich habe keine Zeit für Gedanken an meinen Ex-Freund!

»Chefin, alles okay?« Mein Volontär Janis mustert mich. Als guter Journalist, der er mit Sicherheit mal werden wird, hat er natürlich sofort gemerkt, dass sich meine Stimmung von jetzt auf gleich geändert hat. Nämlich von fröhlich-gestresst zu genervt-gestresst.

»Ja, alles gut«, antworte ich mit einem Lächeln. Von Hennings Anruf erzähle ich nichts, ich habe keine Lust, Janis neugierig zu machen. Die beiden kennen sich flüchtig. Henning war zwei Jahre mit unserer Moderatorin Bille zusammen, da ist er Janis ab und zu in der Redaktion von Bäderland-Radio begegnet.

»Dann kann’s ja gleich losgehen!«, ruft Janis gut gelaunt. Ich werfe einen Blick rüber zu Anita, unserer Aufnahmeleiterin. Sie nickt mir zu, dann hebt sie die rechte Hand. Daumen nach oben! Alle auf Position! Ich gehe mit Janis die Seebrücke entlang auf das weiße Gebäude zu, das mitten auf dem langen Holzsteg thront. Es dürfte das bekannteste Haus auf Usedom sein, nur wenige Postkarten von der Insel kommen ohne ein Bild davon aus. Es ist aber auch wirklich wunderschön: Mit seinen Türmchen an allen vier Ecken sieht es wie ein kleines Schloss aus. Schade, dass wir nicht beim Fernsehen sind – vor dem strahlend blauen Hochsommerhimmel gibt es ein tolles Bild ab, das ich unserem Publikum gern zeigen würde.

Direkt vor dem Gebäude führt eine Treppe zum Strand. Janis überholt mich und geht hinunter, ich passiere das Schlösschen, um auf den Teil der Brücke zu gelangen, der weit ins Meer hineinreicht. Dass Janis und ich uns hier aufteilen, hat seinen Grund: Gleich wird es mit der Vorführung der Stuntgruppe Bruno’s Brothers einen weiteren Höhepunkt des Ahlbecker Strandvergnügens geben: eine – jedenfalls laut Vorankündigung – Wahnsinnsshow mit tollkühnen Männern auf Jetski, die so schnell sind, dass sie in der Formel 1 mitfahren könnten. Na gut, selbst wenn man jetzt mal 50 Prozent Werbesprech abzieht, wird das bestimmt eine spannende Sache. Bruno Wunderlich, der Namensgeber der Gruppe, hat jedenfalls schon in vielen Filmen als Stuntman mitgearbeitet, bevor er sich auf Usedom mit einem Verleih für alle möglichen Sportgeräte vom Surfbrett bis zum Segelboot selbständig gemacht hat. Jetski verleiht er natürlich auch, und seit einiger Zeit sind noch Mietwagen dazugekommen. Der Mann ist also umtriebig.

Janis wird unten am Strand stehen und die Stimmung unter den Zuschauern einfangen, ich werde von der Seebrücke aus berichten, mit welchen Kunststücken die Bruno’s Brothers uns beeindrucken. Eine launige Sommerreportage also, die wir schon deshalb senden, weil Bäderland-Radio in diesem Jahr Medienpartner des Strandvergnügens ist. Ich werfe einen Blick auf die Uhr – kurz nach zehn. Eigentlich müssten die Jetski jetzt schon im Wasser vor der Seebrücke zu sehen sein. Wenn es nun länger dauert, bringt es unseren Zeitplan ziemlich durcheinander – der sieht nämlich vor, dass unser Nachrichtenredakteur Markus direkt aus den Zehn-Uhr-Nachrichten an uns übergibt. Über den Knopf in meinem Ohr kann ich hören, dass er schon beim Wetter angekommen ist, danach kommen nur noch Verkehrshinweise. An einem Sonntagmorgen um zehn Uhr werden die aber nicht allzu lang sein. Der Hauptan- und -abreisetag ist schließlich der Samstag. Die Wunder-Jetskifahrer müssten jetzt also endlich Gas geben, im wahrsten Sinne des Wortes!

»Franzi, du übernimmst in fünf Sekunden«, informiert mich Anita. »In fünf, vier, drei …« Sie hat noch nicht bis eins runtergezählt, da kündigt ohrenbetäubender Lärm den Start des großen Spektakels an. Es ist so laut, dass ich Mühe habe, genau zu verstehen, was Markus zur Übergabe sagt, aber ich meine, so etwas wie Auf der Seebrücke in Ahlbeck steht nun meine Kollegin Franzi Mai. Franzi, ganz schön laut bei dir! zu hören, also quassle ich drauflos.

»Ja, Markus, wirklich ganz schön laut. Aber das ist auch keine Überraschung, denn wir erwarten hier ein Highlight des Strandvergnügens, und zwar ein sehr PS-starkes. Lokalberühmtheit Bruno Wunderlich und seine Bruno’s Brothers donnern gerade mit ihren Jetski vor der Seebrücke von Ahlbeck auf und ab!«

»Das klingt stark!«, gibt mir Markus mein nächstes Stichwort.

»Ja, das ist es auch. Gerade in diesem Moment rasen die vier jeweils zu zweit aufeinander zu und …«, ich schaue genau hin, weil ich selbst nicht weiß, was nun passieren wird, »und jetzt springen sie tatsächlich übereinander. Wow!« Extrem WOW! Die Nummer sieht sehr cool aus, und vom Strand unterhalb der Seebrücke vernehme ich ein Raunen. Das scheint auch Markus mitbekommen zu haben, denn nun übergibt er an Janis. »Janis, du stehst unten am Strand inmitten der Zuschauer. Wie kommt die Show bisher an?«

»Oh, ich glaube, sehr, sehr gut, Markus«, antwortet ihm Janis. »Aber hören wir doch einfach, was die Leute selbst dazu sagen. Darf ich Sie etwas fragen?«, wendet er sich dann offenbar an jemanden, der neben ihm steht. Ich höre ein Kichern über meinen Knopf im Ohr. Janis hält sein Mikro wohl einem jungen Mädchen unter die Nase.

»Ja, klar«, lautet ihre Antwort.

»Wie gefällt es dir?«

»Es ist toll! Ich hätte nicht gedacht, dass man mit den Dingern so hoch springen kann. Wahnsinn, wie in einem James-Bond-Film!«

Das ist ein sehr passender Vergleich, denn in diesem Moment entwickelt sich aus den Sprüngen eine Art Verfolgungsjagd – es sieht so aus, als versuche einer der Fahrer, den anderen zu entkommen. Die rasen ihm hinterher, wobei sie sich in Schlangenlinien immer wieder selbst überholen und sich mal der eine, mal der andere an die Spitze setzt.

»Janis, wusstest du, dass Bruno Wunderlich auch schon in Hollywood-Produktionen mitgewirkt hat?«, streue ich ein paar Infos ein, die unsere Zuhörer hoffentlich beeindrucken werden.

»Wirklich? Nein, das wusste ich nicht«, schummelt Janis. »Oh, guck mal, jetzt springen sie gleich über zwei Rampen.« Tatsächlich hat Brunos Team vom Strand aus Rampen auf Schwimmkörpern ins Wasser geschoben, und die Jetskifahrer sausen mit Vollgas auf diese zu.

»Also, das ist schon imposant«, beschreibe ich die Szene für unsere Zuhörer, »die Fahrer schlittern über die Rampen und segeln mindestens fünf Meter durch die Luft, bevor sie wieder auf dem Wasser aufsetzen.«

»Faszinierend – aber sie machen auch einen ganz schönen Lärm, oder?«, fragt Janis nun wieder in die Runde.

Zustimmendes Gemurmel, ein der Stimme nach älterer Herr meldet sich zu Wort: »Also für so ein Fest eine prima Sache, aber immer will ich diesen Krawall nicht an unseren Stränden haben. Da kann man sich ja nicht mehr in Ruhe entspannen.«

»Der Lärm stört mich überhaupt nicht«, widerspricht ihm ein junger Mann, »ich bin froh, wenn hier endlich was los ist. So ein Ding würde ich auch gern mal fahren.«

»Du siehst, Franzi«, gibt Janis wieder an mich ab, »die Meinungen über die Jetski sind geteilt hier am Strand.«

»Ja, ich höre es. Aber beeindruckend sind die Profis schon«, übernehme ich dann wieder und schildere den Zuhörern die nächsten paar Minuten haarklein, welche atemberaubenden Kunststücke die Stuntmen auf ihren Jetski vorführen. Immer wieder hält Janis zwischendurch sein Mikro in die Menge und fängt die begeisterten Ahs! und Ohs! der Zuschauer und einzelne Kommentare ein, um die Stimmung für die Menschen am Radio erlebbar zu machen. Gerade erzählen ihm zwei kleine Jungs, dass sie später auch mal Stuntmen in Hollywood werden wollen. Da sehe ich, dass der Fahrer, den ich für Bruno Wunderlich halte, eine Fackel entzündet, die er an der Seite seines Jetski befestigt hat.

»Markus«, übernehme ich wieder das Wort, »ich glaube, jetzt setzen sie zum großen Finale an – dem Feuer von Vorpommern.«

»Großartig! Was siehst du?«, will mein Kollege wissen.

»Die vier Fahrer haben gerade Fackeln an ihren Jetski entzündet, die in den Landesfarben leuchten: weiß, blau, rot und gelb. Sieht wunderschön aus!« Über den Knopf im Ohr höre ich Applaus und Jubelrufe, offenbar hält Janis wieder das Mikrophon in die Menge. Ich warte kurz, dann spreche ich weiter. »Die Akrobaten fahren in einem Kreis hintereinander her, und der Vierte im Bunde, ich glaube, es ist Bruno Wunderlich selbst, rast über eine der beiden Rampen. Wow, liebe Leute, jetzt springt er in die Höhe, genau in die Mitte des Kreises. Er dreht sich um die eigene Achse. Ein Salto also, der …«

In diesem Augenblick gibt es einen ohrenbetäubenden Knall, und mit einem hellen Lichtblitz zerreißt es den Jetski, mit dem Bruno Wunderlich gerade seinen Salto vollführt. Flammen schlagen aus dem Fahrzeug, Trümmer fliegen durch die Luft, die Menge schreit panisch auf, und ich kann von hier oben aus sehen, wie die Menschen auseinanderrennen. Was ist los? Wo ist Janis? Ich laufe auf die Seite der Seebrücke, die über den Strandabschnitt führt, auf dem ich Janis vermute, dann lehne ich mich über das Geländer und schaue hinunter, aber ich kann ihn nicht entdecken. Zu viele Menschen laufen völlig kopflos durcheinander. Auf dem Meer vor der Brücke schwimmt ein Feuer, die anderen Jetski treiben im Wasser daneben. Zwei Fahrer haben sich einen dritten links und rechts untergehakt und scheinen an Land schwimmen zu wollen. Einen vierten Fahrer kann ich nicht ausmachen, und am Strand selbst regiert das Chaos. Ich höre Schreie, Jammern und Weinen, und jetzt kann ich sehen, dass es auch am Ufer Verletzte zu geben scheint. Jedenfalls liegen Menschen im Sand, andere knien daneben und kümmern sich um diese. Ich selbst bin wie gelähmt.

»Franzi, was ist da los? Ist da gerade was in die Luft geflogen?«, höre ich Markus über den Knopf in meinem Ohr. Ich kann ihm nicht antworten, ich bringe kein Wort heraus. »Melde dich!«, herrscht er mich nun an, und ich erwache aus meiner Schockstarre.

»Es gab eine Explosion, Markus. Der Jetski von Wunderlich ist explodiert, gerade als er seinen letzten Sprung gemacht hat.« Ich muss schlucken. »Das war ein gigantischer Feuerball, ohne Zweifel gibt es hier Verletzte. Ruf die Feuerwehr und die Polizei, Markus, mach schnell!«

Dann reiße ich mir mein Headset vom Kopf, entkable mich und laufe die Treppe hinunter zum Strand. In der Ferne höre ich das Aufheulen von Sirenen, mit Sicherheit haben auch schon andere Zuschauer einen Notruf abgesetzt. Unten angekommen, schiebe ich mich durch Kinder, Frauen und Männer, die genauso fassungslos aussehen, wie ich mich gerade fühle. Wo ist Janis? Verdammt, der muss doch hier irgendwo sein!

»Hey«, schreie ich einen Mann an, der noch halbwegs ruhig zu sein scheint und mit geschätzten zwei Metern so groß ist, dass er bestimmt einen guten Überblick über das Geschehen hatte. »Hey, haben Sie den Radioreporter gesehen? Den, der hier unten Interviews geführt hat?«

Der Mann nickt stumm und deutet dann Richtung Heringsdorf. Ich laufe los, dränge mich durch die Menschenmenge. Ich höre eine junge Frau laut aufschreien, ihre Stimme ist voller Panik. Plötzlich richten sich die kleinen Härchen an meinen Unterarmen auf, und mein Herz beginnt zu rasen. Ich kenne die Stimme! Es ist Helena, die Freundin von Janis. Mittlerweile ist aus dem Schreien ein Schluchzen geworden, ich versuche, die Richtung auszumachen, aus der es kommt. Da! Ich kann sie sehen! Etwa drei Meter von mir entfernt kniet Helena im Sand, vor ihr liegt Janis, der Sand um seinen Kopf herum scheint nass zu sein. Oder ist das Blut? Ich stürze zu Helena und knie mich neben sie. Janis ist ganz blass und hat die Augen geschlossen, an der linken Schläfe rinnt unaufhörlich Blut aus einer großen Schnittwunde.

»Helena!« Ich lege meine Hand auf ihre Schulter, sie fährt zu mir herum. »Was ist mit Janis?«, will ich wissen. »Was ist passiert?«

»Eines dieser herumfliegenden Teile hat ihn am Kopf getroffen. Es ging alles so schnell. Er hat geschwankt, dann ist er zusammengebrochen.«

»Ein Druckverband!«, rufe ich. »Schnell, hast du irgendwas dabei, um die Wunde zu schließen?«

Helena starrt mich an, dann schüttelt sie den Kopf. Ich krame in meinen Hosentaschen. Nichts. Keine Taschentücher, nur eine zerknüllte Moderationskarte, auf der ich mir den Namen des Stuntteams und ein paar Details des Auftritts notiert hatte. Das Feuer von Vorpommern. Das Blut rinnt unaufhörlich weiter aus der Wunde. Was habe ich eigentlich unter meinem T-Shirt an?, überlege ich. Ich glaube, einen einigermaßen ordentlichen Sport-BH. Kurzentschlossen streife ich das T-Shirt über meinen Kopf, rolle es zusammen und presse es dann ganz fest auf die Kopfwunde von Janis. Für Eitelkeiten oder Sorge um meine Kleidung ist jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt!

*

»Hier, willst du meine Jacke?« Nachdem er sich mit der Sanitäterin unterhalten hat, die Janis eben versorgt und dann in den Krankenwagen geladen hat, kommt Kay wieder zu mir herüber und hält mir seine blaue Segeljacke vor die Nase. Ich bin noch so überwältigt von dem Chaos der letzten Stunde, dass ich nicht sofort reagiere. Also faltet Kay seine Jacke auseinander und legt sie mir vorsichtig um die Schultern. Ich drehe mich zu ihm.

»Danke«, murmle ich, dann schweige ich wieder.

»Mach dir keine Sorgen um Janis«, sagt Kay und lächelt mich aufmunternd an. »Nur eine Schnittwunde. Ziemlich tief zwar, aber du hast die Blutung mit deinem T-Shirt gut stillen können. Außerdem hat er noch zwei Schnitte am Oberkörper, aber die sind längst nicht so schlimm. Er hat wirklich Glück gehabt. Die nehmen ihn jetzt mit ins Krankenhaus und versorgen ihn. Du wirst sehen, bald ist er wieder wie neu.«

Ich versuche, mir ebenfalls ein Lächeln abzuringen. Es gelingt mir allerdings nur so halb. Unter normalen Umständen würde ich mich freuen, Hauptkommissar Kay Lorenz von der Mordkommission in Anklam zu sehen. Heute aber, an diesem Sonntagmorgen, sind die Umstände eben nicht normal. Und wir haben uns hier nicht getroffen, weil wir uns schon seit längerem auch privat sehen. Sondern weil es am malerischen Strand von Ahlbeck einen Toten gab. Bruno Wunderlich hat die Explosion seines Jetski nicht überlebt, und vieles spricht dafür, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Weswegen nun auch Kay vor Ort ist. Und ich wieder mehr anhabe als nur meinen Sport-BH.

»Haben wir deine Aussage schon?«, will Kay dann wissen.

»Ja, deine Kollegen haben alles aufgenommen.«

»Du siehst erschöpft aus. Soll ich jemanden bitten, dich nach Hause zu fahren?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nicht nötig. Ich bin mit dem Fahrrad hier und ein bisschen Bewegung tut jetzt bestimmt gut. Wie geht es Helena?«

»Ich glaube, die Notärztin hat ihr etwas zur Beruhigung gegeben. Sie war völlig aufgelöst. Wir haben sie in ein Taxi gesetzt, sie müsste mittlerweile schon zu Hause sein.«

»Chef, kommst du mal?« Ein junger Mann in einem Anzug der Spurensicherung taucht neben uns am Strand auf.

»Klar, nur einen Moment noch«, antwortet Kay und dreht sich dann wieder zu mir. »Du siehst, ich muss leider noch fleißig sein. Aber ich melde mich, wenn ich hier fertig bin. Ich wollte dich sowieso noch etwas fragen.«

Normalerweise hätte diese letzte Bemerkung sofort meine Neugier geweckt. Aber gerade in diesem Moment überkommt mich eine so bleierne Müdigkeit, dass ich nicht nachfrage, sondern nur noch nach Hause will. Zumal die nächsten Tage im Sender mit Sicherheit sehr anstrengend werden. Schließlich sieht es ganz so aus, als hätte hier, am Strand von Ahlbeck, vor einer Stunde ein Sprengstoffattentat stattgefunden. Spannende Zeiten also für Radioreporter wie mich. Es wundert mich eigentlich, dass mein Chef Raimund noch nicht verlangt hat, unsere Live-Schalte sofort wieder aufzunehmen und mich darüber berichten zu lassen, wie die Polizei den gesamten Strand abgesperrt und die Feuerwehr selbigen nach Glutnestern und Trümmern durchkämmt hat. Oder war das die KTU, die nach Trümmern gesucht hat? Jedenfalls war es die Wasserschutzpolizei, die die Reste des völlig zerstörten Jetski aus dem Wasser gezogen hat. Ihre Taucher haben schließlich auch Bruno Wunderlich auf dem Meeresgrund gefunden. Ich schüttle mich unwillkürlich.

»Franzi, geht’s wieder?« Kay klingt besorgt.

»Oh ja, klar. Ich war nur in Gedanken. Jetzt radle ich in Richtung Heimat und hau mich eine Runde aufs Sofa.«

»Hört sich nach einer guten Idee an.« Er klopft mir auf die Schulter. »Bis später dann.«

Er folgt seinem Kollegen im Schutzanzug Richtung Meer, und ich drehe mich um und laufe zur Strandpromenade hoch. Dort habe ich mein Fahrrad angeschlossen, mit dem ich heute Morgen um neun Uhr hierhergefahren bin. Mein Handy klingelt. Ich fummle es aus der Hosentasche und werfe einen Blick auf das Display: Raimund! Er hatte sich schon kurz nach der Explosion gemeldet, sichtlich geschockt und besorgt. Dass er nun erneut anruft, macht mich misstrauisch. Er weiß, dass mir nichts passiert ist. Was will er denn jetzt? Ich habe eine dunkle Vorahnung.

»Franzi, bist du noch am Strand?« Mit einer freundlichen Begrüßung hält sich mein Chef erst gar nicht auf.

»Ich wollte gerade gehen«, antworte ich wahrheitsgemäß. Keine halbe Sekunde später ärgere ich mich über meine Ehrlichkeit.

»Sehr gut!«, trompetet Raimund nämlich daraufhin fröhlich. »Dann kannst du gleich ein paar Eindrücke senden. Live! Der Übertragungswagen steht noch oben an der Strandpromenade, musst dir nur schnell einen neuen Sender geben lassen.«

»Raimund, ich stehe hier und trage nur einen BH, weil ich mit meinem T-Shirt die Kopfwunde von Janis versorgt habe!«

»Ach, wie gut, dass wir fürs Radio und nicht fürs Fernsehen arbeiten«, erwidert Raimund unbeeindruckt. »Da sieht ja niemand, was du anhast. Oder auch nicht anhast.«

»Vergiss es. Ich steige jetzt auf mein Fahrrad und radle nach Hause. Wenn du eine Live-Reportage willst, musst du jemand anderen schicken. Zum Beispiel Bille. Die ist doch scharf auf jede Sekunde Sendezeit.«

»Aber … aber Franzi!« Raimund scheint nicht glauben zu können, dass ich es ernst meine. »Das ist eine Riesenchance! Die Zentrale von Megahit-FM hat schon angerufen, die werden das im gesamten Senderverbund bringen.«

Klar, wenn es auf Ahlbeck ordentlich rumst, dann ist unser Muttersender natürlich gleich zur Stelle. Megahit-FM aus Berlin hat Bäderland-Radio vor einiger Zeit gekauft. Zuerst dachten wir alle, den neuen Eigentümern würde es nur um unsere Frequenz gehen und sie würden uns bald dichtmachen. Aber die Berliner lassen uns bisher weitgehend in Ruhe und übernehmen sogar Sendungen von uns, die sie gut finden. So geschehen mit der Sendung von Janis und mir – den Problemlösern. Da kümmern wir uns um die Sorgen und Nöte unserer Hörerinnen und Hörer – Schikane beim Amt, Streit mit den Nachbarn, entführte Haustiere, so etwas in die Richtung. Dachten wir jedenfalls, als wir mit der Sendung an den Start gegangen sind. Tatsächlich haben wir aber seitdem schon zwei Morde aufgeklärt, und mittlerweile sind Janis und ich auf der Insel bekannt wie bunte Hunde. Und die Berliner fragen regelmäßig nach, was wir wieder Spannendes am Wickel haben, damit sie es auch für ihre anderen Sender übernehmen können. Win-win also und mit Sicherheit ist ein Sprengstoffanschlag auch für Megahit-FM eine große Sache. Unter normalen Umständen wäre ich begeistert. Aber gerade will ich einfach nur weg hier.

»Tut mir echt leid, Raimund, aber es geht mir nicht gut. Und deswegen steige ich genau jetzt auf mein Rad und …«

In diesem Moment sehe ich es: Wo ich heute früh noch mein Fahrrad angeschlossen hatte, liegt nur noch das geknackte Schloss auf dem Boden.

»Scheiße!«, entfährt es mir laut.

»Was ist los?«, will Raimund wissen.

»Mein Fahrrad – es ist geklaut worden!«

»War es eins unserer Redaktionsräder?«

»Nee, mein eigenes. So ein Mist! Hab ich mir gerade erst gekauft.«

»Versichert?«

»Nein. Warum fragst du?«

»Pass auf, Franzi, hier ist der Deal: Du gehst jetzt zum Übertragungswagen, lässt dich neu verkabeln, und vielleicht hat Anita auch noch ein T-Shirt für dich. Dann lieferst du mir eine Hammerreportage der dramatischen Ereignisse vor Ort. Muss nicht lang sein. Quick and dirty! Und um dir deinen Schmerz zu versüßen, zahle ich dir ein neues Fahrrad.«

»Was?« Ich glaube, ich habe mich verhört.

»So schrecklich der Anschlag auch ist – er schafft es mit Sicherheit heute überall auf die Eins. Unsere Chefs in Berlin werden genau registrieren, dass wir diejenigen sind, die ganz dicht an der Geschichte dran sind. Damit rückt mein Jahresbonus in erreichbare Nähe. Wenn ich dir dafür ein neues Fahrrad kaufen muss – bitte sehr.«

»Du bekommst einen Bonus? Für unsere Sendungen?« Ich bin völlig überrascht.

»Für eine Steigerung der Sichtbarkeit, meine Liebe. Denn Sichtbarkeit ist Reichweite, und Reichweite ist Marktwert.«

Raimund klingt wie ein Unternehmensberater, ich sage erst mal nichts. Ein neues Fahrrad wäre verlockend, aber ich stehe hier trotzdem nur im BH rum.

»Haben wir einen Deal?«, hakt Raimund nach.

Ich seufze ergeben.

»Okay. Deal!«

Irgendwie bin ich doch käuflich.

2

Als ich nachmittags endlich zu Hause ankomme, bin ich völlig erledigt. Von wegen quick and dirty – aus der kurzen Reportage sind drei weitere Schalten geworden und ebenso viele Zulieferungen für unseren Senderverbund. Vermutlich kann man in den nächsten zwei Tagen nirgendwo in Deutschland sein Radio anschalten, ohne den Namen Franziska Mai zu hören. Was mir allerdings recht gut gefällt.

Eine der Hörerinnen scheint meine Freundin und Vermieterin Katja gewesen zu sein. Sie stürmt regelrecht auf mich zu, kaum dass ich am Hauseingang angekommen bin.

»Gott sei Dank, dir ist nichts passiert! Aber du hättest dich wirklich mal melden können. Ich habe bestimmt zwanzigmal bei dir angerufen, weil ich mir solche Sorgen gemacht habe. Erst als ich dich im Radio gehört habe, wusste ich, dass alles in Ordnung ist.« Katja klingt vorwurfsvoll, aber erleichtert. Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen.

»Verzeih mir bitte, dass ich nicht zurückgerufen habe. Es herrschten die ganze Zeit so viel Chaos und Stress, ich habe es erst nicht geschafft und dann nicht mehr daran gedacht«, entschuldige ich mich.

»Aber was ist denn genau passiert? Ein Mordanschlag? Und du warst dabei, als das Teil in die Luft geflogen ist?«

Ich nicke.

»Ja, war ich. Janis und ich wollten über die Jetski-Vorführung beim Ahlbecker Strandvergnügen berichten. Ich oben auf der Seebrücke, Janis unten am Strand. Die Vorführung war spannend, die Jungs haben jede Menge Sprünge gezeigt. Beim Finale haben sie dann alle eine Fackel an ihrem Ski entzündet – so eine Art gigantische Wunderkerze, die in verschiedenen Farben gesprüht hat. Bruno Wunderlich sollte mit seiner rot brennenden Fackel einen letzten Sprung machen. Da ist es passiert: Gerade als er abgehoben hatte, ist sein Jetski explodiert. Mitten in der Luft! Bruno hatte keine Chance.«

Katja schlägt die Hände vors Gesicht.

»Das ist ja schrecklich!« Sie schüttelt sich. »Aber kann es nicht auch ein Unfall gewesen sein? Vielleicht gab es einen Funkenflug, der das Benzin in Brand gesetzt hat.«

Ich zucke mit den Schultern.

»Theoretisch möglich. Die Spurensicherung hat alle Wrackteile eingesammelt. Sie werden sie auf Sprengstoff untersuchen. Schätze, bald wissen wir mehr. Die Polizei rechnet vielleicht schon morgen mit einem Ergebnis der KTU.« Das weiß ich deshalb so genau, weil ich in einer meiner Schalten Kay Lorenz interviewt habe. Der hat sich zwar sehr darüber gewundert, dass ich nicht zu Hause auf dem Sofa, sondern am Strand mit Mikro anzutreffen war. Trotzdem hat er sich bereitwillig befragen lassen, bevor er mit seinem Team nach Anklam zum Sitz der für Usedom zuständigen Mordkommission abfuhr. Das rechne ich ihm hoch an. Ebenso dass er sich jeden Kommentar über mein eilig an einem Souvenirstand gekauftes Ringelshirt verkniffen hat, Aufdruck Mama war auf Usedom, und ich habe nur dieses doofe T-Shirt bekommen. Hat immerhin nur drei Euro gekostet. Restposten – kein Wunder!

»Ein Attentat auf Usedom, es ist nicht zu fassen! Hoffentlich vertreibt das nicht die Touristen.« Bei allem Schreck – der Geschäftssinn ist meiner Freundin offenbar nicht verloren gegangen. Ihre Kneipe Inseltreff in Bansin ist zwar eher ein Anlaufpunkt für Einheimische als für Gäste von außerhalb, aber über dem Inseltreff hat sie neben ihrer eigenen Wohnung und der, die sie an mich vermietet, noch zwei Ferienwohnungen. Die sind normalerweise bestens gebucht.

»Ich glaube, da musst du dir keine Sorgen machen«, beruhige ich sie. »Kay meint, dass man einen terroristischen Hintergrund ziemlich sicher ausschließen kann. Falls es kein Unfall war, dann mit großer Wahrscheinlichkeit ein gezielter Mordanschlag.«

»Wir haben gerade renoviert, das Geld aus der Vermietung habe ich dabei fest eingeplant. Hoffentlich hast du recht.«

»Bestimmt habe ich das. Es gibt kein Bekennerschreiben, und Usedom ist nicht gerade ein politischer Hotspot«, erläutere ich meine Einschätzung.

»Na gut. Dann gebe ich das mal so an meine Gäste weiter und hoffe, dass sie das auch genau so verbreiten. Apropos – ich muss zurück in den Service, es ist viel los.«

»Klar, geh nur. Ich mache jetzt das, was ich schon seit Stunden will: mich einfach aufs Sofa legen.«

Katja klopft mir auf die Schulter, dann dreht sie sich um und geht in Richtung Terrasse des Inseltreffs. Dort sitzen tatsächlich ziemlich viele Leute. Es ist mittlerweile fast drei Uhr, und Katja backt einen ganz hervorragenden Käsekuchen, der zu dieser Tageszeit der Renner im Inseltreff ist. Ich schleppe mich Richtung Treppenhaus und dann in den ersten Stock in meine Wohnung.

Endlich auf dem Sofa angekommen, strecke ich alle viere von mir und ziehe mir meine Kuscheldecke über den Kopf. Eigentlich müsste ich dringend duschen, aber dafür bin ich zu erschöpft. Unter der Decke fallen mir sofort die Augen zu, und ich sinke in einen tiefen Schlaf.

Der Jetski brennt lichterloh und rast genau auf mich zu. Ich stehe mitten auf der Seebrücke, eigentlich kann der Jetski hier doch gar nicht fahren! Er tut es trotzdem und kommt unerbittlich näher. Ich will zur Seite springen, aber ich kann mich nicht bewegen, nicht mal schreien. Durch die Flammen kann ich das Gesicht des Fahrers sehen – es ist Henning! Ich spüre die Hitze des näher kommenden Feuers auf meinen Wangen und will schützend die Hände vor mein Gesicht halten, aber auch das ist unmöglich. In meinen Ohren dröhnt der Motor, gleich wird mich der Jetski treffen. In diesem Moment reißt mich jemand zur Seite – es ist Kay, das kann ich aus den Augenwinkeln sehen. Ich stürze mit ihm zu Boden, er hält mich dabei ganz fest. Der Jetski donnert an uns vorbei, über den Steg, hinaus aufs offene Meer. Dann explodiert er in einem riesigen Feuerball. Ich springe mit einem grellen Schrei vom Boden auf und …

… stelle fest, dass ich mich nicht auf der Seebrücke von Ahlbeck befinde, sondern auf meinem Sofa. Neben mir liegt auch nicht Kay, sondern die Kuscheldecke. Es dauert einen Moment, bis mir klarwird, dass ich gerade aus einem Albtraum aufgewacht bin, geweckt von meinem eigenen Schrei. Puh! Mir stehen Schweißperlen auf der Stirn, und ich fühle mich ziemlich zittrig. Was war das denn? Und wieso träume ich auf einmal von Henning? Von dem habe ich doch ewig nichts gehört. Ich muss kurz nachdenken, dann fällt mir ein, dass genau das nicht stimmt. Ich habe von Henning gehört, und zwar heute früh, bevor der ganze Wahnsinn losging. Vor dem Sofa liegt mein Handy. Ich hebe es auf und scrolle durch die Sprachnachrichten.

»Hey, Franzi, long time no see! Oder besser: no hear. Hier ist Henning. Ich … ich musste gerade an dich denken. Wie geht’s dir denn? Ich frage mich, ob wir nicht mal …«

Wo auch immer Henning stand, als er die Nachricht an mich aufgenommen hat – im Hintergrund wird es auf einmal so laut, dass ich ihn nicht mehr verstehen kann. Eine Melodie scheppert blechern los, die etwas von einer Nationalhymne hat, dann ertönt eine Lautsprecherdurchsage.

»Es folgt eine Durchsage für die Marktbeschicker: Die Marktzeit war um 9:30 Uhr beendet. Der Verkauf ist sofort einzustellen. Die Marktstände sind abzubauen, und die Marktfläche ist zu räumen. Die Marktaufsicht und die Händler wünschen Ihnen einen angenehmen Heimweg …

Moment, hier ist es gerade so laut. Ich rufe dich gleich noch mal an.«

Henning brüllt über den Lärm hinweg, dann endet die Nachricht. Angerufen hat er danach nicht noch einmal. Seltsam. Was sollte das? Und wo war Henning, als er mich angerufen hat? Irgendwie kam mir die Geräuschkulisse samt Durchsage bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, woher, und das ärgert mich ein bisschen. Was mich auch ärgert, aber nicht nur ein bisschen, ist die Tatsache, dass mich Henning offenbar nur einmal anrufen muss und schon in meinem nächsten Traum auftaucht. Gut, kein romantischer Liebestraum, sondern ein Albtraum, in dem er mich umbringen wollte – trotzdem! Eigentlich müsste ich völlig cool bleiben, wenn der Idiot sich bei mir meldet, aber ich bin es nicht.

Auch darüber, dass Kay in meinem Traum auftaucht, freue ich mich nicht. Klar, ich mag ihn. Und zwar sehr. Aber unser Verhältnis ist irgendwie ungeklärt. Im Grunde genommen kenne ich nicht nur einen, sondern zwei Kays: Wenn ich Kay Nummer eins beim Job in die Quere komme, weil ich als Reporterin einen Fall recherchiere, in dem er auch ermittelt, haben wir schneller Streit, als ich bis drei zählen kann. Dann ist er einfach nur Hauptkommissar Kay Lorenz von der Mordkommission in Anklam, und ob ich Franziska Mai oder Gerlinde Strullenkötter bin, spielt überhaupt keine Rolle. Er findet mich meistens einfach nur lästig und versucht, mich aus seinen Ermittlungen rauszuhalten. Gut, es ist bei unserem letzten Fall ein bisschen besser geworden, und manchmal gibt er sogar zu, dass meine Rechercheansätze auch ihm weiterhelfen. Am liebsten wäre es ihm aber, wenn ich mich in meiner Sendung auf Nachbarschaftsstreitigkeiten und Klatsch und Tratsch beschränken und das Feld der Verbrechensaufklärung ihm allein überlassen würde. So viel zu Kay Nummer eins, dem fiesen Kay.

Dann gibt es da noch den anderen Kay, Kay Nummer zwei. Der ist witzig und charmant und so fürsorglich, dass er mir ohne zu zögern sofort seine Jacke gibt, wenn er mich nur mit einem Sport-BH bekleidet und inmitten eines unglaublichen Chaos am Ahlbecker Strand trifft. Mit Kay Nummer zwei habe ich schon witzige Abende in der Detroit Bar verbracht und war mit ihm und seiner kleinen Tochter auf dem Ponyhof, um zu meiner großen Erleichterung festzustellen, dass er genauso viel Angst vor Pferden hat wie ich. Und seit neuestem mache ich sogar einen Tanzkurs mit Kay Nummer zwei – im neugegründeten Salsa-Club in Ückeritz. Dort habe ich dann sogar Kay Nummer drei kennengelernt: den feurigen Tänzer, der seinen karibischen Vorfahren alle Ehre macht. Kays Vater ist nämlich Kubaner. Kay hat ihn leider nie kennengelernt und gibt sich vor allem als Kay Nummer eins lieber spröde-norddeutsch. Sobald im Salsa-Club aber das Licht aus- und die Musik angeht, kann Kay seine Wurzeln nicht mehr verleugnen. Ich halte mich zwar für einigermaßen beweglich und musikalisch, aber neben Kay wirke ich vermutlich wie eine altdeutsche Eichenschrankwand. Stört mich nicht, ich habe trotzdem meinen Spaß. Es muss in den Pausen nur einfach genug Cuba Libre geben. Dann sind auch die Tanzstunden mit Kay Nummer zwei oder drei wunderbar.

Das bringt mich aber wieder zurück zum eigentlichen Problem: Leider kann ich zu den Uhrzeiten, an denen ich normalerweise auf Kay Nummer eins treffe, noch keinen Cuba Libre trinken. Ich muss unser Verhältnis also im nüchternen Zustand klären, und das fällt mir irgendwie schwer. In meinen Träumen möchte ich ihm deshalb lieber nicht begegnen. Erst muss ich wissen, ob und wie das in Zukunft mit uns weitergeht.

Bevor ich mir nun aber weiter den Kopf über Männer zerbreche, die besser nicht in meinen Träumen vorkommen sollten, gehe ich heute mal richtig früh ins Bett, damit ich morgen gut gelaunt und ausgeschlafen den Mann sehen kann, zu dem ich ein völlig geklärtes Verhältnis habe und der mir deswegen auch gleich im Schlaf begegnen könnte: Janis. Ich werde ihm seine Lieblingsschokolade kaufen und ihn im Krankenhaus besuchen. Schließlich habe ich mir den morgigen Tag im Sender freigenommen und genug Zeit für einen Ausflug. Und dann werde ich mit Janis einen Plan schmieden, wie wir den Mordanschlag auf Bruno Wunderlich aufklären werden. Egal, was Kay Nummer eins, zwei oder drei dazu sagt.

*

Soweit ich das beurteilen kann, sieht Janis unter seinem eindrucksvollen Kopfverband ziemlich gut gelaunt aus. Er winkt mir fröhlich zu, als ich in sein Zimmer komme.

»Hey, Chefin. Schön, dass du vorbeikommst!«

Ich setze mich auf seine Bettkante und drücke seinen Unterarm zur Begrüßung.

»Hallo, Janis. Du siehst heute deutlich besser aus als gestern. Ich hatte riesige Angst um dich!«

Janis grinst.

»Mit Recht! Fast hätte ich in Ausübung meiner Pflicht die Grätsche gemacht.«

»Du Armer! Wir hätten dir natürlich in der Redaktion ein Heldendenkmal errichtet«, erwidere ich, woraufhin Janis so lachen muss, dass es offensichtlich schmerzhaft wird. Jedenfalls verzieht er auf einmal das Gesicht und stöhnt.

»Sorry, so ganz heldenhaft fühle ich mich doch noch nicht. Wie geht es Helena? Sie war mit mir am Strand, aber ich kann sie nicht erreichen und mache mir große Sorgen.«

»Helena geht es gut«, versichere ich ihm. »Sie hat nichts abbekommen, jedenfalls nicht körperlich. Einen Schock hat sie natürlich schon, deswegen haben die Ärzte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie ruht sich zu Hause aus.«

»Puh, zum Glück! Das ist gut zu wissen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich keinen blassen Schimmer, was genau gestern Vormittag eigentlich passiert ist. Das Letzte, an das ich mich noch erinnere, ist, dass ich am Strand stehe und einen älteren Herrn frage, wie ihm die Show gefällt. Sie war ihm zu laut, das war in etwa seine Antwort. Danach weiß ich nichts mehr.«

»Okay, ich sehe schon – du hast den Hauptfilm verpasst.«

Janis fängt wieder an zu kichern, hält dann aber die Luft an und atmet ein paar Sekunden später ganz langsam aus.

»Chefin, du bist doch sonst nicht so lustig! Und damit musst du auch nicht unbedingt jetzt anfangen. Bleib lieber so humorlos wie immer!«

Wie bitte? Unverschämtheit!

»Mein lieber Janis, wenn du nicht einen Kopfverband hättest, würde ich dich dafür ordentlich am Ohr zupfen. Ich bin witzig und schlagfertig, das ist gewissermaßen mein Markenzeichen.«

Janis seufzt gespielt dramatisch.

»Wenn du es sagst …«

»Ja, sage ich. Und ich sage dir noch mehr – nämlich, was dir in deiner Erinnerung abhandengekommen ist.«

»Gerne.« Er setzt sich in seinem Krankenbett auf und schaut mich interessiert an. Ich gebe ihm also eine Zusammenfassung der Ereignisse und ende mit der dramatischen Rettungsszene.

»Jedenfalls bin ich sofort zum Strand runtergerannt und habe dich gesucht. Du lagst bewusstlos im Sand, und Helena kniete neben dir. Wir hatten Mühe, die Blutung an deinem Kopf zu stoppen.«

»Puh, da habe ich ja echt Glück gehabt! Was ist mit Wunderlich? Hat er die Explosion überlebt?«

»Nein, er konnte nur noch tot aus dem Meer geborgen werden.«

Wir schweigen beide einen Moment, und ich versuche, das plötzlich vor meinem inneren Auge erscheinende Bild der beiden Taucher, die den leblosen Körper von Wunderlich aus der Ostsee ziehen, zu verscheuchen. Es gelingt mir nicht ganz, ich merke, wie mir flau wird.

»Alles okay?«, will Janis wissen.

Ich nicke.

»Ja, es war gestern nur ein unglaublich anstrengender Tag, den habe ich noch nicht weggesteckt. Zum Glück habe ich heute frei und kann es etwas ruhiger angehen lassen. Ich fahre auch gleich wieder, ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht. Aber hier ist ja so weit alles in Ordnung. Weißt du schon, wie lange du noch bleiben musst?«

»Nicht genau. Vermutlich noch ein, zwei Tage. Ich habe eine Gehirnerschütterung, und sie wollen sichergehen, dass sich die Nähte nicht entzünden. Ansonsten bin ich wie neu. Schätze, dass ich spätestens Mittwoch wieder draußen bin.«

»Soll ich dir morgen noch etwas vorbeibringen? Lesestoff? Süßigkeiten? Noch eine Schokolade?«

»Ganz lieb von dir, aber meine Eltern kommen nachher und haben vermutlich einen ganzen Präsentkorb dabei.«

»Aber meine Eltern kommen nicht«, mischt sich in diesem Augenblick eine mir unbekannte Stimme aus Richtung Zimmertür ein. »Und erst recht nicht mit Präsentkorb. Also wenn du bei deinem nächsten Besuch Schokolade mitbringst, nehme ich sie gern.«

Überrascht drehe ich mich um. Im Türrahmen lehnt ein junger Mann in einem grauen Jogginganzug, sehr blass, raspelkurze schwarze Haare, und grinst mich an.

»Willst du mich der Dame nicht vorstellen, Janis?«

»Äh, ja, Franzi, das ist mein Bettnachbar Damian.«

»Sehr erfreut«, grüßt Damian betont förmlich und deutet einen kleinen Diener an.

»Hallo«, erwidere ich kurz angebunden. Irgendwie ist mir der Typ suspekt.

»Du bist eine Kollegin von Janis?«, will er wissen.

»Ja«, bleibe ich knapp.

»Dann bist du die Lady, mit der Janis hier zur Inselberühmtheit aufgestiegen ist?«

Inselberühmtheit? Das ist nun wirklich stark übertrieben. Ich muss allerdings zugeben, dass mir Damian spontan etwas sympathischer wird.

»Na ja, was heißt schon Berühmtheit«, wiegle ich ab.

»Doch, doch. Stimmt schon. Ihr seid doch die beiden, die schon zwei Morde aufgeklärt haben, oder? Ziemlich cool!«

»Danke für das Kompliment«, sage ich höflich und drehe mich wieder zu Janis. »So, ich werde dann mal losfahren.«

»War es Mord?« Damian scheint weiteren Gesprächsbedarf zu haben. Er geht zu seinem Bett und setzt sich so, dass er mich und Janis genau im Blick hat.

»Mord?«, wiederhole ich.

»Ja. An Bruno Wunderlich, meine ich. Die Sache mit der Explosion. Ich habe natürlich schon davon gehört. Kommt ja nicht so häufig vor, dass auf Usedom was in die Luft fliegt.«

»Hm, das weiß ich nicht. Klar, es könnte schon ein Anschlag gewesen sein. Oder ein tragischer Unfall. Die Polizei untersucht gerade die Trümmer.«

»Ich lege mich fest: Das war Mord!«, sagt Damian im Brustton der Überzeugung. »Bruno hatte Dreck am Stecken, und zwar nicht zu knapp. War nur eine Frage der Zeit, bis dem mal jemand ans Leder wollte.«

War ich eben noch ein bisschen genervt von dem Smalltalk mit Damian, bin ich mit einem Mal ganz Ohr.

»Dreck am Stecken?«, wiederhole ich neugierig.

Damian nickt.

»Ja, und wie! Ich weiß, Mafia ist ein großes Wort. Aber im Zusammenhang mit Wunderlich passt es haargenau. Er war mindestens Teil der Inselmafia. Da macht man sich eben auch Feinde.«

»Echt?« Janis ist natürlich sofort genauso elektrisiert wie ich. »Inselmafia? Das musst du uns genauer erzählen! Was meinst du damit?«

»Wunderlich war beteiligt an allen Geschäften, die die Mafia eben so macht: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, so was in der Art.«

»Auf Usedom?« Ich kann es kaum glauben. Vermutlich will der Typ sich wichtigmachen.

»Natürlich auf Usedom. Oder denkst du, das sei die Insel der Glückseligen? Organisierte Kriminalität gibt es hier genauso wie auf dem Festland. Und Bruno Wunderlich hat da kräftig mitgemischt.«

»Woher willst du das wissen?«, hakt Janis nach.

»Ich weiß es eben«, gibt sich Damian geheimnisvoll. »Ich würde sagen, deine Freundin kommt nachher mit einer großen Tafel Schokolade wieder, dann erzähle ich, was ich weiß. Meine Lieblingssorte ist übrigens Milka.« Er grinst mich breit an. Will der etwa mit mir flirten? Der Typ ist nicht älter als Anfang, Mitte 20 und damit vermutlich ungefähr zehn Jahre jünger als ich. Bisher war das nicht gerade mein Beuteschema, aber egal: Wenn eine Tafel Schokolade dazu führt, dass wir nähere Informationen über Bruno Wunderlich bekommen, bringe ich gern eine mit.

»Was hältst du davon: Du erzählst jetzt noch ein bisschen mehr, und ich bringe dir sogar die gute 300-Gramm-Milka mit?«, schlage ich vor. Damian überlegt noch, als die Tür aufgeht.

»So, es ist Zeit für den Verbandswechsel. Und ein bisschen Ruhe.« Eine Krankenschwester kommt mit einem Wägelchen voll Verbandsmaterial, Medikamenten und einem elektronischen Fieberthermometer ins Zimmer gerollt. »Ich muss Sie jetzt leider bitten zu gehen«, spricht sie mich an und lächelt freundlich. »Ich weiß, den beiden Herren hier ist vermutlich langweilig, aber so gut, wie sie sich fühlen, geht es ihnen noch gar nicht.«

»Schwester, ich bin schon wieder in Topform«, widerspricht ihr Damian und reißt wie zum Beweis beide Arme in die Höhe. Die Schwester gibt sich davon allerdings unbeeindruckt.

»Nein, Sie brauchen beide Ruhe. Und ich muss mir jetzt außerdem die Nähte ansehen und Ihre Temperatur messen.«

»Alles klar, ich bin schon weg«, rufe ich, schnappe mir meine Handtasche vom Fußboden und hauche Janis einen angedeuteten Luftkuss zu. »Bis dann, mein Lieber!«

»Hey, und was ist mit mir?«, beschwert sich unser neuer Freund.

»Ich schaue später noch mal vorbei, und dann bekommst du eine Tafel Milka Info-Honorar.«

Ich winke beiden Patienten zu und verschwinde.

3

»Inselmafia? Drogen? Schutzgelderpressung?«

Kay klingt extrem skeptisch als ich ihm später von zu Hause aus am Telefon berichte, was mir Damian erzählt hat.

»Wieso? Glaubst du, dass es das auf Usedom nicht gibt? Ich dachte, du freust dich, dass ich dir sofort meine neuesten Erkenntnisse mitteile«, sage ich und bin etwas beleidigt. Sonst war Kay immer sehr erpicht darauf, von meinen Rechercheergebnissen zu erfahren. Kein Wunder – schließlich ist es keine Übertreibung, wenn ich sage, dass er unsere ersten beiden Fälle ohne mich niemals so schnell gelöst hätte. Warum er jetzt so tut, als ob ich zu viele schlechte Filme geguckt hätte, weiß ich nicht.

»Natürlich gibt es auch Drogenhandel auf Usedom. Aber wenn Bruno Wunderlich in der Szene aktiv gewesen wäre, hätten wir es auch schon mitbekommen. Bei den Kollegen von der Organisierten Kriminalität ist er allerdings ein unbeschriebenes Blatt, das habe ich selbstverständlich schon überprüft. Ich glaube, da bist du in eine Märchenstunde geraten.«

»Na gut, wenn es dich nicht interessiert … aber beschwere dich hinterher nicht, wenn ich mal wieder die Nase vorn habe.«

Kay lacht. Gönnerhaft, wie ich finde.

»Die Nase vorn? Ich bitte dich. Wann hattest du denn schon mal die Nase vorn? Außerdem ist das hier kein Wettrennen, sondern ich ermittle vermutlich in einem Mordfall.«

So. Jetzt bin ich wirklich eingeschnappt. Aber ich beschließe, mir das nicht weiter anmerken zu lassen, verabschiede mich schnell und lege auf. Meine Laune kann er mir heute sowieso nicht verderben, denn ich werde nach meinem erfolgreichen Krankenhausbesuch nun zum nächsten Highlight des Tages aufbrechen: Ich kaufe mir gleich ein neues Fahrrad – Rechnung bitte an Bäderland-Radio! Und dann werde ich mal in Ruhe darüber nachdenken, wie ich noch etwas über Bruno Wunderlich herausfinden kann, was meine neue These stützt: nämlich dass Bruno Wunderlich Opfer seiner kriminellen Machenschaften wurde. Das wäre wahrscheinlich die schnellste Auflösung eines Kriminalfalls, den die Insel je gesehen hat. Wenn Kay Lorenz lieber in Beamtenmanier weiterermitteln will – bitte sehr.

Eine gute Quelle für meine weiteren Recherchen ist vermutlich Manni, der Mann meiner Freundin Katja. Als echter Usedomer weiß er meistens genau, wer den Ruf hat, in dubiose Geschäfte verstrickt zu sein, und was dann davon zu halten ist. Ich sollte unbedingt mal bei Manni in der Küche vorbeischauen. Der ist bestimmt gerade damit beschäftigt, Gästen sein berühmtes Langschläfer-Frühstück zuzubereiten. Ein solches könnte ich jetzt auch gut vertragen, ich habe vor meinem Krankenhausbesuch lediglich einen Kaffee getrunken.

Ich liege richtig: Manni steht am Herd, als ich auf dem Weg zur Terrasse in der Küche vorbeischaue.

»Guten Morgen, du rasende Reporterin«, begrüßt er mich freundlich. »Du warst ja gestern im Dauereinsatz!«

»Ja, das war ein unglaublicher Tag. Und natürlich schrecklich, so ein Anschlag. Kanntest du Bruno Wunderlich eigentlich?«, steuere ich zielstrebig auf den Grund meines Besuchs zu.

»Nur sehr flüchtig«, antwortet Manni zu meiner Enttäuschung. »Netter Kerl, ein bisschen verrückt, aber sonst in Ordnung.« Er macht eine kurze Pause. »Also, was ich so weiß. Aber da du es vermutlich genauer brauchst, kann ich mich gern mal umhören.«

»Also wenn du das für mich machen würdest«, flöte ich mit einem hoffentlich unwiderstehlichen Augenaufschlag.

»Klar«, grinst Manni. »Deswegen stehst du doch hier und hältst mich von der Arbeit ab, oder?«

Ich muss kichern.

»Na ja, eigentlich wollte ich dich auch fragen, ob ich zwei Spiegeleier mit Speck und Toastbrot bekommen kann.«

»Sollst du haben. Dann setz dich mal raus, Katja bringt sie dir gleich vorbei.«

Auf einen Teil der Terrasse scheint schon sehr einladend die Sonne, ich suche mir ein Plätzchen im Halbschatten und mache es mir gemütlich. Außer mir sind erst zwei weitere Tische besetzt, der Montag startet also sehr friedlich hier im Inseltreff. Als ich eine Weile sitze, merke ich, dass ich noch ganz schön müde bin. Ich rücke meinen Stuhl etwas in die Sonne, klappe die Lehne zurück und schließe die Augen. Mit den warmen Strahlen auf meinem Gesicht dauert es nicht lange, und ich döse ein bisschen weg.

Geweckt werde ich von einem Schatten, der auf mich fällt und mich auf einmal ein bisschen frösteln lässt. Ich öffne die Augen und erwarte Katja mit den Spiegeleiern. Falsch. Vor mir steht nicht Katja, sondern: Kay Lorenz.

»Guten Morgen! Habe ich dich geweckt?«

Ich setze mich gerade hin.

»Nicht wirklich. Ich habe mich nur ein bisschen ausgeruht.« Ich mustere Kay, der anscheinend noch überlegt, ob er sich zu mir setzen soll, jedenfalls hat er seine Hand auf die Lehne des Stuhls neben mir gelegt und schaut unschlüssig. Ich könnte ihm jetzt einen Platz anbieten. Mache ich aber nicht.

»Was willst du hier?«, frage ich ihn stattdessen. »Deine Jacke abholen?« Ich merke selbst, dass ich ziemlich einsilbig und unfreundlich klinge, aber ich fürchte, ich bin noch ein bisschen beleidigt.

»Hey, Mai, nun sei mal nicht so«, sagt Kay und setzt sich jetzt ohne Aufforderung. »Ich hatte gerade Janine im Auto, und dein Anruf kam über die Freisprecheinrichtung. Ich wollte nicht, dass sie den Eindruck bekommt, dass ich munter alle meine Fälle mit dir bespreche.«

Janine Lamott ist auch Hauptkommissarin in Anklam. Sie leitet den Kriminaldauerdienst, bei unserem letzten Fall war sie allerdings Kopf der zuständigen Soko, und deswegen weiß sie erstens genau, wer ich bin, und zweitens auch, dass es der Kripo bisher nie geschadet hat, sich mit mir auszutauschen. Insofern ist das hier eine lahme Ausrede von Kay.

»Kay, das ist doch Quatsch. Seit wann darf denn Janine nicht mitbekommen, dass wir uns über einen Fall unterhalten? Außerdem wollte ich dir Informationen geben, nicht umgekehrt.«

Ein tiefer Seufzer.

»Du bist einfach zu schlau, Franzi. Man kann dir nichts vormachen. Ich hatte nicht nur Janine an Bord, sondern auch Frau de Santis.«

Aha. Die Frau Staatsanwältin also. Vor der hat Kay unglaublich Respekt, und leider hat er mich bei den wenigen Malen, die ich auf diese Frau getroffen bin, unglaublich blöd aussehen lassen. Meine Stimmung verbessert sich nicht gerade, auch wenn das natürlich die seltsame Reaktion von Kay erklärt.

»Nun guck nicht so, Franzi. Es ist für mich einfach unangenehm, wenn ich in Gegenwart der Staatsanwältin so rüberkomme, als wäre ich auf Tipps von dir angewiesen.«

Ich verschränke die Arme vor meiner Brust.

»Unsinn! Du bist nicht auf Tipps angewiesen, sondern bestens vernetzt. Frau de Santis sollte sich lieber darüber freuen. Das macht sie wahrscheinlich auch, und das Problem gibt es nur in deinem Kopf.«

»Guten Morgen, Herr Lorenz! Auch ein paar Spiegeleier für Sie?« Katja taucht mit meinem Teller an unserem Tisch auf.

»Nein, danke. Ich habe schon gefrühstückt.«

Katja stellt den Teller ab, nickt uns zu und dreht zu unserem Nachbartisch ab.

»Wenn du nicht hungrig bist und auch nicht auf der Suche nach deiner Jacke, was machst du dann hier?«, erkundige ich mich neugierig, während ich anfange, die Spiegeleier zu verspeisen. Kay grinst.

»Weil ich schon wusste, dass du dich schlecht von mir behandelt fühlst, habe ich Janine und de Santis am Tatort abgesetzt und bin sofort weiter zu dir gefahren.«

Gut, das ist natürlich sehr nett von Kay. Ganz glauben kann ich es nicht.

»Du bist nur wegen mir nach Bansin gefahren?«

»Nicht ganz. Ich bin auf dem Weg zur Firma von Wunderlich. Aber da sie auch in Bansin liegt, wollte ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«

»Fragt sich nur, was hier was ist.«

»Komm schon, sei nicht mehr beleidigt, Franzi. Stimmt schon – es ist super, dass du mir gleich die Infos über Wunderlich weitergegeben hast. Wir können nämlich auf den ersten Blick nichts bei ihm finden, das irgendwie kriminell wirkt. Keine Vorstrafen, die Kollegen von der OK haben auch noch nichts von ihm gehört. Ein tadelloser Geschäftsmann, so scheint es. Wie kommt dein Kontakt darauf, dass das nicht stimmen könnte?«

»Kann ich dir noch nicht genau sagen. Ich treffe ihn erst heute Nachmittag wieder. Gegen ein Info-Honorar erfahre ich dann mehr.«

»Ihr bezahlt eure Informanten?«

»In diesem Fall schon.«

»Okay, die Möglichkeit habe ich nicht. Frau de Santis kann höchstens mal einen Deal beim Strafmaß anbieten.« Kay überlegt kurz. »Wobei – wir haben auch schon mal so etwas wie 5000 Euro für sachdienliche Hinweise ausgelobt. Was bietet ihr denn so?«

»Ich komme etwas günstiger weg. Eine Tafel Milka, das ist der Deal.«

Kay zieht die Augenbrauen hoch, dann lacht er.

»Schokolade? Was ist das denn für ein Informant?«

»Erzähle ich dir vielleicht, wenn sich die Hinweise erhärten. Unter einer Bedingung.«

»Die wäre?«

»Du nimmst mich mit.«

»Nein.«

»Dann fahre ich dir einfach hinterher.«

Kay weiß, dass das mein voller Ernst ist. Und dass er mich auch nicht daran hindern kann, zu interviewen, wen ich will. Aber weil ich wiederum weiß, dass Kay diese Sorte Alleingänge hasst, und weil ich zugeben muss, dass wir bisher am besten waren, wenn wir aufeinander gehört haben, ringe ich mich zu einem Lächeln durch.

»Wenn du es überhaupt nicht willst, bleibe ich hier. Ich muss mir sowieso noch ein neues Fahrrad auf Redaktionskosten kaufen, bevor Raimund vergisst, dass er mir das versprochen hat.«

Kay atmet tief durch. Da ist aber jemand erleichtert!

»Danke für deine Einsicht. Und du kannst mir glauben – ich verstehe dich. Dieser Fall ist auch dein Fall, und ich verspreche dir, dass ich nicht versuchen werde, dich von Informationen abzuschneiden. Aber ich will mir in der Firma von Wunderlich erst mal ein Bild von der Lage machen, und wenn wir da jetzt zu zweit aufkreuzen, könnte das mögliche Zeugen verschrecken.«

Ernsthaft – das leuchtet mir nun überhaupt nicht ein.

»Warum sollte das Zeugen verschrecken?«, frage ich daher.

»Nicht jeder will gleich mit der Presse sprechen. Du bist mittlerweile einfach ziemlich bekannt, liebe Franzi.«

»Ach, und du meinst, die Leute sprechen lieber mit den Bu… also lieber mit der Polizei?«

»Natürlich. Wer ein reines Gewissen hat, braucht schließlich nichts zu befürchten, sondern kann seiner Staatsbürgerpflicht nachkommen und bei der Aufklärung eines Verbrechens helfen.«

Kay trägt das mit so ernster Miene vor, dass ich mich leider nicht mehr beherrschen kann und in schallendes Gelächter ausbreche.

»Staatsbürgerpflicht? Dein Ernst?«, pruste ich los und ernte einen bösen Blick vom Hauptkommissar. Also atme ich tief durch und fahre in ruhigerem Tonfall fort. »Sorry, war nicht böse gemeint. Aber nach meiner Lebenserfahrung haben viele Menschen Angst vor der Polizei, auch wenn sie gar nichts gemacht haben. Mir hingegen vertrauen sie sich gern an.«

»Gegen eine Tafel Schokolade«, bemerkt Kay sarkastisch.

»Ja, manchmal auch das. Aber fahr du einfach mal zu den Bruno’s Brothers und fühle denen auf den Zahn, ich arbeite so lange mit meinen Quellen. Mal sehen, wer mehr Erfolg hat.«

»Also ist es doch ein Wettrennen?«

»Vielleicht.«

Kay zuckt mit den Schultern.

»Wenn du meinst … ich fahre dann mal los. Lass uns später telefonieren.« Er grinst. »Dann können wir vergleichen, wer mehr herausgefunden hat.«

Ich zeige ihm einen Vogel.

»Das hättest du wohl gerne! Der Nächste, der hier offenlegt, was er herausgefunden hat, bist du. Vorher gibt’s von mir gar nichts mehr.«

»Nicht mal ’ne Tafel Schokolade?«

»Frechheit!«

Bevor ich Kay meine Serviette um die Ohren hauen kann, springt er lachend von seinem Stuhl auf, winkt mir zu und spaziert fröhlich pfeifend von der Terrasse. Na, warte! Wir werden schon noch sehen, wer hier am Ende die Nase vorne hat.

*