Todessamen - Nicole Siemer - E-Book
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Nicole Siemer

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Beschreibung

»Der Todessamen wird sprießen!«

Grubingen – ein Ort, der auf keiner Karte zu finden ist. Keine Ausschilderung führt dorthin, und doch lebt eine Gemeinde dort. Umgeben von einem Wald, der besser nicht betreten wird.Jessie lebt bereits seit ihrer Geburt in Grubingen. Einsam und mit sich selbst im Unreinen, hat sie den Tod ihrer Eltern nie verkraftet. Sie ist eine Waise und ihre Freundin Jenny lässt sie das auch regelmäßig spüren. Schon oft drohte Jessie, sich in ihrer Trauer zu verlieren, doch ein Geschenk ihrer Eltern, das sie zu ihrem fünften Geburtstag bekam, bewahrte sie davor: eine alte Ausgabe von Alice im Wunderland. Die Geschichte wurde schnell zu einem Rückzugsort, der sie vor der realen Welt beschützte und träumen ließ.

Jessies Vorstellungskraft war schon immer enorm. So trat als Kind ein imaginärer Freund namens Sam an ihre Seite, gerade, als ihr das Leben im Heim unerträglich erschien. Nach einem verheerenden Zwischenfall schickte sie ihn jedoch weg und vergaß ihn sogar im Laufe der Jahre. Bis zu jenem heutigen Tage, an dem sie ihn plötzlich am Waldrand stehen sieht. Sie folgt ihm hinein in den gefährlichen Grubinger Forst und gelangt so in eine fremde Welt. In Sams Welt.

Nie hätte sie gedacht, dass ihr Wunderland tatsächlich existieren könnte. Und Sam ...

Was zunächst den Anschein einer Idylle erweckt, verwandelt sich schon bald in einen wahren Albtraum ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Danksagung März 2019
Ergänzung
Weitere Veröffentlichungen
Trigger-Hinweise
Leseprobe Akuma
Kapitel 1

 

 

Todessamen

 

Nicole Siemer

 

 

 

 

 

Über die Autorin:

 

Nicole Siemer wurde 1991 in Papenburg (Emsland, Niedersachsen) geboren. Seit dem Abschluss ihres Belletristik-Fernstudiums an der Schule des Schreibens 2017 widmet sie sich in erster Linie unheimlichen Geschichten mit philosophischem Einschlag. Nebenbei schreibt sie Kurzgeschichten, die sie auf ihrem Blog https://dreiwoerter.de kostenlos zur Verfügung stellt.

 

Todessamen

 

 

Nicole Siemer

 

 

Todessamen

 

 

 

www.empire-verlag.at

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

© April 2021 Empire-Verlag

 

Empire-Verlag OG, Lofer 335, 5090 Lofer

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise– nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Lektorat: Birgit Westreicher

 

Covergestaltung: Chris Gilcher für Buchcoverdesign.de https://buchcoverdesign.de

 

Coverabbildungen: Adobe Stock ID118987352, Adobe Stock ID 350507618

 

Texturen Designed by Freepik.com

 

Trigger-Hinweise: siehe Inhaltsverzeichnis oder folge diesem Link: https://dreiwoerter.de/2020/11/13/trigger-hinweise-todessamen/

Vorwort

 

Die Erstauflage von Todessamen ist im April 2019 erschienen. Damals war ich wahnsinnig nervös. Meine erste Veröffentlichung! Menschen würden mein Buch lesen! Freunde, sogar Fremde! Was würden sie davon halten?

Ich bin ein eher ängstlicher Mensch, introvertiert und selbstkritisch, aber ich habe es getan. Ich habe den Roman veröffentlicht und es nicht bereut.

Als der Empire-Verlag und ich uns für eine Neuauflage entschieden haben und der Text erneut lektoriert wurde, konnte ich merken, wie sich mein Schreibstil weiterentwickelt hat. Er ist lange nicht perfekt, das wird er nie sein, denn Autor:innen lernen nie aus, wie ich immer wieder erwähne, aber er hat sich verbessert und das freut mich ungemein.

Aber ich möchte nicht lange schwafeln. Ich wünsche euch auf eurer Reise mit Jessie ganz viel Spaß. Achtet auf die Katzen, die euch auf eurem Pfad begegnen, das könnte euch möglicherweise das Leben retten.

Für die Lingener Straßenkatze

Kapitel 1

 

Der Abgrund lockt sie. Und er jagt ihr eine Heidenangst ein.

Jessie lässt den Blick über ein Meer aus Schwärze schweifen und fragt sich, wie weit die Dunkelheit reicht.

Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder fallen und sterben, oder – nein, genau genommen bleibt nur diese Option.

Direkt vor ihr erstreckt sich ein Seil, kaum breiter als ihr großer Zeh. Es scheint ins Nichts zu führen.

Doch glänzen dort hinten nicht zwei Lichtpunkte, klein wie Glühwürmchen, regungslos in der Luft? Hin und wieder verschwinden sie, um kurz darauf erneut aufzutauchen.

Irgendetwas an diesen Punkten kommt Jessie bekannt vor, ja sogar vertraut, und sie zögert nicht lange, bis sie den Fuß auf das Tau setzt. Es ächzt und wölbt sich der Dunkelheit entgegen, aber es wirkt, als könnte es ihr Gewicht tragen. Und wenn nicht, falle ich eben bis zum Mittelpunkt der Erde oder gleich darüber hinaus, denkt sie. Vielleicht lande ich auf etwas Weichem wie einer Wolke oder Zuckerwatte.

Jessie schiebt den Gedanken zur Seite und konzentriert sich auf die beiden Lichtpunkte, die ein weiteres Mal kurz verschwinden und wieder erscheinen. Sie streckt die Arme zu beiden Seiten aus, nimmt einen tiefen Atemzug und setzt den zweiten Fuß auf das Tau. Erneut stöhnt es auf, protestiert unter der Last. Doch es hält.

Die Lichtkugeln erinnern Jessie an die Reflektoren eines Fahrrads, wenngleich ihre Farbe eher grünlich statt gelb ist. »Leuchte, guter Mond, leuchte«, sagt sie und macht einen weiteren Schritt. Das Tau schwankt bedrohlich unter ihren Füßen. Ich falle! Wie ein Betrunkener wankt sie, rudert mit den Armen, um die Balance zu halten.

Jessie spürt die gähnende Leere des Nichts. Ihr Atem geht stoßweise und hallt von unsichtbaren Wänden wider. Und mit einem Mal überkommt sie das Gefühl, nicht länger allein zu sein. Irgendetwas versteckt sich dort unten, beobachtet sie mit gierigen Blicken. Es wartet nur darauf, dass sie einen Fehler begeht und damit ihr Schicksal besiegelt.

Schon glaubt Jessie zu spüren, wie sich eine kalte Hand – oder Klaue oder eine klauenähnliche Hand – um ihren Knöchel legt. Sie würde sich glitschig und aufgedunsen anfühlen, aber dennoch eisern zupacken. Und sie würde den beißenden Gestank des Todes mit sich bringen. Mit einem einzigen Ruck würde das Ding Jessie nach unten ziehen, in die Dunkelheit.

Hört sie nicht schon die Atemzüge dieses Wesens? Gurgelnd wie die eines Ertrinkenden, doch gleichzeitig ekstatisch wie die eines Jägers kurz vor dem Fang seiner Beute?

Jessie wird abwechselnd heiß und kalt. Die Härchen auf Armen, Beinen und Nacken stellen sich auf und der Schweiß läuft ihr über Stirn und Rücken.

Hör auf mit dem Scheiß. Konzentrier dich auf die Lichtpunkte dort drüben. Und werd jetzt ja nicht ohnmächtig!

Jessie holt tief Luft und setzt ihren Weg fort. Sie versucht, nicht mehr auf das protestierende Seil zu achten oder ihrem eigenen Atem zu lauschen; sie bemüht sich, das Wesen in der Dunkelheit zu ignorieren, das ihr wieder ein Stückchen näher gekommen ist. Alles, was zählt, sind die kleinen runden Lichtpunkte da vorne.

Abbröckelndes Geröll in der Dunkelheit.

Wieder kämpft sie um ihre Balance. Hektisch suchen ihre Augen die Umgebung ab. Etwas bewegt sich unter ihr. Es ist nahe. Zu nahe.

So schnell es ihr auf dem schwankenden Seil möglich ist, setzt Jessie einen Fuß vor den anderen. Ihre Brust hebt und senkt sich rasch. Schweiß läuft ihr in die Augen. Sie versucht ihn wegzublinzeln, um die Lichtpunkte nicht zu verlieren, doch es brennt, als wäre ihr Shampoo hineingelaufen, was es ihr unmöglich macht, klar zu sehen.

Sie wankt weiter. Muss weiter. Das Wesen in der Dunkelheit ist ihr auf den Fersen. Sie darf es keinesfalls ansehen. Der bloße Anblick würde sie sofort wahnsinnig werden lassen.

Jessie wimmert leise, während sich unter ihr mehr Geröll löst und ihr Verfolger näher kommt.

Die grünlichen Lichtpunkte bleiben, wo sie sind. Nur hin und wieder verschwinden sie für den Bruchteil einer Sekunde und immer, wenn das geschieht, setzt Jessies Herzschlag mit ihnen aus.

Sie spurtet los, kümmert sich nicht darum, wohin sie tritt. Zu sehr fürchtet sie, von dem lauernden Wesen gepackt zu werden, zu stechend ist der Geruch faulenden Fleisches.

Und dann, wie aus dem Nichts, erkennt Jessie Konturen. Zuerst entdeckt sie zwei Dreiecke über den Lichtpunkten wie winzige, schwebende Pyramiden. Der Umriss eines Kopfes erscheint, der die Punkte umschließt.

»Cheshire?«, krächzt Jessie.

Licht drängt die Dunkelheit zurück und gibt den Blick auf die andere Seite des Abhangs frei. Am Ende des Seils, in eine Kuppel aus Licht getaucht, sitzt eine Katze. Ihr grauschwarz getigertes Fell ist schmutzig und verfilzt, ihr Körper ausgemergelt. Doch in ihren grünen Augen schimmert etwas, das Jessie ein Gefühl der Sicherheit schenkt.

»Cheshire.«

Cheshire antwortet nicht. Sie sitzt stumm da und ihre Augen blitzen, fast als wolle sie prüfen, ob Jessie dieser Aufgabe gewachsen ist oder ob sie aufgeben und in die Dunkelheit stürzen wird.

Jessie ist etwa einen Meter von dem sicheren Felsvorsprung, auf dem ihre Freundin wartet, entfernt. Sie verlagert ihr Gewicht auf ein Bein, holt mit den Armen Schwung (etwas Gallertartiges streift dabei ihren Knöchel), wirft die Arme nach vorne und …

 

* * *

 

Dunkelheit.

Ich hab es nicht geschafft. Ich – Jessies Hand tastete umher, fand den Lichtschalter und drückte ihn. Licht explodierte, kleine Nadeln stachen in ihre Augäpfel und sie presste die Fäuste dagegen.

»Ein Albtraum. Oh, verdammt. Au, au, au.«

Nachdem sich der Schmerz gelegt hatte, sah sie sich um. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich orientiert hatte. Sie war wieder einmal im Wohnzimmer eingeschlafen.

Jessie lag, mit einer Wolldecke bedeckt, auf der Couch. Ein Bein ragte unter der Decke hervor. Ihr Fuß wurde von dem kleinen Glastisch gestützt, von dem eine große Ecke abgebrochen war. Auf Jessies Bauch lag ein aufgeschlagenes Buch. Sie nahm es in die Hand – eine abgegriffene Ausgabe von Alices Abenteuer im Wunderland –, tastete unter der Decke nach dem Lesezeichen, fand es, steckte es zwischen die Seiten und legte das Buch auf den Tisch.

»Dein erster Tag ohne Aufpasser und du verbringst die Nacht wie irgend so ein Penner auf der Couch. Yay, Jessie. Dein Rücken wird’s dir danken.«

Und als hätte ihr Rücken sie gehört, breitete sich schlagartig ein ziehender Schmerz in ihrer Lendengegend aus. Jessie stöhnte und rieb sich die schmerzende Stelle.

Sie schlief neuerdings oft mit einem Buch auf der Couch ein und erwachte jedes Mal mit dem gleichen Ziehen. Manche Menschen lernten einfach nicht dazu.

Die schwarze Eckcouch – Jessie hatte sie auf ebay ersteigert und wusste weder wie alt sie war, noch wer sonst alles darauf geschlafen hatte – war so durchgelegen, dass sich eine sichtbare Kuhle gebildet hatte. Sie besaß ihre Macken. Genau wie Jessie.

»Irgendwann bricht mir das Ding unter dem Arsch weg oder ich werde von einer Sprungfeder attackiert, die mir das Rückgrat zertrümmert. Ach Mist, mein verfluchter Rücken.«

Jessie stand auf, hob die Arme über den Kopf, faltete die Hände und streckte sich, bis einzelne Wirbel und die Schulterblätter knackten.

Als Kind hatte sie aufgeschnappt, dass Menschen tagsüber schrumpften. Wegen der Erdanziehungskraft. Eins fünfundsechzig war in ihren Augen klein genug. Sie hatte befürchtet, eines Tages auf Zwergengröße zu schrumpfen, und sich daher schnell angewöhnt, sich jeden Morgen zu recken und zu strecken, bis sie meinte, mehrere Zentimeter gewachsen zu sein.

Nach diesem Ritual schlurfte Jessie ins Badezimmer und griff nach der Zahnbürste. Widerwillig warf sie einen Blick in den Spiegel und schnaufte. Ihr Haar hing schlaff herab und verdeckte einen Großteil ihres Gesichts. »Sieben Tage …«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.

Jessie wurde nachgesagt, sie habe Ähnlichkeit mit Samara aus dem Film The Ring. Vergleichbare Statur, große, kantige Hände, langes, ponyloses Haar – eine Spur zu hell, aber wer würde denn kleinlich sein? Ihr selbst fiel kaum Ähnlichkeit auf. Zumal sie nie schmutzige, weiße Kleidchen trug. Genauer gesagt trug sie überhaupt keine Kleider. Sie war eher der sportliche Typ: Jeans, T-Shirt oder Kapuzenjacke und Turnschuhe, am liebsten in Converse-Optik. Was hatte das mit Samara zu tun? Lediglich die Tatsache, dass sie ihr Gesicht gerne hinter den Haaren versteckte, passte in das Bild.

Zwar fand sie sich nicht hässlich, jedoch auch nicht sonderlich hübsch. Eher stufte sie sich als Mittelmaß ein: ein Allerweltsgesicht mit graublauen Augen, einer Stupsnase und schmalen Lippen. Die Narbe an ihrer linken Augenbraue, die sie sich als Kind beim Hexe-Spielen im Park zugezogen hatte – ein Unfall mit einem spitzen Zweig, der ihr als Zauberstab gedient hatte –, hob sie dafür von anderen Durchschnittsmenschen ab. Sie mochte diese Narbe. Sie gab ihr das Gefühl, verrucht auszusehen.

Nach einer heißen Dusche schlenderte Jessie zurück zur Couch. Sie schloss einen Moment die Augen und genoss die Stille. SozialeInteraktionen lagen ihr nicht. Da sie inzwischen Anfang zwanzig war, würde sich das nicht mehr ändern, auch wenn Freddie anderer Meinung war.

»Soziale Interaktionen sind wichtig, Jess«, imitierte sie ihn. »Soziale Interaktionen können dein Leben bereichern, Jess. Bla, bla, bla.«

Könnte ich doch bloß unsichtbar werden. So könnte ich den Menschen entkommen und mich zurückziehen. Ich könnte bei den Tieren leben. Bei Cheshire! Sie würde nie von mir verlangen, arbeiten zu gehen oder mich mit anderen Katzen zu unterhalten.

»Nur das Menschentier verhält sich anders, weil wir ja etwas Besonderes sind mit unseren großen Gehirnen.« Jessie rollte die Augen. »Oh, was für große Hirne wir doch haben. Es wäre nur gut, diese großen Hirne hin und wieder zu benutzen.«

Jessies Muskeln verkrampften sich und sie ballte die Hände zu Fäusten. Öffnete sie. Schloss sie. Öffnete sie. In Gedanken zählte sie bis zehn und nahm einen tiefen Atemzug.

Freddie hatte ihr beigebracht, mit Aggressionen fertig zu werden. Es war an der Zeit, die gelernten Methoden anzuwenden. Dieses Mal würde er nicht kommen, um sie zu überwachen.

Jessie starrte auf ihre Fernsehwand, ein schäbiges, altes Ding, das jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte. Die Gläser im mittleren Teil des Schranks schienen sie auszulachen. Nichts in dem Zimmer war neu, kein Möbelstück passte zum anderen. Doch daran störte Jessie sich schon lange nicht mehr. Mit ihrem Job in Lenhardt’s Waren verdiente sie gerade genug Geld, um über die Runden zu kommen. Neue Möbel mussten warten.

Jessies Blick wanderte zu der Stelle, an der normalerweise ein Fernseher stehen würde. Stattdessen befand sich dort eine Lavalampe. Freddie hatte sie ihr zum Einzug geschenkt.

»Damit du hier drinnen wenigstens ein bisschen Abwechslung hast«, hatte er gesagt und dabei die Andeutung eines Lächelns gezeigt. Freddie lächelte sonst nie. Er stellte meist denselben leeren Gesichtsausdruck zur Schau und sprach mit dieser monotonen, fast einschläfernden Stimme. Selbst wenn er wütend war, blieb sie unverändert. Das machte es schwer, seine Gemütslage einzuschätzen.

Jessie mochte Freddie, obwohl sie oft stinksauer auf ihn gewesen war.

Für einen Sozialpädagogen war er ganz okay.

 

* * *

 

»Mein erster Tag in Freiheit.«

Jessie stand am Küchenfenster und sah zum Himmel hinauf. Es versprach ein heiterer Frühlingstag zu werden. Vereinzelte Schäfchenwolken trieben umher wie Flöße auf ruhiger See. Die warmen Sonnenstrahlen schienen Jessie zu umarmen. Sie fühlte sich trotz des Albtraums der vergangenen Nacht ausgeruht und voller Tatendrang.

Ein Maunzen holte sie in die Wirklichkeit zurück. Auf der Straße unter dem Fenster saß Cheshire und ließ ihren Schwanz hin und her wiegen. Sie sah herauf und schien zu lächeln. Ihr Fell war weniger schmutzig und verfilzt als in Jessies Traum, doch Cheshire sah alles andere als gepflegt aus. Kein Wunder, sie war eine Streunerin. Die Straßenkatze Grubingens, die jedem Einwohner bekannt war und von den meisten gemocht wurde.

»Cheshire«, sagte Jessie und winkte der Katze zu. Als Antwort schloss diese die Augen und öffnete sie langsam wieder.

»Ich hab dich auch lieb, kleine Grinsekatze.«

Cheshire machte einen Satz auf die Fensterbank und maunzte erneut.

»Du hast Hunger, hm? Ich mach dir was Feines, Augenblick.«

Das ließ sich die Katze nicht zweimal sagen, sprang zurück auf den Boden. Sie wartete geduldig vor der Haustür, bis Jessie zurückkam, um ihr etwas Katzenmilch in eine Schale zu gießen und einen Teller mit Nassfutter daneben zu stellen. Während Jessie Cheshire den Rücken streichelte und ihrem Schnurren lauschte, machte sich die Katze genüsslich darüber her. Nichts entspannte mehr als dieses Schnurren.

»Wochenende«, sagte Jessie. »Heute ist mein erster Tag ohne Beobachtung und noch dazu ist das Wetter herrlich. Was meinst du? Ob ich mich heute mal nach draußen wagen soll, um dort zu lesen? In den Park zum Beispiel?«

Cheshire war zu beschäftigt mit schnurren, essen und trinken, um zu maunzen, zuckte dafür aber einige Male mit der Schwanzspitze.

»Meinst du echt? Heute ist sicher einiges los im Stadtpark.«

Ein Trillern folgte als Antwort. So viel zum Thema Tiere verstünden die menschliche Sprache nicht.

»Ist ja gut, du hast recht. Ich sollte mal an die frische Luft gehen. Okay, ich mach’s.«

Schnurrend schleckte Cheshire ihre Milch. Jessie strich ihr über die Flanke und ertastete die Rippen unter dem schmutzigen Fell.

Du hast genug gelitten. Das verspreche ich dir.

Cheshire war bei Menschen aufgewachsen, die eines Tages spurlos verschwunden waren und sie zurückgelassen hatten. Zur Straßenkatze verdammt, kroch sie seither auf der Suche nach Fressen in Mülltonnen herum, schlief unter Parkbänken und streunte ziellos umher. Manchmal sah man sie vor ihrem alten Zuhause in der Luisenstraße sitzen. Sie kommen zurück, sagten ihre Augen dann. Ihr werdet schon sehen. Doch sie kamen nicht, weswegen Cheshire jedes Mal vergebens auf der Stufe vor der Haustür saß und wartete.

Schon viele Menschen, Jessie eingeschlossen, hatten sich bemüht, Cheshire ein neues Zuhause zu geben, doch die Katze hatte bereits eines und vor diesem würde sie warten, bis sie wieder mit ihren Menschen vereint war.

Jessie schluckte schwer. Cheshires Schicksal traf sie tief. Sie beide wussten, wie es war, alles zu verlieren. Deswegen fühlte sie sich dieser Katze näher als allen anderen Lebewesen. Vielleicht war das der Grund, aus dem Cheshire so häufig zu ihr kam. Vielleicht bemerkte sie dasselbe unsichtbare Band zwischen ihnen.

Jessie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, gab Cheshire einen Kuss auf den Kopf und verschwand ins Haus, um ihr Buch zu holen.

Sie würde sich endlich der Welt stellen.

 

* * *

 

Jessie umklammerte ihr Buch wie ein Priester die Bibel. Die Frühlingssonne knallte ihr mit ungewohnter Heftigkeit ins Gesicht, sodass sie davor zurückwich. Du bist doch kein Vampir, Jess, hörte sie Freddie sagen. Tu was Verrücktes und geh raus, wenn du nicht arbeiten oder einkaufen musst.

»Ist ja gut.«

Sie verließ die Alfonsstraße und betrat den schmalen Achmetweg Richtung Innenstadt. Wenn ich erst den Amandusplatz hinter mir gelassen habe, wo es vor Leuten, die Eis essen und Kaffee trinken, nur so wimmelt, ist es nur noch ein Katzensprung zum Park. Das kriege ich hin.

Du benimmst dich wie ein Gefangener auf dem Weg zur Hinrichtung, Jess.

Mann, Freddie in seinem Kopf zu haben nervte vielleicht!

Im Laufe der Jahre war er ihre Stimme der Vernunft geworden. Eine Stimme, die ein Eigenleben zu führen schien. Meistens erzählte er ihr, wie dämlich sie sich mal wieder anstellte und was alles in ihrem Leben falsch lief.

Jessie hasste es, eine Stimme in ihrem Kopf zu haben, die unabhängig von ihrem Verstand zu denken schien. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, in einer Irrenanstalt aufzuwachen. Eingeschnürt in einer Zwangsjacke. Wie sie brüllend und mit blutunterlaufenen Augen gegen gepolsterte Wände sprang. Schließlich war es nicht normal, Stimmen zu hören. Darum hatte sie nie jemandem davon erzählt. Sollte Freddie ruhig seine kleinen Ansprachen halten. Solange er nicht eines Tages »töte sie alle« flüsterte, behielt Jessie ihr Geheimnis für sich.

Obwohl sie es meist als beängstigend empfand, sich ihren Kopf mit der Stimme ihres ehemaligen Sozialpädagogen zu teilen, hieß sie ihn heute willkommen. Ihre eigenen Gedanken brächten sie nur dazu, wieder umzukehren, die Jalousie zu schließen, und einen herrlichen Tag wie diesen im Dunkeln zu verbringen.

Dabei gab es keinen Grund, sich zu verstecken. Von nun an stand sie auf eigenen Beinen. Nach all den Jahren in einer Jugendwohngruppe zusammen mit acht weiteren Kindern, zwei Erzieherinnen und Freddie, besaß sie endlich eine eigene Wohnung.

Es hatte regelmäßige Kontrollbesuche gegeben, um zu sehen, wie die kleine, scheue Jessie sich ganz alleine in der Welt der Menschen zurechtfand. Bis die Besuche seltener geworden waren. Bis Freddie gestern gesagt hatte: »Du bist so weit, Jess.«

War sie das wirklich?

War sie bereit, sich der Welt zu stellen?

Bin ich das?

 

* * *

 

Der Amandusplatz.

Wie Jessie erwartet hatte: Menschen. Menschen. Und noch mehr Menschen. Kaum zeigte sich die Sonne, kamen sie aus ihren Verstecken wie Ameisen, die über ein Picknick herfielen.

Alle drei Eisdielen waren überfüllt: Auf den Tischen drängten sich Eisbecher und Kaffeetassen aneinander und die Leute tummelten sich um die viel zu kleinen Möbelstücke wie Pfadfinder um ein Lagerfeuer, während der Gruppenleiter seine Horrorgeschichten zum Besten gab. Die Hungrigen mussten sich dagegen gedulden – die Restaurants öffneten ihre Türen erst am Nachmittag. Scheinbar lockte der Kaffee die Leute mehr als Essen.

Haben die alle nichts Besseres zu tun, statt hier herumzulungern? Kann man nicht einmal in Ruhe in den Park gehen?

In der Mitte des Platzes stand ein Brunnen, auf dem die Bronzestatue eines gewissen Amandus die Nase gen Himmel streckte. Laut Inschrift war er Mitbegründer der Stadt, für Jessie sah er in den kurzen Hosen und dem Zylinder auf dem Kopf jedoch eher wie ein irischer Kobold aus. Daran änderte auch die Heugabel in seiner Hand nichts.

Amandus stand auf einer Bronzeplatte, aus der in regelmäßigen Abständen aneinandergereihte Wasserfontänen schossen. Sie verschmolzen in dem Becken darunter, in dem Jessie schon mehrere Male Mütter hatte ihre Babys baden sehen. Einmal hatte sie sogar einen kleinen Jungen beim Hineinpinkeln beobachtet.

Von diesen Brunnen gab es in Grubingen mehrere. Jeder besaß die gleiche Grundform und auf allen thronte ein Mann – angeblich Mitbegründer der Stadt.

Jessie eilte über den Amandusplatz, wich spielenden Kindern aus, die sich Bälle zuwarfen, und versuchte, den lärmenden Tumult der anderen Besucher auszublenden. Es gelang ihr nicht, und ihr Körper sträubte sich, den Weg fortzusetzen.

Wenn es hier schon so voll ist, wird es im Park noch voller sein.

Und wenn schon, schaltete Freddie sich ein, du setzt dich gleich unter einen Baum, öffnest dein Buch und tauchst in eine andere Welt ein. Na, ist das keine gute Aussicht?

O doch, es klang wundervoll.

Jessie erspähte hinter Napoleon Bonantike, einem Antiquariat, und Madonna, einem Schmuckladen, die Eichen des Stadtparks. Und als sie durch die schmale Gasse zwischen Napoleon und Madonna hastete, nahm die Geräuschkulisse beträchtlich ab.

Dann hörte sie die Vogelstimmen.

Jessie schloss die Augen, um dem Konzert aus Pfeifen und Trällern (tschierpscherie und tschierpschera, oh, wie ist das wunderbar) zu lauschen. Sie stellte sich vor, selbst ein Vogel zu sein. Wie der Wind durch ihr Federkleid rauschte, während sie den Himmel auskundschaftete. Wie sie schwarze Punkte unter sich sah, die in verschiedene Richtungen hasteten, und die Nordsee roch, obwohl sie weit davon entfernt war.

Ein gellender Schrei katapultierte Jessie so unvermittelt in die Wirklichkeit zurück, dass ihr schwindelig wurde.

Sie riss die Augen auf und sah sich hektisch um. Gleich würde sie bestimmt ein Kind sehen, das gestürzt war und sich das Bein gebrochen hatte. Der Unterschenkel würde in einem unnatürlichen Winkel abstehen und vielleicht lugte sogar ein Stück Knochen hervor. Oder es hatte einen Unfall mit dem Rasenmäher gegeben. Der Fahrer hatte nicht aufgepasst und war einem schlafenden Kind über den Arm gefahren. Der Arm war natürlich abgetrennt worden und Blutfontänen färbten das Gras dunkelrot.

Ich hätte nicht rausgehen sollen, ich hätte nicht raus… Jessie schüttelte den Kopf.

Ein weiterer Schrei ertönte, gefolgt von hysterischem Gelächter.

Ein etwa zehnjähriges Mädchen in einem Kleid mit Blumenmuster rannte auf der Grünfläche umher. Das Haar hatte es zu zwei Zöpfen geflochten, die hinter ihm her wehten und Jessie an Schlangen erinnerten. Das Mädchen stieß wieder sein kreischendes Lachen aus, während es von einem Mann mittleren Alters mit Halbglatze gejagt wurde.

Sicher ihr Vater. Vielleicht hätte ich mir eine Beruhigungspille einwerfen sollen, dachte Jessie und lächelte müde.

Jetzt, wo sie sich zurück in der Realität befand, nahm sie weitere Stimmen wahr. Der Park war ebenso überfüllt wie der Amandusplatz. Es wimmelte nur so von Menschen.

Dafür ist der Park größer, hörte sie Freddie sagen.

Er hatte recht. Das hier war ein Park. Nicht der Central Park, aber ein Park. Und in Parks gab es immer eine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Irgendwo stand eine mit Grünspan überzogene Bank, die nur auf jemanden wartete, der Ruhe brauchte, oder ein Baum, der seinen Schatten auf jemanden werfen wollte.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Jessie setzte ihren Weg fort. Der Grubinger Stadtpark bestand aus einem einzigen Pfad, der in rechteckiger Form verlief, und damit sein Ende am Anfang fand. Nach außen hin reihten sich Eichen und Kastanien aneinander, um den Anschein eines Waldes zu erwecken. Das gelang mehr schlecht als recht. Der Baumbestand reichte immerhin aus, um Vogelfamilien anzulocken, die ihren Nachwuchs in den Baumkronen aufzogen. Das Zentrum des Stadtparks bestand aus einem säuberlich gemähten Rasen, der an die Vorgärten amerikanischer Vorstädte erinnerte, und vereinzelten Buchen. Jeder Grashalm schien exakt abgemessen worden zu sein. Erst im Herbst wucherten einzelne Grüppchen über die anderen Halme hinaus und verliehen dem Stadtpark so etwas Rebellisches. Jetzt im März besaß jeder Grashalm eine Höhe von, so schätzte Jessie, fünf Zentimetern.

Sie überschaute die Baumkronen. In Grubingen ließ sich sicher niemand außer ihr von Bäumen verzaubern. Dafür waren die Menschen dieser Stadt zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Dafür waren alle Menschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Jessie versuchte, den Lärm der anderen Besucher auszublenden. Sie lauschte dem Wind, glaubte, ihn sanft wie den Bogen einer Geige über die Blätter streichen zu hören. Wie beruhigend diese Klänge waren! Ganz anders als der Lärm der Stadt. Die Bäume bildeten das Orchester und die Vögel den Chor. Es war himmlisch.

Jessie schlenderte durch den Park und lockerte den Griff um ihr Buch. Die Muskeln ihrer Hand dankten es ihr. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Gestalt auf einer Bank wahr, die viel zu weite Kleidung trug oder eine Decke umgelegt hatte. Jessie entschied, nicht genauer hinzusehen. Sie brauchte jetzt ein Plätzchen, das möglichst weit von den anderen Parkbesuchern entfernt war. Sie wollte lesen.

Ein Pärchen kam ihr entgegen. Beide hatten das Rentenalter längst überschritten. Der dürre Mann schob einen Rollator vor sich her, die untersetzte Frau benötigte als Gehhilfe bloß einen Stock. Allerdings neigte sich ihr Körper zur Seite, wenn sie mit dem rechten Fuß auftrat, sodass ihr Stock sich gefährlich krümmte.

Als ihr die Frau zunickte, senkte Jessie ertappt den Blick. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich gewünscht hatte, auf ewig Kind zu bleiben. Erwachsenwerden brachte Probleme mit sich. Zum Beispiel Verantwortung. Jessie war zwar mittlerweile 21 Jahre alt, doch innerlich war sie ein Kind geblieben. Und Kinder brauchten Erwachsene, die auf sie aufpassten. Einen Aufpasser gab es jedoch nicht mehr. Sie war allein. War sie dadurch automatisch erwachsen?

Wie fühlt es sich an, erwachsen zu sein?

Eine Stimme ließ Jessie zusammenfahren. Mit Mühe unterdrückte sie einen Schrei.

»Haste ’n paar Cents für mich?«

Sie erkannte die Gestalt wieder, die ihr die dreckigen, zur Schale geformten Hände hinhielt. Jessie wich zurück.

Die Gestalt – ein Mann, dessen Alter wegen seines Vollbarts unmöglich zu erraten war – versperrte ihr den Weg. Er trug tatsächlich zu weite Kleidung, keine Decke. Ein übergroßer Kapuzenpullover und eine schlabbrige Jeans, auf der ein verdächtiger gelbbrauner Fleck trocknete. Ein modriger Geruch stieg Jessie in die Nase, bei dem sich ihr der Magen umdrehte.

»Ich habe nichts«, sagte sie.

»Komm schon. Nur ’n paar Cents! Für ’n Brot oder so.«

»Ich habe nichts«, sagte sie wieder und bemühte sich, dieses Mal ihrer Stimme mehr Nachdruck zu verleihen. Sie scheiterte kläglich, da ihr der Gestank den Atem raubte. Ihr Rachen und ihre Zunge schienen plötzlich von Pelz überzogen zu sein.

Der Mann grinste und entblößte ein paar schwarze Stummel anstelle von Zähnen.

Jessie schob sich an dem Obdachlosen vorbei. Sie schlenderte nicht mehr, sie hetzte. Blöde Idee, herzukommen. Blöd, blöd, blöd!

Doch sie konnte nicht umkehren. Täte sie es, würde ihr der Mann sicher auflauern. Möglicherweise folgte er ihr sogar bis nach Hause! Also setzte sie ihren Weg fort. Dann lief sie eben nur eine Runde um den Park. Sie hatte zumindest versucht, den Tag draußen zu verbringen.

Sobald ich den gruseligen Typen nicht mehr sehen kann, verschwinde ich von hier.

Nach einigen hektischen Schritten fiel Jessie etwas ins Auge. Zu ihrer Linken ragte eine Blutbuche in den Himmel, deren Blätterkleid alle anderen Bäume in den Schatten stellte. Sie strahlte etwas Majestätisches aus und kurz überlegte Jessie, sich tatsächlich vor ihr zu verneigen.

Sie ließ ihre Angst hinter sich. Vergessen waren der Obdachlose und die Rentner, die sie an ihre eigene Zukunft erinnert hatten. Jetzt gab es einzig Jessie und die Blutbuche – die perfekte Leseecke.

Sie umrundete den Baum, ehe sie sich ins Gras setzte und den Rücken an den Stamm lehnte, der doppelt so breit war wie sie selbst. Die Baumkrone ließ gerade genug Sonnenlicht durch, um problemlos lesen zu können. Also schlug Jessie ihr Buch auf – einzelne Seiten begannen sich bereits zu lösen – und tauchte ein in eine andere Welt. In ihre Lieblingswelt: das Wunderland.

Als Jessie gerade alles um sich herum ausgeblendet hatte, wurde es plötzlich dunkel.

Kapitel 2

 

Jennifer Krüger bog in die Alfonsstraße ein. In der Hand hielt sie einen Flyer mit der Aufschrift: Traumreise in die Stadt der Liebe – Paris. Sie trug eine Leggings mit Leopardenmuster und stellte ihren Sexy-Gang zur Schau, bei dem sie die Brust herausstreckte und bei jedem Schritt mit dem Hintern wackelte.

Was Jessie wohl sagen würde, wenn sie ihr von Paris erzählte? Sicher platzte sie vor Neid. Jenny konnte schon Jessies Gesicht sehen, während diese sich bemühte zu lächeln und so zu tun, als würde sie sich für ihre Freundin freuen. Vielleicht würde ihre Reaktion auch echt sein. War das nicht die Aufgabe einer wahren Freundin? Sich für die andere freuen, wenn etwas Großartiges passierte?

Jenny verbrachte gerne Zeit mit Jessie. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich irgendwie mächtig. Immerhin hatte Jessie keine Eltern mehr, sie hingegen schon. Zwar sah Jenny die beiden nicht oft, weil sie den ganzen Tag arbeiteten, aber zumindest besaß sie welche.

Endlich erreichte sie die Hausnummer 22 und klopfte an die Tür. Jenny klopfte immer genau vier Mal: Tok-tok, tok-tok. So wusste Jessie, dass sie es war und kein Staubsaugervertreter.

Sie pfiff vor sich hin – einen alten Schlager, den ihre Mutter gerne auflegte – und sang im Geiste dazu. Dabei veränderte Jenny die Melodie in eine Rockabilly-Version und wippte mit dem Fuß im Takt dazu.

Gott, sie schwitzte in ihrer engen Leggings und dem knappen T-Shirt, unter dem ihr Bauch hervorquoll. Schweiß rann ihren Rücken herunter, während die Frühlingssonne unerbittlich auf ihre Schädeldecke knallte. Warum ist es nur so scheißheiß? Das sind gefühlte 30 Grad. Jenny klopfte wieder. Tock. Tock-tock. Tock.

Wo ist sie?

Ein Poltern ließ Jenny zusammenfahren. »Was zur …?«

Cheshire sprang um die Ecke und blieb direkt vor Jenny stehen, die angewidert das Gesicht verzog. Das Vieh besaß einen Ausdruck, der ihr nicht geheuer war. Fast wie Herr Koop sie im Deutschunterricht angestarrt hatte, wenn es ihr nicht gelungen war, Perfekt von Präsens zu unterscheiden.

»Was willst du, du dreckiges Biest? Hau ab. Kusch!«, sagte Jenny und fuchtelte dabei mit der Hand in der Luft herum, als wollte sie die Katze einzig durch die Kraft des Lufthauchs davon blasen.

Cheshire blieb ungerührt. Sie blinzelte nicht einmal, sondern wedelte nur leicht mit dem Schwanz.

Jenny starrte die Katze weiterhin an, während ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief. Sie hatte das Gefühl, das Tier sähe geradewegs in sie hinein. In ihr Innerstes. Der Blick der Katze grub sich durch Jennys Körper wie eine Made durch totes Fleisch. Und als könnte Cheshire Gedanken lesen, ließ das Tier seine Zunge zweimal vorschnellen.

Jenny erschauerte. »Dann eben nicht«, sagte sie und drehte sich um.

So ein Mist. Wie gerne hätte sie Jessie von Paris erzählt. Mit wem sollte sie jetzt darüber sprechen? Mit Stefan, dem pickeligen Taugenichts, mit dem sie sich seit einer Woche traf? Wohl kaum. Sie wollte ohnehin bald mit ihm Schluss machen. Schließlich hatte sie Elton kennengelernt. Gut, er war etwas (fett) pummelig und wirkte leicht debil, doch Jenny gefiel es, wie er ihr die Einkäufe hinterhertrug und Getränke spendierte. Er war ihr schon jetzt hoffnungslos verfallen. Ganz so, wie es sich für einen Mann gehörte.

Jenny fuhr sich durch das blondgefärbte Haar und kicherte. Vielleicht war Jessie einkaufen gegangen. Oder sie gönnte sich auf dem Amandusplatz ein Eis. Eis klang gut. An einem sonnigen Tag wie diesem war ein Eis genau das Richtige.

Jenny tastete in ihrer Gesäßtasche nach Geld und fand zwei 2-Euro-Münzen. Wunderbar, vier Kugeln, jubelte sie und präsentierte erneut ihren Sexy-Gang, während sie den Weg zum Amandusplatz einschlug.

Jenny gönnte sich drei Kugeln Schokolade und eine Kugel Stracciatella. Als Sahnehäubchen sozusagen. Sie schwitzte immer noch, aber das Eis schmeckte wunderbar erfrischend. Obwohl sie spürte, wie es durch die Speiseröhre glitt und sich kühl im Magen ausbreitete, ging ihr die Hitze langsam auf die Nerven. Da registrierte sie die Bäume hinter dem Amandusplatz.

Wenige Minuten später schlenderte Jenny durch den Grubinger Stadtpark. Sie hatte schon drei Kugeln verputzt. Schokoladeneis lief ihr über die Hand und sie leckte es genüsslich ab. Im Park war es deutlich kühler als auf dem offenen Platz. Durch den Schweiß musste sich auf ihrem Rücken bereits ein Fleck in der Größe eines Basketballs befinden und ihre Schuhe quietschten bei jedem Schritt.

Es wäre besser, umzudrehen und nach Hause zu gehen. Dort würde sie sich eine lauwarme Dusche gönnen. Mama mochte es zwar nicht, wenn sie mehrmals am Tag duschte – »das verbraucht zu viel Wasser«, sagte sie dann – aber sie schimpfte nicht, wenn Jenny es dennoch tat. Meistens bekam es ohnehin niemand mit. Mutter war mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. Manchmal fiel ihr nicht einmal auf, wenn Jenny den ganzen Tag unterwegs war. Abends beim Essen fragte sie dann häufig: »Wie war dein Tag, Liebes?«

Und wenn Jenny ihr erzählte, sie sei den ganzen Tag mit Jessie unterwegs gewesen, sah ihre Mutter überrascht auf, so als wunderte sie sich, dass sich außer ihr noch jemand im Raum befand.

Papa las um diese Zeit meistens Zeitung. Er murmelte ab und an ein paar Worte, sah jedoch nicht von seiner Lektüre auf. Er sprach nie beim Essen, außer zu dem Papier. Das war so, seit Jenny denken konnte. Umso überraschter war sie gewesen, als Papa gestern von der Parisreise erzählt hatte. Eine Fahrt für die ganze Familie sollte es werden. Er hatte schon immer mal nach Paris gewollt und jetzt bot sich dafür endlich die Möglichkeit.

Hatte es zuvor schon einmal einen Familienausflug gegeben? Ihre Eltern waren ständig viel zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um sich um ihre Tochter zu kümmern.

Jenny wurde in ihrem Gedankengang unterbrochen, als sie den großen Baum mit den roten Blättern bemerkte. Darunter saß Jessie! Jenny strahlte. Sie würde ihre Geschichte also doch noch erzählen können. Wunderbar!

Sie stellte sich direkt vor ihre Freundin und schaute auf sie hinab. Ihr Schatten legte sich über Jessie und ihr Grinsen wurde breiter.

»Hi Jessica«, sagte sie mit einem unterdrückten Kichern. Jessie hasste ihren vollen Namen. »Er klingt wie der Name eines verwöhnten Einzelkindes mit zu viel Make-up und großen, runden Ohrringen«, hatte sie einmal erklärt.

Jessie hob den Kopf. Ihre Augen sahen wie zwei graue Knöpfe aus.

»Na, wieder wach?«

»Ich habe gelesen.« Sie erwiderte Jennys Lächeln nicht, griff aber nach ihrem Lesezeichen, das sie neben sich ins Gras gelegt hatte (We’re all mad here, stand darauf), steckte es zwischen die Seiten und schloss ihr Buch.

Jenny verdrückte den letzten Rest ihres Eises, wischte sich die Hände an den Leopardenleggings ab und ließ sich neben ihrer Freundin ins Gras plumpsen.

»Ich fliege nach Paris.« Jenny ließ jenes charakteristische Quietschen hören, das immer folgte, wenn sie sich freute.

»Oh, wow, das ist toll!«

»Mit meinen Eltern! Das ist natürlich oberpeinlich in unserem Alter, aber ich werde jede Menge Freizeit haben, um süße Typen aufzureißen.«

Jessie schwieg.

»Am Montagmorgen geht’s los. Stell dir das mal vor, eine Woche in der Stadt der Liebe. Obercool! Paps ist gestern mit dem Flyer angekommen.« Jenny griff hinter sich und holte den Paris-Flyer aus dem Bund der Leggings hervor. Sie drückte ihn Jessie in die Hand.

Diese schwieg weiterhin.

»All inclusive. Das Wetter soll traumhaft sein. In der Uni wissen sie schon Bescheid, das ist kein Problem. Mein Prof sagt, ich singe schon echt gut für meine zwanzig Jahre. Eigentlich wird man ja erst mit sechsundzwanzig dort aufgenommen, aber du weißt ja, wie überzeugend Paps sein kann. Na ja, jedenfalls hat Mom gefragt, ob du nicht auch mitmöchtest.«

Jessies Kopf fuhr herum. Ihre Augen leuchteten. Ihr ganzes Gesicht schien zu strahlen, während sich ihre Wangen röteten.

»Allerdings habe ich ihr gesagt, dass du arbeiten musst. Also bin ich hier, um mich von dir zu verabschieden. Vielleicht treffe ich in Paris meinen Traummann und bleibe gleich da. War nur ’n Scherz. Ich würde meine Jessica doch nie alleine in diesem Kaff lassen.« Jenny wieherte.

Aus Jessies Gesicht war jedes Leuchten verschwunden.

»Na ja, aber tschüss sagen wollte ich dir trotzdem. Schließlich muss ich noch packen. Hach, ich weiß gar nicht, was ich alles mitnehmen soll. Mein Schrank platzt vor Klamotten und trotzdem habe ich nichts zum Anziehen. Kennst du das? Na, wohl eher nicht. Egal. Ich werde mit meinem iPhone viele Bilder machen, die wir uns dann alle ansehen, ja? Das wird lustig. Das iPhone hat mir Paps letzte Woche geschenkt, als Entschädigung, weil er nicht zu meinem Auftritt hat kommen können. Die beiden arbeiten ja so viel, aber in Paris …«

»Ich muss los.« Jessie sprang unbeholfen auf die Beine. »Viel Spaß in Paris.«

Mit diesen Worten machte sie sich davon.

 

Kapitel 3

 

Ein Schatten riss Jessie aus dem Wunderland. Sie sah auf und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Jenny ragte vor ihr auf wie ein Hooligan und einen Augenblick lang glaubte Jessie, eine andere Person

(Beiß ihr den Kopf ab!)

zu erkennen. Sie zuckte kaum merklich zusammen.

Jenny grinste. Vom Sonnenlicht umrahmt, wirkte es, als wäre sie von einer glutroten Aura umgeben. Jessie wandte den Blick ab. Sie hatte dieses Grinsen schon oft gesehen; Jenny hatte etwas vor. Etwas Fieses.

Sie ließ sich neben ihr ins Gras nieder und tat das, was sie immer tat: Sie brabbelte los, ohne Punkt und Komma. Wie eine stumme Frau, der plötzlich eine Stimme geschenkt worden war.

»Ich fliege nach Paris.«

»Oh, wow, das ist toll!«

»Mit meinen Eltern«, fiel Jenny ihr ins Wort und versetzte Jessie damit einen Kinnhaken, der sich gewaschen hatte. Sie tat es schon wieder! Jenny war eben Jenny.

Und während sie von ihren Eltern und Paris schwärmte, bildete sich in Jessies Verstand ein Szenario, das längst überfällig war.

»Du weißt, wie sehr es schmerzt, wenn du über deine Eltern sprichst«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich wollte doch nur …«

»Du wolltest was? Mir wehtun? Glückwunsch, Jenny, das ist dir gelungen.«

»Du solltest dich für mich freuen. Meine Eltern verreisen nie mit mir.«

»Wenigstens hast du Eltern. Aber statt mal ein wenig Taktgefühl zu zeigen, haust du mir das ständig um die Ohren. Oh, die arme, arme Jennifer! Sie hat zwar beide Elternteile, doch die kümmern sich kaum um sie. Deswegen muss sie einem Waisenmädchen ständig erzählen, wie froh sie ist, Eltern zu haben, und wie schön sich das anfühlt.

---ENDE DER LESEPROBE---