Tom Tin und der Fluch der Diamanten - Iain Lawrence - E-Book

Tom Tin und der Fluch der Diamanten E-Book

Iain Lawrence

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Beschreibung

Noch steht die Rache an Mr. Goodfellow aus, der Tom Tins Familie ins Verderben gestürzt hat. Aber Tom gibt nicht auf, obwohl sein Leben durch die Begegnung mit zwei Gestrandeten eine weitere grausame Wendung nimmt. - Furios führt Iain Lawrence seine Abenteuer-Trilogie über Tom Tin zu einem Ende, das eigentlich auch ein neuer Anfang ist.

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Iain Lawrence

Tom Tinund der Fluch des Diamanten

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Für Rick und Kim&Jan und Goody

Inhalt

1. Auf See

2. Ein Vogelschwarm

3. Was Midgely auf offener See träumte

4. Ein Segel am Horizont

5. Der unheimliche Fremde

6. Die Geschichte eines Phantoms

7. Die Ausgesetzten kommen an Bord

8. Ich wage mich in die Wanten

9. Ich erobere die Flagge des Fliegenden Holländers

10. Ich schaue unter den Brotfrüchten nach

11. Midgely erzählt eine Geschichte

12. Der König schließt einen Handel ab

13. Am Ende meiner Reise

14. Benjamin Pennys tapfere Tat

15. Eine lange Wache

16. Das Mädchen und Mr. Grauslich

17. Ich lasse Midgely allein

18. Eine traurige Heimkehr

19. Mr. Goodfellow dreht den Spieß um

20. Ich finde das Grab von Jacob Tin

21. Mr. Goodfellows Verrat

22. Ich gebe Weedle ein Versprechen

23. Mein Todestag

24. Das Entsetzen des Leichenräubers

25. Welches SchickSal Mr. Goodfellow ereilt

26. Ich begegne dem unsichtbaren Mann

27. Ich warte in der Dunkelheit

28. In schwindelnder Höhe

29. Eine letzte Wendung

Anmerkung des Autors

Danksagung

Glossar

Erstes Kapitel

Auf See

Wir fuhren unter den Sternen dahin, Hunderte von Meilen von jedwedem Land entfernt. Alles, was ich sehen konnte, waren die Schatten der Jungen und die Wölbung in der Mitte des Schiffs, wo sich die Dampfmaschine befand. Vom Bug kamen grüne Tropfen geflogen, wie Smaragde, die man aus der schwarzen See geschnitten hatte. Sie fielen in unser Kielwasser, durchgewirbelt von dem sich stetig drehenden Schaufelrad.

Die ganze Nacht lang lauschte ich auf die Melodie der Maschine, auf das Tschukatie-tschikadie, Tschukatie-tschikadie, das jede Planke und jeden einzelnen Nagel erzittern ließ. Als die Sonne hinter uns aufging, hing der Rauch, der aus dem Schornstein unseres Dampfers quoll, wie ein schmutziger Wimpel über dem Ozean, ein zerzaustes Banner, das meilenweit zu sehen war. Jeden Morgen zog Gaskin Boggis die Holzscheite aus dem Ofen und löschte sie eins nach dem anderen unter Zischen und Dampfen im Meerwasser.

Seit elf Nächten bohrten wir uns durch die Dunkelheit; elf Tage lang waren wir unter einer gleißenden Sonne auf der schimmernden See getrieben. An diesem Morgen, unserem zwölften, seit wir das letzte Mal Land gesehen hatten, war Walter Weedle an der Reihe, Wache zu stehen und nach den schwarzen Segeln der Piraten aus Borneo Ausschau zu halten. Wie üblich kletterte er murrend auf seinen Platz oben auf dem kleiner werdenden Stapel aus Feuerholz.

«Es gibt Leute, die nie Wache halten müssen», sagte er und warf einen düsteren Blick in meine Richtung. «Es müsste jeder mal an die Reihe kommen, wenn ihr mich fragt.»

Nur Midgely machte sich die Mühe zu antworten. «Aber dich fragt keiner, Walter Weedle. Halt einfach die Klappe.»

Ungeschickt tapste Weedle auf dem Holzhaufen herum und trat hier und da Scheite lose. «Hier gibt’s keine Piraten. Wir haben noch keinen einzigen Piraten gesehen. Mir ist schleierhaft, warum wir bei Tagesanbruch nicht weiterfahren können.»

«Du bist halt ein Dummkopf!», rief Midgely. Mit seinen blinden Augen spähte er in Richtung der Maschine, deren Umrisse er mit Weedle verwechselte. «Versuch doch mal, nach der Sonne zu steuern. Du wirst dich nur im Kreis drehen, du Blödmann. Aber die Sterne sind wie ein Kompass, und das Kreuz des Südens ist die Nadel. Stimmt’s, Tom?»

«Ja», sagte ich.

«Es wird uns nach Hause führen. Stimmt’s, Tom?»

«Natürlich», sagte ich, als ob ich wahrhaftig daran glauben würde. Midge dachte, das Kreuz des Südens hinge so fest am Himmel verankert wie ein bunt bemaltes Wirtshausschild. Er hatte ja keine Ahnung, was für ein unberechenbares und blasses Ding es war, so schwer zu finden, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es auch nur ein einziges Mal gesehen hatte. Ich fürchtete, dass wir bereits vom Kurs abgekommen waren.

«Erzähl ihm von den anderen Inseln, Tom», verlangte Midgely. «Erzähl ihm, wie das Kreuz uns dorthin führen wird.» Und wieder einmal zählte er ihre Namen auf, die Kokosinseln, der Chagos-Archipel, die Maskarenen.

«Wir können sie gar nicht verfehlen. Wir hüpfen von einer zur anderen wie auf den Steinen in einem Bach.»

Er lächelte jetzt so fröhlich wie ein junger Hund angesichts dieser Vorstellung. Aus seinem Mund hörte es sich so einfach an, und wir alle hatten geglaubt, dass es möglich sei. Wir hatten es mit dem Ozean aufgenommen, wie nur Jungen es vermochten, waren dem Kreuz des Südens nachgejagt auf der Suche nach Inseln, auf denen es Nahrung und Feuerholz im Übermaß gab. Aber wenn wir nicht innerhalb einer Woche auf Land stießen, hätten wir kein Wasser mehr, nichts mehr zu essen und auch kein Holz für den Dampfer.

Das Meer war zu riesig, die Sonne zu heiß. Ich fühlte mich wie eine Kerze, die in der Hitze schmolz. Weedle, Boggis und Benjamin Penny waren so braun wie alte Feigen, während der arme Midgely aussah wie ein gesottener Hummer. Seine Haut war rot, platzte auf und schälte sich.

Als die Sonne höher stieg, suchte Midge Schutz im Schatten eines Schildkrötenpanzers, dem Überbleibsel eines Tiers, das wir vor zehn Tagen gefangen und geschlachtet hatten. Der Panzer war beinahe so groß wie Midge, und der Junge lugte an einem Ende hervor, als wäre er selbst eine Schildkröte.

Seine Augen waren mit einem grauen Schleier überzogen und fast gänzlich von den hängenden Lidern bedeckt. Manchmal, wenn ich zwischen seinen Wimpern die verdunkelten Augäpfel nur ahnen konnte, sah es so aus, als hätte er gar keine Augen. Aber immer noch lächelte er dank seiner angeborenen guten Laune. «Alles steht prächtig, Tom», sagte er. «Wir werden die Inseln bestimmt morgen erreichen.»

Ich begriff nicht, wieso er nie die Hoffnung verlor. Ich selbst hätte mich zu gerne schreiend und um mich tretend zu Boden geworfen wie ein kleines Kind und mich über die Ungerechtigkeit des Schicksals beklagt. Ich besaß ein berühmtes und kostbares Juwel, das einen schier unvorstellbaren Wert darstellte. Ich musste lediglich nach London gelangen, um es zu holen. Aber das Schicksal, so schien es, wollte es mir einfach nicht gestatten.

Ich ließ mich neben Midge nieder, während meine Gedanken ihre Kreise drehten. Wie üblich fing ich damit an, dass ich mir überlegte, ob mich der Fluch des Jolly-Steins verfolgte. Ich glaubte fest daran, dass er jedem Unglück brachte, der ihn berührte, und ich schwor mir, dass ich ihn eines Tages aus seinem Grab auf einem Londoner Friedhof holen würde. Dann wollte ich ihn Mr. Goodfellow geben und den Fluch gleich dazu. Mit dem größten Vergnügen stellte ich mir vor, wie seine gierigen Augen leuchten würden, wenn ich ihm den Stein in seine butterweichen Hände legte.

Dann, wie immer, schlichen sich Zweifel in meine Gedanken. Wie konnte ein einfacher Stein, der in den Tiefen der Erde gewachsen war, eine solch unirdische Macht besitzen? Hatte nicht eher Mr. Goodfellow Schuld an allem? Er war es, der meinen Vater ins Schuldgefängnis hatte werfen lassen und mich in den Bauch eines Sträflingsschiffes, das mich nach Australien hatte bringen sollen. Ihm den Diamanten aushändigen? Wohl kaum! Ich würde den Stein behalten und mein Vermögen dazu benutzen, den Mann wie eine Kakerlake zu zerquetschen.

Aber was, wenn der Stein wirklich mit einem Fluch behaftet war?, fragte ich mich. Und dann fing ich wieder von vorne an.

Manchmal verbrachte ich Stunden damit, nachzugrübeln, mich immer im Kreis zu drehen. Aber heute hatte ich gerade erst damit angefangen, als der Dampfer plötzlich einen Satz machte und ich mit dem Kopf gegen das Schanzkleid schlug. Benjamin Penny schrie: «Pass auf, wo du hintrittst, du Trampel!» Damit war Gaskin Boggis gemeint, der sich gerade zu seinem Platz neben der Maschine begab, wo er, eng an die Hülle gepresst, immer schlief. Für ihn war die Dampfmaschine wohl so etwas wie ein geliebter alter Hund, ein Freund, den man füttern und tränken musste und der hin und wieder eines guten Wortes und einer freundlichen Hand bedurfte.

Ich versuchte, hinter Midgelys Schildkrötenpanzer etwas Schatten zu finden. Aber jedes Mal, wenn das Boot hin und her schaukelte, schien mir die Sonne ins Gesicht.

Ich lag auf Planken, die kaum drei Zentimeter stark waren. Auf der anderen Seite war Wasser, so unendlich tief, dass mich allein der Gedanke daran schwindelig machte. Was für Dinge mochten da unten lauern?

Jetzt, da die Maschine verstummt war, konnte ich das Schlürfen des Wassers unter dem Boot hören. All meine Schrecken marschierten in meinen Gedanken auf und ab: menschenfressende Fische, Riesenschlangen und Seeungeheuer, Stürme und Unwetter, und jeder Mann, der jemals ertrunken war. Letzteres war meine größte Angst. Aus dem Platschen des Wassers gegen die Planken wurde in meiner Fantasie eine Heerschar von Matrosen, die sich von hinten an uns heranschlichen. Jedes Kratzen und Knarren des Holzes waren Finger, die das Boot betasteten, und ich wagte nicht, den Kopf zu heben, aus lauter Angst, dass ich Hände sehen würde, die nach dem Schanzkleid griffen.

Ich drückte mich enger an Midge. «Hab keine Angst vor Gespenstern, Tom», sagte er. Inzwischen kannte er mich so gut, dass er meine Gedanken lesen konnte. «Denk an das Kap, Tom. Denk an England. Jeden Tag kommen wir der Heimat näher.»

Er war so ein gutherziger Bursche. Niemals beklagte er sich, und er sorgte sich mehr um mich als um sich selbst.

«Denk auch daran», sagte Midge und klopfte unter seinem Schildkrötenpanzer gegen die Planken. Ich erschrak zu Tode, aber er merkte es nicht. «Es ist ein gutes Boot», fuhr er fort. «So stark wie ein Felsen, stimmt’s? Um das Boot brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.»

Nun, er hatte den Dampfer niemals gesehen, jedenfalls nicht richtig. Früher war er so hübsch gewesen wie eine Drehorgel, aber jetzt zerfiel er unter unseren Füßen. Das Hämmern der Maschine ließ ihn erzittern und bröckeln. Bebende Nägel schoben ihre Köpfe aus dem Holz heraus und dann auch ihre Schultern, als ob sie versuchen wollten zu fliehen. Planken, die einstmals geglänzt hatten, waren verwittert und gerissen, und das Boot schüttelte den Lack ab wie eine Schlange ihre Haut.

«Alles steht prächtig», sagte Midge wieder und drückte mir sanft den Arm. «Morgen werden wir Land sichten.»

Über uns drehte sich Walter Weedle träge nach Süden. Die Narbe auf seinem Gesicht leuchtete stärker als je zuvor, ein hässlicher Streifen in seiner sonnengebräunten Haut. Ich hatte keine Angst mehr, dass er mich im Schlaf ermorden könnte. Weedle war zwar hinterhältig, aber er war auch ein Feigling, und ich schämte mich, dass ich mich je vor ihm gefürchtet hatte.

«Es sind immer nur ich und Penny, die Wache halten müssen», brummte er. «Niemals Tom, und schon gar nicht sein Schoßhündchen.»

Er verfluchte den kleinen Midge. Aber selbst Weedle musste bemerkt haben, wie absurd die Vorstellung war, einen blinden Jungen in den Ausguck zu stellen, denn er murmelte weiter vor sich hin und wandte sich dabei ab: «Auf jeden Fall werde ich ihn überleben, egal was passiert.»

Ich kauerte mich zusammen. Die Planken unter mir waren dunkel und nass, ließen Wasser durch, wo vorher kein Wasser gewesen war. Die See hielt Einzug, Tropfen für Tropfen, und langsam aber sicher gab unser Boot den Geist auf. Ich dachte gerade, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, als Weedle aufschrie: «Schaut mal, da!»

Er stand da, nach Norden gewandt, und deutete über das Meer.

Zweites Kapitel

Ein Vogelschwarm

«Schaut», sagte Weedle noch einmal.

Langsam erhob ich mich, voller Sorge, was ich wohl erblicken würde. «Wenn es ein Segel ist, lass es bitte weiß sein», murmelte ich unhörbar. «Selbst wenn es die Briten sind, lass es bitte weiß sein.» Ich hätte mich lieber einfangen und in Eisen legen lassen, als von den schwarzen Seglern der Piraten gekapert zu werden.

Benjamin Penny und Boggis standen da und starrten übers Meer.

«So schwarz wie der Tod», sagte Penny.

Mein Herz hämmerte, als auch ich aufstand und mich nach Norden wandte. Was Weedle gesehen hatte, war gar kein Schiff. In meinen Augen war es etwas viel Schlimmeres.

Der Himmel wirkte zerfetzt, die Welt wie zerrissen. Schwarze Wolken türmten sich über dem Horizont, dick und von Blitzen gespalten, als ob aus den Tiefen der See ein mächtiges Feuer emporsteigen würde.

«Was ist los, Tom?», fragte Midgely. Er zupfte an meinen ausgefransten Hosen. «Sind es die Piraten, Tom?»

«Es ist ein Sturm», sagte ich. «Ein Sturm, wie ihn noch keiner gesehen hat, möchte ich meinen.»

Es war entsetzlich zu beobachten, wie er näher kam, immer näher, zu fühlen, wie sein Atem stärker und stärker blies. Zunächst wurde die Luft klar und knisternd. Blitze zuckten über das Wasser. Dann schäumte die See höher und höher. Das Grollen der Wellen klang wie der Donner.

Wir blieben auf dem Posten, so lange wir konnten. Wir verstauten das Feuerholz und unsere letzten Vorräte. Wir zurrten die Schleppleine fest, an der unser erbärmliches kleines Floß aus Holzscheiten hing – unsere Reserve für die Dampfmaschine. Aber schon bald schaukelte und rollte das Boot so heftig, dass wir nicht mehr aufrecht stehen konnten. Und so kauerten wir uns nieder. Der Regen prasselte von oben auf uns herab und die Wellen brachen über die Seiten des Dampfers aufs Deck.

Den halben Tag und die ganze Nacht ritten wir auf den wilden Wellen, bis auf die Knochen durchnässt, und schöpften um unser Leben. Das Boot stöhnte und ächzte; die Pinne wurde von einer Seite zur anderen geschleudert; die Holzscheite verwandelten sich in Rammböcke und attackierten den Bootsrumpf. Wir hatten keine andere Möglichkeit, als sie loszuschneiden. Um die eigene Achse wirbelnd, flogen sie hinaus in den schwarzen Sturm.

Am Morgen verlor der Wind langsam an Kraft, und um die Mittagszeit sahen wir die Sonne. Die Wellen schliffen ihre Kanten ab, aber immer noch waren sie turmhoch, und wir schlitterten von einer zur anderen, wobei sich das Boot so weit zur Seite neigte, dass das Schanzkleid das Wasser berührte. Die wilde Fahrt, die Sonne und die Gischt erfreuten Midgely über alle Maßen. Er saß da und grinste über das ganze salzverkrustete Gesicht. Mir dagegen war hundeelend, und ich lag so schlaff wie ein Pudding in dem warmen Meerwasser, das durch die Planken drang.

Gaskin Boggis stapfte auf und ab und sammelte Holzstücke ein, die sich in den unmöglichsten Ecken und Winkeln verkeilt hatten. Wir hatten mehr als die Hälfte unseres Vorrats an Feuerholz verloren, und die Scheite, die uns geblieben waren, waren völlig durchnässt. Boggis legte sie in Reihen nebeneinander zum Trocknen aus wie ein Fischhändler seine Ware.

Benjamin Penny hielt Wache. Er stand am Bug, über den hohen Wellenbergen, wie eine schrecklich anzuschauende Gallionsfigur. Aber es war Gaskin, der die Vögel zuerst sah.

«Tauben», sagte er und hielt in seiner Arbeit inne. Mit seinen Fäusten hielt er ein dickes Stück Holz umklammert. «Schaut mal, das sind Tauben. Hunderte.»

«Auf dem Meer gibt es keine Tauben», sagte Weedle. «Hier gibt es nur einen riesengroßen Holzkopf.»

«Sag’s ihm, Tom», verlangte Boggis.

Er ließ das Stück Holz fallen und zog mich hoch, stellte mich auf meine gummiweichen, seekranken Beine. Ich sah nur Wasser, nichts als Wasser, bis wir über einen Wellenkamm sausten. Und da, über dem Tal des Ozeans, das vor uns lag, kam ein Vogelschwarm in Sicht. Es war eine schier undurchdringliche Wand aus Flügeln und Federn, sodass es zunächst aussah, als wäre es ein Stück des Meeres, das der Sturm abgerissen hatte, ein Gewimmel aus Blau und Grau.

Wir kippten über den Wellenrand und hinunter in das Tal. Ich taumelte, aber Gaskin hielt mich fest. Dann ging’s wieder hinauf, obwohl mein Magen offenbar zurückblieb, und über den Wellenkamm hinweg sahen wir wieder die Vögel. Sie waren plump und kurz, und sie schlugen heftig mit den Flügeln. Das pfeifende Geräusch ihrer Federn versetzte mich in Gedanken wieder nach Hause, und für einen kurzen Augenblick war ich wieder ein kleiner Junge, stand, die Hand meines Vaters haltend, auf einem Platz in London, der von Tauben belagert wurde. Die Erinnerung war so stark, dass ich förmlich den Duft von meines Vaters Wollmantel roch und den Lärm des Londoner Verkehrs hörte. Einen Moment lang wurde ich von übermächtiger Trauer befallen. Mein Vater war von Piraten gefangen genommen worden und ich hatte ihn verlassen, war mit dem Dampfer davongefahren, so schnell ich konnte. Es war schwer vorstellbar, dass ich jemals das Rätsel seiner letzten Worte an mich würde lösen können: «Verhalte dich mir gegenüber anständig. Verhalte dich edelmütig.»

Boggis hielt mich so fest, wie mich mein Vater an jenem Tag in London gehalten hatte, und ich schaute zu, wie die Vögel durch den Himmel schaukelten.

Im Bug hob Benjamin Penny seine kleinen, mit Schwimmhäuten besetzten Hände, als ob er die Tauben berühren könnte. Weedle hob ein Holzstück auf und schleuderte es in Richtung des Schwarms. Die Vögel wichen dem Geschoss aus. Es waren weit mehr als hundert, und sie flatterten an uns vorbei, mal scheinbar in Reichweite, mal weit über uns – je nachdem, ob wir uns auf einem Wellenkamm oder im Tal darunter befanden.

«Das sind Tauben!», rief Midgely, der das Geräusch ihrer Schwingen hören konnte. Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. «Tauben, ganz sicher!»

Wir hatten Albatrosse gesehen und große, angsteinflößende Raubmöwen, die mit ihren ausgebreiteten, bewegungslosen Schwingen auf der Brise segelten. Die Tauben, die sich da oben im Himmel mit ihrem eiligen Geflatter zusammengerottet hatten, boten einen Anblick, der uns alle faszinierte. Wir schauten ihnen nach, bis das Meer wieder leer war.

Es war der blinde Midge, der uns erklären musste, was das Auftauchen der Vögel für uns bedeutete. «Die fliegen in Richtung Land», sagte er. «Wir sind in der Nähe der Inseln, Tom, genau wie ich gesagt habe.»

Nun, dachte ich, er hatte wohl recht. Der Sturm hatte die Tauben aufs Meer hinausgetrieben, und alles, was wir tun mussten, war, ihnen zu folgen. Wir mussten unbedingt Land finden, ansonsten waren wir verloren. Und so schob ich meine Angst vor den Piraten beiseite und sagte: «Gaskin, wir starten die Maschine.»

Der Sturm hatte das Feuer im Ofen verlöschen lassen. Wir brauchten fast eine Stunde, um unserem nassen Holz neue Flammen zu entlocken, und noch mal eine halbe Stunde, bis der Druck hoch genug war, um Fahrt aufzunehmen. Aber schließlich zischte die Maschine, die Kolben streckten sich, und wir fuhren über die Wellen auf und davon.

Aus unserem Schornstein paffte der Rauch in grauen und braunen Wolken, ein deutlicher Wegweiser für jedes Schiff im Umkreis von etlichen Meilen. Aber wir fuhren mit voller Kraft; das Schaufelrad stampfte und das Boot erzitterte. Wasser quoll durch die Ritzen zwischen den Planken; jeder einzelne Nagel bebte, aber wir flogen dem Land entgegen, mit der gleichen Inbrunst wie der Taubenschwarm.

Benjamin Penny stand immer noch am Bug. Die Gischt flog rechts und links von ihm in die Höhe, und manchmal stieß der Dampfer bei seiner Talfahrt so tief ins Meer hinab, dass er bis zu den Knien im Wasser stand. Aber er lachte und brüllte laut, dass wir gerettet seien.

Gaskin eilte hin und her, war überall gleichzeitig. Die Ofentür schlug klappernd auf und zu, während er die Flammen fütterte. Unser Stapel Feuerholz schrumpfte bedenklich, aber jetzt bestand ja keine Notwendigkeit mehr, sparsam zu sein. Niedrig ziehende Wolken tauchten am Horizont auf, weiß und weich wie Baumwolle. Schimmernd reflektierten sie das Licht von festem Land, von Bäumen. Es war noch sehr weit weg, nur ein Klecks aus Grün und Schwarz, und doch war es der herrlichste Anblick, den ich je gesehen hatte. In einer Welt, die nur aus Wasser bestanden hatte, trieb mir die Aussicht auf Land die Tränen in die Augen.

«Ich hab’s dir doch gesagt, Tom», meinte Midgely. «Hab ich nicht gesagt, dass wir die Inseln heute zu sehen kriegen?»

Er musste brüllen, obwohl er direkt neben mir stand. Die Maschine dröhnte wie ein Drache, der Bäume zu Kohle verbrannte und Rauch und Feuer spuckte. Eine Aschefontäne sprühte aus dem Schornstein, und sanft segelten die kleinen schwarzen Flocken auf uns nieder und legten sich auf unsere Haut, auf unsere Kleidung und auf unser Haar.

Boggis hielt ein schmales Stück Holz in die Höhe und rief: «Das ist das letzte, Tom!»

Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. «Das letzte wovon?», fragte ich.

«Das letzte Stück Holz. Es ist alles weg», antwortete er.

Ich schaute mich auf dem Dampfboot um und erkannte entgeistert, dass jedes Scheit und jeder Splitter Holz verbraucht war. Wir hatten nicht aufgepasst und alles viel zu schnell verfeuert.

«Verbrenne das Boot», sagte ich.

Mit der kleinen Axt ging er an die Arbeit. Er hackte die Sitze ab, die Stützen, auf denen sie befestigt waren, die lackierten Aufbauten am Bug und am Heck. Es war ein schreckliches Schicksal, das wir dem Boot bescherten – von dem Feuer der eigenen Dampfmaschine aufgefressen zu werden. Aber Boggis hielt unser Gefährt während der ganzen Nacht unter Dampf, während es immer weniger und weniger wurde. In der Morgendämmerung konnten wir schwach die weiße Linie der Brandung über den Korallenriffen ausmachen.

Ein entsetzlicher Gedanke überkam mich in diesem Augenblick. Während die Morgensonne die Baumwipfel zum Erglühen brachte und saftige Täler beschien, fragte ich mich, was geschehen würde, wenn wir irgendwie in einem riesengroßen Kreis gefahren waren und jetzt zu den Inseln der Kannibalen zurückkehrten. Oder was wäre, wenn es zwar nicht dieselben Inseln waren, es aber auch hier Menschen gab, die andere Menschen auffraßen?

Ich stieß Midgely in die Seite. «Gibt es hier Wilde?»

«Auf den Maskarenen?», gab er zurück, als ob ich ihn gefragt hätte, ob auf dem Mond Menschen wohnten. «Die Inseln gehören zu England, Tom. Aber sie sind unbewohnt.»

Ich sehnte mich so sehr danach, an Land zu gehen, dass ich mich auf meinem Sitz vorbeugte und das Boot mit meinen Fersen antrieb, es möge schneller fahren, so wie ein Reiter, der seinem Pferd die Sporen gibt. Kurz darauf hatte ich keinen Sitz mehr. Boggis kam und hackte ihn mir förmlich unter meinem Hinterteil ab.

Er verfütterte die Überreste ans Feuer. Er zerschlug das lange Steuerruder in sechs Stücke und schob sie eins nach dem anderen durch die rotglühende Tür des Ofens. Er verbrannte sogar die Holzsplitter, die noch herumlagen. Dann machte er sich über das Schandeck her.

Aus einer Entfernung von schätzungsweise fünf Meilen konnten wir die Palmen auf der Insel sehen. Wir sahen, wie sich das Wasser über dem Korallenriff zusammenrollte, sahen die Gischt, die hochspritzte und wieder in sich zusammenfiel. Wir starrten auf die Lücke in dem Riff, durch die wir in ruhigeres Wasser gelangen würden. Die Lagune dahinter schimmerte weiß und silbern von dem Sand, der auf ihrem Grund lag.

Ungefähr drei Meilen von der Insel entfernt rochen wir die Erde und die Bäume. Boggis stemmte die obersten Planken der Bordwand ab. In seinen Armen hielt er die Teile, die wir noch verfeuern konnten. Ich drosselte die Maschine, damit er das Feuer in Gang halten konnte.

Wir waren kaum noch eine halbe Meile von der Insel entfernt, als die Dampfmaschine verstummte.

Drittes Kapitel

Was Midgely auf offener See träumte

Es war wohl die unvorstellbarste Grausamkeit, die uns befallen konnte – dem Land so nahe zu sein und nicht in der Lage, es zu erreichen. Aber das Boot war nur noch eine ausgehöhlte Muschel, ein aufgeschlagenes Ei. Die Rippen des Rumpfs ragten über die verbliebenen Planken hinaus, sodass ihre Spitzen aussahen wie Zahnreihen oder wie die Knochen eines Kadavers.

Den ganzen Tag lang trieben wir vor der Insel im Donnern der Brandung, so nah am Riff, dass wir die Seesterne und die Anemonen sehen konnten. Wir hätten den Versuch gewagt, an Land zu schwimmen, wenn nicht die tückische Strömung gewesen wäre – und die Angst vor Haien, von denen wir vermuteten, dass sie in der Nähe lauerten. Wir beteten, dass uns die Strömung oder ein günstiger Wind durch die Lücke im Riff in die geschützte Lagune tragen würde. Aber es sollte nicht sein; wahrhaftig, ich war verflucht. Wir trieben zurück, den Weg, den wir gekommen waren. Langsam, kaum merklich bewegten wir uns von der Insel weg. Das Grollen der Brandung wurde schwächer, die geisterhaft aufsteigende Gischt kleiner, und aus der Reihe aus Palmen entlang der Küste wurde wieder ein grüner Schemen. Drei Tage lang konnten wir die Insel noch sehen. Sie schrumpfte auf die halbe Größe, wurde zu einem Fleck, und eines Morgens erwachten wir und sahen, dass sie verschwunden war.

Ein Gefühl von Verlassenheit stieg in mir auf, so stark, wie ich es noch nie empfunden hatte. Ich klammerte mich an Midgely, denn die leer gefegte See säte Angst in meinem Herzen.

Ich erinnerte mich, wie ich als Kind einmal einen kleinen Teich betrachtet hatte, der durch den Regen angeschwollen war. Ich hatte mich am Rand niedergekauert und beobachtete vier schwarze Käfer, die sich an einen Zweig klammerten, der aufrecht im Schlamm steckte. Als das Wasser stieg, kletterten sie höher, bis sie sich in ihrer Panik auf der verbleibenden Spitze des Zweigs übereinanderstapelten. Dann löste sich der winzige Zweig und wurde zu einer Arche. Die Käfer krabbelten hierhin und dorthin, während sich der Zweig um die eigene Achse drehte und im Wasser umherschaukelte. Ich weiß noch, dass ich sowohl entsetzt als auch fasziniert gewesen war. Ich war kaum sechs Jahre alt und hatte bereits eine Todesangst vor Wasser.

Jetzt war ich nicht besser dran als einer dieser Käfer. Ich konnte zwar denken und träumen und über die Dinge nachgrübeln. Aber schlussendlich waren auch wir nur mehr fünf Käfer, die von Wind und Wasser davongetrieben wurden.

Nacht für Nacht stieg das Kreuz des Südens höher in den Himmel. Wir trieben nach Süden, auf den eisigen Kontinent am Ende der Welt zu, auf die seelenlose, alle Hoffnung zunichte machende Terra Incognita. Die Sonne ging auf und versank, ging auf und versank, und schon bald hatten wir nichts mehr zu essen und auch kein Wasser mehr. Selbst die rostige Flüssigkeit im Heizkessel nutzte uns nichts. Gaskin Boggis hatte schon vor Wochen damit begonnen, die Dampfmaschine mit Meerwasser zu befüllen.

Auf den ersten Blick gab es dennoch einen Unterschied zwischen uns und den Käfern, etwas, das mir trotz unseres Unglücks das Herz erwärmte: Keiner brach einen Streit vom Zaun. Wir hielten zusammen. Die Gewitter, die wir fürchteten, führten frisches Regenwasser mit sich, das wir brauchten, und wir alle hielten Midgelys Schildkrötenpanzer fest, um den Regen darin aufzufangen. Dann tranken wir gemeinsam, beugten unsere Köpfe und schlürften aus dem Becken. Selbst Benjamin Penny, der ganz gewiss noch nie einen Finger gerührt hatte, um jemand anderem zu helfen, tauchte ins Meer, um uns Nahrung zu beschaffen. Von Zeit zu Zeit sah er dort unten Fische, aber er war nicht schnell genug, um sie zu fangen. Stattdessen brachte er Schwämme und Krebse und Muscheln mit, die er von dem überkrusteten Rumpf des Bootes abbrach. Die Babymuscheln in ihren blauschwarzen Schalen schmeckten uns am besten.

Die Tauchgänge endeten, als ein großer Weißer Hai auf der Bildfläche erschien. Eines Tages durchschnitt seine Flosse die Wellen, und von da an umkreiste er unser Boot. Manchmal kam er wie ein Irrsinniger auf uns zugerast. Manchmal schlug er mit dem Rücken oder der Schwanzflosse gegen unsere Planken, und wir alle klammerten uns an das Boot und brüllten durcheinander.

«Das ist ein Omen», behauptete Midgely. «Haie können den Tod riechen. Das sagt dir jeder Matrose. Wenn ein Hai auftaucht, springt ein Seemann über die Klinge.»

So weiß wie ein Gespenst zog der Hai seine Kreise um unser Boot. Er war immer in der Nähe, während wir langsam südwärts trieben.

Nachts träumten wir vom Essen, wir alle, als ob der Schlaf uns so zusammenhielt wie am Tag unsere gemeinsamen Bemühungen zu überleben. Ich träumte von Muffins und Pasteten, Midgely von Zitroneneis. Die Anfälle von Hunger und Durst, die uns jeden Morgen erwarteten, waren unerträglich. Boggis war der Erste, der Salzwasser trank.

Es machte ihn furchtbar krank und war uns allen eine Lehre, die keiner vergaß – außer dem kleinen Midgely. Er gewöhnte sich an, die Pfützen aus Salzwasser aufzuschlecken, die sich am Kiel bildeten. Es machte ihn nur noch durstiger. Je mehr er trank, desto mehr wollte er trinken.

Midgely behielt diese üble Angewohnheit für sich, sodass ich dachte, das Fieber hätte ihn gepackt und dies sei der Grund, warum er so zitterte. Ich fing an zu glauben, dass er nicht mehr lange auf dieser Welt verweilen würde, dass er im Sterben lag, dahingerafft von Hitze und Elend. Ich tat mein Bestes, um es ihm so bequem wie möglich zu machen, aber die Nächte wurden immer kälter. Südlich von uns erblickten wir einen Eisberg, so groß wie eine Festung, mit einem blauen Schimmer in der Mitte, der mich an meinen Diamanten erinnerte. Der arme Midgely zog sich an der zerklüfteten Seite des Boots hoch, obwohl er kaum mehr die Kraft hatte, sich zu rühren. Er wandte seine blinden Augen nach Süden und flehte mich an, ihm den Eisberg zu beschreiben.

«Er ist wunderschön», sagte ich. Meine Stimme war rau; das Sprechen bereitete mir Schmerzen. «Er ist weiß und glänzend, mit Bögen und Türmchen.»

«Wie die Himmelspforte?», fragte Midgely.

«Ja», sagte ich. Er schien mir dem Himmelreich bereits sehr nahe zu sein, und er selbst dachte wohl ebenso. Schon am nächsten Morgen brachte er die Sprache darauf, dass wir Lose ziehen sollten.

Die Sonne ging gerade auf und über dem Meer lag wie Rauchschwaden ein dünner Nebel. Midge nahm meinen Arm und flüsterte: «So machen es die Seeleute», sagte er. «Sie ziehen Lose, Tom. Zuerst, um zu sehen, wer das Töten übernehmen soll. Dann ziehen sie noch mal, um denjenigen zu bestimmen, der sterben muss. Der Erste macht dem Zweiten mit der Axt den Garaus und wirft ihn über Bord. So gibt’s kein Geschrei. Keinen Ärger.»

Allein schon die Vorstellung entsetzte mich. «Warum sollten wir so etwas tun?», wollte ich wissen.

«Um die anderen zu retten», flüsterte er mir ins Ohr. «Wir haben nicht genug Essen und Wasser für uns alle fünf. Aber vielleicht für vier.»

«Nur für kurze Zeit», sagte ich. «Dann wäre nur noch genug da für drei. Dann für zwei. Dann …»

«Aber Tom», flüsterte Midge. «Wenn wir es nicht machen, sind wir alle verloren.»

«Dann will ich lieber verloren sein», gab ich zurück.

Midgely blieb hartnäckig. Er erhob seine Stimme, sodass schließlich Benjamin Penny erwachte und vom Bug aus rief: «Was plappert er da?»

«Ach, nichts», sagte ich. «Das Fieber lässt ihn wirres Zeug reden.»

Das Boot schaukelte und stöhnte auf der Dünung. Durch sämtliche Ritzen sickerte Wasser. Midgely zog mich dicht zu sich heran. «Hör zu, Tom», sagte er. «Da ist noch etwas.»

Ich fühlte seinen Atem auf meiner Wange. Seine Finger waren eiskalt.

«Ihn wird es treffen», wisperte er. «Ich weiß es, Tom. Genauso, wie ich wusste, dass wir die Inseln sehen würden. Und wir haben sie gesehen, stimmt’s? Genauso weiß ich es auch jetzt. Es wird Benjamin Penny sein, der über Bord geht.»

«Das ist mir egal», sagte ich.

Penny knurrte wie ein Hund. «Was schwatzt dieser kleine blinde Hosenscheißer da?»

«Wir können ihn fertigmachen, Tom.» Midgely drückte meinen Arm mit bemitleidenswerter Schwäche.

Ich dachte, es sei das Fieber, das diese Veränderung in ihm hervorgerufen hatte. Seine grauen Augen unter den schweren Lidern gaben ihm das Aussehen eines alten Mannes, und das Salzwasser hatte seinen Geist verwirrt. Ich liebte ihn von ganzem Herzen, aber was er sagte, ließ mich vor Abscheu erschauern.

«Du bist derjenige, der ihn kaltmacht», fuhr er fort. «Auch das weiß ich; ich hab’s gesehen. Du übernimmst das Töten, und Penny springt über die Klinge. Deswegen ist der Hai hier; er wartet auf ihn. Du kannst es tun, nicht wahr, Tom?»

«Nein», sagte ich. «Natürlich kann ich das nicht.» Er war nicht mehr er selbst; er glaubte tatsächlich, dass ich mich auf einen Mord einlassen würde. Dieser Umstand machte mich wütend.

«Dann werden wir alle sterben», sagte er. «Und ich als Erster. Du weißt, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, Tom. Und weißt du noch etwas?» Seine trockenen, aufgesprungenen Lippen spannten sich zu einem Lächeln. «Penny wird der Letzte sein. Das ist schon komisch, oder? Penny wird der Letzte sein.»

«Ach Midge», sagte ich. Aber wahrscheinlich hatte er recht. Benjamin Penny besaß das nötige Geschick und die Kaltblütigkeit, um uns alle zu überleben.

Keiner schlief mehr. Jetzt wollten auch Weedle und Boggis wissen, worüber Midge und ich gesprochen hatten. Und so erzählte ich es ihnen rundheraus, in dem festen Glauben, dass die Sache damit erledigt sei. «Midge will losen», sagte ich, «um zu bestimmen, wer getötet werden soll, damit die anderen überleben.»

Sie sagten, es sei Unfug. Sie sagten, es sei Wahnsinn. «Er hat den Verstand verloren!», schrie Walter Weedle, und Penny spuckte Worte und Beleidigungen aus, die ich nicht wiederholen will. Ich war erleichtert angesichts dieser Reaktion. Wenigstens so lange, bis ich Midges Gesicht sah. Er war niedergeschmettert, als ob ihm seine letzte Hoffnung geraubt worden wäre, und ich fragte mich, ob wir nicht alle miteinander verrückt geworden waren.

Wir gingen zu unseren Plätzen zurück, aber damit war die Angelegenheit nicht vom Tisch. Der Gedanke, den Midge uns eingepflanzt hatte, wucherte wie ein giftiges Unkraut. Worüber hätten wir auch sonst nachdenken sollen? Stunde um Stunde saßen wir in dem schaukelnden und schwankenden Boot und starrten einander an. Weedle und Penny steckten die Köpfe zusammen und redeten leise, während unsere letzten Vorräte immer weiter schrumpften. Die Portionen, die wir austeilten, waren so klein, dass man sie kaum noch abmessen konnte. An dem Tag, an dem unser Wasser zu Ende ging, eskalierte die Situation.

«Lasst uns Lose ziehen!», schrien Weedle und Penny. «Wir müssen es tun. Lasst uns auslosen!» Immer noch zog der Hai seine Kreise um unser Boot. «Machen wir es jetzt, sofort», sagten sie. Die Sonne blitzte auf ihren Gesichtern.

Zum ersten Mal stellten sich Penny, Weedle und Midge zusammen gegen mich. «Du redest doch immer von Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit, Tom Tin», sagte Weedle. «Nun, es steht drei gegen zwei, stimmt’s? Wir machen es selbst.»

Ich traute weder Penny noch Weedle, und so stimmte ich dem Plan zu. Ich betete zu Gott, dass er mir vergeben würde. Ich bereitete sogar die Lose vor, riss fünf Streifen von dem ausgefransten Saum meines Hemdes. In einen davon knüpfte ich einen Knoten und zeigte ihn den anderen. Alle Streifen hatten die gleiche Länge und die gleiche Breite; abgesehen von dem Knoten waren sie identisch.

Ich rollte jeden einzelnen Streifen Stoff zu einem kleinen Ball und knüllte sie in meiner Hand zusammen. Die ganze Zeit war ich mir der Tatsache bewusst, dass ich so weit wie nie zuvor von dem Wunsch meines Vaters entfernt war, ich möge mich «edelmütig verhalten».

Wir versammelten uns in der Mitte des Bootes, wo das Bilgenwasser gurgelte. Benjamin Penny schleppte sich vom Bug her auf uns zu. Midgely kniete zu meiner Linken, Boggis zu meiner Rechten.

Ich streckte die Faust mit den Stoffstreifen aus. «Wer übernimmt das Töten?», fragte ich.

Keiner rührte sich. Midgely sagte: «Nenn es nicht ‹töten›, Tom. Nenn es ‹retten›. Denn das ist es.»

«Von mir aus kannst du es nennen, wie du willst.» Meine Hand zitterte von dem Gewicht des Stoffes, so entkräftet war ich bereits. «Wer zieht zuerst?»

«Völlig egal, wer zuerst zieht», sagte Weedle. «Jeder kommt dran, und niemand schaut nach, bis wir alle fertig sind.»

«Aber wer ist der Erste?», beharrte ich.

Ich dachte, dass niemand wagen würde, als Erster ein Los zu ziehen, dass selbst Penny nicht den Mut haben würde, die Sache durchzuziehen. Aber ich hatte kaum ausgesprochen, da schob sich eine Hand vor.

Es war Midgely. Er fiel fast vorwärts in seinem Eifer, packte zuerst meinen Arm und tastete sich dann daran entlang bis zum Handgelenk und schließlich zu meinen geschlossenen Fingern. Er drückte sie nach hinten, nahm einen Stoffball und hielt ihn eng an seine Brust gepresst.

Danach konnte es den anderen nicht schnell genug gehen und schließlich war nur noch ein Stück Stoff in meiner Hand übrig. Boggis fragte: «Schauen wir jetzt nach?»

«Es ist Tom Tin!», rief Midgely, obwohl noch keiner seine Hand geöffnet hatte und er nichts außer einem grauen Schleier vor den Augen sehen konnte. «Es ist Tom Tin, er macht’s, richtig?»

Wir rollten die Stoffbälle auseinander und sie flatterten in unseren Händen wie jämmerliche Fahnen. Ich starrte auf meinen Fetzen – auf denjenigen mit dem Knoten am Ende – und dann zu Weedle, der mich mit aufgerissenen Augen anstierte.

Der kleine Midge, der recht behalten hatte, hielt mir schon wieder seinen Stoffstreifen hin und sagte: «Jetzt losen wir aus, wer über Bord geht. Wer den Löffel abgibt.»

Sein Eifer verursachte mir eine Gänsehaut. Es war unerträglich mitanzusehen, wie viel Vergnügen ihm dieses grausige Geschäft bereitete. Mir kam in den Sinn, dass sein Vorschlag womöglich gar nicht dazu diente, irgendjemanden von uns zu retten, sondern nur dazu, Benjamin Penny den Garaus zu machen. Schließlich und endlich dürstete Midgely doch nach Rache, weil Penny ihn geblendet hatte.

Wir spielten das Ritual ein zweites Mal durch, allerdings nur noch mit vier Stoffstreifen. Ich ließ einen davon in das Bilgenwasser fallen und knüllte die restlichen erneut in meiner Hand zusammen. Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich war erleichtert, dass mir dieser zweite, schrecklichere Durchgang erspart blieb. Trotzdem zitterte meine Hand nun noch mehr als zuvor, und jeder von uns warf dem anderen scheele Seitenblicke zu und fuhr sich mit der Zunge über die sonnenverbrannten Lippen.

Wieder war Midgely der Erste von uns, der einen Streifen aus meiner Hand zerrte, wobei er die restlichen beinahe mit herauswarf. Die anderen folgten langsamer, und Midgely ließ sich vernehmen, noch bevor alle Lose gezogen waren.

«Es ist Benjamin Penny!», schrie er triumphierend. «Stimmt’s? Du bist es!» Er stand auf. Zum ersten Mal seit etlichen Stunden rappelte er sich auf die Beine. Das Boot schaukelte, und er schwankte im Rhythmus der Wellen. «Ich hab gesehen, dass du es bist! Ich hab’s im Traum gesehen, Benjamin Penny.»

Penny wurde kreidebleich. Er schaute sich um, von einem Gesicht zum anderen, dann hinunter zu seiner Hand, in der er das Los hielt. Nur er konnte das Stück Stoff sehen, das in seiner Handfläche lag. Dann überzog ein seltsamer Ausdruck sein Gesicht und ein kleiner Laut entschlüpfte seinen Lippen, fast wie ein Lachen.

Viertes Kapitel

Ein Segel am Horizont

«Mach ihn kalt!», kreischte Midgely. Seine Kehle war ausgetrocknet und seine Stimme hörte sich an wie die einer bösen Hexe. «Nimm die Axt, Tom! Mach’s jetzt gleich!»

Penny drehte die Hand um und ließ den Stoffstreifen ins Bilgenwasser fallen. Es war kein Knoten drin. Penny war aus dem Schneider.

«Ich hab es kommen sehen. Ich hab es gesehen», sagte Midgely.

Boggis faltete seinen Stoffstreifen auseinander; Walter Weedle tat es ihm nach. Der kleine Midge stand noch immer da mit dem Fetzen meines Hemdes, der ihm zwischen den Fingern baumelte. Er hielt das Stück mit dem Knoten.

«Ich wusste, dass du erledigt bist, Benjamin Penny», sagte er. «Ich hab es schon vor Tagen im Traum gesehen.»

Alle vier unverknoteten Stoffstücke schwammen im Bilgenwasser zu meinen Füßen. Ich hob sie auf und betrachtete sie, wünschte mir, ich könnte sie wieder an mein Hemd heften und alles ungeschehen machen, was wir getan hatten.

Endlich verstummte Midgely. Wir hörten das Wasser unter dem Boot gurgeln und klatschend gegen das Schaufelrad schlagen. Die Rückenflosse des Hais glitt mit einem leisen Zischen durch das Wasser, und der Schildkrötenpanzer klopfte sanft gegen die Rippen des Rumpfs.

Ganz langsam verwandelte sich Midgely wieder in den traurigen, ernsthaften kleinen Jungen. Er runzelte die Stirn, dann seufzte er und hielt sich das verknotete Stoffstück vor die blinden Augen.

«Ich bin es», sagte er mit leiser Verwunderung. «Ist es nicht so, Tom? Ich bin es.» Er zog den Streifen Stoff durch die Finger und keuchte leise auf, als er den Knoten spürte.

Penny lachte. Er lachte lang und ausgiebig, mit sündhafter Grausamkeit. Dann hob er die Axt auf und hielt sie mir hin. «Mach ihn kalt, Tom!», rief er und äffte Midgelys schrilles Kreischen nach. «Mach’s jetzt gleich!» Und wieder lachte er.

«Halt’s Maul!», brüllte Boggis. Zu mir gewandt, sagte er leise: «Es tut mir leid, Tom. Ich glaube, dein Vater wäre nicht froh darüber, was aus uns geworden ist.»

Ich schüttelte den Kopf. «Ganz gewiss nicht.»

«Wir hätten niemals mit dem Auslosen anfangen sollen», sagte Boggis.