Toni der Hüttenwirt 102 – Heimatroman - Friederike von Buchner - E-Book

Toni der Hüttenwirt 102 – Heimatroman E-Book

Friederike von Buchner

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Beschreibung

Diese Bergroman-Serie stillt die Sehnsucht des modernen Stadtbewohners nach einer Welt voller Liebe und Gefühle, nach Heimat und natürlichem Leben in einer verzaubernden Gebirgswelt. "Toni, der Hüttenwirt" aus den Bergen verliebt sich in Anna, die Bankerin aus Hamburg. Anna zieht hoch hinauf in seine wunderschöne Hütte – und eine der zärtlichsten Romanzen nimmt ihren Anfang. Hemdsärmeligkeit, sprachliche Virtuosität, großartig geschilderter Gebirgszauber – Friederike von Buchner trifft in ihren bereits über 400 Romanen den Puls ihrer faszinierten Leser. Anna lehnte sich an den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Sie beobachtete Toni, wie dieser versuchte, ihr Geburtstagsgeschenk aufzuhängen. Er hatte ihr einen Stich des Hamburger Hauptbahnhofes geschenkt. Annas Onkel hatte ihn für Toni gekauft und per Express nach Waldkogel geschickt zu Tonis Eltern. »Etwas höher noch …, mehr links ..., nein, jetzt nach rechts …, noch etwas nach unten«, kommandierte Anna. Toni schlug den Nagel ein. »So, des haben wir! Soll ich den Stich aufhängen, oder willst du es machen?«, fragte Toni. »Du!« Toni nahm vorsichtig den gerahmten Stich vom Bett und hängte ihn an die Wand. Er stellte sich neben Anna und legte den Arm um ihre Schultern. Anna lehnte sich an Toni. Sie hob den Kopf und schaute ihm zärtlich in die Augen. Sie umarmten und küss­ten sich. »Danke, für das schöne Geburtstagsgeschenk, Toni! Du hast mir damit wirklich eine große Freude gemacht.« »Des freut mich, Anna! Mei, es war net so leicht, ein Geschenk für dich zu finden. Du bist eben so bescheiden und äußerst nie Wünsche.« Anna lachte und gab Toni einen Kuss. »Toni, was soll ich mir wünschen? Ich habe hier alles, was ich mir wünschen könnte. Da bist du, mein lieber Mann. Auf unserer Berghütte sind wir jeden Tag zusammen. Das ist mehr, als viele andere Frauen haben, deren Männer gehen morgens zur Arbeit und kommen oft erst spät am Abend zurück. Wir dagegen stehen gemeinsam auf und sind den ganzen Tag zusammen, bis wir uns abends schlafen legen. Wir haben hier alles, was wir brauchen, ein schönes Heim, an einem der herrlichsten Flecken auf Erden.

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Toni der Hüttenwirt – 102 –

Eine Lektion im Lehrfach Liebe

Friederike von Buchner

Anna lehnte sich an den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Sie beobachtete Toni, wie dieser versuchte, ihr Geburtstagsgeschenk aufzuhängen. Er hatte ihr einen Stich des Hamburger Hauptbahnhofes geschenkt. Annas Onkel hatte ihn für Toni gekauft und per Express nach Waldkogel geschickt zu Tonis Eltern.

»Etwas höher noch …, mehr links ..., nein, jetzt nach rechts …, noch etwas nach unten«, kommandierte Anna.

Toni schlug den Nagel ein.

»So, des haben wir! Soll ich den Stich aufhängen, oder willst du es machen?«, fragte Toni.

»Du!«

Toni nahm vorsichtig den gerahmten Stich vom Bett und hängte ihn an die Wand.

Er stellte sich neben Anna und legte den Arm um ihre Schultern.

Anna lehnte sich an Toni. Sie hob den Kopf und schaute ihm zärtlich in die Augen. Sie umarmten und küss­ten sich.

»Danke, für das schöne Geburtstagsgeschenk, Toni! Du hast mir damit wirklich eine große Freude gemacht.«

»Des freut mich, Anna! Mei, es war net so leicht, ein Geschenk für dich zu finden. Du bist eben so bescheiden und äußerst nie Wünsche.«

Anna lachte und gab Toni einen Kuss.

»Toni, was soll ich mir wünschen? Ich habe hier alles, was ich mir wünschen könnte. Da bist du, mein lieber Mann. Auf unserer Berghütte sind wir jeden Tag zusammen. Das ist mehr, als viele andere Frauen haben, deren Männer gehen morgens zur Arbeit und kommen oft erst spät am Abend zurück. Wir dagegen stehen gemeinsam auf und sind den ganzen Tag zusammen, bis wir uns abends schlafen legen. Wir haben hier alles, was wir brauchen, ein schönes Heim, an einem der herrlichsten Flecken auf Erden. Wir haben die Bichler Kinder adoptiert und der gute alte Alois ist auch bei uns wie ein Großvater. Was soll ich mehr wollen?«

Toni gab ihr einen Kuss.

»Mei, Anna, mir geht es genauso! Weißt, ich habe immer davon geträumt, Hüttenwirt auf der Berghütte zu werden. Aber, dass es so ein schönes Leben sein wird, mit einem außergewöhnlichen Madl an meiner Seite, das ich so liebe ...«

»Und das dich liebt!«, warf Anna ein.

»Richtig, das mich so liebt und meine Träume zu seinen macht, des hab’ ich mir net vorstellen können. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mich eines Tages in eine junge hübsche Bankerin verliebe und die aus Liebe zu mir ihren Beruf, ihre großartige Karriere aufgibt, mei, den hätte ich für verrückt erklärt. Des kommt mir alles immer noch wie ein Wunder vor.«

»Mir auch, Toni! Da ist eben das große Wunder der Liebe!«, seufzte Anna glücklich aus tiefstem Herzen. »Ich konnte mir so ein Leben nicht vorstellen. Ja, ich wusste nicht einmal, dass es so ein Leben gibt. Und jetzt ist es wirklich das Paradies auf Erden. Toni, liebster Toni, ich bin wirklich restlos glücklich!«

»Das freut mich! Manchmal denke ich, dass es viel Arbeit ist und ich dir zu viel aufbürde.«

»Toni, was redest du für einen Schmarrn? Ich will dir mal etwas sagen. Erstens, kann ich etwas einwenden, wenn es mir zu viel wird. Dann teilen wir uns die Arbeit anders ein. Zweitens, habe ich in Hamburg in der Bank viel mehr gearbeitet, das war wirklicher Stress. Hier empfinde ich die Arbeit als etwas sehr Schönes, etwas, was mir tief in meinem Inneren ein warmes Gefühl der Zufriedenheit gibt. So etwas kannte ich in Hamburg nicht. Meine Aufgabe und mein Leben hier füllen mich aus, und ich bin restlos glücklich. Für nichts auf der Welt möchte ich tauschen!«

»Ich will auch nicht tauschen!«

Sie küssten sich wieder.

»So, nach diesem romantischen Rückblick sollten wir wieder an die Arbeit gehen!«

»Ja, aber heute ist es etwas ruhiger. Ich denke, des wird auch bis zum Abend so bleiben.«

»Damit meinst du, dass der trübe Himmel noch andauert?«

»Ja, Anna! Aber Regen muss es auch geben. Alle wollen immer Sonnenschein haben – immer! Aber wo soll dann das Grundwasser herkommen? Dann würden die Quellen versiegen und die schönen Gebirgsbäche austrocknen, und Almen mit saftigem Gras würde es auch nimmer geben.«

Toni lachte.

»Als ich die Tage bei den Eltern unten im Dorf war, da lief bei der Mutter in der Küche der Fernseher. Es kam gerade die Wettervorhersage. Was haben die einen Schmarrn geredet, weil es jetzt einige Tage ein bissel feucht werden würde! Ich dachte bei mir, sind die denn alle deppert? Der Wettermoderator hat sich bei den Zuschauern für die Vorhersage des leichten Regenwetters indirekt entschuldigt. So ein Spinner!«

Anna lachte.

»Toni, rege dich nicht auf!«

»Ich rege mich net auf. Mich wundert nur manchmal die Dummheit der Menschen. Weißt, früher, da waren die Leut’ zufriedener, denke ich oft. Sie nahmen an, wie es kam, das Wetter genauso wie die Höhen und Tiefen des Lebens. Heute wollen sie nur noch Höhen. Sie wollen immer höher hinauf. Alles muss noch größer, noch schöner, noch prächtiger und noch teurer und moderner sein. Diese Höhenflieger gehen mir manchmal gewaltig auf die Nerven.«

»Sie werden es noch lernen, Toni. Jeder Mensch muss seine Erfahrungen machen. Die meisten lernen aus Erfahrungen. Andere sind wie Ikarus, der immer höher hinaus wollte und schließlich der Sonne zu nahe kam. Das nahm dann ein böses Ende. Religion, Geschichte, Legenden und Mythen geben den Menschen viele Beispiele dafür, was gut und richtig ist und was nicht so gut ist. Aber jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden. In Hamburg habe ich als Bankerin meistens nur mit Menschen zu tun gehabt, für die nur das Geld zählte. Sie wollten nur mehr und immer mehr. ›Sie waren hinter dem Geld her, wie der Teufel hinter einer armen Seele‹, so sagt der Volksmund. Sie waren nie, niemals zufrieden. Sie waren süchtig nach Geld wie ein Suchtkranker. Sie waren auf der Suche nach vollkommener Zufriedenheit und dachten, sie stellte sich ein, wenn sie noch mehr Geld haben.

Toni, ich sage dir, sie haben die Zufriedenheit nicht gefunden. Aber es war ihr Leben. Ich mache meinen ehemaligen Kunden keinen Vorwurf. Ich verurteile sie nicht. Jemanden für seinen Lebensentwurf und seine Lebensziele zu verurteilen, dazu hat kein anderer Mensch ein Recht. Ich sage dir aber, aus heutiger Sicht habe ich Mitleid mit ihnen. Sie werden das schöne Gefühl, das wir beide in unseren Herzen spüren, nie erleben. Es sind bedauernswerte Geschöpfe. Weißt du, jeder braucht ein Einkommen, keiner sollte hungern oder frieren.

Doch jeder sollte eine Balance finden zwischen dem, was notwendig ist, um sein Leben zu bestreiten, dem, was möglich ist und dem, was die Lebensqualität verringert, wenn man genau hinschaut.«

Anna streichelte Toni die Wange.

»Toni, du und ich, wir können daran wenig ändern. Was du und ich tun können, das tun wir. Wir bieten hier auf der Berghütte eine Idylle.«

Anna lächelte Toni an.

»Toni, die Anzahl der Hüttengäste steigt stetig an. Das heißt, dass immer mehr Menschen die alten Werte suchen. Auch wenn sie in ihrem täglichen Leben immer weniger die alten Werte leben können, um so mehr genießen sie den Aufenthalt bei uns auf der Berghütte.«

»Ja, so ist es! Deshalb habe ich auch darauf bestanden, dass die Berghütte nicht modernisiert wird und dass es keine Straße herauf gibt und nicht ständig elektrischen Strom aus der Steckdose. Weißt, Anna, ich denke, für viele ist die Berghütte ein wirklicher Zufluchtsort. Hier können sie Kraft schöpfen.«

»Ja, so ist es! Und die Erinnerung an den Aufenthalt bei uns in den Bergen, der gibt ihnen ein tröstliches Polster für den Alltag, wenn sie wieder daheim sind. Sie füllen hier ihr Herz mit Freude und Kraft an.«

Sie gingen hinaus. Anna schaute in der Küche nach dem Hefeteig. Sie wollte Apfelkuchen backen. Toni ging hinter die Berghütte und hackte Holz.

*

Burgl war draußen auf der Terrasse. Sie räkelte sich auf der Sonnenliege und las einen Roman. Es war ein alter Roman, der in den Bergen spielte. Burgl genoss es. Der Leidenschaft, Kitschromane zu lesen, wie ihr Lebenspartner Jochen diese Literatur bezeichnete, frönte sie nur, wenn er nicht da war. Burgl, die seit Jahren in Berlin lebte und als freie Grafikerin arbeitete, litt unter Heimweh.

Sie war in Waldkogel geboren und dort aufgewachsen. Ihr Vater arbeitete in Kirchwalden. Mit sechzehn Jahren war sie mit ihren Eltern nach Berlin gezogen, weil ihr Vater dort eine sehr gute Arbeit gefunden hatte. Sie hatte ihr Abitur gemacht und Grafik und Design studiert. Jetzt stand bald ihr dreißigster Geburtstag an. Burgl hatte für sich ganz im Stillen Bilanz gezogen. Sie war nicht unglücklich, aber glücklich war sie auch nicht. Auf der einen Seite lebte sie in einer Beziehung, aber sie verspürte auf der anderen Seite seit einiger Zeit eine stetig wachsende Leere, eine tiefe innere Einsamkeit. Ihrem Heimweh konnte sie sich nur hingeben, wenn Jochen fort war. Sonst träumte sie nachts von Waldkogel und ihrer Kindheit, schwieg aber Jochen gegenüber bewusst über ihre nächtlichen Träume und ihre Tagträume.

Burgl sehnte sich nach einer Familie. Sie wäre bereit, Jochen zu heiraten. Doch Jochen wehrte jedes Mal ab, wenn Burgl vorsichtig das Thema anging.

»Was willst du? Uns geht es doch gut! Wozu noch einen Trauschein? Wir sind erwachsene Menschen mit Zielen. Unser Leben funktioniert doch gut«, hatte er jedes Mal gesagt.

Burgl kannte diese Sprüche schon auswendig. Es schmerzte sie. Trost fand sie in den Heimatromanen. Sie stellte sich beim Lesen vor, die Geschichten spielten in den Bergen, in ihrer Heimat, die sie so vermisste.

Burgl hatte es nicht geschafft, sich von Jochen zu lösen. Er war sehr gutaussehend, eben ein Mann wie aus einem Modemagazin für Männer. Viele waren hinter ihm her gewesen. Es war schmeichelhaft für Burgl gewesen, dass sie ein Paar wurden. Jochen war Juniorpartner in einem erfolgreichen Architekturbüro, das sich bundesweit einen Namen gemacht hatte. Er arbeitete sehr viel, und Burgl hatte als Freiberuflerin dafür auch Verständnis. Aber die romantischen Abende wurden immer seltener. Schon bald waren sie zusammengezogen und hatten gemeinsam diese Penthouse-Wohnung über den Dä­chern der Stadt gekauft. Im ersten Jahr hatten sie gemeinsam die Sonnenuntergänge auf der Terrasse genossen. Jetzt war Burgl sehr oft alleine.

Burgl, die mit vollem Namen Burghilde Luckner hieß, ließ ihr Buch sinken und hörte in sich hinein. Die weibliche Romanfigur hatte sich gefragt, ob sie den Burschen liebte.

»Liebe ich Jochen noch?«, flüsterte sie vor sich hin.

Sie erschrak selbst über ihre Worte. Ihr Herz fing an zu klopfen. Burgl wusste nicht warum. War es das freudige Pochen der Liebe? Oder kam es von dem Schreck, den die Frage bei ihr ausgelöst hatte?

Sie dachte an Jochen, hörte in sich hinein. Sie verglich ihn mit den anderen Männern, die sie vor Jochen gekannt hatte. Diesen Vergleich entschied der smarte Jochen für sich. Aber so verliebt wie am Anfang bin ich nicht mehr, wurde ihr plötzlich bewusst. Diese Erkenntnis war ihr einfach so gekommen.

Warum ist das so?

Was hat sich in meinem, in unserem Leben geändert?

Geht es allen Paaren so, die länger zusammen sind?

Vielleicht ist es ganz normal, dass es so ist, dachte sie. Die Schmetterlinge fliegen nicht mehr so schnell.

Liebe ich ihn, weil ich ihn lieben will oder liebe ich ihn, weil ich ihn wirklich liebe?

Burgl stand auf und ging in die Küche. Sie holte sich einen Saft aus dem modernen Kühlschrank, der auch Eiswürfel spendete. Jochen hatte darauf bestanden, ihn zu kaufen. Jochen hat im Prinzip all seine Wünsche bei der Wohnungseinrichtung durchgesetzt, bis auf ihr Studio. Barfuß wanderte Burgl durch die Räume. Sie waren sehr geschmackvoll eingerichtet. Doch es war irgendwie Jochens Heim, nicht das ihre. Es gab teure moderne Kunst, die Burgls Seele nicht berührte.

Burgl erkannte plötzlich, dass es an Wärme fehlte, an Gemütlichkeit, an Leben. Alles war steril und kalt. Ihre Gedanken wanderten wieder zurück in die schöne Zeit der Kindheit. Die Häuser mit den weit vorgezogenen Dächern, die im Winter gegen Schnee schützten, vermittelten Geborgenheit. Die Wärme des großen Kachelofens, der von der Küche aus befeuert wurde, verbreitete nicht nur Wärme, sondern auch Gemütlichkeit. Der weiße Kunstkamin mit der elektrischen Befeuerung in der Luxuswohnung konnte dagegen nicht mithalten.

Burgl nippte an ihrem Saft. Sie ging wieder hinaus auf die Terrasse.

Burgl konnte nicht sagen, wie lange sie dort gestanden hatte. Sie war ganz in Gedanken versunken gewesen. Die Stimme, die aus dem Lautsprecher drang, holte sie in die Wirklichkeit zurück.

»Hallo, Burgl! Ich bin es, Sabine aus Waldkogel. Habe geläutet, wollte dich überraschen! Also erstmal liebe Grüße! Melde dich!«

Burghilde riss den Hörer vom Telefon.

»Bine! Hallo, Binchen, ich bin da! Wo bist du?«

»Mei, ich stehe hier unten vor dem Haus!«

»Komme rauf!«

Burgl legte auf und betätigte den Türöffner. Auf dem Monitor sah sie ihre Freundin aus Kindertagen sich gegen die Tür werfen.

Burghilde rannte ins Treppenhaus und wartete beim Aufzug. Sie fuhr sich mit den Händen ins Gesicht und strich die Haare zurück. Erst jetzt fühlte sie, dass ihr Gesicht nass war. Burgl rannte in die Wohnung zurück und betrachtete sich in dem deckenhohen Spiegel im Flur. Die Tränen hatten deutliche Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Wie dunkle Rinnsale hatten sie ihre abgelöste Wimperntusche über die Wangen verteilt.

»Dabei soll die Tusche wasserfest sein!«, schimpfte Burgl.

Sie hörte, wie sich die Aufzugstür öffnete. Schnell rannte sie ins Badezimmer am anderen Ende des Flurs. Dabei rief sie:

»Komm rein, Sabine, und mache es dir bequem! Ich komme gleich! Muss nur noch mein Make-up erneuern.«

Augenblick später stand die Freundin aus Kindertagen in der offenen Tür des Badezimmers.

»Mei, für mich musst keine Kriegsbemalung anlegen!«

Dann sah Sabine, dass die Freundin Tränenspuren im Gesicht hatte. Sie trat neben Burgl, nahm sie bei den Schultern, drehte sie zu sich herum und schaute ihr in die Augen.

»Du hast geweint! Was ist los? Wolltest du deswegen die Tür nicht aufmachen? Ich habe mehrmals geklingelt.«

Burgl schaute die Freundin nur an. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sabine nahm sie in den Arm und ließ sie weinen. Dabei flüsterte sie leise:

»Erst mal ein herzliches ›Grüß Gott!‹ Es scheint, der Herrgott hat mich zur rechten Zeit geschickt.«

Als Antwort erhielt sie ein Schluchzen.

Sabine hielt die Freundin noch einen Augenblick fest. Dann drückte sie sie von sich. Sie nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Stuhl im Badezimmer.

»Setzen!«, sagte Sabine streng. »Jetzt nehme ich mal die Sache in die Hand! Mei, wie du ausschaust! Madl, Madl!«

»Lass mich, ich wollte mir gerade das Gesicht waschen.«

»Des mache ich jetzt. Wo hast du …«

»Dort im Spiegelschrank!«

»Spiegelschrank – wie geht der auf?«

Mehrere Meter über den beiden Waschbecken waren mit Spiegeln bedeckt. Sabine konnte keinen Griff entdecken. Burghilde berührte eine beleuchtete Fliese an der Wand, und ein Teil des Spiegels bewegte sich wie von Zauberhand hydraulisch nach oben und gab den Blick auf die Kosmetik frei.

»Mei, das ist ja wie im Märchen! So einen Spiegelschrank habe ich noch nie gesehen!«

»Gibt es auch noch nicht im Handel. Wird auf der nächsten Messe vorgestellt.«

»Lass mich raten! Das Ding ist eine Entwicklung von deinem Jochen, stimmt es?«

Burghilde nicke. Sabine säuberte der Freundin mit einer Reinigungstinktur die Wangen.

»So ist es gut, Madl! Jetzt kann man dich wieder anschauen, ohne gleich Angst zu bekommen.«

Ein scheues und verlegenes Lächeln huschte über Burghildes Gesicht.

»Ich habe erst gemerkt, dass ich wohl geweint habe, als ich dir aufmachte.«

»Himmel, wenn du so weggetreten warst, dann musst du echt großen Kummer haben.«

Sabine zog die Augenbrauen hoch und sah Burghilde an.

»Bist also schon dahintergekommen, wie?«

»Hinter was soll ich gekommen sein?«

Sabine erkannte, dass die Freundin wohl völlig ahnungslos war.

»Ach, darüber reden wir später! Ich hätte Lust auf einen Kaffee.«

»Gute Idee! Lass uns in die Küche gehen!«

Burgl ging voraus. Sabine, die auch Bine oder Bienchen genannt wurde, folgte ihr.

»Setz dich!«

Sabine nahm Platz.

Während sie Burghilde zusah, wie sie die chromblitzende italienische Kaffeemaschine in Gang brachte, erzählte sie.

»Ich war auf einer Tagung an der Ostsee. Da dachte ich mir, ich überrasche dich auf dem Rückweg.«

»Gute Idee, im Prinzip – aber ein schlechter Zeitpunkt.«

»Burgl, der Zeitpunkt ist richtig! Ich bin genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Du bist völlig daneben, wie man sagt. Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist?«

»Ach, ich weiß auch nicht! Jochen ist zu einer Präsentation nach Hannover. Das Studio präsentiert die neuen Entwürfe. Er wird entweder spät kommen oder erst morgen.«

»Warum hat er dich nicht mitgenommen? Du kannst dir als Freischaffende deine Zeit doch einteilen.«