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Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Meine Tochter ist verreist?« fragte Iris Mayring erstaunt auf die Mitteilung des Mädchens Gerda. »Herr Doktor holte Fräulein Ingrid ab und übergab mir dieser Brief.« Gerda händigte Frau Iris das schmale Kuvert aus, das diese überlegend in den Fingern drehte. Dann war sie allein. Liebste Muschi-Mutti! Ich muß sofort dringend nach Berlin fahren. Ich habe Ingrid mitgenommen. Entschuldige, daß wir Dich vorher nicht benachrichtigt haben. Wir haben reihum telefoniert, Du warst jedoch bei keinem unserer Bekannten zu erreichen. Wir hoffen, morgen wieder hier zu sein. Iris Mayring ließ den Brief sinken. Ihr schönes Gesicht sah müde und bleich aus. Nein, Michael hätte sie nicht finden können. War sie doch stundenlang umhergeirrt, ohne Ziel, bis sie sich matt, an allen Gliedern wie zerschlagen, wieder in ihrem Heim eingefunden hatte. Iris Mayrings Hände fuhren nach dem Kopf. Sie fand sich in dem Wirrwarr ihrer Gedanken nicht mehr zurecht. Begonnen hatte dieser Zwiespalt mit einer kurzen Zeitungsnotiz. Eine kleine Zeitungsnotiz war fähig gewesen, in ihren Seelenfrieden einzubrechen wie ein beutegieriger Wolf in eine Herde Schafe. Ihre Augen suchten scheu die Zeitung.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2020
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»Meine Tochter ist verreist?« fragte Iris Mayring erstaunt auf die Mitteilung des Mädchens Gerda.
»Herr Doktor holte Fräulein Ingrid ab und übergab mir dieser Brief.«
Gerda händigte Frau Iris das schmale Kuvert aus, das diese überlegend in den Fingern drehte.
Dann war sie allein. Sie brach den Umschlag auf und las:
Liebste Muschi-Mutti!
Ich muß sofort dringend nach Berlin fahren. Ich habe Ingrid mitgenommen. Entschuldige, daß wir Dich vorher nicht benachrichtigt haben. Wir haben reihum telefoniert, Du warst jedoch bei keinem unserer Bekannten zu erreichen.
Wir hoffen, morgen wieder hier zu sein.
Dein Michael
Iris Mayring ließ den Brief sinken. Ihr schönes Gesicht sah müde und bleich aus. Nein, Michael hätte sie nicht finden können. War sie doch stundenlang umhergeirrt, ohne Ziel, bis sie sich matt, an allen Gliedern wie zerschlagen, wieder in ihrem Heim eingefunden hatte.
Iris Mayrings Hände fuhren nach dem Kopf. Sie fand sich in dem Wirrwarr ihrer Gedanken nicht mehr zurecht. Begonnen hatte dieser Zwiespalt mit einer kurzen Zeitungsnotiz. Eine kleine Zeitungsnotiz war fähig gewesen, in ihren Seelenfrieden einzubrechen wie ein beutegieriger Wolf in eine Herde Schafe.
Ihre Augen suchten scheu die Zeitung. Dort lag sie, wie achtlos hingeworfen. Ihr Blick wandte sich voller Verzweiflung von diesem unseligen Zeitungsblatt.
Die Hausglocke schlug an, und sofort fühlte sie, da kam Gefahr. In ihr blasses, ebenmäßiges Gesicht stieg eine unnatürliche Röte. Gespannt war ihr Blick auf die Tür gerichtet.
Gerda kam mit der Karte.
»Der Herr wünscht Sie zu sprechen.«
Iris Mayring griff unwillig nach der Besuchskarte, und noch ehe sie den Namen erfaßt hatte, erschien der Gast in der Tür.
Betreten blickte Gerda in das plötzlich schneeweiße Gesicht ihrer Herrin, die ihr mit einer herrischen Bewegung bedeutete, das Zimmer zu verlassen.
Das Mädchen schloß die Tür hinter dem Gast, und Iris Mayring erwachte aus ihrer Lähmung.
»Doktor Hellberg! Gütiger Himmel, die Toten stehen auf!«
Die Augen des Mannes ruhten kalt auf dem schreckverzerrten Gesicht der Frau.
»Ich habe niemals zu den Toten jener Katastrophe gezählt. Sie haben mich wohl nur im Innern totgeschwiegen, um Ihr eigenes Gewissen damit zu beruhigen«, spottete er. » Sie scheinen zu ahnen, was mich zu Ihnen führt.«
»Ach, nichts von Bedeutung, gnädige Frau, nur die Beantwortung einiger Fragen«, sagte er in fast gleichgültigem Tone, der Iris Mayring jedoch erzittern ließ. »Sie werden doch die Zeitungsnotiz gelesen haben. Oder ist sie Ihnen nicht aufgefallen?«
Iris Mayring hob furchtsam die Hand.
»Lassen Sie mich mit diesen Angelegenheiten in Ruhe!« rief sie leidenschaftlich. »Die Vergangenheit ist tot für mich. Ich – ich will damit nichts mehr zu schaffen haben.«
Doktor Hellberg zog gelassen seine Zigarettendose und fragte verbindlich: »Sie gestatten doch?«
Iris Mayring brachte nicht die geringste Bewegung zustande.
Sie starrte nur aus übergroßen Augen auf den Mann, dessen Anblick sie in diesen Zustand grenzenloser Aufregung versetzt hatte.
»Sie haben eine merkwürdige Art, Unangenehmes von sich abzuschütteln«, begann Doktor Hellberg in leichtem Plauderton, der Iris mahnte, auf der Hut zu sein.
Oh, sie kannte diesen Mann, der mit seiner eisernen Ruhe ein gefährlicher Gegner war, und der, wenn er ein bestimmtes Ziel verfolgte, nicht eher ruhte, bis er es erreicht hatte.
War er ihr Gegner?
»Ich schwöre Ihnen, ich bin nicht schuldig. Ich…«
Ihre Stimme brach. Stöhnend barg sie das Gesicht in den Händen.
Doktor Hellberg beachtete den Schmerzensausbruch der Frau nicht.
Er blickte an der Frau vorbei. Seine Augen waren in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Ohne Gemütsbewegung sagte er:
»Ich habe weder Vater- noch Mutterliebe gekannt, aber ich hatte einen Freund, einen einzigen, treuen Freund. Wir waren unzertrennlich, und wir ergänzten uns vorzüglich.
Dann trat eine Frau in das Leben meines Freundes. Sie war unser beider Schicksal, denn auch ich liebte diese Frau.«
Doktor Hellberg stockte. Er fühlte den erstaunten Blick Iris Mayrings auf sich ruhen, und er fühlte auch, daß diese Frau immer noch Macht über ihn hatte. Ihre Nähe ließ sein Herz erzittern, genau wie damals, vor vielen Jahren.
Aber nein. Er kannte nur noch ein Ziel, und das würde er erreichen, selbst wenn er über das Herz dieser Frau schreiten müßte.
Härter wurde seine Stimme.
»Ich habe damals wenig gekämpft um diese Frau, denn für mich stand von vornherein fest, daß ich verzichten mußte, verzichten zugunsten meines Freundes.
Mein Freund liebte die Frau abgöttisch, und er wurde doch von dieser Frau verraten.
Ich sah den Freund leiden und war hilflos. So wurde ich aus Freundestreue zum Feind der Frau, und sie streute ein häßliches Gift aus.
Mein Freund wurde irre an mir. Er ist mit dem Zweifel an meine Treue gestorben, ohne zu ahnen, daß ich über ihn und sein Werk gewacht hatte, treu und selbstlos.
Ich werde auch weiterhin wachsam sein, gnädige Frau!« Nun wandte er sich direkt an Iris Mayring. »Ich warne Sie, Iris Mayring! Gehen Sie den Weg der Pflicht, ehe es zu spät ist!
Vernichten Sie die Dokumente, und falls sie sich nicht in Ihrem Besitz befinden – ich weiß es nicht –, dann zwingen Sie den Mann, bei dem ich sie vermute, zur Vernichtung der Papiere. Ersparen Sie sich und allen daran Beteiligten neues Herzeleid.«
Sie hob die schreckgeweiteten Augen. »Sie sind gekommen, Ihren Freund zu rächen?«
»Ja!«
»Sie wollen den Kampf?« fragte sie mühsam beherrscht.
»Ja, denn ich diene der Gerechtigkeit«, antwortete er.
»Gut!« Iris Mayring richtete sich hoch auf. Ihr Gesicht war unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt. »Ich nehme den Kampf auf. Sie dienen der Gerechtigkeit. Sie wollen Ihr Ziel erreichen, rüchsichtslos, selbst wenn Sie dabei über das Herz einer Mutter schreiten müssen. Ich aber kämpfe um die Liebe und Achtung meiner Kinder. Niemals – hören Sie –, niemals werden sie erfahren, was sich damals Furchtbares abspielte.«
»Sie sind unklug, Iris Mayring«, antwortete Doktor Hellberg nach kurzem, eisigem Schweigen fast traurig. »Sie begeben sich in Gefahr, und Sie werden darin umkommen, wenn Sie nicht rechtzeitig Vernunft annehmen.
Sie haben mir einen wertvollen Fingerzeig gegeben. Nun weiß ich, wo ich anzugreifen habe. Sie haben die Zeitungsnotiz wohl gelesen und deren Sinn gut verstanden. Guten Abend!«
Die Tür klappte hinter dem Besucher ins Schloß.
Iris Mayring stand immer noch hochaufgerichtet inmitten des Zimmers, entschlossen zu kämpfen.
Es geht mir nur um die Liebe und Achtung meiner Kinder. Nicht nur um meinen Seelenfrieden allein handelt es sich, es geht auch um das Seelenheil meiner Kinder. Ingrid und Michael dürfen niemals in den Schmutz der Vergangenheit gerissen werden, dachte sie krampfhaft, dann fiel sie völlig erschöpft in einen Sessel und barg, bitterlich schluchzend, das Gesicht in den Händen.
*
Totenstille herrschte in Doktor Eck-brechts Arbeitszimmer. Der Notar ließ seinem Gegenüber Zeit, zu begreifen, was er ihm eben vorgelesen hatte.
Endlich hob Doktor Michael Mayring den Kopf. In seinen hellen Augen lag das Grauen.
»Damit wäre das Geheimnis um den rätselhaften Tod meines Vaters vor beinahe zwanzig Jahren gelöst«, sagte er im Ton tiefster Erschütterung. »Und was veranlaßte Sie, Herr Doktor, mir heute diese Tragödie zu enthüllen?«
Doktor Eckbrecht griff nach einer Zeitung und legte sie vor Doktor Mayring nieder. Er wies auf eine rotumrandete Stelle.
Michael Mayring las und legte kopfschüttelnd die Zeitung nieder.
»Ich verstehe nicht. Was hatte dieser Doktor Murphy mit der Katastrophe vor zwanzig Jahren zu schaffen?«
Das Gesicht des Älteren nahm einen harten Ausdruck an.
»Die Teilnehmer der damaligen Expedition, die um den eigentlichen Zweck wußten, waren ein Freund Ihres Vaters, Doktor Hellberg, dann ein gewisser Sommerfield, ein Amerikaner, der der Expedition wertvolle Dienste leisten konnte, da er mit den Örtlichkeiten gut vertraut war, und Ihre Frau Mutter.
Sommerfield hatte es verstanden, völlig das Vertrauen Ihres Vaters zu gewinnen. Inwieweit er über alles unterrichtet war, entzieht sich meiner Kenntnis. Meine Aufgabe war es, die Personen, die damals an der Expedition teilnahmen, zu überwachen.
Doktor Hellberg ist wie vom Erdboden verschwunden, vielleicht ist er auch ums Leben gekommen. Sommerfield lebt aber noch. Er ist jetzt erst wieder an die Öffentlichkeit getreten. Sein Name Sommerfield war nur ein angenommener, was zählte damals schon ein Name, Hauptsache, er war ein ganzer Kerl.
Heute ist dieser Sommerfield unter seinem richtigen Namen in Deutschland wieder aufgetaucht. Er ist kein anderer als dieser Doktor Murphy.
Sie lasen soeben, daß dieser Doktor Murphy eine neue Expedition plant, und zwar in das gleiche Gebiet, das schon auf Ihren Herrn Vater eine so große Anziehungskraft ausübte.«
»Und was hat meine Mutter mit der ganzen Angelegenheit zu schaffen?«
»Sie war nur die Leidtragende, denn sie verlor dabei den treuen Lebenskameraden, ihren Gatten. Als gebrochene Frau kehrte sie mit Ihnen und Ihrer Schwester nach Deutschland zurück.«
»Arme Mutter«, flüsterte Michael mitleidig. Dann richtete er sich straff auf. »Mein Vater soll nicht vergebens aus dem Grab heraus zu mir gesprochen haben.
Ich werde die Dokumente herbeischaffen, um sie für immer verschwinden zu lassen. Es soll so sein, wie mein Vater bestimmt hat. Es ist genug Blut geflossen um das Gold.«
Mit Wohlgefallen ruhten die Augen des Notars auf Michael Mayrings scharfgeschnittenem Gesicht. Genauso wie jetzt sein Sohn, so hatte der Professor in seiner Jugend ausgesehen. Er reichte ihm herzlich die Hand. »Recht so, mein junger Freund. Meines Beistandes sind Sie gewiß. Und vergessen Sie nicht: Lassen Sie Ihre Mutter völlig aus dem Spiel. Ihr Vater hat es so gewünscht. Er wird seinen Grund dabei gehabt haben.«
*
Eine scharfe Falte lag auf Doktor Mayrings Stirn, als er das Haus des väterlichen Freundes verließ.
Er stieg in seinen Wagen und fuhr, benommen von den Ereignissen der letzten Stunde, durch den regen Verkehr zum Hotel zurück.
Gewaltsam zwang er seine Gedanken in eine andere Richtung, aber immer wieder liefen sie in einem Punkt zusammen: Gunhild Bruckner – Dr. Hellberg – Dr. Murphy – die Dokumente – und die Mutter, die völlig ahnungslos von alledem bleiben mußte.
Ein heller Schrei riß ihn jäh aus seinen Grübeleien.
Dicht vor seinem Wagen kam ein Kind zu Fall. Michael gelang es, den Wagen noch rechtzeitig herumzureißen, hart an der Bordkante kam er zum Stehen.
Augenblickslang war Doktor Mayring wie erstarrt, und ehe er noch aus seinem Wagen war, sah er eine Frauengestalt auf die Unglücksstelle zugelaufen kommen.
Jetzt kniete die Frau am Boden und nahm das Kind mütterlich in die Arme.
Doktor Mayring öffnete den Schlag und stand, nun wieder Herr seiner Nerven, vor dem jungen Geschöpf, das vorwurfsvoll zu ihm aufsah.
»Da haben Sie noch einmal Glück gehabt. Das Kind ist unverletzt.«
Doktor Mayring fand kein Wort zu seiner Verteidigung.
Eine energische Stimme ließ ihn herumfahren.
»Der Herr hat gar keine Schuld«, sagte ein Radfahrer. »Ich habe es genau gesehen, denn ich fuhr hinter dem Wagen her. Der Herr ist sehr langsam gefahren, die Kleine lief ihm direkt in den Wagen hinein.«
Doktor Mayring atmete tief. Er fühlte sich nicht ganz frei von Schuld, da seine Gedanken nicht bei der Fahrt gewesen waren. Die Rede des Mannes brachte ihm etwas Erleichterung.
Immer noch sah er in die großen, rätselhaften Augen des jungen Mädchens, und der vorwurfsvolle Blick, der ihm daraus entgegensprang, störte ihn ungemein.
Er beugte sich liebevoll zu der weinenden Kleinen hinab.
»Hast du dir auch wirklich nicht weh getan?«
»Nei-ei-n«,weinte das Kind auf. »Ich will zu meiner Mutti.«
»Wo wohnst du denn?« fragte die Fremde und erhob sich. Schlank und rank stand sie vor Doktor Mayring, der keinen Blick von dem glühenden Mädchengesicht ließ.
»Dort!« Die Kleine wies auf eines der nächsten Häuser, und wie in stiller Übereinkunft nahmen Doktor Mayring und die Fremde das Kind in die Mitte und brachten es in das bezeichnete Haus. Dort lieferten sie es bei seiner Mutter ab.
Seltsamer Zufall, wie er so oft in das Leben der Menschen eingreift:
Ausgerechnet Gunhild Bruckner mußte auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte bei Doktor Murphy Zeugin dieses Zwischenfalles werden.
Stumm schritt sie neben dem hochgewachsenen Manne her.
Er lächelte etwas verlegen. »Auf diesen Schreck hin würde uns eine kleine Erfrischung guttun. Darf ich Sie dazu einladen?«
Sie begegnete unschlüssig dem offenen Blick seiner hellen Augen. Wie unter einem Zwang nickte sie und sagte:
»Gern, nur sehr viel Zeit habe ich nicht.«
Als sie sich dann in bequemen Sesseln gegenübersaßen, tat sein Herz ein paar raschere Schläge.
Es war ein zartes Antlitz, das ihm halb zugewandt war mit faszinierenden, sprechenden Augen. Ihr feingezeichnetes Profil entzückte ihn. Auch die weiche Nackenlinie nahm er wahr, die in den schmalen Schultern auslief. Und darüber fielen die schönsten Haare, die er jemals gesehen hatte, eine seidige, ungehemmte Pracht, die auch das blasse Antlitz schmeichelnd umrahmte.
Im selben Augenblick ließ Gunhild Bruckner ein leises Lachen erklingen, das ansteckend wirkte.
»Merkwürdig«, sagte sie, »vor einer Stunde habe ich noch nichts von Ihrer Existenz gewußt, und nun sitzen wir hier beim Kaffee zusammen.«
Er verneigte sich leicht. »Noch nicht einmal vorgestellt habe ich mich Ihnen…«
»Bitte, nicht«, unterbrach sie ihn hastig und legte leicht ihre Hand auf seinen Arm. Angenehm spürte er ihren Druck. »Lassen Sie uns keine Namen wechseln. Ich finde es so viel schöner.«
»Ganz wie Sie wünschen, schöne Unbekannte.«
Aufmerksam betrachtete sie ihn. Merkwürdig, sann sie dabei, wie kommt es, daß ich mit einem mir fremden Mann hier sitze? Daß ich ohne Zaudern seiner Einladung gefolgt bin, und daß ich ihn äußerst sympathisch finde?
Schade, seufzte sie innerlich. Wir werden noch ein paar Minuten zusammen sein, noch ein paar Schritte zusammen zurücklegen, und dann trennen sich unsere Wege für immer.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, hörte sie ihn nun fragen: »Wann sehen wir uns wieder?«
»Gar nicht«, erwiderte sie gegen ihren inneren Wunsch.
»So grausam können Sie doch nicht sein.«
»Es gibt Gründe«, wehrte sie ab.
»Können Sie mir diese nicht nennen?« bat er hartnäckig.
Gunhild Bruckner fühlte sich in die Enge getrieben. Verwirrt erhob sie sich. »Ich muß jetzt wirklich gehen«, sagte sie rasch.
Und als er sich gleichfalls zum Gehen anschickte, zahlte und ihr dann eiligst folgte, wandte sie sich ihm halb zu. »Überlassen wir es dem Zufall.«
*
Ermattet hatte Gunhild Bruckner es sich in dem breiten Sessel im Arbeitszimmer ihres Chefs Doktor Murphy bequem gemacht.
Alles war aufgearbeitet. Nun wartete sie auf den Anruf Murphys, der lange ausblieb.
Verrückte Ideen hatte Murphy mitunter. Sie hätte längst bei Tante Elly sein können, sich von ihr verwöhnen lassen und auf dem gemütlichen Balkon plaudernd den Rest des Tages verbringen können.
Bei diesen Gedanken erhob sie sich, raffte den schweren Store zur Seite, öffnete die Fensterflügel weit und sog ein paar Minuten lang die laue Abendluft ein. Dann kehrte sie zu ihrem Platz zurück, knipste die Stehlampe aus und versank wieder in die Tiefe des Sessels.
Plötzlich riß sie die Augen auf. War sie eingeschlafen, und träumte sie jetzt? Sie wollte sich die Augen reiben, aber ein Schreck, eisig und bannend, ließ sie in Regungslosigkeit verharren.
Im Schein der Straßenbeleuchtung, der fast jeden Gegenstand im Zimmer erkennen ließ, sah sie, wie zwei Hände nach dem Fenstersims faßten, eine Gestalt emportauchte und beinahe lautlos ins Zimmer sprang. Dort stand sie wie angewachsen.
Einbrecher, durchzuckte es sie, und gewaltsam versuchte sie, die Lähmung von sich abzuschütteln.
Gedanken hetzten wie Irrlichter durch ihren Kopf. Hätte ich doch den Revolver Murphys griffbereit. Wie oft hat er es mir vorgeschlagen, wenn ich allein in der großen Wohnung sein muß.
Ruhe, Gunhild, ganz ruhig, zwang sie sich zum klaren Denken.
Langsam, Zoll um Zoll, tastete sie mit der Hand vorwärts. Ein kurzes Knacken, und Gunhild saß im Schein der Stehlampe.
Geblendet schloß der Mann am Fenster sekundenlang die Augen. Ein heller Aufschrei ließ ihn zusammenzucken.
»Sie sind es?«
Gunhild starrte ungläubig auf die hohe Männergestalt. Plötzlich verlor sie jede Furcht. Ihre Lippen verzogen sich verächtlich.
»Ein Einbrecher sind Sie, ein ganz gewöhnlicher Einbrecher?« Grenzenlose Enttäuschung und eisige Verachtung schwangen in ihrer Stimme.
Es sah aus, als wollte der Mann eine heftige Erwiderung geben. Aber seine Lippen schlossen sich fest zusammen. Er mußte erst mit der Tatsache fertig werden, anstatt Doktor Murphy diesem Mädchen gegenüber zu stehen.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« höhnte Gunhild und erhob sich. Mit zwei Schritten war sie am Schreibtisch, und im nächsten Moment lag Murphys Revolver in ihrer Hand.
»Legen Sie das niedliche Spielzeug weg«, kam die tiefe Stimme vom Fenster her. »Ich verspreche Ihnen, mich manierlich zu benehmen.«
»Nennen Sie es auch manierlich, auf diese ungewöhnliche Weise fremder Leute Wohnung zu betreten?« spottete sie.
Seine hellen Augen ließen sie nicht frei.
Lieber Gott, dachte sie, ich müßte ihn hassen und kann es nicht. Ein so heftiger Schmerz durchfuhr sie, daß sie sich rasch hinsetzen mußte.
Ein kleines, amüsiertes Lachen umspielte Doktor Michael Mayrings Lippen.
»Ungewöhnliche Dinge erfordern auch ungewöhnliche Maßnahmen«, sagte er ruhig, beinahe belehrend.
»Wie geistreich«, spöttelte sie, ihn nicht aus den Augen lassend, dabei hämmerte ihr Herz vor Angst bis zum Halse herauf. Aber sie fürchtete sich nicht vor ihm, sondern für ihn. Wenn jetzt Doktor Murphy zurückkehrte und den Fremden hier vorfand?
Ihre Augen irrten zum Telefon.
Doktor Mayring deutete diesen Blick falsch.
»Sie haben es nicht nötig, die Polizei zu alarmieren. Gleich werde ich Sie von meinem Anblick befreien. Schade…« Er zuckte wie in Ergebung die Schultern, und rasch fiel sie ihm ins Wort:
»Daß Sie Ihr Vorhaben nicht ausführen können, nicht wahr?«
Er lächelte nur. Und darüber geriet sie langsam in Wut. Er hatte zerknirscht auszusehen.
»Schade«, fuhr er bedauernd fort, »daß unser Wiedersehen so aussehen muß.«
Gunhild Bruckner war den Tränen nahe. Prüfend ruhte ihr Blick auf dem Mann, an den sie immer wieder hatte denken müssen.
Plötzlich durchschoß sie ein Gedanke.
»Brauchen Sie Geld? Etwas kann ich Ihnen geben.« Fieberhaft nestelte sie an ihrer Tasche.
»Danke«, sagte er eisig, aber in seinen Augen lag ein seltsamer Ausdruck, eine Mischung von Rührung und Zärtlichkeit.
Im selben Augenblick schlug die Glocke des Fernsprechers an.
Gunhilds Hand zitterte so heftig, daß sie kaum den Hörer aufnehmen konnte.
»Gehen Sie«, raunte sie beschwörend, aber der Mann stand wie angewurzelt. Verzweifelt sah sie von ihm zum Telefon zurück. Die Glocke läutete abermals.
»Hier bei Murphy«, meldete sie sich mit unsicherer Stimme.
Während sie sprach, fühlte sie die Blicke des Fremden förmlich auf ihren jetzt glühenden Wangen brennen. »Ja, Herr Doktor, selbstverständlich warte ich. Ob etwas vorliegt?«
Sie blickte hinüber zu der Männergestalt. War es Spannung oder Spott, was um seinen Mund lag?
»Nein, Herr Doktor, nichts«, kam es sehr langsam von ihren Lippen. »Auf Wiedersehen.«
Das Gespräch war zu Ende. Gunhild legte den Hörer auf. Eine tiefe Falte stand zwischen ihren Brauen.
Ihr Kopf ruckte empor, als er fragte:
»Warum haben Sie Ihren Chef belogen?«
Ihre Lippen öffneten und schlossen sich hilflos.
»Sie sind gemein«, stieß sie empört hervor, und in ihren Augen glänzten Tränen des Zornes. »Gehen Sie!«
»Ja, ich werde Sie jetzt verlassen, aber ich schwöre Ihnen, daß wir uns bald wiedersehen werden. Es war nett von Ihnen, daß Sie mich nicht verraten haben. Auf Wiedersehen, schöne Unbekannte!«
Gunhild sank in den Sessel vor dem Schreibtisch. Vor Zorn schloß sie die Augen, als könne sie den Anblick der belustigt funkelnden Augen des Fremden nicht mehr ertragen.
Als sie die Lider hob, war die Stelle, an der soeben der Fremde noch leise, unterdrückt gelacht hatte, leer.
*
Harry Ohnesorg war Reporter auf vier Wochen Probezeit beim »Welt- Echo«.
Sein Chef, Fred Markhoff, ein Mann in den besten Jahren, hatte ihn rufen lassen.
»’n Tag, Ohnesorg«, wurde er knapp begrüßt, wie das Markhoffs Art war. »Nehmen Sie Platz.«
Dann griff er nach einer Zeitung, reichte sie Harry und wies dabei auf eine mit Rotstift angekreuzte Stelle.
»Lesen Sie!«
Aus zuverlässiger Quelle erfahren wir, daß sich der Privatgelehrte Doktor Murphy mit dem Gedanken trägt, erneut eine Expedition nach Südamerika in geologisch unerforschtes Gebiet zu unternehmen. Die Angelegenheit ist um so interessanter, als es sich um eine Wiederholung jener Expedition handelt, bei welcher seinerzeit der bekannte Geologe Professor Mayring auf tragische Weise ums Leben kam und bei der das bereits gesammelte wertvolle Material vernichtet wurde.
Über den eigentlichen Zweck der geplanten Expedition schweigt sich Doktor Murphy der Öffentlichkeit gegenüber leider aus.
Fred Markhoff betrachtete während des Lesens aufmerksam seinen jüngsten Mitarbeiter. Er konnte weder Überraschung noch sonderliches Interesse bei ihm feststellen.
»Haben Sie schon einmal etwas von Doktor Hellberg gehört?« fragte er.
»Selbstverständlich«, antwortete Harry wie aus der Pistole geschossen, obwohl er den Namen zum erstenmal hörte. »Ein tüchtiger Reporter muß alles wissen.«
Fred Markhoffs Schmunzeln vertiefte sich. »So?« fragte er beinahe belustigt. »Da sind Sie ja der Lösung der Ihnen zugedachten Aufgabe schon recht nahe gekommen.«
»Aufgabe?« wiederholte Harry.
Fred Markhoff nahm die Zeitung wieder zur Hand und deutete auf den letzten Absatz der angestrichenen Notiz.
»Ihre Aufgabe besteht darin, den eigentlichen Zweck der Expedition auszukundschaften. Und gnade Ihnen Gott, wenn die Konkurrenz die Aufklärung vor uns bringt.«
Harry faltete sorgfältig die Zeitung zusammen und ließ sie in seiner Brusttasche verschwinden. Er war im Bilde, wenn auch sein Kopf von dem eben Gehörten gehörig brummte.
Das ist die Chance, ging es ihm beglückt durch den Sinn.
»Sie sind im Bilde?« fragte Markhoff.
»Vollkommen!« schmetterte Harry heraus.
»Dann ist es gut. Guten Abend!«
Fred Markhoff wandte sich geschäftig wieder seiner Arbeit zu, und Harry wußte, er war verabschiedet.
*
Iris Mayring hatte die Nacht nach Doktor Hellbergs Besuch schlaflos verbracht.
Sie wollte einfach nicht glauben, daß nach so vielen Jahren das Vergangene noch einmal lebendig werden sollte, und doch sprach alles dafür.
Die Zeitung, die sie am Abend zuvor zusammengeknüllt in ihren Toilettentisch geschoben hatte, holte sie am Morgen wieder hervor.
Doktor Murphy. Nein. Soviel sie sich auch anstrengte, nirgends konnte sie einen Mann dieses Namens mit der Vergangenheit in Verbindung bringen. Aber die geheimnisvollen Andeutungen Doktor Hellbergs?
Sollte sie sich Michael anvertrauen? Nein!
Dann mußte sie restlos offen sein, und vor dieser Beichte graute ihr. Sie würde dabei mehr verlieren als gewinnen.
Dieser Murphy war in Berlin aufgetaucht. Michael war nach Berlin gereist.
Furchtsam sah sie sich um, und sie fürchtete sich doch nur vor den eigenen Gedanken.
Wie konnte sie so töricht sein und Michaels Reise mit diesem Mann in Verbindung bringen?
Michael hatte ja nicht die geringste Ahnung von den damaligen Vorgängen. Er wußte genausoviel wie die Öffentlichkeit, nämlich, daß sein Vater durch eine Unvorsichtigkeit ums Leben gekommen und das bis dahin gesammelte wissenschaftliche Material bei diesem tragischen Unglücksfall vernichtet worden war.
Und nun drang dieser Doktor Hellberg, der damals doch nicht mit ums Leben gekommen war, sondern lebte und gestern vor ihr gestanden hatte, in sie und verlangte von ihr, sie solle die Dokumente vernichten.
Gütiger Himmel. Dann nahm er an, sie habe seinerzeit die Dokumente gestohlen und sie diesem Sommerfield ausgehändigt.
Wußte er wirklich nicht, daß Sommerfield seinerzeit ihren Mann bestohlen und mit den Dokumenten das Weite gesucht hatte?
Freilich, schuldig war sie, denn sie hatte um den teuflischen Plan gewußt, aber nicht die Macht gehabt, Sommerfield an der Ausführung zu hindern. Und was dann gekommen war, hatte sich in einem so atemraubenden Tempo abgespielt, daß jedes Eingreifen unmöglich gewesen ware.