Toscana mia - Robert Gernhardt - E-Book + Hörbuch

Toscana mia Hörbuch

Robert Gernhardt

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Beschreibung

Neue, bisher unbekannte Texte und Zeichnungen von Robert Gernhardt Seit den siebziger Jahren verbrachte der Lyriker, Schriftsteller, Maler und Zeichner Robert Gernhardt einen großen Teil seiner Lebens- und Arbeitszeit im toskanischen Montaio. Seine Beziehung zu dem Ort und seinen Bewohnern, seine Begegnungen mit der faszinierenden, aber auch gefährdeten Natur und Kultur Mittelitaliens hat er in seinem vielgestaltigen Werk immer wieder zum Thema gemacht. Darüber hinaus enthalten seine Notiz- und Skizzenbücher, die legendären Brunnen-Hefte, eine Fülle von bislang unveröffentlichtem Toskana-Material in Wort und Bild. Der vorliegende Band – noch von ihm selbst geplant, von Kristina Maidt-Zinke zusammengestellt und herausgegeben – gewährt erstmals Einblick in die Brunnen-Hefte und zeigt eine Sehnsuchtslandschaft der Deutschen aus Robert Gernhardts ganz besonderer Sicht.

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Zeit:3 Std. 26 min

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Robert Gernhardt

Toscana mia

Herausgegeben von Kristina Maidt-Zinke

Fischer e-books

Ich habe die Besten meiner Generation verderben sehen bei dem Versuch, die italienische Seele zu enträtseln.

 

Robert Gernhardt

Sommer 1979

Am Abend

Am Abend, wenn die Grille zirpt

und sanft der freie Wille stirbt,

wenn sich der Wunsch nach Gleichem regt

und Weiches sich zu Weichem legt,

wenn, während fern ein Stern erglänzt,

die Dame ernst den Herrn ergänzt,

dann sagen ganze Falterscharen:

Als wir in eurem Alter waren!

Zieht still ein Gott die Rute ein,

wie mag ihm wohl zumute sein?

Wie einsam da der Falter fliegt,

was wohl an seinem Alter liegt.

*
Gespräch über das Lied »Ti voglio bene assai«

Die liebt irgendeinen Massai.

Ach was, assai heißt genug.

Na, dann heißt das, daß sie einen Massai geliebt hat, aber nun genug von ihm hat.

Aber wieso denn einen Massai, das ist doch ein neapolitanisches Canzone.

Na, so ganz ohne ist das Lied aber nicht.

Wie bitte?

Ach, das war nur ein Scherz, aber zum Massai – wieso soll denn nicht ein Neger in Neapel gelandet sein, es gibt doch genug von den schwarzen Brüdern.

*
Hundegebell

Da ist ein Hund, der bellat und bellat,

ein Gott hat ihn dahin gestellat,

der sprach: »An dieser Stelln

sollst du von nun an belln.«

*
An diejenigen, die mich besuchen wollen

I am no social drinker,

ich drinke gern allein.

Perhaps may this a winker

with – well – a zaunpfahl sein.

*
Goldene Worte

Schnell ist die schönste Aussicht hin,

hast du bloß Sauerei’n im Sinn.

*

Ich sitze hier am Chianti-Rand,

die Zigarett ist abgebrannt,

der Rotwein ist längst alle.

Ich hau mich in die

Falle doch nicht sofort auf den naheliegendsten Reim herein, lieber Leser.

Stimmungsgedichte

27. 7. 79

So geht ein heißer Tag zuend,

im roten Licht die blauen Fernen,

der Himmel glasig, Rauch im Tal.

Wer das nicht glaubt, der kann mich mal

von einer andern Seite kennenlernen.

28. 7. 79

Die warme Nacht ist schwarz wie Samt.

Die Grillen singen um die Wette.

Sie übertönen fast den Lärm, der

von Ciabatinis Traktor stammt.

13. 8. 79

Abends, wenn die Dunkelheiten

ihre schwarzen Flügel spreiten,

dann halt ich sie am Bürzel fest,

damit sie nicht wegfliegen können.

24. 8. 79

Vor mir das Karmin der Nelken,

hinter mir das Grau der Wand,

unter mir der Fuß des Berges,

über mir nur Gottes Hand.

25. 8. 79

Alle Falten des Gebirges

sind nun klar zu sehen,

um dem Elend zu entgehen,

müßt ich schon den Kopf wegdrehen.

Meine Fresse, welche Klarsicht,

immer neue Horizonte

zeigt die Landschaft, die besonnte,

bis das Sturmtief ihr den Star sticht.

31. 8. 79

Der Hals zerstochen,

Gift im Bein,

und die Gelenke jucken –

ihr könnt bei Gott

zufrieden sein,

ihr Mucken.

*

»Dimmi: cosa è successo

all’uscita dell’ingresso?«

»Ma – c’è niente capitato,

salvo questo neonato.«

(Mein erster italienischer Vierzeiler)

Sommer 1980

Ich dachte, die Zypresse sei krank,

da war aber ein Rosenbusch in sie hineingewachsen.

Mir war so, als bekäme ich eine gewischt,

doch dann war es lediglich eine Streicheleinheit.

Ich glaubte, ich würde das Bild nie packen,

nachher wurde es dann doch ganz ordentlich.

Mir kam es so vor, als gäbe es keinen Reim auf Schleim,

nachher gab es doch ein.

*

9. 7. 80

Wolken über der Abtei

wollen dir verkünden:

Du, da zieht ein Tief herbei,

es wird dich schon finden!

*

Bin ich draußen unterwegs,

fällt mir die Landschaft auf den Keks.

Sitz ich dann bei mir zuhaus,

hängt mir das Haus zum Halse raus.

*

Der Postkasten im Bahnhof von Florenz, in der Eingangshalle.

Feine, erhabene Schrift: Lettere e cartoline.

Zwei vornehme Aluminiumblenden, dahinter aber kein Postschlitz in der Wand – d.h., da war einmal einer, er ist auf die widerlichste Weise mit Leukoplast und Papier überklebt.

Sommer 1981

28. 7. 81

Im Taubenblau der Abendstern,

sehr langsam fliegt die Fledermaus,

sie wirkt so matt, als wär sie gern

anstatt auf Achse schon zuhaus.

*

Die Katze schaut sehr angestrengt

auf etwas, das sich nicht bewegt.

Ist es ein Stein? Ist es ein Holz?

Die Katze ist zu alt und stolz,

als daß sie es auch nur erwägt,

zu antworten. Sie starrt und schweigt,

indes sie jedem, der es wagt,

daß er sie dergestalt befragt,

den weißen Hintern zeigt.

Sommer 1982

Das Unbehagen an anderen Deutschen

Situation: Wir allein, nein, einzige Deutsche im Restaurant von Alberese, am Strand. Ein deutsches Paar setzt sich an den Nebentisch, unsere Unterhaltung wird gedämpfter, dann – »Na, das gibt’s doch nicht!« – kommen zwei andere Deutsche und zwei befreundete Engländer / Exoten dazu, nehmen am Nebentisch Platz, dann – »Nein, das gibt’s doch wohl nicht! Wie im Englischen Garten!« – zwei, dann noch mal zwei weitere Deutsche. »Daß wir uns ausgerechnet hier …« - »Ist das nicht ein Traumstrand?« – »Da lohnt sich die Fahrt von München schon – hier ankommen und bei Sonnenuntergang einen Campari trinken …« etc. Außerdem dreht sich das Gespräch um Hauskäufe, Vor- und Nachteile bestimmter Häuser.

 

Ich stelle befriedigt fest, daß es mit dem Italienisch der Herrschaften hapert. Ich ärgere mich darüber, daß ihnen Alberese ebenfalls gefällt – daß sie es überhaupt kennen. Ich schäme mich der Gemeinsamkeiten, die ich mit ihnen habe. Ich frage mich, wieso es überhaupt zu diesen Gemeinsamkeiten kommen kann.

Was habe ich mit denen gemein? Es sind nicht ganz meine Kreise, doch meinen Kreisen nahe Kreise. Unsere Werte – Entdecken, Exklusivität, Simplizität – decken sich zum Teil, das entwertet meine Werte. Der Spiegeleffekt: So sehen mich die anderen möglicherweise ebenfalls. Die Feindseligkeit, die ich ihnen gegenüber empfinde, ist gegen mich selber gerichtet (auch). So möchte ich nicht sein, aber zumindest scheine ich so. Könnte ich scheinen. Fazit: Richtig hassen kann man nur, was man kennt. Das Verwandte. Das Eigene. (In alldem, was ich satirisch packen kann, steckt etwas von mir: das Journalistische, das Glatte, das Schnelle, das Gewußt-wie, die Problemlösung. Daher die Satire auf Sprechweisen – die sind mir alle irgendwo verwandt, da ich aus Sprache lebe.)

 

Ich will nicht zugehörig sein. Aber wer will das heute schon? Also bin ich zugehörig.

*

Noch habe ich den Sand im Haar,

von jenem Seebad letztes Jahr,

dem Seebad, dessen ganzen Sand

ich dann im Haare wiederfand.

*

Äppelwoi – ma dalli. Ein heiterer Toscana-Roman.

Sommer 1983

Ich habe heute (8. 7. 83) zwei Smaragdeidechsen gesehen, einen Frosch mit einem Holzstückchen getroffen – auf die Distanz von 15 Metern etwa, er saß auf einem Stück Treibholz im Badia-See –, dann entdeckte ich beim Schwimmen mitten im See eine schwimmende Ringelnatter. Ich holte sie ein – was ich nicht für möglich gehalten hätte, doch Schlangen schwimmen gar nicht so schnell, und zweimal sperrte ich ihr den Weg ab –, immer mit Abstand, wohl auch in der Furcht, sie könne wegtauchen. Sie reckte mir vielmehr den erstaunlich kleinen Kopf entgegen und züngelte (Angst? Aufregung?), dann machte ich ihr Platz und sie schlängelte sich an mir vorbei, die letzten Meter zum Ufergebüsch wurde sie schneller, kurze Zeit schwammen wir nebeneinander her, ich hätte sie berühren können, traute mich aber nicht, dann ließ ich sie entkommen, sie sprang förmlich in die Äste des ins Wasser gestürzten Baumes, glitt über sie hinweg und verschwand dann im Schilf. Erinnerungen ans Dschungelbuch.

*

Alles Wirkliche ist nur

eine Laune der Natur.

 

Idee für einen Fotoband: Toscana im Eimer.

 

Wie man der Mücken Herr wird: Tür zu, Fenster zu – wegfahren und die Mücken aushungern.

 

Was mich schmerzt: Ich bin noch nie bestohlen worden (nicht mal der Versuch wurde gemacht).

*
Traum, 14.8.83

Um aus Cortona herauszukommen, schlage ich erst einen falschen Weg ein – in ein Gebiet verrottender Fabriken, zerbrochenen Glases, unwegsamer, unausweglicher Höfe, Hallen. Kehre zurück, frage in einer Tourist-Information nach dem richtigen Weg, erkläre alles genau, um nicht noch einmal diesen Fehler zu begehen. Erhalte ungefähre Auskünfte, versuche eine Abkürzung und bin wieder in dem verrotteten Gebiet, das zwar Einlaß gewährt, jedoch keinen Rückweg offenläßt, keinen Ausgang zu haben scheint: es funktioniert wie eine Reuse – ausweglos. Jedoch: als ich im letzten Hof gar nichts mehr erhoffe, ist links noch eine Tür, wider Erwarten noch nicht verschlossen. Das Innere, nicht verrottet, eher gemütlich, Menschen sind da, man kennt mich: Meine Mutter hat gelesen, daß Sie in Cortona eine Lesung haben – und andere Freundlichkeiten. Der Ausgang ist dann gar kein Problem mehr – auf der anderen Seite dieses Hauses geht es geradewegs auf eine belebte Straße, die mich aus Cortona fortführt, zu meinem Ziel.

(Frage: Haben sich Traumnotate vor Kafka auch so gelesen? So kafkaesk?)

Sommer 1984

Italienisches Fernsehen: Ich sehe eine nackte Frau, die sich im Bett wälzt – dazu der Ton eines Krimis. Ich hatte die Sender falsch eingestellt und wunderte mich über die progressive Darbietung.

 

Das TV-Nachmittagsprogramm bringt exakt jene fünf Hitzeschocks, die es schon im letzten Sommer am Nachmittag gebracht hat. Auch eine Art, die Zeit anzuhalten.

Und auf dem Tische:

Öl und Wein.

Ein Vogel schlägt. Es quiekt ein Schwein.

Und auf dem Tische:

Öl und Wein.

Ich will nicht mehr der Dumme sein.

Und auf dem Tische:

Öl und Wein.

*
Am Waldsee

Schwerelos im Wasser treiben,

nie mehr zeichnen, nie mehr schreiben,

nie mehr lieben, nie mehr hassen,

nie mehr nehmen, nie mehr lassen.

Ha! Das könnte euch so passen!

*

Heute: Ein Wahnsinniger auf der Straße Cavriglia–Montaio, ein Erwachsener im Mini-Rennwagen, der, während er hoch- und dann runterraste, keinen Blick auf die Straße richtete, da er ständig auf den Geschwindigkeitsmesser schaute.

*

Idee: Eine Sommergeschichte, deren zeitlicher Ablauf durch eine überfahrene Schlange deutlich gemacht wird, welche der Held zuerst noch intakt (und tot), dann immer platter (und verwesend), dann ganz flach (trockene Haut), dann in einzelnen Teilen erlebt (en passant wahrnimmt), bis die Teile, kaum mehr erkennbar, sich über viele Meter auf der Straße verteilen; nur er, der Sommergast, der jeden Morgen durch den Ort geht, weiß noch, daß das da überhaupt mal eine Schlange war …

Vielleicht als Geschichte einer Verführung – der Held wird angerufen – jemand will ihm Gesellschaft leisten, er wehrt ab – wobei er der eigentliche Verführer ist, da er sie dazu bringt, ihm immer stärker anzuhängen, ohne irgend etwas von ihm zu haben: Frauen zu Schuld und Unzucht zu verführen, ist einfach, der Fortgeschrittene verführt zu Unschuld und Zucht.

*
Sommer

Das Knacken der trockenen Oleanderblätter unter den Sandalen.

 

Abends: Die festlichen Parallelschatten der Weinreihe vor dem Weizenfeld.

 

Das Reißen von trocknenden Pinienzapfen auf dem Tisch unter den Arkaden.

 

Die Wollwürmer der Maronenblüten, die am Straßenrand liegen.

 

Im Café (draußen) sitzen an einem heißen Sommerabend und den halbnackten Italienerinnen zusehen, im Bewußtsein, keine beschlafen zu wollen.

 

Der Ärger über einen geparkten, laufenden Rover – und das Erstaunen darüber, dann dessen Abfahrt gar nicht bemerkt zu haben.

 

Ein altes Paar, das sich küßt.

 

Sommergeräusch: Das Knacken irgendwelcher Springbohnen, allgegenwärtig (Rundum-Stereo) und doch nie sichtbar – jedenfalls für einen Bären ohne viel Geduld wie mich.

*
Eidechsen

Eidechsen, die sich ineinander verbeißen,

 

Eidechsen, die wie Schmuckstücke auf dem Orcio sitzen.

 

Eidechsen, die Mauern hoch- und runterlaufen und sich bei Gefahr mit schwerem Aufschlag fallen lassen.

 

Eidechsen, die sich jagen.

 

Die rudernden Vorderbeinbewegungen der Eidechsen.

*

Heute, am 19. 7. 84, habe ich zweierlei das erste Mal in meinem Leben gemacht – und das meint zugleich auch, zwei Tätigkeiten erlernt: Wein mittels eines Schlauchsystems von der »damigiana« in kleinere Flaschen umfüllen und die Flaschen verkorken. Das Schlauchsystem heißt BAF 2000 Ferrari. Und die Verkorkmaschine heißt Superstar 84.

*
Heute (22.7.) am See

Auf der Straße ein überfahrener Igel, auf der Rückfahrt sah ich ihn von vorne, ein sehr obszöner Anblick, die Beine gewaltig gespreizt und schon etwas aufgebläht. Blut und Fliegen.

Am See dann: eine Ringelnatter im üblichen Gebüsch, ziemlich klein, als sie sich zurückzog, fiel ihr Schwanzende ins Wasser, sie zog es unendlich langsam heraus – ein Schwalbenpaar, das immer wieder die Bauchfläche ins Wasser tunkte, sich wohl auch zur Gänze mit Wasser bestäubte, bis die Rückenfedern feucht und aufgestellt waren –, eine Kröte, die langsam am Seeufer entlangpaddelte, eine Kröte, keine Frage, da ein Frosch in ihrer Nähe Vergleiche ermöglichte: der Kopf stumpfer, dann die Warzen, die Erdfarbe, vor allem aber die goldenen Augen, noch viel goldener als die des Frosches, eine unglaubliche Farbe – das Wasserhuhn, das jetzt, da die Jungen aus dem Gröbsten raus zu sein scheinen, sich unbefangener zeigt; fast einen Monat lang ahnte ich die Vögel nur, da ich zwei-, dreimal einen Schrei gehört hatte, der nicht von einem Frosch stammen konnte.

*

Die schlafende (atmende) verdauende Ringelnatter.

 

Die vielen blauen Falter: viel von allem.

*

Hirschkäfer-Jahr: Eben, auf dem Weg, sah ich drei gleichzeitig in der Luft, gegen den geröteten Himmel, ich hätte sie mit der Hand aus der Luft schlagen können, so dicht standen sie vor mir, die Chitin-Flügel reglos ausgestellt, die Flug-Flügel in rasender Bewegung.

*

Am See: Vater + Sohn, leiser Neid (Vater führt Sohn in die Welt, hier: das Angeln ein), der sofort erlosch, als der Sohn wegen der Angel ein schreckliches Gequäke anhob. Dieweil saß der Vater stumm und leidend auf einem Baumstamm.

*

2. 8. 84: Heute sah ich meinen ersten Iltis – etwa 15 Minuten lang, am Weg vom See zur Straße. Ein erstaunlich angstfreies und unruhiges Tier – es hüpfte dauernd im Kreise und wühlte laut raschelnd im Unterholz. Zwei-, dreimal überquerte der Iltis vor mir den Weg.

*

An der Wand mit der Glühbirne: Der Abend, an welchem ich vom Restaurant zurückkehre und vorher bereits das Licht eingeschaltet hatte. Die Wand wimmelt von Ameisen, die sich an einigen Stellen ballen – dort haben sie offensichtlich Falter getötet, die sie nun in Einzelteile zerlegen.

Die schiefen Schatten der Steine im Kunstlicht, das Gewimmel der Ameisen – die glänzenden Chitinpanzer – sich ständig verdichtender und auseinanderlaufender Kaviar.

*

Viel: Viele Glühwürmchen (!), viele Quappen, viele Frösche, viele Grillen, viele Falter, die von den Fledermäusen weggeputzt werden, viele Hirschkäfer, viele Ameisen (sowieso), viele Mauersegler, viele Schlangen.

 

Die Falter, die langsam verschwinden – von den Ameisen aufgelöst.

 

Die Ameisen, die langsam vom Tisch Besitz ergreifen.

 

Die Natur übernimmt das Haus: Die Tausendfüßler, die Spinnen, die Ameisen, die Made, die über den Tisch kriecht.

*
Wassermangel

Die Dusche entläßt immer häufiger Luft, setzt dann wieder voll ein.

Der Strahl wird dünn. Blick in die Zisterne – fast leer. Pumpe läuft ständig. Sicherung ausschalten.

Die Versuche, jemanden von der Comune zu bekommen. Maremmi, der sich der Sache annehmen will.

Nächster Tag: 8 Uhr 20 ist M. bereits beim Capannone gewesen, er füllt vor seiner Capanna gerade Bohnen in Flaschen. Mittlerweile hat sich die Zisterne etwas gefüllt.

Um 12 Uhr 20 kommen Techniker – ein schlanker, grauhaariger, ein untersetzter, krausköpfiger. Blick in die Zisterne – Verzweiflung: Non viene l’acqua, Madonna puttana – Gang zum contatore, Schlüssel vergessen, einer geht zurück – wir (Grauhaariger und ich) warten, Gespräch über die Wassersituation: Zwei Quellen speisen dieses Gebiet, hoch gelegen, bei der Badia – wenn jedoch kein Schnee fällt (und in den letzten Wintern ist kein Schnee gefallen), dann haben sie nicht genügend Kraft – dann wird es zu heiß, um weiterzureden.

Im Verteiler: alles sehr schlicht, Zement und Rohrleitung, eine Zisterne, die allein auf Eisensprossen erreicht werden kann.

Ständig: das Geräusch stark laufenden Wassers. Regelmäßig: die sich einschaltende Pumpe, die für Druck sorgt und sich dann wieder selbsttätig ausschaltet.

Ich klettere auf den Zisternenrand (ca. 2,50 m hoch), der Kühle wegen und um nicht im Weg zu sein. Die Techniker versuchen, unsere Zuleitung aufzuschrauben, um sie mittels einer improvisierten weiteren Leitung mit der Zisterne zu verbinden – des stärkeren Druckes (Gefälle) wegen.

Immer größere Rohrzangen werden geholt – es ist wie in einer Clownsnummer – dann komplizierte Schlauch-Rohr-Verbindungen – dann Rückkehr zur Zisterne: Das Wasser kommt, kommt nicht, man sieht die Hindernisse förmlich vor sich, die sich da immer wieder querlegen.

Ein Techniker schraubt die Zuleitung zur Pumpe ab, läßt Wasser in seine Hand rinnen, zeigt flache Kalkablagerungen.

Ich (und ich weiß, daß es nicht stimmt): Calcio!

Wieder Gejammer und Gefluche: Wenn die Pression nicht ausreiche, das etwa 300 m lange Rohr zu reinigen, müsse es punktuell geöffnet werden, um festzustellen, wo denn eigentlich der Druck nachlasse, etc.

Dann Abfahrt – um fünf. Signor Caselli, der die Zuleitung direkt an den galleggiante angeschlossen hat und befriedigt konstatiert: Die Zisterne ist voll, das Problem gelöst.

Erinnern: Ich auf dem Zisternenrand, den Technikern zusehend – Brecht, Radwechsel: Immer sehen wir zu. Ich sah sogar hinab auf den halbkahlen Grauköpfigen und den Krauskopf, die die Arbeit taten, während ich – ich mir wieder mal darüber Gedanken machte, wie ich denen da eigentlich nützlich sein könne, nützlich gewesen bin.

*

Am 6. 8. bekam der Hitzeschild einen Riss – Hagel, schon am nächsten Tag sah man die faulenden Trauben.

Ab dem 7. maltempo, Höhepunkt am 10. Wir wollten nach Orvieto, kamen jedoch nur bis Arezzo, in San Francesco fiel mir ein Piero-Detail auf, das mir bisher entgangen war: Bei einer Schlachtdarstellung ragten von links Beine ins Bild, zwischen denen ein abgeschlagener Kopf lag.

Im Parco Naturale, 12.8.84

Die Wölfe, die Bären – Geschenk des Zoos von Tallinn.

Das Przewalski-Pferd – das einzige Exemplar seiner Gattung in Italien, Geschenk des Zoos von Moskau (»Das einzige noch wild lebende Pferd – Urvater aller Pferde«), es stand erst im Stall, als ob es sich nicht zeigen wollte; ein großer, geheimnisvoller Bauch (so wie zuvor vom Elch nur das Geweih zu sehen gewesen war und sein schlappendes Ohr) – so etwas Trauriges – das einzige Exemplar in Italien, und die Artgenossen leben wild in Herden, in der südrussischen Steppe?

Die Bären: erst faul und traurig anzusehen, drei Halbstarke, die um Erdnüsse bettelten und Weißbrot entkernten, in einem matschigen Graben und auf einem Felsen voller Scheißhaufen, die aber dann, als wir noch einmal am Zwinger vorbeikamen, in Fahrt gerieten. Einer begann ein Bad, ein zweiter eine Schlägerei mit dem Badenden, erst vom Rand aus, dann ging auch er ins Wasser, für einen Wasser-Ring- und Boxkampf; auch der dritte begann sich einzumischen, der zweite nahm sich seiner an (der erste blieb ständig im Wasser), verfolgte ihn triefend auf und in den Felsen – schön.

Sommer 1985

1.7. 85, im Lokal Carloni in Gaiole in Chianti, in einer Art Schockzustand

Ich war an diesem Nachmittag durch die vielfältig sterbende und gestorbene Toscana gefahren und hatte begriffen, daß da etwas zugrunde gegangen ist, was nie wieder auferstehen wird, daß ich endgültig etwas verloren hatte, was mir über ein Jahrzehnt Heimat gewesen war, Heimat im Sinne von: da bin ich gern, da komm ich gern wieder hin, dafür, daß das so bleibt, tu ich gern was.

Aber es bleibt nicht so, und ich bin wieder heimatlos.

*
Der Hügel als Metapher

Bisher passierten ringsum die Scheußlichkeiten – wir wußten von ihnen, sahen sie aber nicht. Hühnerfarm, das neue Cavriglia, die sterbenden Zypressen in Montaio, das neue Haus dort, die neuen Häuser auf dem Hügel – vieles davon wurde nachhaltig verdeckt durch den Oleander, die Oliven. Jetzt liegt alles bloß, die Landschaft ist ganz durchsichtig geworden, um das Schöne zu sehen, muß ich mich immer weiter zurückziehen, den Ausschnitt immer kleiner wählen, immer mehr Ausblicke vermeiden.

Auch: Die toten Olivenbäume umtanzen das Haus ja jetzt geradezu zombie-artig, ragen greifend über die untere Terrasse, recken sich auf der oberen gegen den Himmel – welch eine Metapher, wenn sie nicht so abgeschmackt wäre!

*
Italiener – eine Anekdote, 15.7.85

Zwei Techniker der ENEL kommen, sie wollen den Zähler ablesen, der freilich gar nicht zählt, ein Faktum, das langsam auf großen Papieren eingetragen wird.

 

Techniker 1: Ob ich ihm eine Frage beantworten könne. Was eigentlich sei der Unterschied zwischen Deutschen und Italienern?

Ich: Die Italiener seien mehr Schauspieler. Sie nähmen die Fakten nicht so ernst, auch die Gesetze nicht.

Techniker 2: Ja, zum Beispiel die Sicherheitsgurte. Eigentlich seien sie ja vorgeschrieben, nur lege sie hier keiner an.

Ich: In Deutschland täten die Leute das, ich auch, allerdings deswegen, weil sie mich schützten.

T 2: Sicherlich. Er habe vier im Auto, aber noch keinen jemals angelegt.

Ich: Die Deutschen reagierten auf Gesetze, neigten aber dazu, aus dem Fehlen eines Gesetzes darauf zu schließen, daß die Handlung dann statthaft ist – der Staat hat’s ja nicht verboten. So werde auf den Straßen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung besinnungslos gerast. Der Deutsche trete seine Selbstverantwortung an den Staat ab. Das sei nicht gut.

T 1: Die Italiener hielten sich überhaupt an keine Gesetze. Das sei noch schlechter. Das liege allerdings auch an der Führung, die arbeite nicht, halte keine Gesetze ein – wie sollte das Volk anders handeln. Überhaupt müßten die Leute begreifen, daß es mit dem Wohlleben nicht so weitergeht. Die Deutschen würden noch arbeiten.

 

Dann macht er sich für ein gemeinsames Europa stark – vielleicht würde der Wettbewerb die Italiener zäher machen, den Deutschen etwas angleichen. Jetzt seien die Zustände doch unhaltbar, statt in der Klinik zu sein, würden die Doktoren fischen gehen oder in der Gegend herumfahren …

Da muß ich lächeln, da ja auch die ENEL-Techniker seit einer halben Stunde rumschwatzen. Und dann spricht der erste Techniker es aus:

So wie wir. Wir schwatzen nun auch schon eine halbe Stunde hier rum und müßten doch längst woanders sein.

Gelächter, der zweite Techniker fügt an:

Immerhin haben wir ja Erfahrungen ausgetauscht, die für ein weiteres Zusammenwachsen Europas nützlich sein können.

 

Großer Abgang.

*
Gefühle beim Anblick der toten Oliven und der sterbenden Zypressen

Vorweg sei gesagt: Es sind Gefühle, starke Gefühle, die keinen wirklichen Ausdruck finden. Es ist wie beim Tode eines geliebten Tieres. Die Trauer kann nicht in akzeptierte Rituale einmünden, von ihnen aufgefangen werden, sie läßt sich nur im Kreise der Eingeweihten mitteilen, und auch da nur verstohlen, wie erst gegenüber Fremden, Freunden, auch solchen, die schon einmal hiergewesen sind.

Früher hatte ich in Momenten des Glücks, dann, wenn ich auf der unteren Terrasse saß und in die Landschaft hinunter oder zum Haus hochblickte, das Gefühl: Das ist es.

Heute: Das war es.

Das kommt so nicht wieder. Nie. Es ist aber nicht das Gefühl gegenüber einem Toten. Der (wenigstens?) nimmt all das für immer mit, was man in seiner Gegenwart war, durch ihn sein konnte. Der Tote, auch das tote Tier, beraubt mich einer meiner Möglichkeiten.

Die Landschaft jetzt ist aber nicht gestorben, sie ist gezeichnet worden. Durchgreifend gezeichnet, jedenfalls für meine Lebenszeit, wahrscheinlich aber auch für spätere Generationen, die dieses Gezeichnetsein gar nicht werden wahrnehmen können, da sie es nicht anders kennen. So, wie auch ich die Toscana von heute ja nur an dem messen kann, was ich einmal, vor 13 Jahren, kennengelernt habe. Ich war zwar bereits früher hier, doch als Reisender, nicht als einer, der einen Ausschnitt der Landschaft immer wieder sieht und nur deshalb, wie gegenüber einem Menschen, zugleich schärfer und milder hinsieht. Besser gesagt: gegenüber einem Menschen, dessen Physis ich liebe; liebend verkläre ich sein So- und Dasein und habe zugleich Furcht davor, daß sich das ändern könne, obwohl ich doch weiß, daß es sich ändern wird!

Wovor fürchte ich mich eigentlich? Davor, diesen Menschen nicht mehr lieben zu können, wenn er sich (physisch) verändert. Davor, ihn dann für etwas anderes lieben zu müssen, da ich seine Schönheit (Intaktheit) nicht mehr lieben kann. Davor, daß dann nichts Liebenswertes mehr da sein wird. Davor, daß ich mich dann anderen Menschen zuwenden werde, den bisher geliebten hinter mir lassend / beiseite tuend für etwas, das er mit aller Macht nicht ändern konnte: dafür, daß er der Zeit unterworfen ist (wie ich), daß ich ihm aber aus dieser sichtbar gewordenen Zeit einen Strick drehe – Du bist für mich nicht mehr das, was du warst.

Nochmal: Die Toscana, dieser Hügel hier, das Haus hier auf diesem Hügel war für mich durchaus so etwas wie eine Geliebte, eine freilich, die ich nicht (aus sozialen Gründen) verstecken mußte, sondern getrost und stolz vorzeigen konnte – und immer wurde mir bestätigt, wie gut ich es getroffen hätte, wie liebenswert das Objekt meiner Liebe sei. Nun aber ist es, als ob diese Geliebte eine entstellende, nie verlöschende Narbe erhalten habe, nun schäme ich mich, ihr ins Gesicht zu blicken, nun möchte ich sie vor den anderen verstecken, denen ich unterstelle, daß sie, da sie mich bisher um das Geliebte beneidet haben, mich dessentwegen nun bemitleiden werden. Und es gibt nichts, was etwas schwerer lieben läßt, als das Mitleid derer, die einander seufzend bestätigen: Wir sind in dem, was wir lieben, entweder sicher oder frei, er aber, der Arme, wird nun weiterlieben müssen, sollte sich seine bisherige Liebe nicht rückwirkend als ein großer Verrat und er selber sich als ein Verräter herausstellen.

(Fehlt noch: Das Toscana-Syndrom der Deutschen. »Inmitten eines silbrigen Olivenhains gelegen, der nur hier und da von den ernsten Silhouetten jahrhundertealter Zypressen synkopiert wird« – Oh! Ah! Ja, die Toscana!)

*

Heute Abend kamen: ein Nashornkäfer, eine Gottesanbeterin.

*

Roberto: »Quando sará il solleone« – Die Augustsonne.

Heißt das nun: Sol-leone (Löwensonne) oder ist das eine abgeschliffene Form für sollone (große Sonne)? Wer das so genau wüßte.

Quack: Natürlich »sole-one«.

*

Lachen ist Lust, jede Lust aber endet.

Auch so ein Satz, der das Nicken der Köpfe

hervorruft der Weisen, welche das Leben

kennen. Was aber wissen die Weisen

vom Leben? Wissen doch nur, daß ihr Feuer

erloschen. Wissen doch nur, daß ihr Fluß

versiegt ist. Wissen doch nicht, daß ihr

Wissen nur Lust macht, es zu verlachen.

Das alles (Vorstufen zum Gedicht »Spaßmacher und Ernstmacher«, d.Hg.) schreibe ich in Alberese, während – vermute ich – im nahegelegenen Wohnhaus Ingmar Bergmans »Schreie und Flüstern« läuft (das läuft heute, »Gridi e sussurri«) – es wird unheimlich geflüstert und schrecklich geschrien, dazwischen Cello-Musik. Ich bin froh, daß ich den Film nicht sehen muß – vor Jahren bereits gab es eine Bergman-Retrospektive im italienischen Sommerfernsehen, ich warf keinen Blick auf diese nordischen Traurigkeiten mitten im heiteren Süden. Nun ist der Süden auch nicht mehr heiter – sollen die Ernstmacher denn immer und überall recht behalten?

*
7.8.85

Die Landschaft hier kann während der Dürreperiode noch so sehr herunterkommen, an heißen verhangenen Sommerabenden noch so sehr wie ein mottenzerfressener Teppich wirken, den nun aber nichts in der Welt mehr wird retten können – freilich, er war mal schön, die Erinnerung aber macht die offenkundige Häßlichkeit des jetzigen Zustands nur noch trostloser –, und dann genügt ein Tag bewegten Wetters, Regen in Strömen, Orkan, damit die Landschaft sich am nächsten Tag derart strahlend, durchfeuchtet, kontrastreich, ja durchleuchtet zeigt, mit einer Fernsicht, die das Begreifliche überschreitet, daß auch noch der geringste Einwand nichtig wird. Freilich: die Zypressen sterben noch immer, die Ölbäume sind nach wie vor tot – aber was macht das schon angesichts von so viel Glanz, in dem jede Ackerfurche, jede Böschung, jede Welle im Gelände derart ausdrucksvoll und herrlich wird, daß sich eine Steigerung gar nicht denken läßt. (Läßt sich natürlich denken: eben mit dem Silber der Oliven und dem noch heilen Dunkelgrün der Zypressen, doch auch diese Erinnerung buche ich weniger als Verlust, eher registriere ich sie verwundert: Richtig, das alles gab es, kaum zu glauben, daß das alles einmal noch schöner gewesen sein kann.)

Was diese Tage ferner bemerkenswert macht: Ich weiß ja, daß es sie gibt, bin auch gern bereit, einem schöneren, klareren Sommertag großzügig einzuräumen: Das ist jetzt einer dieser herausragenden Tage, jetzt weiß ich doch wieder, warum ich hier bin, das gibt’s im, sagen wir mal, Vogelsberg nun mal nicht. Und weiß doch insgeheim: Nein, nein – wenn das alles sein soll, dann reicht’s nicht, das kann doch nicht alles sein. Wenn aber der wirklich glorreiche Tag heraufzieht, der, den es in zwei Sommermonaten nur ein einziges Mal gibt, dann tritt der – und auch das weiß ich doch, verdränge es nur immer wieder – dann also tritt der von Tagesbeginn an derart mächtig, entschieden und jeglichen Zweifel vernichtend an, daß jeder Widerspruch, jedes Bedenken vollkommen beiseite geschoben werden. Da weiß ich: Das ist der Tag, und der wird auch nur einen Tag lang andauern (das allerdings bis zum Abend). Nie nämlich hat ein solcher Tag sich im folgenden fortgesetzt, der folgende kann immer noch klar und schön sein, doch immer ist er bereits ein Tag von gewohnter, ja gewöhnlicher Schönheit, während der Tag alle Gewohnheit und alles Gewohnte als das erscheinen läßt, was es ja auch ist: eben gewöhnlich.

Das alles schreibe ich, während das Licht langsam höher wandert, schon sind Ciabatinis Äcker in Gewöhnlichkeit abgesunken, vor kurzem noch schienen sie so kostbar, dass es einem schier das Herz zerreißen konnte.

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Zum Thema Ölbrot

Noch Kruste, schon Pampe,

Noch knacken, schon suppen.

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Ein Ehepaar trinkt Wein. Zwei Flaschen ohne Etikett. In der einen (grünen) der Wein, der ihr nicht schmeckt (am Vorabend nicht geschmeckt hat), in der anderen (roten) der, der ihr schmeckt. Nein, plötzlich behauptet sie das Gegenteil: Das (der in der roten Flasche) sei ja der Wein, der ihr nicht schmecke.

Beschwörende Einwände des Mannes. Freunde werden hinzugezogen. Die Frau beharrt darauf, daß sie doch wohl am besten wisse, was ihr schmecke. Der Mann muß alle Spitzfindigkeit daransetzen, der Frau zu beweisen, daß sie sich irrt. (Von der grünen Flasche haben wir doch gestern die Hälfte getrunken, erinnere dich! Die rote dagegen habe ich gerade erst aufgemacht, etc.) – bis die Frau, aber gnädig, einlenkt.

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Das italienische Schreibmaschinenpapier ist kürzer und breiter als das deutsche und ruft in mir den Eindruck des Unnormalen hervor.

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11.8.

Ein, wieder, warmer Abend, an welchem Hunderttausende von Fliegen ausgekrochen sein müssen – überall sind sie, wo Licht ist, um die Glühbirne krabbeln sie, daß es einen ekeln könnte, der Tisch ist voll von ihnen, meine Arme, meine Beine – Sommergefühl! Viel von allem, und das in Wellen: die Quappen erst, die Frösche dann, die Früchte, die Fliegen. Viel, viel.

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An der Wand mit der Glühbirne: Eine Ameisenstraße, dann plötzlich eine Ameisenkonglomeration. Die Ameisen haben eine Eintagsfliege erbeutet und zersägen, zerlegen, transportieren sie jetzt.

 

Der hart ausgeleuchtete Haufen, die Schlagschatten und die Lichtpunkte auf den Chitinpanzern – all das wirkt geheimnisvoll und bösartig wie auf einem Polizeifoto: Blitzlicht auf einen Tatort gerichtet.

Dazu Musik aus dem Giardino. Dazu Empfindungen wie: Daß ich die Wand gern habe, den Platz, die Kontinuität, daß ich von alldem lebe und daß es mich langsam fertigmacht.

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Die Fledermäuse heute Morgen um sechs. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da kreisten etwa 12 Stück über dem Zementplatz, laut zirpend. Eine nach der anderen – manchmal nach einigen Anläufen – verschwand dann in zwei sehr kleinen Löchern in der Capanna-Wand. Die Wand schien sie zu verschlucken, so unglaublich erschien die Tatsache, dass die im Flug breit und groß wirkenden Tiere wirklich durch diese Löcher passen sollten. Der Vampir-Effekt: Die Sonne geht auf, die Tiere der Nacht fliehen das Licht.

Heute Abend dann, in der Dämmerung, sahen wir, wie die Fledermäuse die Capanna wieder auf dem gleichen Weg verließen. Diesmal ohne Gezirpe, es ging ja zur Arbeit, das Nachtwerk begann.

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Vor Jahren, während der Jagd. Ein Jäger mit Hunden. A. wirft sich ihm entgegen: Abbiamo due gatti! Der Jäger (auf Italienisch): Soll ich sie töten?

A.: No, no … etc.

Wie nun, wenn sie seinen Satz nicht verstanden und »Si, si« gesagt hätte?

Frühjahr / Sommer 1986

Roberto: Im Fernsehen haben sie gesagt, das war der wärmste Mai seit 120 Jahren.

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Am See

Eine bienenähnliche Insektenart, die sich merkwürdigerweise lang und breit für mein Handtuch (blau) interessiert, zeitweise tasten es bis zu acht Tiere mit ihren langen Rüsseln ab (in der Luft stehend).

Zwei Düsenjäger, sehr tief, erst sah ich sie, wirkliche, böse Traumerscheinungen, dann, furchtbar, der Lärm. Danach großes Gequake sämtlicher Frösche.

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Fest in kleiner italienischer Stadt: Arriva la musica! Kommt ein Motorroller, dessen Fahrer eine Kassette zwischen den Zähnen hält.

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In San Giovanni

Ich gehe mit Maremmi zu einem Agrarbüro, ein Trauerzug setzt sich in Bewegung, als wir aus dem Auto steigen; halbwissend, halbnichtsahnend versuche ich etwas sehr Ungehöriges: den Trauerzug zu überholen. Danilo hält mich nicht zurück, hofft wohl, daß mich der Augenschein lehrt, und richtig: Als ich die Zeitung geholt und mich wieder zu ihm gesellt habe, da habe ich begriffen: Der Trauerzug geht vor, der entgegenkommende Verkehr hält an, Menschen bleiben am Straßenrande stehen, die Nachfolgenden auch, Autos bleiben zurück.

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29.5.

Heute kreisten 12 Möven über dem Zementplatz – ein ganz ungewöhnlicher, nie dagewesener Vorgang. Sie drehten dann wieder Richtung Arno ab – der Zementplatz schien geradezu die Grenze für sie gewesen zu sein: Bis hierher und nicht weiter. (Doch auch auf dem Arno habe ich bisher keine Möven gesehen – oder erinnere ich mich nicht mehr?)

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In Cavriglia heißt jetzt der Hauptplatz: Piazza E. Berlinguer. Hieß früher, laut Carlo, Piazza del 11 Febbraio, angeblich das Datum, an welchem die Lateranverträge zwischen Kirche und Staat unterzeichnet wurden.

Ich: Das Konkordat hat doch Mussolini abgeschlossen.

Carlo, unsicher: No, da war noch ein anderer Vertrag, 45.

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Das Verhältnis Kirsche + Staat, Verwunderung darüber, daß diese miteinander Schwierigkeiten gehabt haben. Ein Aufsatz.

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Oliven: 100 Bäume kaufen + setzen: 3 Mio (4500  DM).

Traktor: ca. 10 Mio (15 000  DM).

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Italienische Werbung für Kekse: »Mister Day« – lauter italienische Kinder bei amerikanischen Tätigkeiten (Baseball), dazu amerikanische Musik: Every morning Mister Day, start the day with Mister Day, etc. Dann werden die Kekse vorgestellt, von Kindern, auf Italienisch, die Keksnamen sind ebenfalls italienisch: Ciambala etc.

Zum Schluß alle Kinder in einem Auto:

I ragazzi del 86 / preferiscono Mister Day.

So etwa stelle ich mir das Ende der Kultur vor.

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Der Dichter wohnt doch recht beengt.

Wenn er mal froh den Shaker schwenkt,

dann stoßen seine Hände

so links wie rechts an Wände.

Armer Dichter.

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Roberto erzählt von einem Todesfall. Paolino, der zwanzigjährige Sohn eines guten Freundes, ist mit dem Traktor umgekippt und umgekommen.

Er hatte Roberto noch am selben Tage nach Hause gefahren, da es regnete und eine geplante Arbeit im Weinberg, zu der Roberto sich eingefunden hatte, nicht möglich gewesen war. Verabredung für den nächsten Tag, in der Hoffnung, daß es nicht regnen würde. Stunden später ist der Junge tot. Roberto erzählt Station für Station, wie er von dem Tod erfahren, wer ihn alles angerufen und was er gesagt hat.

»Ich habe drei Tage lang geweint« – noch jetzt wischt er sich die Augenwinkel. Jeder habe sein Schicksal; der eine werde alt – seine Schwiegermutter, 88, liege seit 6 Monaten im Bett, werde sicher nicht wieder aufstehen –, andere müßten jung sterben.

Als ich frage, wer dieses Schicksal denn festlege, fügt Roberto hinzu, Paolino sei erst vor acht Tagen mit dem Auto unter einen Lastwagen geraten, Totalschaden, doch P. habe lediglich eine Schramme davongetragen. »Vor acht Tagen! Und jetzt ist er tot.«

Die Beweisführung hat etwas Schlagendes, wie ja jeder Tod jedwedes Argument aus der Hand windet und niederschlägt: Das Ende eines Einzelnen ist auch das Ende aller Argumente.

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Ende Juni: Der Lindenduft. Vollmond. Die lange Helligkeit. Der Sommereinbruch.

Schlangenhaut auf dem Dach. Die Glycinie blüht nochmals auf.

Die Vögel sind noch aktiv.

Es gibt hin und wieder Tage, speziell Abende, die etwas Paradiesisches haben: So und nicht anders sind sie gemeint gewesen. Wetter, Temperatur, Umwelt – nach vielen Höllen und einigen halbherzig begrüßten Annäherungswerten weiß dann plötzlich jeder: Jawohl, dies und nichts anderes. Dazu gehören: ein lange gleichbleibendes Licht (Juni), ein fächelnder Wind, schön ist auch das Aufkommen von Gerüchen, abends.

Alles eigentlich Juni – was die Abende betrifft. Tage sind auch im September zu gebrauchen.

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Nun nehmense nur mal die Linde.

Großes Blatt, kleine Blüte, ich finde,

die blüht zwar nur kurz, doch besessen,

da könnse das Blatt glatt vergessen.

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Erlebnis mit Fasan

H., A. und ich sitzen beim Frühstück, als von Montaio her ein Fasan geflogen kommt. Ich deute mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn, da verliert er verwirrt an Höhe, kehrt zugleich um und rauscht gegen die Mauer. Findet sich auf dem Fußboden wieder, rüttelt sich und geht zu Fuß nach rechts ab. Verschwindet hinter dem Haus.

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Das Geräusch, das die Fledermäuse machen, bevor sie ausfliegen: Ein zuckendes, manchmal fast zirpendes, fiependes Durcheinander – dann verläßt die ganze Bagage das Mauerloch, die Kleinen zuerst, die Großen hinterher. Jawohl. Alles schon im Radio gesagt.

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In Bagno Vignoni, Hotel Terme: Da ist ein käfigartiges Gerät, das mittels erhitzter Röhren und violetten Lichts Insekten anlockt und sie verbrennt. Die ganze Zeit kracht und schmurgelt es.

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Location: Monte Amiata Scalo (Bahnhof) – die Quintessenz des italienischen Kleinstadtbahnhofs. Zudem stehen auf den Gleisen zwei ganze ausrangierte Züge, mit eingeschlagenen Glasscheiben, doch wie echt aussehend.

Location: Acquapendente. Die heruntergekommene Klosteranlage S. Francesco. Die Bekleidungsgeschäfte Gatti, Vater (alt, handgemaltes Schild) und Sohn (todschick).

Das Auto in der karierten Garage.

Mobili Furzi.

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Alberese

Innerhalb der letzten 10 Jahre hat das Meer den Strand weggetragen (mangiato la spiaggia), es war abzusehen, daß es auch das Restaurant erreichen würde. Dieses Jahr im April ist es geschehen, una mangiata di otto metri, in drei Stunden war dann die Hälfte der Zementterrasse weg.

(Schuld, laut Giulia, seien auch diejenigen, die den Ombrone so weit ausbaggerten, daß die stärkere Strömung das Meer bei seinen Mangiaten noch unterstütze.)

Trauriger Niedergang der Gastronomie: Wo früher zur Mittags- und Abendzeit weiße Tischtücher aufgedeckt wurden, stehen heute Tischchen kreuz + quer, im Angebot ist lediglich »Grande assortimento di panini« (Da Danilo), auch sie vergleichsweise bescheiden. Als ich sie lobe, winkt D. ab: Spaghetti wären besser. Nein, Gastronomie lohne nicht mehr, kein Platz. Nein, ein neues Haus wird er nicht mehr bauen. Und wann sein Haus drankommt, ist nur eine Frage der Zeit: Vor zehn Jahren gab es etwa 20 – 30 Meter Strand vor der Terrasse, jetzt hat das Meer bereits die Pineta erreicht, die Schirmpinien stürzen ins Meer.

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Lavendel blüht auf (Anfang Juli) und lockt die schönsten Falter an. (Erst ist der Lavendel dünn und enttäuschend deutsch, dann legt er los.) Die Glycinie blüht zum zweiten Mal.

Sommer

Der Ramarro in den Schatten und Lichtkringeln.

Die schreienden Grillen.

Daß Ende August der Lavendel verblüht ist.

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Die Ahnung des Sommer-Endes. Estate ferita, der letzte ganz und gar sommerliche Tag. Nachts braucht man wieder eine Decke, tags ein Unterhemd, muß sich Schuhe anziehen.

Erntezeit der Birnen und Tomaten (viel), Bohnen (das Rascheln beim Säubern), des Weins natürlich, der Äpfel (schon sieht man Kaki-Früchte rund und grün), der Feigen. Auf dem Chianti-Kamm das Kreuz, die stachligen Gewächse. Das Süden-Süden-Gefühl, die Trockenheit (doch schon hat es im Norden Unwetter gegeben, trombe d’aria).

Der Geruch der Pappeln, deren Blätter bereits gelb werden. Die Grundkühle da, wo Wasser ist. Der alte Hund, der zu Besuch kommt und als Anzeichen der Freude und der Begeisterungsfähigkeit immer wieder einen nackten Ständer bekommt, der ebenso rasch verschwindet.

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Siebenschläfer

A., die aus der Capanna Tomaten geholt hat, erzählt mir, da könne man die Fledermäuse wispern hören; ich sehe, daß ein aufgehängter Korb in leichter Bewegung ist, glaube, daß in ihm Laute entstehen. Tippe auch auf Fledermäuse, sehe dann mit einer schwachen Taschenlampe, daß da ein großer Nager wühlt und den Kopf in das Stroh stößt. Tippe – warum? – auf eine Ratte und empfehle A., ins Haus zu gehen. (Ich will den Korb mit der Rattenbrut rasch auf den Zementplatz werfen, sie sollen verschwinden.) Mit einem Plastikeimer will ich den Korb schließen, um ihn sodann vom Draht zu lösen, da – vor mir ein (relativ) großer, sehr schneller, springender Schatten, der sich via Mauer aufs Gebälk rettet: Ein Siebenschläfer, erkenne ich sofort, der buschige Schwanz war aber auch unübersehbar.