Tosh - La Famiglia - Lucia Bolsani - E-Book

Tosh - La Famiglia E-Book

Lucia Bolsani

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Beschreibung

Ein rücksichtsloser Mafiaclan. Ein undurchsichtiger Geschäftsmann. Eine ehrgeizige Anwältin. Eine heiße Affäre. Eigentlich ist es um die Karrierechancen der jungen Anwältin Mayra bestens bestellt. Sie hat einen Job in einer renommierten Münchner Anwaltskanzlei ergattert und darf endlich einen eigenen Mandanten betreuen. Doch der entpuppt sich als rücksichtsloser Mistkerl. Zudem hat der Geschäftsmann offenbar hervorragende Verbindungen zur Famiglia, einem Clan, der fernab von Touristenströmen und spießigem Bürgertum die Unterwelt beherrscht. Als sei das alles nicht schlimm genug, hat Mayra auch mit der unerwünschten sexuellen Anziehung zu kämpfen, die der Mann auf sie ausübt. Fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen, beschließt sie, die Geheimnisse ihres Klienten zu lüften. Doch dabei gerät Mayra in das Visier von Männern, die auch vor Folter und Mord nicht zurückschrecken. Der erste Teil des Dark-Romance Zweiteilers »Der Cortone-Clan«.

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Seitenzahl: 422

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TOSH

 

La Famiglia

 

Teil 1 der Dark-Romance-Dilogie »Der Cortone-Clan«

 

 

von

Lucia Bolsani

 

 

 

Contentnotes: Diese Dilogie enthält explizite Gewaltdarstellungen, auch sexuelle Gewalt, Gewalt gegen Kinder und das Thema Suizid.

 

Lektorat: Andrea Benesch | www.lektorat-federundeselsohr.de

 

 

Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de

unter Verwendung von Motiven vondepositphotos.com: © tomert, © kukumalu80, © yoka66, © sergio34, © stillfx stock.adobe.com: © Viorel Sima

 

© 2021 Lucia Bolsani |www.evabolsani.de

 

 

 

Vorwort

 

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,,

 

herzlich willkommen zur ersten Dark Romance aus meiner Feder!

Was erwartet Dich hier? Du triffst auf sadistische Mafiosi, die Gewalt für die einzig mögliche Form der Problemlösung halten, auf einvernehmlichen Sex, der etwas härter daherkommt, überhaupt nicht einvernehmlichen Sex, Mord, Betrug, Geldwäsche und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nun gut, mit einem Ponyhof hast Du wahrscheinlich auch nicht gerechnet. Was halte ich Dich also mit einem Vorwort auf? Zumal Du vermutlich ganz gut selbst weißt, welche Art von Büchern Du gerne lesen möchtest.

Nun, zwei Warnungen will ich doch noch loswerden: Es gibt keine weichgespülten Mafiosi und kein flauschiges Ende … vi chiedo scusa – es tut mir leid!

Da sind wir gleich beim zweiten Punkt: Leider musste ich feststellen, dass die handelnden Personen über ein umfangreiches Repertoire an italienischen Schimpfwörtern verfügen und sich dessen großzügig bedienen. Solltest Du des italienischen Fluchens nicht mächtig sein, findest Du im Anhang ein Glossar mit der jeweiligen Übersetzung. Wenn Dich Nachschlagen nervt oder im Lesefluss stört, stell Dir bitte an der entsprechenden Stelle ein herzhaftes Scheiße! oder Arschloch! vor, das passt eigentlich immer.

Nachdem das geklärt ist, können wir ja eintauchen in die dunkle Seite Münchens fernab jeglicher Postkartenidylle und Oktoberfest-Romantik. Ich wünsche Dir spannende Stunden!

 

Deine Lu

Prolog

 

 

 

München-Giesing, 09.07.2001, nachmittags

 

Ich kanns nicht mehr sehen. Eine halbe Stunde hocken wir jetzt schon in unserem Kleintransporter und starren auf diese bescheuerte Feuerschutztür. Auf die verblassten Buchstaben Achims Kickboxclub und die drübergeschmierten Graffiti. Ein Scheiß ist das, aber der Padre ist nun mal der Boss, und der besteht darauf, dass ich diesem Rotzlöffel einen Denkzettel verpasse. Klar, wenn irgendein dahergelaufener Bengel seinen geliebten Enkel Domenico beklaut, ist das natürlich kein Job für einen x-beliebigen Handlanger, da müssen die Profis ran.

Die Kohle soll ich auch wiederbesorgen. Wobei ich mich schon frage, ob die Sache zwischen den Jungs wirklich so abgelaufen ist, wie Domenico behauptet. Aber ist das etwa mein Problem? Sicher nicht.

Domenico ist erst vor drei Wochen von Italien nach München zu seinem Großvater gezogen, aber das sehe ich gleich: Das ist so ein hinterlistiger, kleiner Scheißer, der Mist baut und ihn dann anderen anhängt. Dummerweise hat der Padre einen Narren an Domenico gefressen, da halte ich besser mein Maul.

Als ich zehn Jahre alt war, habe ich in den Bergen um meine Heimatstadt Padolfi mit einer Neunmillimeter rumgeballert, und wenn mich ein anderer Junge um meine Knete erleichtert hätte, wäre mir zusätzlich eine gehörige Tracht Prügel meines Papàs sicher gewesen. Dem Enkel des Padre wird freilich kein Haar gekrümmt. Schwachsinn! So wird der verweichlichte Schwächling nur weiter Ärger machen und am Ende vielleicht sogar die ganze Famiglia in Schwierigkeiten bringen. Che stronzo!

Wenigstens konnte Domenico ein paar Hinweise auf den Bengel geben, der glaubt, er kann sich mit der Famiglia anlegen. Was uns zu diesem versifften Boxclub geführt hat. Wenn unsere Informationen stimmen, sollte der kleine Dieb jetzt trainieren, während ich mit Domenico gelangweilt hier rumhänge. Allerdings wird mein Freund Bruce dafür sorgen, dass der Junge nach der Stunde kurz aufgehalten wird. Schließlich wollen wir ungestört sein, wenn wir uns ein bisschen mit ihm unterhalten.

Klar, wir hätten den Langfinger auch in den Wagen zerren und ihm die fällige Abreibung in irgendeinem dunklen Hinterhof verpassen können. Aber wenn ich schon so einen Kinderkram erledigen muss, dann will ich damit wenigstens ein Zeichen setzen: Carlo Cortone kann sich in diesem Viertel jederzeit an jedem Ort einen Jungen vornehmen, ohne dass ihm deswegen wer ans Bein pisst.

 

Unter lautem Getöse quellen ein paar Rabauken aus der schäbigen Tür, rempeln sich gegenseitig an und kommen sich offenbar supercool vor. Cretini! Aber endlich piept mein Handy. Das Signal von Bruce. Es kann losgehen.

»Avanti!«, sage ich zu Domenico, wir schwingen uns aus dem Wagen und drücken die Eingangstür zum Boxclub auf. Sofort schlägt uns der unverwechselbare Geruch nach kaltem Schweiß und billigen Deos entgegen. Widerlich!

Wir steigen ein paar abgewetzte Betonstufen hinauf, und ich erläutere Domenico den Plan: »Pass auf, Bruce schnappt sich den Jungen, dann kannst du ihm …«

Domenico schüttelt entsetzt den Kopf. »Bruce soll das machen.«

Porco dio, ein Feigling ist er auch noch. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn Domenico der nächste Padre wird. Hoffentlich legt ihn rechtzeitig irgendein Rivale um, wäre uns allen zu wünschen. Der alte Mann würde ausrasten und Vergeltung fordern, aber leichter das als Domenico an der Spitze der Münchner Famiglia.

Bruce wartet am Eingang zu den Umkleiden auf uns, einem riesigen Raum, der durch mehrere Reihen verbeulter Stahlschränke in kleine Gänge unterteilt wurde. Jetzt herrscht gähnende Leere. Bis auf einen dürren Jungen mit verschwitztem dunkelblonden Haar, der vor einem geöffneten Spind steht und sich ein T-Shirt über den mageren Oberkörper zieht. Was für ein Welpe! Aber das ändert nichts daran, dass er eine diebische Elster ist und gleich die Quittung dafür bekommen wird.

»Domenico, è lui?«, knurre ich leise. Ist er das?

Domenico nickt angespannt, dann versteckt er sich hinter der nächsten Reihe Spinde. Erbärmlich. Ich gebe Bruce mit einem Wink zu verstehen, dass er die Sache ohne ihn durchziehen soll.

Mit zwei Schritten ist mein Mann bei dem Kleinen und knallt ihm die Stahltür des Spindes direkt vor der Nase zu. Der Junge fährt herum, da trifft ihn Bruce’ Faust auch schon in den Magen. Der Bengel stöhnt und krümmt sich zusammen, aber seine Reaktion verrät, dass er heute nicht zum ersten Mal hier trainiert hat. Er taucht nach unten weg und versucht dabei, gegen Bruce’ Schienbein zu treten. So ein simpler Trick entlockt Bruce natürlich nur ein müdes Lächeln, problemlos weicht er aus, wobei sein Stiefel wie zufällig auf einem nackten Fuß des Jungen landet. Ein kurzer Schrei, dann fliegen die Fäuste des Burschen wirkungslos in Richtung seines Gegners. Bruce greift um einiges effektiver an: Ein präziser Faustschlag trifft den Zwerg im Gesicht, seine Lippe platzt auf.

Schon faszinierend. Dank des Adrenalins merkt der kleine Kerl gar nicht, dass er wirklich besser aufgeben sollte. Immer noch versucht er, sich zu wehren, doch seine harmlosen Versuche prallen an Bruce einfach ab. Zufrieden sehe ich, dass der Junge einige sehr schmerzhafte Treffer kassiert. Bruce ist erfahren genug, um den Kleinen nicht gleich k. o. zu schlagen. Die Lektion wird der Bursche so schnell nicht vergessen.

»E basta!«, befehle ich schließlich, und mit einem gezielten Schlag auf den Solarplexus setzt Bruce dem ungleichen Kampf ein Ende.

Als sich die Sternchen, die der Bursche zweifellos sieht, verzogen haben, findet er sich in Bruce’ erbarmungslosem Polizeigriff wieder.

»Lass mich los, Blödmann!«

Aus der aufgeplatzten Lippe tropft Blut auf sein Shirt, die ersten Hämatome zeichnen sich bereits deutlich auf dem Gesicht ab, und Bruce ist nicht gerade zimperlich, wenn er zupackt, trotzdem reißt der Welpe noch die Klappe auf. Der Mut der Verzweiflung, schätze ich. Bruce antwortet nicht, sondern greift sich ein Büschel Haare und zwingt den Kopf des Bengels in den Nacken. Der Wicht hat keine andere Wahl, als mich anzusehen. Seine Augen weiten sich für einen Moment.

Ich weiß, was er sieht: Einen Mann Ende zwanzig, dunkler Teint, blond gefärbte Haare, Sonnenbrille. Heller Anzug mit einem schwarzen Muskelshirt drunter. Ein Kerl wie aus einem Surfermagazin, wäre da nicht die zentimetertiefe Narbe in meinem Gesicht, die vom Kinn bis fast zum Ohr reicht. Allerdings sorgt dieser Makel dafür, dass jeder hier in der Gegend gleich weiß, mit wem er es zu tun hat. Der Welpe offenbar auch.

Ich nehme die Sonnenbrille ab. »Nur, um sicherzugehen«, frage ich betont höflich, »du bist der Idiot, der es gewagt hat, meinen Neffen Domenico zu bestehlen?«

Bruce muss den Burschen erneut an den Haaren reißen, damit ich eine Antwort bekomme.

»Ich … ich wollte doch nicht …«, krächzt der Kleine.

Das reicht schon. Hauptsache, der Junge hat kapiert, worum es geht.

»Brich ihm einen Finger«, befehle ich Bruce.

Das muss ich meinem Handlanger nicht zweimal sagen. Ohne Federlesen schnappt er sich den Mittelfinger der linken Hand des Kleinen und biegt ihn über seinen eigenen Daumen nach hinten. Ein grässliches Knacken ertönt, als träte man im Wald auf einen trockenen Zweig. Der Junge schreit gequält auf. Bruce lässt ihn los, und sofort taumelt der Bub von uns weg, die verletzte Hand schützend an seine Brust gepresst. Ich kann ein paar Tränen sehen, und sein Mund ist schmerzverzerrt, aber wenigstens plärrt er nicht los wie ein Baby.

»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. Niemand bestiehlt die Famiglia.«

»Scheiße Mann! Ich hab dem Typen geholfen!«, jault der Junge und zieht den Rotz hoch. »Ich hab ihn aus der Schlägerei mit den Schlitzaugen rausgeholt und in die Notaufnahme geschleppt.«

Tja, die Welt ist schlecht. Nachdem wir Domenico in einem Krankenhaus wieder eingesammelt hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass ihm der Langfinger zunächst zur Hilfe gekommen war, als ihn ein paar andere Typen angegangen sind. Und ohne die Kickboxnummer, die der Bursche da abgezogen hat, hätten wir ihn vielleicht nie gefunden.

»Deswegen sind auch noch alle Finger dran. Das nächste Mal schneidet Bruce dir einen ab«, erkläre ich lässig. »Frag lieber nicht, wie die Schlitzaugen jetzt aussehen.«

Dann schweigen wir alle. Bruce und ich lehnen dabei unbekümmert am Ausgang, während die Blicke des Jungen unruhig hin und her huschen. Schließlich hält er es nicht mehr aus. »Ihr habt ja jetzt, was ihr wolltet. Warum haut ihr nicht ab?«

»Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen? Die Kohle, die Domenico dabei hatte, zum Beispiel?«

»Den … den Geldbeutel habe ich im Fundbüro abgegeben«, presst der Welpe hervor.

»Mit der Knete?«, frage ich höhnisch. »Du solltest mich besser nicht verarschen, sonst erledigen wir das mit dem Fingerabschneiden gleich hier und jetzt.«

»Das Geld habe ich ausgegeben«, schleudert mir der Kleine entgegen, und in seine Stimme mischen sich Panik und Triumph. »Für eine Jahreskarte. Für dieses Studio.«

»Bruce, such den Besitzer von dem Drecksloch hier und hol das Geld zurück«, befehle ich. »Nimm Domenico mit.«

Domenico krabbelt hinter dem Spind hervor, von wo aus er die ganze Szene mit offenem Mund beobachtet hat, und verschwindet mit Bruce. Ich bin allein mit dem Zwerg.

»Du hast wirklich allesfür das hier ausgegeben?«, frage ich und sehe mich abschätzig um.

Der Welpe hält immer noch so viel Abstand wie möglich zu mir, außerdem kämpft er schon wieder mit den Tränen. Diesmal gewinnt er. Stattdessen schreit er mich plötzlich an: »Ja! Damit mir in Zukunft nicht jeder dahergelaufene Ganove einen Finger brechen kann! Damit nicht jeder Stecher meiner Mutter meine Kohle klauen kann! Damit meine bescheuerte Schwester nicht einfach meinen Hund vergiften kann! Aber vor allem …«, hier kippt seine Stimme, »… damit nicht jeder Depp meinen Opa überfahren und ungeschoren davonkommen kann! Und jetzt schneiden Sie mir halt meinen gottverdammten Finger ab, was soll ich schon dagegen machen!«

Das ist ja interessant.

Ich sehe den Jungen an, erkenne die Verzweiflung und die Wut in ihm und den Wunsch, endlich kein Opfer mehr zu sein. Dieses brennende Verlangen in die richtigen Bahnen zu lenken, könnte ihn zu einem perfekten Gefolgsmann machen. »Komm mal her«, sage ich sanft und winke ihn heran.

Er kommt tatsächlich näher. Mutig ist er. Trotzdem ist sein Blick wachsam, blöd ist er also nicht.

»Nur so eine Idee«, schmeichle ich. »Wer zu meinen Jungs gehört, muss sicher nicht in so einem abgefuckten Studio trainieren, um sich Respekt zu verschaffen. Das ist es doch, was du willst. Respekt. Oder Macht? Rache?«

Beim letzten Wort glimmt eine Gier in seinen Augen auf, die ich nur allzu gut kenne.

»Rache also«, locke ich. »Ich kann dir dazu verhelfen.«

»Aber … warum sollten Sie das tun?«, fragt er misstrauisch.

Kluges Kerlchen.

»Die Sache hat natürlich einen Haken. Alle wirklich guten Angebote haben einen winzigen Haken. Ich erwarte von meinen Leuten bedingungslose Ergebenheit.«

Der Kleine runzelt die Stirn, darunter kann er sich offenbar nichts vorstellen.

»Das heißt, wenn ich dein Geld will, wenn ich deinen Hund töten will, wenn ich deine Familie überfahren oder dir einen Finger brechen will, wirst du das klaglos akzeptieren.«

Er sieht mich immer noch argwöhnisch an, als wäre er nicht sicher, wer von diesem Handel mehr profitiert.

»Okay«, sagt er schließlich.

»Gut«, entgegne ich und strecke auffordernd eine Hand aus.

»Äh …«, macht er verdutzt.

»Beweise mir, dass du es ernst meinst. Geld hast du keins, ein Opa oder ein Hund sind gerade nicht am Start … aber neun Finger sind noch übrig, eh?«

Er starrt auf seine Hände. Überlegt er, welche er mir geben soll, oder wie er aus der Nummer wieder rauskommt? Schließlich reicht er mir klugerweise die bereits ramponierte Pfote. Wirklich nicht blöd der Kleine.

Ich lasse mir Zeit. Betrachte in aller Ruhe sein zerschlagenes Gesicht mit den ängstlich geweiteten Augen. Umschließe sein Handgelenk nur leicht – ein Ruck, und er könnte sich befreien. Wir sehen einander an. Seine Lider flattern, aber er rührt sich nicht vom Fleck. Ich nehme seinen Zeigefinger zwischen Daumen und Mittelfinger und biege ihn aufreizend langsam um. Ein Schweißtropfen rinnt seine Schläfe hinunter und er presst die aufgerissenen Lippen zusammen. Offenbar bemüht er sich, ruhig zu atmen, aber die bebenden Nasenflügel verraten ihn. Seine Hand zittert, doch er macht keine Anstalten, sie wegzuziehen. Ich koste den Moment aus, genieße seine Furcht. Er ist zäher, als ich dachte. Obwohl sein Atem schneller und schneller geht und sein Mund nun nicht mehr als ein schmaler Strich ist, steht er immer noch vor mir.

Molto bene! Ein kräftiger Ruck, ein unschönes Knacken, er schreit auf, bevor er stöhnend auf den Boden sackt.

»Scheiße«, jammert er, und umklammert die verletzte Hand mit der gesunden. Aber schon kurz darauf rappelt er sich auf. Doch, der Kleine gefällt mir.

»Was wird jetzt aus dem Training?« Seine Stimme bebt nur ganz leicht. Gut, da kann er gleich was lernen.

»Unwichtig. Es geht nicht darum, dass du stärker als alle anderen bist. Pass auf: Du hast jetzt zwei gebrochene Finger, eh? Welcher, denkst du, bedeutet mir mehr – der, den Bruce dir mit Gewalt gebrochen hat, oder der, den du mir freiwillig gegeben hast?« Ich lasse ihm einen Augenblick, um das zu verdauen, dann fahre ich fort: »Du kannst in unserem Dojo trainieren. Aber vor allem: Lerne, deinen Kopf zu benutzen. Dann wirst du erreichen, was auch immer du willst.«

Genau in dem Moment taucht Bruce auf, ein Bündel Scheine in der Hand.

»Bring den Jungen hier zum Doc«, sage ich zu ihm. »Er gehört jetzt zu uns, ich will nicht, dass er steife Finger kriegt.« Dann wende ich mich an den Kleinen: »Ich bin Carlo. Aber du darfst Boss zu mir sagen.«

»Tosh«, sagt der Junge und nickt ernst. »Ich bin Tosh Silvers, Boss!«

 

Kapitel 1

 

 

 

München-Giesing, 23. Mai 2019, nachmittags

 

»Porca miseria, Chef, Minnie ist kurz vor dem Heckenstallertunnel einfach aus der Karre gesprungen.«

Ich gönne meinem Fahrer keinen Blick, sondern studiere weiterhin die Börsencharts auf meinem Laptop.

»Wer macht denn auch so was, auf dem Mittleren Ring auf die Straße rennen?«, fährt Hugo fort.

»Eine Nutte auf Crystal?«, schlage ich sarkastisch vor, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

Hugos sonst so gelassene Stimme klingt um einiges gehetzter, als er mir umständlich zu erklären versucht, weshalb er überhaupt so weit runterbremsen musste, dass Minnie türmen konnte, ohne sich dabei sämtliche Knochen zu brechen. Als er jedoch zu einer Entschuldigung ansetzt, unterbreche ich ihn. »Wladimir liegt mir eh schon ständig in den Ohren, dass Minnie nicht genug Freier schafft. Und dann noch diese überflüssige Aktion heute …« Erst jetzt wende ich mich von den Börsenkursen ab, lehne mich zurück und mustere Hugo kühl.

Der drahtige Mann steht immer noch direkt vor der Tür meines weitläufigen Büros, als könnte ihn der räumliche Abstand zu mir irgendwie vor den Konsequenzen seines Fehlers bewahren. Hugo hält meinem Blick nicht stand. Seine Gesichtsfarbe hat inzwischen einen bläulich-ungesunden Ton angenommen. Der könnte allerdings auch daher rühren, dass der Schein der Neonleuchtschrift des Restaurants Blue Parrot genau in das Fenster meines Büros fällt. Ist im Grunde aber egal. Hugo hat Mist gebaut und das weiß er auch.

»Du hast mich da in eine dumme Lage gebracht. Wo bekomme ich denn jetzt auf die schnelle eine neue Hure für Wladimirs abgewrackten Puff her? Ich habe gerade kein Mädel an der Hand, du vielleicht?«

Hugos Gesichtszüge entgleisen kurz. Hektisch fährt er sich mit einer Hand durch das dunkle Haar. Sehr gut. Ich muss gar nicht darauf hinweisen, dass ich sehr wohl weiß, dass er etwas mit dieser schnuckeligen Küchenhilfe am Laufen hat. Mein Fahrer ist sich dessen ebenso bewusst wie der Tatsache, dass ich nicht zögern würde, sie für seinen Ausrutscher büßen zu lassen.

»Chef … ich klär das mit Wladimir. Er hat doch Kontakte zu den Tschechen, die haben sicher ein neues Mädel für ihn. Ich zahl das auch!«

Ich lasse Hugo ein wenig zappeln. Wladimirs Geschmack ist nicht besonders erlesen, natürlich nicht, sonst würde Minnie wohl kaum bei ihm anschaffen. Hugo käme also ziemlich günstig weg. Ganz abgesehen davon würde ich dem Russen lieber die Fresse polieren, als ihn auch noch dafür zu belohnen, dass Minnie ihm entwischt ist. Aber Hugo ist normalerweise sehr zuverlässig, und Wladimir schuldet mir keine Rechenschaft, da er nicht zu meinen Leuten gehört. Daher entschließe ich mich dazu, meinen Chauffeur damit durchkommen zu lassen. Wenn ich Minnie allerdings nicht wieder in die Finger bekomme, kann ich für nichts mehr garantieren. Ich bin noch lange nicht fertig mit ihr.

»Also gut. Aber ich will die Schlampe zurück. Sieh zu, dass du sie wieder auftreibst.«

»Natürlich, Herr Silvers. Ich kümmere mich sofort darum.«

Ich kann Hugos Erleichterung förmlich riechen. Mein Kopf ruckt kurz in Richtung Tür. Er versteht und verschwindet ohne ein weiteres Wort.

»Maledetto!«, fluche ich, kaum dass ich allein bin. Minnie hat gefälligst in diesem verlotterten Puff die Beine für jeden breit zu machen, der sich nicht zu schade ist, seinen Schwanz in ihre Fotze zu stecken. Was der Boss davon hält, dass uns die Nutte abhandengekommen ist, will ich lieber gar nicht wissen. Falls Minnie nicht längst mit einer Nadel im Arm auf irgendeinem versifften Klo liegt.

Was mich auf eine Idee bringt. Wenn irgendwer in Nullkommanichts rauskriegt, ob es in dieser Stadt eine frische Drogentote oder eine plattgefahrene Hure gibt, dann Georg. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Zwar hätte ich noch einiges zu tun, aber ein kurzer Abstecher in den Keller sollte vor dem Treffen mit dem Boss trotzdem drin sein.

Das hätte ich mir ja früher nicht träumen lassen, dass man als Carlo Cortones Finanzmanager mehr schuften muss als diese aufgeblasenen CEOs, die immer so ernst in die Fernsehkameras gucken, wenn sie erklären, warum sie leider die Kohle der Anleger verzockt haben, bevor sie sich dann mit ihrer Millionenabfindung davonmachen. Das sollte ich mal versuchen!

Wobei die Kerle natürlich unter erschwerten Bedingungen arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die mal eben einem Angestellten damit drohen könnten, seine Freundin in einen Puff zu stecken, ohne dass es ein Riesentheater gibt. Bei mir taucht auch kein Betriebsrat auf, um mich darauf hinzuweisen, dass es unzulässig ist, einem Mitarbeiter die Nase zu brechen, nur weil er fünf Minuten zu spät kommt. Alles in allem fällt es mir also wesentlich leichter, mir Respekt zu verschaffen. Obwohl selbst seriöse Geschäftsleute in den Hinterzimmern des Blue Parrot gerne mal mit fragwürdigen Praktiken liebäugeln, um die Konkurrenz auszuschalten. Vielleicht unterscheiden sich unsere Jobs also doch gar nicht so sehr, wie es auf den ersten Blick scheint.

 

Georgs Reich liegt im Keller direkt neben den Räumen, die ich für entlaufene Huren und ähnliches Gesocks reserviert habe, und die lieber niemand von innen sehen will. Aber für Georg zählt nur, dass es seine Babys schön kühl haben. So bezeichnet er eine ganze Armada von Servern, die meine Stromrechnung in unermessliche Höhen treiben. Aber was tut man nicht alles für einen Weltklassehacker?

Ich trete ein und lasse den Blick über die blinkenden Computer schweifen, als auch schon der Meister der Technik zwischen den Regalen auftaucht.

»Tosh, du bist es«, begrüßt er mich fröhlich lächelnd.

Für jeden anderen meiner Angestellten bin ich Herr Silvers oder Chef. Aber selbst ich muss zugeben, dass zu einem Menschen, den man kennengelernt hat, als er mit einem Strick um den Hals auf dem Geländer der Praterwehrbrücke saß und fest entschlossen war, sich in den Tod zu stürzen, eine besondere Beziehung besteht. Weshalb Georg bei mir eine gewisse Narrenfreiheit genießt.

»Wen hast du erwartet, eine heiße Braut etwa?«, frage ich grinsend zurück, dabei bin ich der Einzige außer ihm, der den Code zum Öffnen der Tür kennt. »Wäre ja nicht schlecht, wenn dir jemand in diesem Kühlschrank mal einheizt.«

Er wird rot. Wie ein Mädchen.

»Habe ich ins Schwarze getroffen?«, foppe ich ihn weiter. »Wie heißt sie denn?«

»Anna.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen und kann mir kaum in die Augen sehen. »Sie ist Synchronsprecherin. Und natürlich würde ich sie nie hier hereinlassen.«

»Na, Hauptsache, sie lässt dich rein. Überhaupt, Synchronsprecherin? Das hört sich doch nach geilen Lippen an. Also, was hängst du hier herum, anstatt dir von dem Mädel den Schwanz lutschen zu lassen?«

»Lass den Scheiß, Tosh!«, krächzt Georg.

»Dann bedanke dich erst mal dafür, dass ich dich dazu gebracht habe, diese alberne Pilotenbrille gegen Kontaktlinsen zu tauschen. Schon klappts mit den Mädels.«

Georg ist fast zehn Jahre älter als ich, aber das ist doch kein Grund, nicht hin und wieder eine Frau abzuschleppen. Auch heute bin ich mir nicht sicher, ob er mir nicht einen Bären aufbindet, damit ich nicht frage, wann zum Teufel er das letzte Mal gevögelt hat. Klar, er ist ein Nerd, und er sieht auch so aus, aber seit er sich den Bart stehen lässt, wirkt er viel cooler. Die Narbe von der Hasenscharten-OP erkennt man auch kaum noch. War ebenfalls ein Rat von mir, der Bart.

Georg schätzt seine Privatsphäre und würde jedem anderen nach so einem Vorschlag wahrscheinlich einen Computervirus anhängen. Allerdings genieße ich ebenfalls eine gewisse Narrenfreiheit bei ihm. Wenn das Bewerbungsgespräch so aussah, dass der künftige Chef einem die Selbstmordabsichten ausredet, ist das eben kein normales Arbeitsverhältnis mehr.

Vielleicht sind wir im Laufe Zeit sogar so etwas wie Freunde geworden. Sicher kann ich das nicht sagen, ich habe keine Erfahrung mit Freunden. Und Georg auch nicht.

»Ich dachte, ich schau mir das noch mal genauer an mit den EU-Subventionen«, versucht der nun, das Gespräch in sichere Bahnen zu lenken.

Ich winke ab. »Lass mal, ich muss den Deal eh erst mit Carlo besprechen, bevor wir loslegen. Aber ich könnte deine Hilfe in einer anderen Sache brauchen.«

»Dann kannst du dich ja jetzt bedanken, dass ich immer noch hier bin, anstatt mir den Schwanz lutschen zu lassen.«

Sieh an, Georg kann ja richtig frech werden. Anderseits ist mir gerade nicht nach weiteren Scherzen zumute. »Minnie ist weg«, sage ich düster.

»Wie, weg?« Georg guckt mich verblüfft an.

»Sie ist Wladimir abgehauen. Keine Ahnung, wie die Schlampe das geschafft hat. Und ihr Timing ist natürlich wieder einmal perfekt. Gerade heute konnte ich es echt nicht brauchen, dass diese blöde Nutte hier den Aufstand probt - das Treffen mit dem Gieseke stand an und es musste reibungslos über die Bühne gehen.«

»Soll das heißen, sie war hier, im Blue Parrot? Aber die Türsteher haben doch klare Anweisungen, was Minnie angeht?«

Ich frage mich, ob Georg sich heute vielleicht doch schon das Hirn rausgevögelt hat, so begriffsstutzig, wie er ist. »So schlau war die Bitch selber. Deswegen ist sie hintenrum rein.«

Es gab schließlich eine Zeit, da ist Minnie hier ein- und ausgegangen. Nicht alle unsere Besucher möchten beim Betreten des Blue Parrot gesehen werden. Weswegen sowohl ein diskreter Hintereingang als auch eine verborgene Kellertreppe existieren. Daran hatte sich ihr drogenumnebeltes Gehirn wohl noch erinnern können.

»Zum Glück ist sie direkt Hugo in die Arme gelaufen. Der sollte sie eigentlich hübsch verschnürt wieder an Wladimir übergeben und es dem überlassen, ihr Manieren beizubringen. Stattdessen haut sie Hugo ebenfalls ab und rennt im dichtesten Feierabendverkehr quer über den Mittleren Ring davon.«

Was man halt so macht, wenn sich das letzte bisschen Verstand längst verabschiedet hat.

»Jedenfalls dachte ich, du könntest mal nachsehen, ob die Bullen was über ein Unfallopfer oder eine Drogentote haben.«

Denn wenn sie den Sprint über die stark befahrene Straße überstanden hat, wird Minnie bald einen Schuss wollen. Und wenn da kein Wladimir ist, der aufpasst, was und wie viel sie sich spritzt, kann das schnell schiefgehen.

»Klar, das haben wir gleich«, sagt Georg zuversichtlich.

Seit Neuestem setzt er sich gar nicht mehr an einen Computer, sondern erledigt solche Anfragen mit seinem Tablet, auf dem er auch diesmal eifrig herumwischt und tippt, während seine Blicke über den kleinen Bildschirm huschen.

Solange Georg beschäftigt ist, denke ich an das letzte Mal, als Minnie Zicken gemacht hat. Da durften ein paar Jungs ihre versauten Fantasien an ihr ausleben. Dann war für eine Weile Ruhe, bis jetzt. Was muss ich mir eigentlich noch einfallen lassen, damit sie endlich spurt?

»In den Krankenhäusern ist sie nicht«, gibt Georg den Zwischenstand seiner Suche bekannt.

Ich nicke. Minnie sieht ziemlich auffällig aus und ist deshalb leicht aufzuspüren. Georg hämmert weiter auf sein Tablet ein, während ich gedankenverloren den breiten Silberring an meinem linken Zeigefinger drehe und mir vorstelle, was dieser in Minnies Gesicht anrichten würde.

»Sie ist bei der Polizei«, meldet sich Georg wieder.

»Wie bitte?«

Nicht, dass Minnie irgendetwas weiß, was mir oder dem Boss schaden könnte, aber gerade jetzt kann ich keine Bullen brauchen, die hier herumschnüffeln.

»In Polizeigewahrsam«, erklärt Georg. »Sie hat offenbar am Gärtnerplatz Theaterbesucher belästigt …«

Angeschnorrt, vermute ich.

»Die Beamten haben ihr einen Platzverweis erteilt. Als sie dem nicht nachkommen wollte, wurde sie in Gewahrsam genommen. Polizeistation 11. Ausweisen konnte sie sich nicht, allerdings hat sie ihren Namen genannt und die Beschreibung passt auch.«

»Sehr gut!« Ich klopfe Georg auf die Schulter, was ihn zusammenzucken lässt. »Jetzt aber raus hier und lass es dir von deiner Anna ordentlich besorgen!«

»Was?« Er sieht mich an, als spräche ich chinesisch. »Ach so, ja, klar, mach ich.«

Kopfschüttelnd verlasse ich den kühlen Raum, mein Handy bereits in der Hand. »Hugo? Minnie ist in Polizeigewahrsam, Altstadtrevier. Sieh zu, dass du sie da schleunigst rausholst, bevor sie anfängt, Unsinn zu reden. Nimm den Hinrich mit.«

Alexander Hinrich ist der Anwalt, der sowohl für Carlo als auch für mich tätig ist.

»Ich treffe mich später noch mit dem Boss. Steck sie so lange irgendwo in den Keller, und sperr in Gottes Namen die Tür ab!«

Ich warte nicht auf Hugos Antwort, sondern lege auf und mache mich auf die Suche nach Marco, damit der mich nachher zum Treffen mit Carlo fährt. Seit ich das Blue Parrot übernommen habe, finden die monatlichen Zusammenkünfte nicht mehr in dessen Hinterzimmern statt. Carlo schätzt es, wenn wir zu ihm kommen und nicht umgekehrt.

Natürlich könnte ich selber fahren, aber als Contabile des Bosses darf ich nicht den Eindruck erwecken, ich hielte mich für zu unbedeutend, um nicht mindestens einen Leibwächter zu benötigen.

Wenigstens kann ich die Fahrt dazu nutzen, um mit dem in Padolfi aufgewachsenen Marco an meinem Akzent zu feilen. Carlo zieht mich ständig damit auf, dass mein Italienisch immer noch so klingt, als spräche ich durch ein schepperndes Megafon. Seine wenig schmeichelhafte Art, mich hin und wieder daran zu erinnern, dass ich mich zwar um die Finanzen kümmern darf, aber nie ein vollwertiges Mitglied der Famiglia sein werde, da ich nicht in sie hineingeboren wurde.

Doch als ich eine Stunde später im Wagen sitze, kommt es nicht mehr zum Sprachunterricht, denn ein Anruf von Hugo lässt mich meinen mangelhaften Akzent sofort vergessen.

»Was soll das heißen, dir ist jemand bei Minnie zuvorgekommen? Willst du mich verarschen?«

 

Kapitel 2

 

 

 

München-Altstadt, 23. Mai 2019, abends

 

Unvermittelt tritt eine gedrungene Gestalt in einem abgerissenen Mantel, einer Wollmütze und mit einem mottenzerfressenen Bart aus der überdachten Nische des Eingangsbereichs eines Delikatessengeschäfts und streckt mir ihre offene Hand entgegen. Ich zucke zusammen. »Kruzinesen, bleib bloß weg von mir!«

Angst habe ich keine vor dem verlausten Gesellen. Er ist auch nicht der Grund für meine miese Laune. Eher der Tropfen, der das Fass gleich zum Überlaufen bringt.

»Hau ab!«, fahre ich ihn an, und tatsächlich dreht er sich um und schlurft davon.

Normalerweise habe ich kein Problem damit, solche Typen loszuwerden, indem ich ihnen freundlich, aber bestimmt die Gemeinverfügung erkläre, die das Kreisverwaltungsreferat München für das Betteln erlassen hat. Aber nach diesem durch und durch beschissenen Tag habe sogar ich Schwierigkeiten, die Contenance zu bewahren.

Ich eile weiter, begleitet von dem Stakkato meiner Absätze auf dem Asphalt. Das ist doch wirklich zum Kotzen, da hat man endlich das Referendariat geschafft, das 2. Staatsexamen – mit Bestnote! – in der Tasche, ergattert einen Job in einer renommierten Kanzlei, und was darf man machen? Den Mist, den die lieben Kolleginnen nicht selbst erledigen wollen. Oder Mandate, auf die keiner Bock hat, weil es sich um Kleinigkeiten handelt, die entweder gähnend langweilig oder völlig aussichtslos sind.

Wenn ein Tag schon damit beginnt, dass ein Klient in mein Büro platzt, der normalerweise von der Chefin persönlich betreut wird - aber nicht etwa, weil man mir endlich etwas zutraut, nein, der Herr Professor regt sich über seine Nachbarin und deren bellenden Hund auf. Und wer darf sich um die hysterische Frau und die kläffende Töle kümmern? Ganz klar ein Job für mich. Dafür habe ich Jura studiert – nicht!

Die Krönung kam dann heute Abend. Hetzt mich die Chefin auf das nächste Polizeirevier und macht es auch noch superdringend. Und was erwartet mich: Eine verlebte Frau mit knallrot gefärbten Haaren, die zugedröhnt auf dem Boden einer Gewahrsamszelle hockt. Auf den ersten Blick war mir klar, dass sie wohl keine Unterstützung braucht, weil sie Steuern hinterzogen oder gegen ihre Buchführungspflichten verstoßen hat. Was eigentlich los war, erfuhr ich von den Polizeibeamten, sie selbst brachte ja kaum einen vernünftigen Satz raus. Nicht mal meinen Namen konnte sie sich länger als fünf Minuten merken. Gott, war das nervig! Ich habe wirklich keine Geduld für solche Leute und heute schon gleich gar nicht.

Wenigstens hatte ich genug Taschentücher dabei, um ihr vollgekotztes Nuttenoutfit notdürftig sauber zu machen. Nicht aus Mitleid, sie tat mir nicht leid. Als Anwältin bin ich nicht dafür da, mit irgendwem mitzufühlen, sondern meinen Klienten zu ihrem Recht zu verhelfen.

Also überzeugte ich den Beamten, dass von ihr keine Gefahr mehr ausging. Wir stolperten aus dem Revier, und wer erwartete uns schon? Der steinreiche Herr Papa! Das erklärte zumindest, wie dieser Auftrag in unserer Kanzlei gelandet war. Ich dachte gerade, dass aus dieser absurden Geschichte doch noch ein interessantes Mandat werden könnte, da stiegen meine potenziellen Klienten in ihren Scheiß-Luxuswagen und ließen mich wie bestellt und nicht abgeholt stehen. Gehts noch? Gott, kann dieser Tag noch beschissener werden? Halt – bloß nicht so was denken, am Ende werde ich noch vom Bus überfahren oder so.

Jetzt wäre definitiv der richtige Zeitpunkt für einen After-Work-Cocktail. Doch statt die nächste Bar anzusteuern, bin ich leise vor mich hin fluchend auf dem Weg zurück in die Kanzlei, um den Revisionsantrag fertig zu machen, den meine Chefin morgen früh auf dem Tisch haben will.

Ich sollte nach Hause gehen und ihr morgen sagen, dass ich nicht gleichzeitig den rettenden Engel für gefallene Prinzessinnen spielen und nebenbei ihren Papierkram erledigen kann. Außerdem bin ich Anwältin in einer Kanzlei für Wirtschaftsstrafrecht und kein verdammter Sozialklempner oder Hundeflüsterer. Wie kommt sie überhaupt auf die Idee, mir diesem Kram aufzuhalsen?

Einen Moment lang bin ich tatsächlich versucht, wieder umzukehren. Mir das nicht bieten zu lassen. Aber dann tragen meine engen Pumps mich um die nächste Straßenecke, und das altehrwürdige Gebäude, in dem unsere Kanzlei mehrere Stockwerke belegt, liegt direkt vor mir.

Ganz oben brennt noch Licht. Christine, meine Chefin, ist noch da. Ich zögere nur einen winzigen Moment, dann marschiere ich weiter auf meinen Arbeitsplatz zu. Noch liegt mein Büro ganz unten, direkt neben dem Empfangstresen. Aber eines Tages werde ich da oben einziehen, wenn ich Juniorpartnerin in dieser Kanzlei werde. Das setzt allerdings voraus, dass ich nicht herumzicke, wenn man mir eine Aufgabe gibt, sondern zeige, dass ich allen Anforderungen gewachsen bin. Aber obwohl mir das klar ist, nervt es mich trotzdem. Ich will endlich beweisen, was ich kann!

 

Zwei Stunden nachdem ich die Kanzlei wieder betreten habe, spuckt der Drucker einen perfekt formulierten Revisionsantrag aus. Ich schlüpfe aus den Pumps und bewege meine schmerzenden Zehen. Schultern und Nacken sind ebenfalls total verspannt, und mein Magen knurrt. Ich verwerfe den Gedanken an Salamipizza und Netflix. Nein. Heute habe ich mir eine richtige Belohnung verdient.

Ich sehe mich vorsichtig um, so als würde ich damit rechnen, dass jeden Augenblick eine meiner Kolleginnen aus meinem Papierkorb krabbeln könnte, bevor ich die App LonelyHearts auf meinem Smartphone öffne und meinen Status auf »unverbindliches Date gesucht« ändere.

Um ehrlich zu sein, habe ich mir Christines Kanzlei nicht bloß deshalb ausgesucht, weil sie in München die renommierteste Adresse ist, wenn es um Wirtschaftsstrafrecht geht. Sondern auch, weil Christines Partner und Angestellte ausschließlich Frauen sind.

Nicht nur, dass ich dadurch über jeden Verdacht erhaben sein werde, mich hochgeschlafen zu haben oder die Quotenfrau zu sein, wenn ich eines Tages Partnerin bin. Nein, ich bin davon ausgegangen, dass traditionelle Rollenbilder in dieser Kanzlei keine Bedeutung haben.

Vielleicht ist das auch so. Doch ich glaube, von der freien Liebe hält meine Chefin eher wenig.

Aber das ist genau das, was ich suche: einen Mann, einen Schwanz, einen Orgasmus. Ich will niemanden, der mir unrasiert und mit zerknautschtem Gesicht beim Frühstück gegenübersitzt. Ich will keine schmutzigen Socken auf meinem Schlafzimmerboden finden und keine halb geschlossene Zahnpastatube im Bad. Ich will das alles nicht sehen. Doch vor allem will ich nicht, dass jemand mir so nahekommt, dass er auch meine Fehler und Macken sehen kann. Ganz zu schweigen von dem, was hinter meiner beherrschten Fassade liegt. Denn das wird unweigerlich dazu führen, dass ich verletzt werde. Diese Lektion musste ich lernen, als ich noch nicht in der Lage war, Lust von anderen Gefühlen zu trennen.

Auf Strümpfen gehe ich zurück zu meinem Schreibtisch, nehme zwei Müsliriegel aus dem obersten Fach, beiße in den ersten hinein und behalte mein Smartphone im Auge. Mein Profil bei LonelyHearts enthält ein Foto, auf dem ich meine braunen Haare offen trage, sodass sie in sanften Wellen über meine Schultern fallen. Dazu hat die Fotografin einen perfekt schmachtenden Blick eingefangen. Indem sie mich erst stundenlang gequält und mir dann eine Packung Double-Chocolate-Eis gezeigt hat. Sie verstand eben ihr Handwerk.

Rasch klopfen die ersten Typen an, aber erst bei dem Profilbild des Nutzers »Nobbi« halte ich inne. Der sieht ganz süß aus. Ich tippe auf ein Herzchen, und schon bevor ich den zweiten Müsliriegel ausgewickelt habe, ploppt eine Nachricht auf.

»Hallo, schöne Frau, ganz allein in dieser riesigen Stadt?«

Ich rolle mit den Augen. Bisschen schmalzig. Andererseits habe ich schon schlimmere Eröffnungssätze gelesen.

»Die Nacht ist zu jung, um nach Hause zu gehen«, texte ich zurück. Schmalzig kann ich auch!

»Die Nacht in Gesellschaft einer Flasche Rotwein zu verbringen, ist nicht viel besser«, kommt von ihm.

In dem Stil geht es noch ein wenig weiter, bis mein Gefühl mir sagt, dass der Typ in Ordnung ist. Keine Serienkillervibes. Ich schlage vor, ihn bei der Konversation mit der Rotweinflasche zu unterstützen, schließlich ist die Vinothek, in der er sitzt, fast ums Eck.

 

Dass ich mich nicht getäuscht habe, sehe ich, als ich die Weinstube betrete. Meinen dezenten Hinweis, dass ich noch kein Abendessen hatte, hat er sehr wohl registriert und eine Vorspeisenplatte bestellt. Außerdem stehen ein frisches Weinglas sowie eine große Flasche Wasser bereit. Er will mich also nicht abfüllen. Bonuspunkte. Dass sein Profilbild entstanden sein muss, als er zehn Jahre jünger war, fällt da kaum ins Gewicht. Wer macht das nicht?

»Norbert?«

»Mayra?«

Wir sind beide entzückt. Setzen uns einander gegenüber, erzählen uns von unseren Jobs, reden über München und den Wein. Er trägt einen Ehering, aber er kennt die Regeln: Von seiner Frau und den süßen Kindern will ich ebenso wenig wissen wie er von meinen verflossenen Liebhabern. Ich habe kein schlechtes Gewissen – warum sollte ich auch? Oder vielleicht führt er ja eine offene Ehe? Wer weiß? Nicht meine Sache. Nach jedem Schluck aus seinem Glas landet seine Hand wie zufällig näher bei meiner, bis er sanft meine Finger streichelt.

»Ich habe heute wirklich zu lang am Schreibtisch gesessen, meine Schultern schmerzen wie die Hölle«, sage ich schließlich.

Er versteht den Wink mit dem Zaunpfahl sofort. »Ich würde dir ja gerne den Nacken massieren, aber hier sähe das wohl ein wenig komisch aus. Willst du mit auf mein Zimmer kommen?«

»Das wäre schön.«

Eine goldene Kreditkarte verschwindet dezent unter der Handserviette des Kellners und wenige Minuten später sind wir auf dem Weg zu seinem Hotel.

Im Aufzug küsst er mich behutsam auf den Mund. Seine Zunge tastet sich ganz vorsichtig vor. Ich schließe die Augen und gebe mich dieser sanften Zärtlichkeit hin. Fast bin ich enttäuscht, dass wir sein Stockwerk so schnell erreicht haben.

In seiner kleinen Suite angekommen will er sich tatsächlich erst um meinen schmerzenden Nacken kümmern. Ich setze mich auf einen Hocker, öffne die obersten Knöpfe meiner Bluse und lasse sie die Schultern hinabgleiten, da kommt er mit einer dieser kleinen Cremetuben an, die Hotels gerne in den Badezimmern platzieren. Er wärmt die Creme erst mit seinen Händen an, bevor er sie mir behutsam auf die Schultern streicht.

Wow, der Mann ist echt ein Treffer!

Seine Hände sind sanft und weich, wie es sich für einen Computerexperten gehört. Ich fange an zu schnurren, während sich meine Verspannungen langsam lösen, und höre auch nicht damit auf, als seine Hände hinunter zu meinen Brüsten wandern. Stattdessen greife ich hinter mich und öffne den Verschluss meines BHs. Norbert atmet schneller, lehnt sich an mich, und ich kann seine Erektion im Rücken spüren. Er liebkost meine Brüste, streicht zart über die Nippel und küsst mich dabei sanft auf den Hals.

Ich rutsche auf dem Hocker herum. Meine Erregung wächst. »Ich will dich auch anfassen«, seufze ich sehnsüchtig, und er zieht mich hoch in seine Arme. Meine Brüste reiben sich an seinem gestärkten Hemd, während meine Hände seinen Rücken erforschen. Unsere Lippen treffen wieder aufeinander, wir tauschen ungeschickte Küsse aus, als wir gleichzeitig versuchen, uns von den störenden Kleidungsstücken zu befreien. Dabei geraten wir ins Taumeln und plumpsen auf das Bett.

Ich lache ein wenig atemlos, während er mir tief in die Augen sieht.

»Willst du?« Ein echter Gentleman!

»Ja«, hauche ich. Das wird gut!

Noch ist hier und da ein Stück Stoff im Weg. Ohne große Umstände entledigen wir uns der restlichen Klamotten, werfen die Teile achtlos auf den Boden. Norbert trägt eine dünne Halskette mit einem goldenen Kompass daran um den Hals. Süß. Aber den braucht er gar nicht, um meine erogenen Zonen zielsicher zu finden. Er küsst mich wieder, auf den Hals, auf das Schlüsselbein, die Brüste. Mit den Fingerspitzen erkunde ich seinen Bauch, der ein ganz kleines bisschen rundlich ist. Meine Hand wandert nach unten und liebkost seine Eier, was ihm ein erregtes Stöhnen entlockt, während sein Mund sich ausgiebig mit meinen Nippeln beschäftigt. Dann taste ich nach seinem Schwanz. Wie seine Hände fühlt er sich weich, fast samtig an. Ich umschließe seinen Schaft, bewege die Hand langsam auf und ab. Er keucht. Seine Finger finden meine Pussy, streicheln darüber.

»Kondom«, krächze ich.

Worauf sollen wir warten? Wir sind beide bereit.

Er holt einen Gummi aus dem Nachttisch, streift ihn über. Eifrig spreize ich die Beine, und er legt sich auf mich. Ich dränge die Hüften gegen seine, ich spüre die Erektion schon an meiner empfindlichsten Stelle, dann gleitet er sanft in mich hinein.

Gut. Er ist gut. Ich wusste das. Er verwöhnt meine Brüste mit seinem Mund, während er langsam das Tempo steigert. Ein guter Liebhaber, erfahren und rücksichtsvoll.

Dennoch weiß ich in dem Moment, als er in mich eindringt, dass ich nicht kommen werde.

Wieder einmal.

Er wird langsamer, will mich mitnehmen. Natürlich will er das. Es ist nicht seine Schuld. Aber auch ich habe Erfahrung. Weil er ein lieber Kerl ist, tue ich ihm den Gefallen. Beschleunige meinen Atem. Stöhne unter seinen wieder schneller werdenden Bewegungen. »Oh ja, das ist gut!«

Ist es auch. Aber es wird mich nicht über die Klippe stoßen. Nicht heute. Ich klammere mich an seine Schultern, keuche und wimmere gespielt aufgeregt. Es wird nicht mehr lange dauern.

Als er kommt, schreie ich ebenfalls auf, nicht zu laut, um seine Zimmernachbarn nicht aufzuwecken, aber laut genug, damit er sich als ganzer Mann fühlen kann.

»Oh Mayra«, stöhnt er, fällt neben mir auf das Bett und entsorgt das Kondom. »Das war großartig!«

»Ja«, sage ich.

Wir liegen wie ein Ehepaar nebeneinander, und die Minuten, bis er endlich einschläft, ziehen sich endlos hin. Dann stehe ich leise auf, sammle meine Sachen ein. Ich fühle mich schmutzig und würde gerne duschen, fürchte aber, dass Norbert dann aufwachen und Lust auf eine zweite Runde kriegen könnte. Dafür fehlt mir aber der Nerv. Na ja, wenigstens habe ich eine tolle Massage bekommen, besser als nichts.

Also schleiche ich mich raus, als ich wieder angezogen bin. Wann werde ich es endlich lernen und mich für die Salamipizza entscheiden?

 

Kapitel 3

 

 

 

München-Nymphenburg, 23. Mai 2019, abends

 

Gelassen steuert Marco den SUV durch die einsetzende Dunkelheit nach Nymphenburg zum Restaurant La Viala, in dem das Treffen mit dem Boss stattfinden soll, während ich immer noch mit Hugo telefoniere.

»Kannst du mir das erklären?«

Hugo räuspert sich mehrmals, ehe er damit rausrückt, dass er Herrn Hinrich, den Anwalt, zwar erreicht hätte, aber als er ihn dann abholen wollte, musste der noch ewig telefonieren, und als sie endlich am Revier angekommen seien, war Minnie weg.

Was ist denn das schon wieder für eine idiotische Nummer? Hugo wird doch in der Lage sein, diesem schmierigen Anwalt das Telefon aus der Hand zu nehmen, wenn der nicht zu Potte kommt.

»Ihre Anwältin sei schon dagewesen, haben die Beamten gesagt«, gesteht Hugo.

»Was für eine beschissene Anwältin? Seit wann hat Minnie eine Anwältin?«

»Ich … ich weiß ihren Namen.«

»Ja dann spuck ihn schon aus!« Muss ich Hugo heute eigentlich alles aus der Nase ziehen?

»Mayra … Jennings«, stammelt er.

Wer? Sagt mir gar nix.

»Georg wird sich darum kümmern. Dich erwarte ich in meinem Büro«, antworte ich gefährlich ruhig, lege auf und wähle Georgs Nummer.

Mobilbox? Gehts noch?

Ach ja, ich habe ihm ja gesagt, er soll es sich von dieser Anna besorgen lassen. Das kann doch nicht wahr sein, ausgerechnet jetzt ist er tatsächlich mal am Vögeln.

»Georg, zieh deinen Schwanz aus ihrer Muschi. Ich brauch ein paar Infos. Sag ihr, es kann nachher weitergehen.«

Ich gebe ihm noch den Namen der Anwältin durch, als Marco auch schon auf den Parkplatz des Restaurants einbiegt. Zeit für das Treffen mit dem Boss.

 

Ich reiche Luca, dem feisten Wirt des La Viala meine Waffe, die ich überhaupt nur deshalb mitgenommen habe, um sie nun ablegen zu können. Manchmal sind die Rituale der Famiglia wirklich ein bisschen albern.

Ernster ist es mir schon mit dem nächsten Schritt: Ich ziehe alle acht Ringe von den Fingern und lege sie in eine Schublade unter Lucas Tresen. Ein Zeichen des Respekts gegenüber Carlo, das nur er versteht. Ein Insider sozusagen.

In den letzten Jahren habe ich in Carlos Windschatten eine beeindruckende Karriere hingelegt, beeindruckender, als es einem adottivo, einem Mann, der erst durch ein Aufnahmeritual Teil der Famiglia wurde, normalerweise möglich ist. Aber seine Gunst ist nicht umsonst. Es reicht dem Boss nicht, dass ich dafür sorge, dass er jeden Tag reicher wird. Nein, ich muss immer wieder beweisen, dass ich mit Haut und Haaren ihm gehöre. Was ich also tun kann, um ihm meine Loyalität zu zeigen, bevor er irgendwelche unschönen Treuebeweise fordert, tue ich. Es geht hierbei nicht um meinen Stolz, sondern um mein Leben, oder wenigstens meine körperliche Unversehrtheit. Bisher hat sich der Boss damit begnügt, mir den ein- oder anderen Knochen zu brechen. Aber trotz meiner Stellung kann ich mich nicht darauf verlassen, dass das so bleibt, sollte ich einen Fehler machen. Und obwohl ich echt gut in dem bin, was ich tue – auch ich mache manchmal Fehler. Die Sache mit Minnie ist zum Beispiel ein Fehler. Zwar strenggenommen nicht meiner, aber er fällt auf mich zurück.

Ich steige eine schmale Treppe hinunter. Das Treffen findet wie immer im ehemaligen Weinkeller des Restaurants statt. Seit Carlo hier residiert, ist der riesige Raum mit der Bogenkonstruktion ausgeräumt und mit allerlei aufwendigen Wandmalereien verziert worden. Dicke Perserteppiche und mehrere opulente Kristallleuchter tragen dazu bei, dass der Keller nun wie ein Thronsaal wirkt.

Der Boss trifft kurz nach mir ein und begrüßt leutselig seine Unterbosse. Aber ich kenne ihn lange genug. Da ist ein harter Zug um seinen Mund, der nach Ärger aussieht. Ich straffe reflexartig die Schultern und schiebe jeden Gedanken an Minnie beiseite. Bei einem Treffen mit Carlo nicht ganz bei der Sache zu sein, empfiehlt sich nicht wirklich.

»Silvers, gut dich zu sehen.« Carlo starrt mich einen Augenblick durchdringend an, und unwillkürlich frage ich mich, ob er bereits von der Geschichte gehört hat. Gut möglich.

»Boss.« Ich senke respektvoll den Blick, und er klopft mir kurz auf die Schulter.

Okay, ich bin es nicht, den er auf dem Kieker hat.

Dann würde ich auf Domenico tippen, der ist nämlich mal wieder unpünktlich.

Ich bewundere Carlo immer noch dafür, dass er es geschafft hat, den alten Padre zu überreden, seinen geliebten Enkel Domenico nicht zu seinem Nachfolger zu machen. Natürlich hatte niemand in München den Jungspund für einen besseren Boss gehalten als Carlo, aber das Problem mit Domenico ist, dass er mächtige Unterstützer im italienischen Teil der Famiglia hat. Mit dem Capo in Padolfi will sich hier niemand anlegen, auch Carlo nicht.

Deswegen ist Carlo nun auch nicht der Padre, sondern unser Boss, während Domenico jetzt die Drogenkuriere und -händler unter sich hat. Offiziell so lange, bis Domenico erfahren genug ist, um die Geschäfte zu übernehmen. Was hoffentlich nie der Fall sein wird, denn als Domenico endlich das Gewölbe betritt, frage ich mich nicht zum ersten Mal, wie viel von den Drogen, die er eigentlich unter die Leute bringen soll, in seinem eigenen Körper landet. Ziemlich viel scheinbar.

Heute sieht Domenico besonders beschissen aus, sein Gesicht hat eine ungesunde, gräuliche Farbe, und auf seiner Stirn glitzern Schweißtropfen. »Bin ich zu spät, Onkel? Tut mir so sehr leid!«

Wir setzen uns an die hölzerne Tafel, die König Artus alle Ehre machen würde. Wobei unser Tisch natürlich nicht rund ist. Von Gleichberechtigung hält der Boss nämlich gar nichts. Warum sollte er auch? Er ist der Boss. So wie ich der Boss meiner Männer bin. Respekt verdient man sich nicht, man nimmt ihn sich und ringt ihn anderen ab.

»Da du uns endlich mit deiner Anwesenheit beehrst, lieber Neffe, kannst du uns gleich mal deine Zahlen nennen«, ätzt Carlo.

»Äh … wie? Jetzt? Ähm … ach so. Ja, klar. Dann … hm … mach ich das.«

Bähm, Überraschung! Als wäre es etwas Neues, dass wir uns einmal im Monat treffen, um Carlo Bericht zu erstatten. Verfluchter Junkie! Stammelnd präsentiert Domenico die Umsätze und muss dabei mehr als einmal sein Handy zurate ziehen. Idiot!

»Che merda! Das hört sich beschissen an!«, knurrt Carlo.

Zwei Prozent minus zum letzten Monat, denke ich, ich rechne gerne mit. Hört sich wenig an, aber die fünfzehn Prozent Miese im Vergleich zum letzten Jahr sind schon bedenklich. Wäre die Famiglia eine Firma, würde ich ihr raten, diese unrentable Sparte abzustoßen oder umzustrukturieren.

»Da kann ich nichts dafür, Onkel! Alle kaufen nur noch im Darknet ein, der Straßenhandel ist fast tot!«

»Und wessen Schuld ist es, dass wir im Darknet nicht besser vertreten sind?«, blafft Carlo ihn an.

Scheinbar ist Domenicos Computerspezialist nicht unbedingt die hellste Kerze am Leuchter. Ich würde Domenico selbstverständlich sofort Georg ausleihen, damit der seinem Mann ein bisschen unter die Arme greift. Die Sache ist nur die, dass Carlo das nicht befohlen hat, und deshalb rühre ich keinen Finger, solange Domenico mich nicht sehr nett um Georg bittet.

Domenico schluckt allerdings lieber seine eigene Zunge, als mich um irgendwas zu bitten. Tja, nicht mein Problem. Dann muss er sich halt jetzt Carlos Anschiss anhören. Hat er eh noch Glück gehabt, jeder andere von uns würde es wahrscheinlich nicht mehr ohne Hilfe die Treppe hochschaffen, wenn seine Geschäfte seit Monaten derart mies liefen, oder würde direkt auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

»Silvers, du hast was Neues ausgeheckt?«, fährt Carlo mich unvermittelt an, nachdem er mit Domenico fertig ist.

Ich umreiße kurz den geplanten Deal, bei dem es um Subventionsbetrug, verbotene Pestizide, falsche Biosiegel und illegale Schlachthöfe geht. Nicht gerade unser Kerngeschäft, obwohl sie in Padolfi auch einiges mit gefälschtem Olivenöl und gepanschtem Wein machen. Mein Trumpf ist allerdings Gieseke, dieser Moralapostel, der den Kram dann völlig überteuert in seinen Bioläden anbieten will.

»Das System ist perfekt zur Geldwäsche geeignet, wenn es aber einmal angelaufen ist, können wir monatelang nur die Gewinne einstreichen.«

In unserer Branche gibt es leider keinen geregelten Cashflow, wenn die Bullen mal wieder eine Drogenlieferung abgefangen haben oder es Probleme in Italien gibt, gerät der Geldfluss schon mal ins Stocken.

Domenico ist wie erwartet der Erste, der etwas zu meckern hat. »Der Gieseke«, mault er, »das ist doch dieser vegane Superöko aus’m Fernsehen. Der soll da mitmachen?«

»Ich würde Gieseke nicht ins Spiel bringen, wenn er nicht ein paar Leichen im Keller hätte«, versichere ich. »Er war übrigens heute im Blue Parrot. Hat ein Ossobuco bestellt – nachdem er sich davon überzeugt hat, dass wir nicht in seinen Läden einkaufen.«

Allgemeines Gelächter.

»Subventionsbetrug in Osteuropa?«, fragt Carlo skeptisch. »Muss das sein? Ich will da keinen Ärger.«

»Serge war so nett, mir ein paar Kontakte zu vermitteln«, erkläre ich.

Serge ist Carlos Capo Crimine und mit seinen Jungs für die eher handfesten Aspekte unseres Geschäfts zuständig, was von einer nachdrücklichen Drohung über schwere Körperverletzung bis hin zu einer hübschen Explosion alles Mögliche sein kann. Nichts davon würde mir in diesem Fall helfen. Aber Serge ist auch mit einer Rumänin verheiratet.