Vico - Il Conte - Lucia Bolsani - E-Book

Vico - Il Conte E-Book

Lucia Bolsani

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Beschreibung

Ein italienischer Adliger. Eine unglückliche junge Frau. Ein grausames Verbrechen. Der brennende Wunsch nach Rache. Viel zu spät hat die junge Anwältin Mayra Jennings erkannt, wer ihr Gegner in dem perfiden Spiel um die Vorherrschaft in der Münchner Unterwelt wirklich ist. Nun liegt ihr Leben in Trümmern und sie hat nur noch ein Ziel: Sie will sich an Carlo Cortone, dem Chef der Münchner Famiglia, rächen. Aber auf wen kann sie sich noch verlassen? Der italienische Adelige, der den Posten des Oberstaatsanwalts übernimmt, ist jedenfalls keine große Hilfe. Eigentlich wäre es doch die Aufgabe dieses arroganten Schnösels, Cortone hinter Gitter zu bringen. Stattdessen scheint er alles daranzusetzen, Mayra zu provozieren. Doch längst ziehen andere die Strippen, und erneut gerät Mayra in Gefahr. Der zweite Teil des Dark-Romance Zweiteilers "Der Cortone-Clan"

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VICO

 

Il Conte

 

Teil 2 der Dark-Romance-Dilogie »Der Cortone-Clan«

 

 

von

Lucia Bolsani

 

 

 

Contentnotes: Diese Dilogie enthält explizite Gewaltdarstellungen, auch sexuelle Gewalt, Gewalt gegen Kinder und das Thema Suizid.

Wen das Thema Vergewaltigung zu sehr mitnimmt, sollte das Kapitel »Nina« besser auslassen.

 

Lektorat: Andrea Benesch | www.lektorat-federundeselsohr.de

 

Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de

unter Verwendung von Motiven von

depositphotos.com: © tomert, © kukumalu80, © yoka66, © sergio34, © stillfx, © zhevelev

stock.adobe.com: © dennys

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

© 2021 Lucia Bolsani

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

herzlich willkommen zum zweiten Teil meiner Dilogie. Diesmal vorweg eine Warnung an alle, die den ersten Teil nicht kennen: Es ist durchaus sinnvoll, die Bücher in der Reihenfolge zu lesen, in der ich sie geschrieben habe. Selbstverständlich freue ich mich über jede Leserin und jeden Leser, auch wenn Du Dich nur für Il Conte interessierst. Es auch nicht so, dass man dem zweiten Teil nicht folgen kann, ohne den ersten gelesen zu haben. Es gibt sogar in schönster Seifenopernmanier einen Vorspann »Was bisher geschah«. Aber mal angenommen, Dir gefällt das Buch und Du möchtest Dich dann doch an den ersten Teil wagen, wäre da die Spannung so ziemlich futsch. Ich habe Dich jedenfalls gewarnt.

Ansonsten gilt, was ich im letzten Vorwort bereits erwähnt habe. Ich gehe davon aus, Du weißt, was Dich im Genre Dark Romance erwartet.

Leider haben sich die Manieren der handelnden Personen seit dem ersten Teil auch nicht wesentlich verbessert. Eine Übersetzung der bedauerlicherweise immer noch inflationär verwendeten italienischen Kraftausdrücke findet ihr im Anhang. Im Zweifel reicht es aber auch, sich ein deftiges Scheiße! oder Arschloch! vorzustellen.

Doch nun zurück zu einem München ganz ohne Dirndl, Lederhosen und Lebkuchenherzen. Ich wünsche Dir spannende Stunden!

 

Deine Lu

 

Was bisher geschah

 

München, Sommer 2019

 

Eine drogensüchtige Prostituierte gehört normalerweise nicht zu der Klientel, mit der die junge Anwältin Mayra Jennings sich herumschlagen muss. Doch die Begegnung mit Jasemina ist nur das erste einer ganzen Reihe unglaublicher Geschehnisse, die Mayra nicht nur beruflich, sondern auch privat an ihre Grenzen bringen. Denn das nächste unliebsame Mandat betrifft Tosh Silvers, Finanzmanager einer mafiaähnlichen Organisation, die in München ihr Unwesen treibt – und Jaseminas verhasster Bruder.

Mayra und Tosh ahnen nicht, dass ihr Zusammentreffen kein Zufall, sondern ein Ablenkungsmanöver von Tosh Silvers’ Boss Carlo Cortone ist, der alles daransetzt, damit sein Schützling niemals erfährt, dass es kein anderer als Carlo selbst war, der vor Jahren Toshs Großvater ermordet hat. Eine Tat, die ausgerechnet Jasemina aufdecken wollte.

Zwischen Mayra und Tosh entbrennt eine heiße Affäre, in der Mayra zum ersten Mal im Leben die Mauern einreißen kann, die sie um sich herum errichtet hat. Doch Carlos Intrige nimmt ihren Lauf, und es gelingt ihm, Tosh weiszumachen, dass sein einziger echter Freund Georg seinen Großvater auf dem Gewissen hat. Rasend vor Wut tötet Tosh Georg, kurz bevor Mayra den wahren Schuldigen entlarven kann.

Schockiert von der Wahrheit trennt Tosh sich von Mayra, und am nächsten Tag muss sie erfahren, dass ihr Geliebter ermordet wurde. Von Carlo Cortone, heißt es, auch wenn Mayra es besser weiß. Sie ist froh, dass der Fiesling Cortone in Untersuchungshaft gelandet ist. Wo er sich immer noch befindet, als ein paar Monate später ein neuer Oberstaatsanwalt seinen Fall übernimmt.

 

Doch wer ist eigentlich Carlo Cortone, der Mann, der hinter dieser Intrige steckt? Kehren wir zurück zu einem Ereignis, das vor vielen Jahren in Italien stattfand …

Prolog

 

 

 

Padolfi, 17. August 1993, nachts

 

Ich mag klare Regeln. Regeln, wie sie innerhalb der Famiglia gelten. Der Capo schafft an, und wer nicht gehorcht, verliert ein Körperteil, im schlimmsten Fall sein Leben. Nicht immer gibt der Boss sich mit einem Finger oder einem Auge zufrieden, weshalb so mancher Missetäter der Ansicht sein dürfte, der Verlust des Lebens wäre barmherziger gewesen. Nun ja, nicht meine Sache. Ich entscheide nicht, ich führe aus.

Matteo Cortone hat sein Leben jedenfalls verwirkt. Ebenso wie seine Frau und die zwei Bälger, die er in die Welt gesetzt hat. Matteo hat den Eid gebrochen, ist zur Konkurrenz übergelaufen. Stronzo! Glaubt er wirklich, der Chef der Ulivieris würde einem Verräter eine bessere Position anbieten als der eigene Capo? Pah!

Ich nehme meine Zukunft lieber selbst in die Hand. Ich werde meine Chance bekommen. Das wusste ich in dem Moment, als mir befohlen wurde, diese scheußliche Sprache zu lernen, die sich anhört, als belle ein alter Hund den Mond an. Das Land, in dem sie gesprochen wird, ist reizlos, kalt und nass, sagt mein Lehrer. Aber was jucken mich das Wetter und Männer, die Bier statt Grappa trinken? Hauptsache, ich bleibe nicht ewig ein Handlanger, nur gut genug, um jene aus dem Weg zu räumen, die es geschafft haben, die Bosse zu verprellen. Mir steht der Sinn nach mehr.

Aber erst muss ich beweisen, was in mir steckt. Indem ich meinen eigenen Onkel beseitige. Ich habe keine Gewissensbisse deswegen – warum sollte ich? Ein Gewissen – was soll das überhaupt sein? Etwas, auf das man gut verzichten kann, will es mir scheinen.

Es war unter der Würde des Capos, mich persönlich von seinen Wünschen zu unterrichten. Noch! Aber den richtigen Mann für diesen Auftrag hat er auf jeden Fall gewählt. Deswegen werde ich die Sache auch allein durchziehen, obwohl das riskant ist. Aber lautlos und schnell zu arbeiten war schon eine Spezialität meines Papàs, und ich war ein gelehriger Schüler.

Sorgfältig kontrolliere ich meine Ausrüstung. Benzinkanister, Seile, meine Lieblingsmesser. Die Thompson habe ich zu Hause gelassen, gehe aber davon aus, dass Matteo mir mit einem Revolver aushelfen kann, sollte ich eine Schusswaffe benötigen. Ich ziehe die dünnen Lederhandschuhe an und stülpe die Kapuze meines schwarzen Sweatshirts über den Kopf. Nicht, dass das notwendig wäre, nicht in diesem Teil von Padolfi. Niemand wird etwas aussagen, jede Ermittlung wird im Sande verlaufen. Aber schlampige Arbeit ist nicht das, was mich in der Achtung des Capos steigen lässt.

Wie auf Samtpfoten schleiche ich zu dem mickrigen Häuschen, das sich im fahlen Mondlicht abzeichnet, und stelle den Benzinkanister neben der Eingangstür ab. Das Schloss ist ein Witz, aber wahrscheinlich ging Matteo bis vor Kurzem davon aus, dass der Name Cortone ihn ausreichend schützen würde. Ich brauche nur Sekunden, dann ist die Tür offen. Ich habe Onkel Matteo nicht oft besucht, doch ich weiß, dass sich das Kinderzimmer im hinteren Teil der primitiven Behausung befindet. Ich schleiche hinein, die Kinder schlummern friedlich.

Ich beginne mit dem Jungen mit den dunklen Locken. Sein Kopf liegt entspannt auf einem gestreiften Kissen, der Mund ist ein klein wenig geöffnet. Ich zwänge einen Knebel zwischen seine ebenmäßigen Zähne, er wacht auf, strampelt wild, aber vergeblich. In Windeseile habe ich seine Hände und Füße gefesselt. Der Junge wirft sich im Bett herum, doch alles, was er damit erreichen wird, sind aufgeschürfte Gelenke. Na ja, allzu lange wird er darunter ja nicht zu leiden haben.

Das Mädchen mit den dicken Zöpfen bekommt von all dem nichts mit. Sie hat ihre Decke weggestrampelt und sieht sehr niedlich aus in ihrem geblümten Nachthemd. Schade, dass ihr Vater ein Verräter ist.

Auch die Kleine ist rasch verschnürt. Mit den Kindern werde ich mich später beschäftigen. Wenn ich sie nicht mehr als Druckmittel benötige. Die dicken Tränen werden dem Mädchen nicht helfen.

Leise betrete ich das Elternschlafzimmer. Das Ehepaar liegt eng beisammen, die Hände ineinander verschränkt. Wie süß, aber nicht gerade hilfreich. Ich werde die Frau kaum fesseln können, ohne dass ihr Mann aufwacht. Andererseits deutet dieses traute Zusammensein darauf hin, dass Matteo seine Francesca nicht einfach im Stich lassen und davonlaufen wird, sobald er merkt, was hier los ist. Ach Onkel, weißt du denn nicht, dass man seine Schwächen niemals so deutlich zeigen sollte? Aber andererseits, er hat sich dafür entschieden die Famiglia zu verraten, mit seinem Hirn kann es also nicht weit her sein.

Wie ihre Tochter hat die Frau ihr Haar zu Zöpfen geflochten, bevor sie zu Bett ging. Ich packe einen und zerre sie mit einem heftigen Ruck daran aus dem Bett. Derartig unsanft aus dem Schlaf gerissen, schreit sie wie am Spieß, was auch Matteo munter werden lässt.

Er springt aus dem Bett und zieht eine Pistole unter der Matratze hervor. Zu spät. Längst habe ich Francesca an mich gepresst und ein Messer an ihre Kehle gesetzt. Wenn Matteo jetzt schießt, wird er nur seine Frau treffen.

»Hallo, Onkel«, sage ich verächtlich. »Ich fordere deinen Gehorsam und deine Treue gegenüber der Famiglia ein!«

Matteos Hand mit der Waffe zittert merklich. Was für ein Schlappschwanz!

»Ach, ich vergaß, du gehörst ja nun zu Ulivieris verlauster Bande. Kannst dir sicher vorstellen, dass dem Capo nichts mehr an deinem Leben liegt. Aber was mit deiner Frau und den Kindern passiert, hängt allein von dir ab. Gib mir die Waffe.«

Er sollte wissen, dass außer mir niemand lebend hier herausspazieren wird. Aber welche Optionen hat er denn? Gegen mich hat er keine Chance, und wenn er die Kids nicht meiner Rache überlassen will, sollte er gehorchen.

Tatsächlich gibt Matteo auf und kickt die Knarre mit seinem nackten Fuß zu mir.

»Dreh dich um, Hände nach hinten«, befehle ich.

Zögernd wendet mein Onkel sich ab, während seine Frau nur noch erbärmlich schluchzt. Läuft doch! Ich fessele Francescas Handgelenke aneinander und stoße sie aufs Bett. Wie ein hilfloser Käfer versucht sie, von mir wegzurobben. Lächerlicher Versuch. Gelassen fixiere ich Matteos Hände hinter seinem Rücken.

»Lass Francesca und die Kinder gehen!«, krächzt er heiser. »Sie sollen das hier nicht sehen.«

»Aber, aber, wo bliebe denn da der Spaß?«, frage ich höhnisch.

Erneut greife ich mir Francesca, zerre sie hoch und zerreiße ihr Nachthemd.

»Nein!«

Mit einem wilden Schrei stolpert Matteo auf mich zu, doch damit habe ich natürlich gerechnet. Ich trete nach seiner Kniescheibe, er jault auf, taumelt zurück, bleibt zitternd in gebührendem Abstand stehen.

»Was für eine wunderbare, makellose Haut Francesca hat«, spotte ich. »Leider nicht mehr lange, fürchte ich.«

»Bitte, tu ihr nichts, sie kann doch nichts dafür«, jammert Matteo.

Mammoletta! Aber langsam geht das hier in die richtige Richtung.

»Vergiss es.«

Mit einem Arm presse ich Matteos Frau an mich, setze das Messer an und schneide in die weiche Haut unter ihren Brüsten. Die scharfe Klinge hinterlässt einen präzisen Schnitt, aus dem sofort ein dünnes Rinnsal Blut über ihre weiße Haut fließt. Francesca kreischt wie eine wild gewordene Gans, während Matteo brüllend und ungelenk in meine Richtung wankt.

Ich lache nur dreckig und trete erneut nach ihm.

»Warum gehst du nicht auf mich los? Ich bin doch schuld!«, stöhnt mein Onkel und reißt an seinen Fesseln.

»Niemand von euch wird diese Nacht überleben«, sage ich lapidar. Ein weiter Schnitt, nicht sehr tief, quer über Francescas Bauch. Sie plärrt noch lauter. »Aber wenigstens einer in diesem Raum wird sich zuvor ein wenig amüsieren.«

Francesca stößt einen Ton aus, dem einer Sirene nicht unähnlich, als ich die Klinge erneut ansetze.

»Bitte!«, röhrt mein Onkel.

»Darf ich das so verstehen, dass du dir einen schnellen Tod für sie wünschst?«, frage ich boshaft. »Was würdest du dafür tun?«

»Alles«, krächzt Matteo. »Was auch immer du sadistischer Bastard willst.«

Ich kann mir ein fieses Grinsen nicht verkneifen und hebe die Pistole auf, während Matteo seiner Frau ein letztes Mal tief in die Augen schaut.

»Verzeih mir«, flüstert er, aber da habe ich die Waffe schon an ihre Schläfe gesetzt und abgedrückt. Der Schuss hallt laut durch die Nacht, während ihr Blut und ihre Gehirnmasse auf mein Gesicht spritzt, doch Matteos Geheule übertönt alles. Er bricht auf der Stelle zusammen.

Angewidert stoße ich die tote Francesca von mir und werfe einen verächtlichen Blick auf meinen Onkel, dem Tränen und Rotz über die Fresse laufen.

»Da du schon mal am Boden liegst, kannst du gleich zu mir kriechen und darum betteln, dass du der Nächste bist, der mein Messer kennenlernen darf. Sonst könnte ich auf die Idee kommen, mit den Bälgern weiterzumachen.«

Heulend und ungelenk, dank der immer noch auf dem Rücken gefesselten Hände und dem sicher schmerzenden Knie, robbt er zu mir. »Bitte nicht«, schnieft er.

»Hm. Dann will ich aber hören, wie dankbar du mir dafür bist, dass du die Strafe für deinen Verrat allein erdulden darfst.«

»Ich danke dir, Carlo«, krächzt er und senkt unterwürfig den Kopf.

Mamma Mia, ich hätte nie gedacht, dass ich bei diesem Auftrag derartig auf meine Kosten kommen würde. Ich nehme das Messer zur Hand. Oh ja, Matteo wird für seine Untreue bezahlen!

 

Eine Stunde später sieht es in dem Schlafzimmer aus wie in einem Schlachthof. Mein Onkel hat länger durchgehalten, als ich es ihm zugetraut hätte, aber wer bin ich, dass ich mich darüber beklagen würde? Doch jetzt hat er definitiv den letzten Atemzug getan. Bleiben nur noch die Kids. Mehrmals habe ich Matteo in der vergangenen Stunde versprochen, es für sie kurz und schmerzlos zu machen, und der Ehrenkodex der Famiglia gebietet mir, mich daran zu halten. Schade eigentlich. Obwohl ich für eine Nacht wahrlich genug Tränen, Blut und Pisse gesehen habe. Erneut schnappe ich mir die Pistole und gehe ins Kinderzimmer.

Ich bin fest davon ausgegangen, zwei gefesselte, zu Tode erschrockene Kinder in ihren Betten vorzufinden. Doch nur die Seile liegen noch da, kringeln sich höhnisch auf dem Boden, während von den Kleinen jede Spur fehlt.

Porca puttana! Wie konnte das passieren? Ich war zu nachlässig, habe nicht daran gedacht, dass das Blut der Cortones auch in diesen kleinen Scheißern fließt. Haben sie die Zeit, in der ich mich mit ihrem Vater beschäftigt habe, genutzt, um zu fliehen, oder sind sie hier noch irgendwo?

Ich werde ganz ruhig. Horche in die Stille der Bude hinein, die nach den Schmerzensschreien der letzten Stunde geradezu gespenstisch ist. Tatsächlich, da ist ein Geräusch. Ein unterdrücktes Schluchzen, als presse sich jemand mit aller Gewalt die Hand auf den Mund. Sehr gut.

Ich schleiche zu dem klapprigen Schrank, aus dem das leise Wimmern kommt. Hebe die Pistole. Noch zwei Schüsse, dann ist es vorbei. Ich reiße mit der linken Hand die Schranktür auf, erwarte, beide Kinder zu entdecken, doch nur das Mädchen hockt in einer Ecke, das Blümchennachthemd eingenässt, Tränen kullern über ihre Wangen. Ich drücke ab.

Im selben Moment schießt ein dünnes Ärmchen aus dem obersten Fach des Schrankes, im Augenwinkel sehe ich etwas aufblitzen, das auf meine Kehle zielt. Instinktiv reiße ich den Arm hoch, blocke den Angriff ab. Doch die heftige Gegenwehr verleiht der Attacke erst richtig Kraft. Ein Messer trifft mein Gesicht, wie in Zeitlupe nehme ich wahr, dass eine Klinge in die Haut meiner Wange schneidet, hinunter bis auf den Knochen, und daran abrutscht. Dann erreicht die Schmerzexplosion meinen Verstand, gleißende Blitze toben durch meinen ganzen Schädel, zerstören jeden klaren Gedanken. Ich brülle wie ein Stier. Blutiger Nebel liegt vor meinen Augen, halb blind schieße ich mehrmals auf den Angreifer.

Wie ein nasser Sack fällt sein kleiner Körper aus dem Schrank und kracht zu Boden. Ich schieße erneut, feuere die letzte Kugel aus dem Magazin auf die leblose Gestalt. Eine neue, weit heftigere Schmerzwelle packt mich, schüttelt mich durch. Immer noch brüllend lasse ich die Pistole fallen. Das warme Blut, das über mein Gesicht läuft, macht mich wahnsinnig. Ich stolpere über den fadenscheinigen Teppich im Kinderzimmer, stoße wüste Verwünschungen aus und stürme hinaus in die Nacht. In wilder Raserei schleudere ich den Benzinkanister in den Flur und werfe ein brennendes Streichholz hinterher.

Ich habe keinen Nerv, den Brand sorgfältig zu legen, kann nur an die klaffende Wunde in meinem Gesicht und diese wahnsinnigen Schmerzen denken. Die Haut muss in Fetzen an meiner Wange herabhängen. Ich presse meine Hände auf den schmerzhaft pulsierenden Schnitt, fühle warmes, feuchtes Fleisch, wo glatte Haut sein sollte, klebriges Blut quillt mir durch die Finger. Figlio di puttana! Ich hoffe, dieser kleine Scheißer brennt in der Hölle!

Ein Flackern entsteht im Haus, das rasch zu einem ordentlichen Feuer anwächst. Schwer atmend stütze ich mich auf den Knien ab, wische mir die blutigen Hände an der Jeans ab. Nach und nach ergreifen die Flammen von der ganzen Hütte Besitz, fressen sich immer schneller durch das Holz. Nichts rührt sich mehr da drin, nichts außer dem Flackern des Feuers. Der stechende Schmerz verwandelt sich in ein fieses Pochen, während das Blut nur noch zäh aus der Wunde in meinen Kragen tropft. Cazzo! Aber der Auftrag ist erledigt. Und ich werde den Teufel tun und irgendwem verraten, dass es der elende Wicht war, der mich verwundet hat. Da werde ich ja zum Gespött der ganzen Famiglia.

Wenn ich erst in diesem München angekommen bin, wird es nicht lange dauern, bis ich dem Padre dort bewiesen habe, dass ich der beste Mann für den Posten des Capo Crimine bin. Und dann wird es keiner mehr wagen, mich zu fragen, wie das passiert ist.

Kapitel 1

 

 

 

München-Maxvorstadt, 08. Oktober 2019, nachmittags

 

»Schenken Sie mir doch einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit«, bitte ich Hauptkommissar Schneider, nachdem wir an meinem neuen Arbeitsplatz angekommen sind.

Während der Fahrt vom Bahnhof hierher hat Schneider keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er eigentlich etwas Besseres zu tun hätte, als den Chauffeur für seinen neuen Oberstaatsanwalt zu spielen. Mein Gepäck durfte ich selbst tragen und im Auto hat der Kommissar kaum die Zähne auseinanderbekommen. Nun gut. Auf solche Artigkeiten kann ich im beruflichen Umfeld ohne Weiteres verzichten, zumal vielen Menschen der Unterschied zwischen respektvoll und kriecherisch nicht so ganz klar ist.

Ich ahne ja, was Schneider denkt: Ich bin zu jung für diese Position, meine klassischen italienischen Gesichtszüge würden eher in ein Modemagazin als in einen bayrischen Gerichtssaal passen, und mein teurer Anzug sollte nach der langen Reise wenigstens den Anstand besitzen, ein wenig verknittert auszusehen. Zu allem Überfluss haben sie einem Münchner einen Oberstaatsanwalt vor die Nase gesetzt, der in Hamburg etliche Erfolge feiern durfte. Ein Fischkopf und ein Lackaffe also.

Alles in meinem Leben ist hart erkämpft, oder ich musste verdammt teuer dafür bezahlen. Aber das geht den Kommissar nichts an. Allerdings muss ich darauf bestehen, dass er seine Arbeit ordentlich erledigt. Was ich ihm nun mitzuteilen gedenke. Die Haudegen von der Kripo brauchen gar nicht erst auf den Gedanken zu kommen, dass sie sich bei mir irgendwas herausnehmen können.

Ich betrete mein neues Büro und frage mich im selben Moment, ob ich nicht nur einmal quer durch Deutschland gereist bin, sondern aus Versehen gleich noch eine Zeitreise in die Vierzigerjahre unternommen habe: Schwere, dunkle Eichenmöbel dominieren den Raum, die gerahmten Ölgemälde an den Wänden zeigen Berge, Wälder und Wild. Mit Mühe unterdrücke ich ein Schaudern. Davon bekommt man ja Albträume. Aber um die Einrichtung werde ich mich später kümmern.

»Wenn Sie mich bitte über den Stand der Ermittlung bezüglich des Todes von Dr. Walther informieren würden«, sage ich höflich zu Schneider, nachdem ich den ersten Schreck überwunden habe.

Der breitschultrige Mann plumpst unaufgefordert in den monströsen Besucherstuhl, der ärgerlicherweise vor meinem neuen Schreibtisch steht, und legt seinen linken Fuß mitsamt ausgelatschtem Cowboystiefel lässig auf den rechten Oberschenkel. Sein Blick schweift aus dem Fenster, so als hätte er mich nicht gehört.

Ich nehme auf einem knarzenden Ledersessel hinter dem Schreibtisch Platz. »Herr Schneider? Was können Sie mir über den Suizid meines Vorgängers sagen?«, frage ich unverändert freundlich.

»Nichts.«

Aha. Aber ich kann auch anders. Ich nehme einen schmalen Hefter aus meiner Aktentasche.

»Sie sollen ein guter Ermittler sein. Aber wenn das hier«, ich werfe die Mappe, die außer ein paar hässlichen Fotos gerade mal eine lächerliche Berichtseite enthält, so schwungvoll auf den Tisch, dass sie direkt auf der anderen Seite wieder zu Boden segelt, »ein Hinweis darauf ist, wie sorgfältig Sie arbeiten, frage ich mich schon, wie der leitende Oberstaatsanwalt zu dieser Einschätzung Ihrer Fähigkeiten gekommen ist.«

Keiner von uns macht Anstalten, den dünnen Ordner aufzuheben. Schneider starrt mich unter seinen buschigen Augenbrauen verdrossen an.

»Haben Sie irgendeine Erklärung für diese Schlamperei?«

»Herr D’Vergy, die Obduktion hat eindeutig ergeben …«, fängt der Kommissar an.

Ich unterbreche ihn sofort. »Der Bericht der Gerichtsmedizin ist bereits zehn Tage alt. Außerdem wird eine Obduktion nie belegen können, dass mein Vorgänger nicht dazu gezwungen wurde, sich die Pulsadern aufzuschneiden.« Wenn der Kommissar sich so benimmt, als müsse man ihm seinen Job erklären, bitte schön, dann tue ich das eben, und da sind mir die fast zwanzig Jahre Berufserfahrung, die er mir voraushat, scheißegal. Ich lehne mich zurück und lege die Fingerspitzen aneinander. »Sie haben keinen Abschiedsbrief. Keine Hinweise auf finanzielle oder berufliche Probleme. Niemanden, dem wenigstens eine depressive Verstimmung aufgefallen ist. Alles, was Sie haben, ist ein anonymer Anrufer, der pikante Details aus Dr. Walthers Privatleben zu kennen glaubt. Was Sie aber scheinbar nicht weiter untersucht haben.«

»Es reicht doch, dass sich die ganze Behörde das Maul über den früheren Oberstaatsanwalt zerreißt«, erklärt Schneider grantig. »Hätten wir auch noch seine Familie mit diesen Gerüchten behelligen sollen? Dr. Walther ist freiwillig aus dem Leben geschieden, um genau das zu verhindern. Denken Sie doch an die Angehörigen!«

Ah ja. Alles schön unter den Teppich kehren. So was habe ich ja gefressen. »Offenbar haben Sie ihre Zeit nicht mit gewissenhafter Arbeit vergeudet. Dann hätten Sie diese wenigstens nutzen können, um herauszufinden, dass es nicht zu meinen Angewohnheiten gehört, schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen«, entgegne ich eisig.

Schneiders Kiefermuskeln treten hervor, aber ich bin noch nicht fertig.

»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass der anonyme Anrufer Dr. Walther ganz gezielt verunglimpft hat, um ihn in den Tod zu treiben? Aber warum? Ging es um Dr. Walther persönlich oder um Dr. Walther in seiner Eigenschaft als Oberstaatsanwalt? Ich werde sicher nicht ruhen, bis ich eine Antwort auf diese Fragen bekommen habe, ganz gleich, ob an den anonymen Anschuldigungen etwas dran ist oder nicht.«

»Selbst wenn da etwas dran wäre, dann heißt das ja noch lange nicht, dass Dr. Walther sich strafbar gemacht hat«, entgegnet Schneider stur.

»Ist etwas dran?«, frage ich direkt. Ich beobachte, wie sich der Adamsapfel des Kommissars rasch auf- und abbewegt. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts. Aber er zögert mit einer Antwort. Zu lange. Das reicht mir.

Offensichtlich müsste er mir direkt ins Gesicht lügen, wenn er Nein sagt, und ich bin einigermaßen erleichtert, dass er das nicht tut.

»Im Moment sind Dr. Walthers außereheliche Aktivitäten wirklich nicht von Belang. Was mich interessiert, ist der anonyme Anrufer und dessen Motiv. Hat er Dr. Walthers Geheimnisse absichtlich ausgeplaudert, um ihn in den Tod zu treiben? Warum? Sehen Sie zu, dass Sie das herausfinden.«

Schneider nickt zögernd, und ich beschließe, mich mit dieser verhaltenen Zustimmung zufriedenzugeben.

»Apropos anonym … da war doch noch ein Fall, eine Mail ohne Absender, in der jemand Carlo Cortone beschuldigt, Jasemina Brandelhuber getötet zu haben. Haben Sie dazu neue Erkenntnisse?«

»Nein. Frau Brandelhuber gilt als vermisst, der Verfasser der Mail konnte nicht festgestellt werden.« Der Kommissar räuspert sich. Offenbar schmeckt es ihm gar nicht, dass ich zielsicher die beiden Fälle herausgepickt habe, bei denen die Ermittlungsarbeit zu wünschen übrig lässt. Nun, daran wird er sich wohl gewöhnen müssen.

»Bleiben Sie da dran. Ich werde ohnehin beantragen, dass der Prozess gegen Carlo Cortone vertagt wird.«

»Wieso?«, fragt Schneider verdattert. »Der Mord an Tosh Silvers kann doch unabhängig vom Fall Jasemina Brandelhuber verhandelt werden. Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass Cortone Silvers erschossen hat.«

Nachdem Schneider nicht mehr ganz so bockig ist, verzichte ich gnädig darauf, ihm den Unterschied zwischen Indizien und Beweisen zu erklären. »Womöglich plädiert Cortones Verteidiger auf Leichenschändung«, sage ich stattdessen.

»Wie bitte?« Schneider starrt mich entgeistert an. »Silvers lag auf den Knien, die Hände mit Kabelbinder auf dem Rücken gefesselt, als er mit einem gezielten Schuss hingerichtet wurde. Das ist doch eindeutig.«

»Silvers hat auf eine Zyankalikapsel gebissen, bevor das Projektil in seinen Schädel eingedrungen ist«, wende ich ein, unterbinde jedoch eine weitere Diskussion zu dem Thema mit einer knappen Handbewegung. »Wir werden sehen. Auf jeden Fall muss ich mich mit der umfangreichen Aktenlage vertraut machen, bevor der Fall verhandelt wird. Wenn Cortone der Mörder ist, werde ich ihn nicht mit Totschlag davonkommen lassen.«

Das scheint Schneider wenigstens zu gefallen.

»Sehen Sie bitte zu, dass Sie inzwischen die anonymen Hinweisgeber auftreiben«, fahre ich fort. »Und treten Sie in Gottes Namen den Leuten von der Vermisstenabteilung auf die Füße – solange wir nicht wissen, ob Jasemina Brandelhuber überhaupt einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, können wir Cortone in dieser Angelegenheit gar nichts, egal was in dieser Mail behauptet wird.«

Der Kommissar nickt, steht ohne ein weiteres Wort auf und bückt sich nach der Akte. Eigentlich bin ich es ja, der bestimmt, wann eine Besprechung zu Ende ist. Aber das wird Schneider schon noch lernen.

»Da Sie gerade gehen, können Sie gleich den Stuhl vor meinem Tisch mitnehmen. Ich benötige ihn nicht. Wenn ich möchte, dass meine Besucher sich setzen, werde ich ihnen einen Platz am Besprechungstisch anbieten.«

Der Kommissar hält mitten in der Bewegung inne, seine Hand schwebt einen Augenblick über der Akte. »Arrogantes …«, flucht er leise, den Rest des Satzes verschluckt er klugerweise.

Aber es gefällt mir, dass es mir gelungen ist, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. »Natürlich bin ich ein arrogantes Arschloch«, sage ich spöttisch, als er die Mappe endlich aufgehoben hat. »Ich habe hart daran gearbeitet. Sie werden es lieben, wenn sich die Tatverdächtigen vor Gericht damit auseinandersetzen müssen. Der Haken ist leider, dass Sie sich auch damit arrangieren müssen, wenn möglich, ohne beleidigend zu werden.«

Schneider starrt mich kurz perplex an, doch dann grinst er breit. »Ich werde in Zukunft auf Ihre Befindlichkeiten Rücksicht nehmen«, verspricht er, legt die Ermittlungsakte auf den Tisch und klemmt sich tatsächlich dieses Monstrum von Besucherstuhl unter den Arm. »Willkommen in München, Herr Graf!« Dann marschiert er hinaus.

Ich seufze. Was habe ich erwartet? Natürlich hat Schneider sich über mich informiert und natürlich hat er als Erstes meinen Spitznamen herausgefunden. Wobei es Schlimmeres gäbe, und aus dem Mund eines Münchners klingt das ja fast wie ein Kompliment. Es besteht also durchaus Hoffnung, dass der Kommissar und ich in Zukunft gut zusammenarbeiten werden. Außerdem mag ich es irgendwie, dass er am Schluss ein bisschen frech geworden ist. Vielleicht hat er ja doch den nötigen Biss, um ein guter Ermittler zu sein?

Ich klappe meinen Laptop auf.

»Willkommen zu Hause«, sage ich leise zu mir selbst und mache mich an die Arbeit.

Kapitel 2

 

 

 

München-Laim, 09. Oktober 2019, vormittags

 

»Überraschung!«, ruft Liliane, als sie meine Wohnung betritt.

Rasch klicke ich die Mail an die Tierschutzorganisation Peta in den Hintergrund und rufe stattdessen einen harmlosen Kontoauszug auf. Doch ich hätte mich nicht beeilen müssen, wie so oft verschwindet Liliane zuerst mal in der Küche. Ich höre Geschirr klappern. Sicher hat sie wieder irgendein Obst angeschleppt, und wahrscheinlich wird meine Freundin nicht ruhen, bis ich mindestens die Hälfte davon gegessen habe. Denn das sind wir längst geworden: Freundinnen, auch wenn Liliane nun für mich arbeitet.

»… finden Sie anbei die Beweise, dass Bio Gieseke in seinen Läden Fleisch aus tierquälerischer Massentierhaltung anbietet …«, tippe ich nun doch noch schnell die Mail fertig und schicke sie rasch ab. Das sollte reichen, um die Kämpfer für Tierrechte auf die richtige Spur zu bringen – und das wird der Famiglia ein weiteres, lukratives Geschäft vermasseln. Außerdem konnte ich diesen Fatzke Gieseke noch nie leiden.

Doch gegen das Pochen hinter meiner Stirn hilft auch das Wissen nicht, dass ich der Famiglia erneut einen Schlag versetzen kann. Ich stütze meinen dröhnenden Kopf in die Hände. »Verdammt, Tosh!«, denke ich, was ich ungefähr einhundertmal jeden Tag tue, seit er tot ist, und umklammere mit einer Hand den Anhänger mit dem eingravierten keltischen Liebesknoten, den er mir hinterlassen hat. »Ich schaff das nicht!«

Aber ich muss es schaffen. Nur noch ein bisschen durchhalten. Wenn Carlo erst verurteilt und diese verdammte Famiglia endlich pleite ist, dann kann ich durchatmen. Dann werden wir alle in Sicherheit sein, Liliane, Hugo, Marco und ich. Auch wenn dieser bohrende Schmerz in meiner Brust wohl niemals weggehen wird. Ich hoffe allerdings darauf, dass ich dann wenigstens mal wieder eine Nacht durchschlafen kann – vielleicht sogar ohne Albträume. Ständig reißen sie mich aus dem Schlaf, fluten meinen Kopf mit Bildern von Tosh, kalt und tot auf diesem Metalltisch in der Gerichtsmedizin. Mein Tosh.

»Er ist da!«, verkündet Liliane, betritt das improvisierte Büro, das ich uns beiden in meinem ehemaligen Gästezimmer eingerichtet habe, und hält mir ein Glas hin. Zum Glück ahnt sie nicht, was ich gerade gedacht habe. Ich kann im Augenblick nicht noch einen ihrer lieb gemeinten Vorträge ertragen.

»Wer?«, frage ich argwöhnisch und beäuge das Getränk, dessen blaugrüne Farbe mich an eine Giftschlange aus dem tropischen Regenwald erinnert.

»Das doch nicht, das ist ein Smoothie, trink das. Nein, ich meine …«

»Du hast aber nicht bei Bio Gieseke eingekauft, oder?«, hake ich misstrauisch nach.

»In dem überteuerten Schicki-Micki-Laden? Spinnst du? Dem werfe ich doch kein Geld in den Rachen. Natürlich war ich auf dem Viktualienmarkt. Aber hör doch mal zu. Er ist da!«

Jetzt ahne ich, wovon sie spricht. Es muss um den Bildband über Cockerspaniel gehen, den sie so sehnlich erwartet. Ich bin froh, dass Liliane sich über solche Kleinigkeiten wieder freuen kann. Seit Toshs Tod lächeln wir selten, brüten verbissen über dem Erbe, das er uns hinterlassen hat, und sind mit den Gedanken häufig doch ganz woanders.

»Zeig her!«, fordere ich sie auf und nehme vorsichtig einen Schluck von der Giftschlangen-Mixtur. Gar nicht so schlecht.

»Eins nach dem anderen«, sagt Liliane, und ihre Augen blitzen. »Jetzt lass dir erst mal den Namen auf der Zunge zergehen: Conte Victorio Moreno D’Vergy!«

»Ist das ein Hund?«, frage ich erstaunt, immer noch der Ansicht, dass es um das Buch geht.

»I wo … ein Mann! Mensch, Mädel!«

»Du bist verliebt?«, frage ich und würde mir im selben Moment am liebsten für meinen ungläubigen Ton in den Hintern treten. Wir sind ja kein Nonnenkloster hier, obwohl das für mich kaum einen Unterschied machen würde.

Liliane kichert. »Ich denke nicht, dass dieser Mann sich als junger Liebhaber einer schon etwas in die Jahre gekommenen Sekretärin eignet«, meint sie, und bevor ich widersprechen kann, verrät sie mir endlich, von wem sie spricht: »D’Vergy ist der neue Oberstaatsanwalt.«

Wie ein Zauberer zieht sie einen sorgfältig gefalteten Zeitungsausschnitt aus ihrer Handtasche und legt ihn vor mir auf den Tisch.

Ich starre das Foto an. Ein Mann, vielleicht Ende zwanzig, mit akkuratem Kurzhaarschnitt. Keines der dichten schwarzen Haare befindet sich am falschen Platz, unter den leicht gerunzelten Augenbrauen blicken dunkle Augen forschend in die Kamera. Er hat eine gerade Nase und ein energisches Kinn. Natürlich ist er glatt rasiert, und ich könnte wetten, dass der Rest seines Anzuges ebenso perfekt sitzt wie die Krawatte und der Hemdkragen, die man auf dem Foto sieht.

Schon der Name hat mir nicht gefallen. Der Mann tut es erst recht nicht. »Wer soll der Schönling sein, sein Sohn?«, frage ich. »So einen Fatzke verspeist Carlo Cortone doch zum Frühstück. Der setzt uns womöglich den ganzen Prozess in den Sand.«

»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigt Liliane mich und tippt auf den Artikel neben dem Bild. »Das Foto ist von 2016, da hat er in Hamburg einen aufsehenerregenden Prozess gewonnen: ›Der Staat gegen Sindermann‹, davon hast du bestimmt gehört …«

Lilianes Worte rauschen an mir vorbei, während ich mich zum x-ten Mal frage, warum zum Teufel Oberstaatsanwalt Dr. Walther sich unbedingt in seiner Badewanne die Pulsadern aufschneiden musste. Ich fürchte, dass es mit seiner Vorliebe zu tun hatte, einmal in der Woche einen Stricher aufzugabeln und einige Stunden mit ihm in einem Hotel zu verbringen. Dieses Wissen gehört, wie auch die Info über Gieseke, zu dem Erbe, das Tosh Silvers mir hinterlassen hat. Die Famiglia schreckt wahrlich nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Doch vor allem verfügen sie über einen riesigen Schatz an Informationen, was es ihnen ermöglicht, ihre Gegner wahlweise zu erpressen oder zu bestechen.

Ein ganzes Potpourri solcher Informationen befindet sich nun auch in einer Hutschachtel unter meinem Bett. Was allerdings nicht bedeutet, dass Carlo Cortone, der Boss der Münchner Famiglia, nicht ebenfalls über dieses Wissen verfügt. Ich frage mich nur, warum er es nicht längst eingesetzt hat, nachdem er schon seit Monaten wegen des Mordes an Tosh Silvers in Untersuchungshaft sitzt. Das macht doch keinen Sinn, oder? Warum hat Carlo so lange damit gewartet, Dr. Walther unter Druck zu setzen? Was zum Teufel ist da vorgefallen, von dem ich nichts weiß?

»… Sylvie hat mir verraten, dass sogar Hauptkommissar Schneider von D’Vergy beeindruckt war, und das ist ja mal ganz was Neues, dass dieser Schneider sich von irgendwem beeindrucken lässt …«, schnattert Liliane derweil ungerührt weiter.

Sylvie ist Angestellte in der Staatsanwaltschaft München II und Teil eines Lesezirkels über romantische Literatur, dem auch Liliane angehört. Ich hoffe nur, meine Freundin hat Sylvie im Gegenzug lediglich verraten, dass ich als Testamentsvollstreckerin von Tosh Silvers und als Betreuerin seiner alkoholkranken Mutter tätig bin. Dass ich nebenbei versuche, Carlo Cortone zu Fall zu bringen, und am besten die ganze Famiglia gleich mit, geht niemanden was an.

»Na und?«, maule ich. »Von diesem Piefke lässt Cortone sich doch nicht die Butter vom Brot nehmen. Dr. Walther hatte jahrelange Erfahrung mit solchen Typen, der hätte sich von Carlo nie und nimmer vorführen lassen.«

»Das stimmt doch nicht«, wendet Liliane sanft ein. »Dr. Walther ist tot, und ich würde nicht darauf wetten, dass Carlo damit nichts zu tun hat.«

Da hat sie auch wieder recht. Die Kopfschmerzen werden schlimmer. Ich nehme noch einen großen Schluck von dem Smoothie, aber selbst diese geballte Ladung an Vitaminen kann nichts gegen meinen dröhnenden Schädel ausrichten.

Denn wenn ich nicht verdammt gut aufpasse, dann bin ich die Nächste, die Carlo ins Visier nimmt. Sollte die Famiglia jemals Wind von dem Inhalt meiner Hutschachtel bekommen, wird mein Leben keinen Pfifferling mehr wert sein. Da könnten mir auch Marco und Hugo nicht mehr helfen, Toshs ehemalige Leibwächter, die mir seit seinem Tod nicht mehr von der Seite weichen.

Doch damit will ich Liliane nicht belasten. Die Papiere, die Tosh mir hinterlassen hat, bleiben mein Geheimnis.

»Wir brauchen mehr Informationen über diesen Adonis«, sage ich zu Liliane. »Ich will nicht riskieren, dass der womöglich anfängt, die Ermittlungen neu aufzurollen.« Carlo Cortone soll endlich für Toshs Tod bezahlen!

»Na ja, Sylvie wird …«, sagt Liliane, doch ich winke ab.

»Klatsch reicht nicht. Glaubst du, Carlo hockt derweil gemütlich in seiner Zelle und guckt sich alle Folgen Game of Thrones an? Wenn er wirklich dafür gesorgt hat, dass Dr. Walther sich umbringt, dann wird er diesen Schnösel erst recht nicht in Ruhe lassen. Nein, Marco soll sich mal umhören.«

Marco ist nicht nur mein Bodyguard, er sieht auch so aus: Groß, dunkles, kurzes Haar, breite Brust und Oberarme, die dicker sind als meine Schenkel. Trotzdem ist er der Einzige von uns, der es schafft, in der Lieblingskneipe der Bullen von der Mordkommission ein Bier zu trinken, ohne dass er irgendjemandem auffällt. Keinen Plan, wie er das macht.

Liliane nickt zustimmend. »Gute Idee. Sylvie soll trotzdem die Augen offen halten.«

Ich nicke. Warum nicht? Wenn alle Stricke reißen, kann ich mich immer noch an diesen feinen Pinkel heranmachen. Wie man so einen Snob knackt, weiß ich. Ein Wissen, das ausgerechnet Carlo Cortone vor ein paar Jahren um einige Aspekte erweitert hat.

Aber das gehört ebenfalls zu den Dingen, die besser nie jemand erfahren wird. Und daran denken will ich schon gleich gar nicht.

Kapitel 3

 

 

 

München-Grünwald, 13. Oktober 2019, vormittags

 

Ich bin wieder in den riesigen Bungalow eingezogen, in dem ich meine Jugend verbracht habe. Da mein Vater derzeit durch Abwesenheit glänzt, habe ich den monströsen Tisch im Esszimmer für die Aktenberge requiriert und mich das ganze Wochenende durch jede einzelne Seite gequält. Inzwischen frage ich mich ernsthaft, ob die im Kommissariat 4/13 mich verarschen wollen. Der Kram ist doch das Papier nicht wert, auf dem er ausgedruckt wurde.

Mein Handy reißt mich aus diesen unerfreulichen Gedanken.

»D’Vergy«, melde ich mich kurz angebunden, immerhin haben wir Sonntag.

»Dir auch einen schönen guten Tag, Vico.«

»Dad!« Ich kneife mir mit zwei Fingern in den Nasenrücken. »Entschuldige bitte. Aber …«

»Du arbeitest«, sagt er vorwurfsvoll.

»Ich bin noch keine Woche hier«, erkläre ich. »Ich muss mich in die offenen Fälle einarbeiten.«

Ich rechne es meinem Dad hoch an, dass er nicht erwähnt, dass mir schon seit Längerem ständig ein guter Grund einfällt, um am Wochenende über irgendwelchen Akten zu brüten.

»Wird Zeit, dass in München ein bisschen Leben in die Bude kommt, damit dich jemand auf andere Gedanken bringt«, meint er.

»Und ich hatte schon befürchtet, du würdest Italien gar nicht mehr den Rücken kehren und mich allein hier sitzen lassen«, sage ich lächelnd.

»Du glaubst gar nicht, wie mich das nervt, dass ich ausgerechnet dann hier festhänge, wenn du endlich nach Hause kommst. Aber jetzt habe ich doch noch eine Vertretung für unseren Verwalter gefunden. Was muss der Idiot sich auch mitten in der Weinlese ein Bein brechen?«

»Tut mir leid, dass ich nicht runterkommen konnte«, sage ich zerknirscht. »Aber einer der Fälle ist eine einzige Katastrophe.«

»Papperlapapp, das bekomme ich grade noch allein hin. Sobald der Vertrag unterzeichnet ist, mache ich mich auf den Weg nach München. Was ist das für ein Fall?«

Ich gebe ihm einen kurzen Überblick über den Mord an Tosh Silvers.

»Eigentlich ist die Lage sonnenklar. Eine abgelegene Gaststätte zwischen München und Fürstenfeldbruck ist der Tatort, seit Jahren steht das Haus leer. Und just, als jemand dort umgebracht wird, kommt ein ganzer Bus auf Kaffeefahrt vom Weg ab, eine Horde rüstiger Senioren platzt in den alten Gastraum und überrascht den Tatverdächtigen bei der noch warmen Leiche. Die Mordwaffe konnte ebenfalls sichergestellt und dem Verdächtigen zugeordnet werden«, erzähle ich.

»Lass mich raten: Die Rentner liefern Beschreibungen, die von Urmel aus dem Eis bis hin zu Angela Merkel auf jeden zutreffen könnten.«

Ich lache.

»Nein, die Zeugen sind zwar erwartungsgemäß schockiert, haben Cortone bei der Gegenüberstellung aber alle identifizieren können.«

»Chi?«, fragt Dad.

»Carlo Cortone«, sage ich und wundere mich ein wenig über den unverhofften Wechsel ins Italienische. »Sagt dir das was?«

»Nein. Ich habe Capone verstanden. Dachte schon, du machst Witze«, sagt mein Vater, wieder auf Deutsch. »Also, wo ist das Problem? Wenn ich das richtig sehe, habt ihr den Kerl festgesetzt.«

»Die Ermittlungen sind löchrig wie ein Schweizer Käse.«

»Ach so. Wenn es weiter nichts ist. Jetzt bist du ja da und bringst das schnell in Ordnung.«

Ich muss wieder lächeln. Dads unerschütterlicher Glaube in meine Fähigkeiten ist wirklich rührend. Obwohl einem wahrscheinlich gar nichts anderes übrig bleibt, wenn man niemals Vater werden wollte und plötzlich mit einem Jungen dasteht, der Nacht für Nacht schreiend aufwacht, und der dann, als die Albträume endlich nachlassen, zu einem launischen Flegel mutiert. Das steht man vermutlich nur durch, wenn man fest darauf vertraut, dass der Sohn es irgendwann schon packen wird. »Du hast recht. Gleich morgen werde ich denen ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen«, sage ich.

Wie gut, dass das ein Teil meines Jobs ist, den ich richtig gerne mag.

 

Montagmorgen weise ich als Erstes meinen Assistenten an, ein paar staatsanwaltliche Vorladungen rauszuschicken.

Zwei Stunden später platzt Kommissar Schneider, ohne anzuklopfen, in mein Büro. Ich seufze verhalten. Wo sind eigentlich die guten alten Zeiten geblieben, in denen ein Vorzimmerdrache so etwas unterband und dafür sorgte, dass sich Besucher wenigstens ankündigen ließen, wenn sie schon keinen Termin hatten?

»Herr D’Vergy …«, beginnt Schneider aufgebracht.

»Oh, Hauptkommissar Schneider«, sage ich harmlos, als sei mir gar nicht aufgefallen, wie lautstark er hereingepoltert ist. »Waren wir verabredet?«

Doch der Kommissar hat scheinbar keine Lust, sich für sein ungebetenes Eindringen zu entschuldigen. Er ballt die Fäuste und wippt auf den Fersen. Ich beglückwünsche mich insgeheim zu der Entscheidung, dass ich den Besucherstuhl verschwinden ließ. Die Körpersprache von Menschen, die vor einem stehen, ist wesentlich leichter zu lesen, wenn sie eben genau das tun: stehen.

»Sie haben einige Zeugen im Cortone-Fall erneut vorladen lassen.«

»Was daran liegen könnte, dass es sonst niemand tut.«

»Herr D’Vergy, das geht so nicht …«

Ich unterbreche ihn erneut, indem ich ebenfalls aufstehe und auf die Akten weise, die sich nun auf dem Besprechungstisch türmen. »Das geht so nicht!«, knurre ich. »Ich ersticke in Papier. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der ganze Kram kommt von Cortones Verteidiger und nicht von meiner eigenen Behörde. Was soll der Mist? Ihre Leute scheinen ausschließlich einem geheimnisvollen Unbekannten hinterhergejagt zu sein, der Cortone angeblich in eine Falle gelockt haben soll, um ihm den Mord an Silvers in die Schuhe zu schieben. Bloß, was ist dabei rausgekommen? Gar nichts! Das allein beweist Cortones Schuld aber leider nicht. Sein Verteidiger zerreißt mich in der Luft, wenn ich mit dem hier ankomme.«

Schneider schluckt. »Die Staatsanwaltschaft ist Herrin des Ermittlungsverfahrens«, sagt er schließlich. »Ich bin davon ausgegangen, dass Sie es mich wissen lassen, wenn Sie der Meinung sind, der Fall sei nicht ausermittelt.«

»Ach?«, spotte ich. »Ich denke, das habe ich gerade getan.«

»Dr. Walther hat darauf bestanden, die Ermittlungen in diese Richtung zu lenken. Wir haben seit Jahren zusammengearbeitet, und ich hatte nie einen Anlass, an seinen Entscheidungen zu zweifeln.«

Ich mustere ihn schweigend und warte.

»Jetzt, da er tot ist, bin ich mir nicht mehr sicher«, gibt Schneider zögernd zu, ohne mir dabei in die Augen zu sehen.

»Sie müssen mit mir über so etwas reden«, fordere ich schroff, um dann versöhnlicher fortzufahren: »So schrecklich das ist, durch den Tod Dr. Walthers haben wir Zeit gewonnen. Ich möchte, dass sämtlichen Ermittlungsansätzen nachgegangen wird, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Setzen wir uns.«

Ich ziehe eine Liste hervor und lege sie auf den Besprechungstisch.

»Silvers’ geschäftliche Verbindungen zu Carlo Cortone wurden ja bereits untersucht, was mich allerdings stutzig macht, ist, der Selbstmord seines IT-lers zwei Tage vor seinem Tod. Die Befragungen der Mitarbeiter in diesen Punkten lassen zu wünschen übrig …«

Schneider setzt sich zu mir, und wir gehen die ganze Liste durch. Schließlich hatte ich nie vor, die Zeugen alle selbst zu befragen. Aber der Kommissar arbeitet bereitwillig mit, macht sich sogar eifrig Notizen auf einem altmodischen kleinen Block. Geht doch.

Der letzte Name, den ich notiert habe, ist Mayra Jennings.

»Das ist doch diese Anwältin, die Testamentsvollstreckerin von Tosh Silvers. Die haben Sie nicht vorgeladen? Sollten wir die nicht auch befragen?«

»Oh, die Dame interessieret mich durchaus«, erkläre ich. Und dann – manchmal liebe ich es wirklich, mich wie ein Arschloch zu benehmen – hole ich einen Bericht von meinem Schreibtisch, von dem ich erwartet hätte, ihn in den Cortone-Akten zu finden. »Denn Silvers war nicht ihr einziger Klient.«

Schneider wirft einen Blick auf das Dokument. »Scheiße!«, sagt er nur.

»Mayra Jennings ist die Anwältin, die Jasemina Brandelhuber aus einer Gewahrsamszelle geholt hat, wenige Minuten, bevor Tosh Silvers’ Schwester in eine Limousine stieg und nie wieder gesehen wurde«, erkläre ich süffisant.

Womit die Anwältin auf Platz eins meiner Verdächtigenliste gelandet ist, wenn es um den Absender der anonymen Mail geht, in der behauptet wird, Jasemina sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen.

»Halten Sie es für meine Aufgabe, diesen Zusammenhang herzustellen und den entsprechenden Bericht bei der zuständigen Polizeistation anzufordern?«

»Nein, natürlich nicht.« Schneider knirscht mit den Zähnen. »Entschuldigen Sie bitte.«

»In Ordnung«, entgegne ich sofort.

»Soll ich sie vorladen?«

»Nein. Mayra Jennings dürfen Sie mir überlassen. Die wird von selbst herkommen.«

Schneider sieht mich skeptisch an, hat aber nach dem Schnitzer, den sein Team sich da geleistet hat, anscheinend keine Lust auf Diskussionen. Stattdessen beginnt er, ein kompliziertes Muster aus seinen Notizzetteln zu legen. »Herr D’Vergy«, sagt er dabei betont beiläufig. »Sie glauben, dass Cortone Dr. Walther erpresst hat, oder? Und als der frühere Oberstaatsanwalt Cortones Unschuld nicht beweisen konnte oder wollte, hat der seine Drohung wahr gemacht und mit einem Anruf in der Zentrale dafür gesorgt, dass Dr. Walthers Ausflüge ins Strichermilieu publik wurden.«

»Es deutet einiges darauf hin«, gebe ich zu.

Schneider scheint inzwischen völlig in dem Zettel-Ornament aufzugehen.

Bevor er alles durcheinanderbringt, helfe ich ihm lieber auf die Sprünge. »Sie fragen sich, ob es bei mir auch eine Leiche im Keller gibt, mit der man mich unter Druck setzen könnte«, rate ich.

»Gibt es die denn?«

Hunderte.

»Nein«, sage ich. »Ich bin nicht erpressbar.«

Jetzt könnte Schneider die Notizen eigentlich in Frieden lassen. Stattdessen beginnt er ein neues Muster.

»Wenn Sie auf etwas Bestimmtes hinauswollen, dann sagen Sie das doch bitte direkt«, sage ich ungehalten. »Sämtliche pikanten Details über mich können Sie im Buxtehuder Boten vom 12. Mai 2015 nachlesen. Irgendwelche Fragen dazu?«

Der Kommissar strafft die Schultern, sieht mich endlich wieder an und schüttelt kurz den Kopf. »Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagt er, wieder ganz souverän. »Wenn das dann alles wäre?«

»Rufen Sie sich die bisherigen Erkenntnisse bitte erneut in Erinnerung, und gehen Sie allem nach, was Ihnen im Nachhinein nicht ganz koscher vorkommt. Ich will nicht noch mehr lose Enden finden«, entgegne ich. »Das wäre dann alles.«

»In Ordnung«, sagt der Kommissar und fügt ein »Danke« hinzu, bevor er geht.

Na bitte. Wenn wir so weitermachen, wird aus uns noch das perfekte Team.

Kapitel 4

 

 

 

München-Stadelheim, 14. Oktober 2019, nachmittags

 

Ein Krüppel.

Sie haben mir wirklich einen Krüppel geschickt! Ich wollte es nicht glauben, dachte, der Tratsch, der seit ein paar Wochen draußen die Runde macht, sei nichts weiter als dämliches Geschwätz, mit dem meine Leute davon ablenken wollen, dass sie ohne mich ziemlich aufgeschmissen sind. Doch als ich den Besucherraum betrete, sitzt da tatsächlich ein Hänfling in einem Rolli und lächelt mich treuherzig an. Ein scheiß Labrador auf Rädern.

»Hallo!«, ruft er mir überschwänglich entgegen. Wie kann man nur so ekelhaft gut gelaunt sein, wenn man dem Mann gegenübertritt, dem man künftig auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein wird? Er sollte vor Angst zittern und nicht einen auf Kindergeburtstag machen.

»Adriano Panucci, der Capo hat mich nach München beordert, ich soll den Contabile ersetzen. Es ist mir eine große Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Boss«, stellt er sich vor.

Stronzo! Wessen Boss ich bin und wen ich mit meiner Kohle rumhantieren lasse, bestimme ich immer noch selbst. Glaubt der Kerl, mit der Schleimerei kann er bei mir punkten?

Eine reinhauen kann ich ihm für diese Frechheit natürlich keine. Onora lo zoppo, einen Krüppel zu schlagen zeugt von Ehrlosigkeit. Aber nicht nur das. Jene, die verwundet aus einem Einsatz für die Famiglia hervorgehen, genießen hohes Ansehen. Habe ich noch nie kapiert, ist doch kein Verdienst, einen Job zu vermasseln. Denn das hat er wohl, sonst säße er nicht in dem Rolli. Aber irgendwas außer dem Namen Panucci muss an der halben Portion ja dran sein, glaubt zumindest der Capo. Oder? Hat er mir diesen Gnom als eine Art Botschaft geschickt? Dass wir jetzt in einem dieser Besucherräume sitzen, die normalerweise den Treffen mit den Anwälten vorbehalten sind und uns ohne Anstandswauwau unterhalten können, beeindruckt mich jedenfalls wenig. Wahrscheinlich hat der Knabe beim Wachpersonal einfach die Mitleidskarte gezogen. Ich mustere ihn abschätzig und lehne mich lässig an den wackligen Tisch, neben zwei Stühlen das einzige Möbelstück in dem kargen Raum.

»Wie ist das passiert?«, frage ich und rucke mit dem Kopf in Richtung Rolli.

»Rückenmarksläsion aufgrund einer Schussverletzung«, sagt er aalglatt.

Vai a cagare! Glaubt der echt, ich frag jetzt nach, was das ist? Ob er wohl noch ficken kann?

»Seitdem habe ich meine Zeit genutzt, um mich weiterzubilden …«

Jetzt erzählt mir der Streber glatt was von einer Business School und haut mir einen Haufen Zertifikate um die Ohren, die mir so was von am Arsch vorbeigehen. Wahrscheinlich hat der Capo den nicht hergeschickt, weil er so gut ist, sondern weil sie die Nervensäge in Padolfi satthatten.

Tosh brauchte jedenfalls keine dämlichen Diplome, der hat einfach aufgepasst, wie der alte Finanzmanager die Dinge gehandhabt hat, und den Rest hat er sich selbst beigebracht. Das wichtige Zeugs hat er eh von mir gelernt. So ein blöder Angeber war Tosh auch nicht. Na ja, das wäre ihm allerdings auch nicht so gut bekommen.

Dieses magere Bürscherl könnte Tosh jedenfalls niemals das Wasser reichen. Unwillkürlich sehe ich meinen Schützling vor mir, an dem Tag, als er Teil der Famiglia wurde. Es ist Tradition, dass sich das Blut eines Anwärters mit dem seines Mentors mischt. Meist fügen sich die beiden einen kleinen Schnitt in die Handflächen zu und legen sie aufeinander. Wie in einem lächerlichen Karl-May-Film. Pah! Das reichte mir nicht. Mit einem entzückenden, japanischen Filetiermesser zeichnete ich ein hübsches Muster auf Toshs nackten Oberkörper, bis er blutüberströmt vor mir stand. Keinen Mucks hat er gemacht. Trotzdem war da nichts als pure Dankbarkeit in seinen Augen, als ich ihm den Siegelring der Famiglia an den Finger steckte. Dann kam das übliche Geseier über Treue und Ehre, aber Tosh hat noch einen draufgesetzt und todernst hinzugefügt, dass er sein Leben für mich geben würde.

Was er schlussendlich auch getan hat. Komisch, dass bisher niemand auf den offensichtlichen Grund dafür gekommen ist, warum Tosh auf diese Zyankalikapsel gebissen hat: Wer auch immer ihn umgebracht hat, Tosh wusste, dass er sterben würde, und er wollte nicht riskieren, vorher etwas auszuplaudern, was mich in eine ähnlich dumme Lage bringen könnte. Zum Beispiel, indem er zugibt, dass ich Domenicos Tod befohlen habe. Sein Mörder wird mich schon nicht umsonst da rausgelockt haben, der dachte, er kann mir Toshs Geständnis präsentieren und mich direkt des Verrats bezichtigen. Aber Tosh hat sich lieber auf die Zunge, beziehungsweise auf die Zyankalikapsel gebissen, als mich zu verpfeifen.

Auf Tosh konnte ich mich echt hunterpro verlassen. Das einzige Mal, dass er nicht sorgfältig gearbeitet hat, war, als er diesen Computerfuzzi um die Ecke gebracht hat, und ich hinter ihm aufräumen und den Selbstmord inszenieren musste. Andererseits war ihm zu diesem Zeitpunkt sein Mörder vielleicht schon dicht auf den Fersen, durchaus möglich, dass Tosh einfach nicht mehr dazu gekommen ist, die Sache ordentlich zu Ende zu bringen.

»Ich würde mich wirklich über eine Chance freuen«, trällert Adriano.

Hat er das aus einem Bewerbungshandbuch? Wie werde ich Mafiaboss in zehn Schritten, oder was?

»Ich könnte Sie auch hier herausholen, Boss, sobald ich mir einen Überblick verschafft habe.«

»Soso. Ich dachte, du bist schon eine Weile im Gespräch für diesen Posten. Wäre es da nicht angebracht gewesen, sich im Vorfeld einen Überblick zu verschaffen?«, schnauze ich ihn an.

Verlegen kratzt er an einem eitrigen Pickel auf seiner Wange herum. »Ja, das wäre mir auch lieber gewesen, damit Sie gleich sehen, wie nützlich ich Ihnen sein kann, aber ohne Ihren Segen will keiner mit mir reden …«

Sehr gut. Das würde ich auch niemandem geraten haben.

»Also, soll ich Sie …?«

»Nein.« Ich bin doch nicht auf diesen Wicht angewiesen, wenn ich hier rauswill. Nein, ich muss erst wissen, wer Tosh auf dem Gewissen hat. Denn ich könnte meinen Arsch darauf verwetten, dass es dem Mörder in Wahrheit darum ging, der nächste Padre von München zu werden. Doch dazu sitze ich zu fest im Sattel. Es sei denn, jemand setzt dem Capo in Padolfi den Floh ins Ohr, dass ich für Domenicos vorzeitiges Ableben gesorgt habe.

Aber scheinbar ist ja niemand in der Lage, Toshs Mörder zu schnappen, weder die Bullen noch meine Leute. Am meisten hatte ich mir ja von Dr. Walther und dem Schneider versprochen. Ärger ohne Ende hatten wir schon mit denen. Aber diesmal haben sie auf ganzer Linie versagt. Stattdessen hockt der Walther plötzlich mausetot in seiner Wanne. Stupido! Als ob es irgendwen interessieren würde, wo der alte Trottel seinen Schwanz reinsteckt. Seine Frau sicher nicht.

Jedenfalls ziehe ich es vor, hierzubleiben, bevor ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe. Die Geschäfte kann ich auch von hier aus leiten. Klar, ein paar Dinge laufen im Moment nicht ganz rund, aber Toshs Mörder soll ruhig glauben, er hätte mich schon außer Gefecht gesetzt.

Aber warum kommt der Scheißkerl nicht aus seiner Deckung? Wer ist es? Na ja, dieser Milchbubi, der frisch aus Padolfi hergerollt ist, ist schon mal raus.

»Na schön, du darfst mir zeigen, was du als Geldwäscher so draufhast.«

»Ehrlich?« Adriano strahlt. »Toll! Ich werde Sie nicht enttäuschen, Boss.«

Ach ja? Na, das werden wir ja sehen. Aber ich brauche eh jemanden für die Finanzen, und um ein paar Scheinchen zu waschen, muss man ja nicht latschen können. Vielleicht ist diese Schießbudenfigur echt dafür geeignet.

Wenn Adriano aber versagt, gebe ich seinem Rolli so einen kräftigen Schubs, dass er erst in Padolfi wieder zum Stehen kommt. Soll er dem Capo sein Scheitern erklären. Ich bin dann jedenfalls fein raus, denn ich habe den ja nicht ausgesucht.

»Das Gesundheitsamt hat das Blue Parrot mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden dichtgemacht. Wenn ich rauskomme, will ich, dass der Laden wieder brummt«, befehle ich.

Kakerlaken in der Küche sind etwas, was zuverlässig die Gäste vertreibt. Was recht ärgerlich ist, denn das Blue Parrot