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Manchmal braucht es eine steife Brise, um wieder atmen zu können ... Mit 48 verliert Florentina "Flora" Bruckner auf einen Schlag ihren Job - und ihren Mann gleich mit dazu. Statt sich in Selbstmitleid zu vergraben, packt sie ihre Siebensachen und lässt München hinter sich. Ziel: die windumtoste Insel Texel, wo ihre Jugendfreundin plötzlich wieder in ihrem Leben auftaucht. Zwischen Schafsweiden, salziger Meeresluft und den besten Pfannkuchen nördlich von Amsterdam spürt Flora langsam wieder den Boden unter den Füßen. Doch gerade als sie beginnt, das Leben neu zu umarmen - samt einem charmanten, attraktiven Holländer - meldet sich ihre Vergangenheit mit aller Kraft zurück. Will sie wirklich noch einmal versuchen, ihre Ehe zu retten? Oder liegt ihr Glück vielleicht längst im rauschenden Wellenschlag verborgen? Ein Roman über zweite Chancen, stürmische Gefühle und die leise Kraft des Neuanfangs.
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Seitenzahl: 250
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Guten Morgen, Frau Bruckner. Nehmen Sie Platz. Möchten Sie einen Kaffee?« Mein Chef nickt mir freundlich zu und zeigt auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch steht. »Guten Morgen, Herr Breuer. Danke, ich nehme gerne einen Espresso«, gebe ich lächelnd zurück, als ich mich aufgeregt vor ihn setze. Eilig ruft er seine Sekretärin zu sich und sagt mit einem undurchsichtigen Lächeln: »Bitte zwei Espresso und von den leckeren Keksen, Frau Dreiling!« Keine drei Minuten später stehen der Espresso und die Kekse vor mir auf dem Schreibtisch. Zögerlich nehme ich die Tasse und nehme einen Schluck. Was soll das Ganze hier? Will er mit mir ein Schäferstündchen einläuten? Oder bekomme ich endlich meine schon lange ersehnte Gehaltserhöhung? Noch nie in den fast zwanzig Jahren, in denen ich in dieser Firma arbeite, hat er mir einen Kaffee angeboten. »Traurig genug …«, denke ich nervös und nehme mir einen der Kekse vom Teller. Im selben Augenblick steht mein Chef von seinem Stuhl auf und schaut mich fragend an. »Sie können sich sicher vorstellen, dass ich Sie nicht nur zum Kaffee hierhergebeten habe. Ich möchte sie auch nicht länger auf die Folter spannen. Ähm, es tut mir von Herzen leid, Ihnen sagen zu müssen … Ich meine, wir müssen uns von Ihnen trennen, Frau Bruckner!«
WAS? Moment mal! Was sagt er mir? Hallo! Das kann doch nicht wahr sein! In meinem Kopf explodiert gerade ein Feuerwerk der negativen Gefühle, und der Keks bleibt mir im selben Augenblick im Hals stecken. »Wir müssen uns von Ihnen trennen …«, die Worte treffen mich wie ein unerwarteter Blitz in der Nacht. In meinem Magen zieht sich alles zusammen, und den Espresso, den ich gerade noch genossen habe, möchte ich ihm am liebsten auf sein weißes Hemd kippen. Oh mein Gott! Fast zwanzig Jahre habe ich mir für diese bescheuerte Firma den Allerwertesten aufgerissen, und letztes Jahr wurde mir noch eine Stelle in der Geschäftsführung in Aussicht gestellt, und jetzt? … Alles vorbei! Mir wird speiübel und meine Beine zittern. »Frau Bruckner. Es tut mir wirklich sehr leid, aber unsere Firma muss Einsparungen vornehmen. Es liegt nicht an Ihrer Kompetenz. Natürlich werden wir eine finanzielle Einigung finden, die für beide Seiten annehmbar ist!«, schiebt er mit einem schrägen Lächeln hinterher. Raus! Raus! Ich möchte nur noch hier raus, sonst kotze ich ihm noch auf seinen aufgeräumten Schreibtisch, kommt es mir augenblicklich in den Sinn. Wie in Trance stehe ich auf und gebe ihm die Hand. »Ja, dann … Ich denke, ich bekomme die Kündigung noch offiziell zugeschickt. Auf Wiedersehn, Herr Breuer!«, antworte ich ihm mit dem letzten Rest meiner bröckelnden Würde und eile, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, nach draußen.
Der kalte Wind schlägt mir gnadenlos ins Gesicht, als ich keine fünf Minuten später das Bürogebäude verlasse. Obwohl es schon Ende April ist, stürmt es noch heftig. Normalerweise ist es hier in München schon etwas milder um die Zeit. Verdammt! Jetzt fängt es auch noch an zu nieseln, denke ich wütend, und die Tränen bahnen sich ihren Weg. Ich habe die Nase gestrichen voll, und ich werde bestimmt keinen Fuß mehr in diese schreckliche Firma setzen. »Punkt!«, geht es mir aufgewühlt durch den Kopf, als ich eilig zu meinem Wagen laufe. Ein nagelneuer schwarzer BMW steht dort auf dem Betriebsparkplatz. Was auch sonst, wenn man in München wohnt und bei dem größten Autohersteller der Region in der Verwaltung arbeitet? »Scheißfirma! Scheißkarre!«, kommt es fluchend aus mir heraus, als ich den Wagen starte und in Richtung Bogenhausen lenke. Natürlich haben wir ein Haus im besten Stadtteil von München. Wo auch sonst, denke ich, nachdenklich und verwirrt zugleich. Meine Nachbarin winkt mir von ihrem Penthouse aus zu, und ich sehe, dass sie ihre eh schon voluminösen Lippen erneut hat aufspritzen lassen. Oh mein Gott! Wie ich diese oberflächliche Bussi-Bussi-Gesellschaft eigentlich vom Grund meines Herzens hasse. Wann habe ich mich nur von meinen authentischen Grundsätzen und Werten so entfernt? Andreas ist Flugkapitän bei einer großen deutschen Fluggesellschaft und verdient sehr gut, allerdings ist er auch die Hälfte des Monats unterwegs. Ein hoher Preis, den wir für unser Luxusleben bezahlen. Schon als unsere Tochter noch klein war, kam ich mir eher wie eine alleinerziehende Mutter vor. Allerdings mit Putzfrau und teuren Klunkern um den Hals. Die meiste Zeit war ich allein mit Lena, und wenn er zwischen seinen Langstreckenflügen mal ein, zwei Tage zu Hause war, überschüttete er uns mit Geschenken. Als ich ihm sagte, dass dies nicht alles im Leben sei, wurde er wütend und meinte, ich könnte mir ja einen einfachen Arbeiter suchen, der hätte sicher genug Zeit für uns! Niedergeschlagen öffne ich die Haustür. Der Regen prasselt nun stärker an die große Glasfront unserer Terrasse. Ich schaue in den wundervoll angelegten Garten mit großem Pool und hochmoderner Außenküche. Alles sieht perfekt aus …
Langsam schlurfe ich in die Küche und stelle die Siebträgermaschine an. Vielleicht hilft mir ein starker Kaffee, meine Laune wieder etwas zu verbessern, denke ich müde und stelle die Tasse unter die Maschine. »Du bist entlassen, Florentina Bruckner«, kommt es schluchzend aus mir heraus, und die Tränen bahnen sich ihren Weg. In meinem Kopf fühle ich eine unendliche Leere. Jahrelang habe ich mich hauptsächlich über meinen Beruf definiert. Er war für mich ein Statussymbol, wie alles in meinem Leben … wird es mir augenblicklich bewusst. Seit unsere Tochter vor vier Jahren nach Mailand zum Studieren gezogen ist, wurde mir mein Beruf noch wichtiger. Was sollte ich auch allein zu Hause? Außerdem haben wir einen sehr hohen Lebensstandard, der bezahlt werden will. Allein die Miete unseres Hauses kostet ein Vermögen, und dann noch die teuren Autos, das Studium von Lena in Mailand, unsere Designerklamotten, die vielen gesellschaftlich relevanten Partys, auf die wir häufig eingeladen werden … All das kostet! Oh mein Gott, wie soll das alles bezahlt werden, wenn mein Gehalt wegfällt? Mir wird übel und ich gieße den heißen Kaffee in den Ausguss. Im selben Augenblick höre ich mein Handy klingeln. Kurz überlege ich, ob ich das Gespräch annehme, mir steht absolut nicht der Kopf nach Kommunikation. Noch einmal höre ich den Klingelton. Genervt hole ich das Handy aus der Handtasche und sehe die Nummer meines Ehemanns. »Moment mal, hat er heute nicht seinen freien Tag und wollte schon längst zu Hause sein?«, denke ich beim Blick auf die Uhr. »Hallo, Andreas. Wo bist du?«, frage ich ohne Umschweife, als ich ihn am anderen Ende der Leitung höre. »Gute Frage, Flora! Wo bist du? Ich habe versucht, dich im Büro anzurufen, da wurde mir gesagt, du wärst nach Hause gefahren. Was ist los?« In meinem Magen spüre ich einen zentnerschweren Stein, und meine Stimme zittert, als ich ihm schluchzend antworte: »Ich bin entlassen worden, Andreas!« Gefühlte zehn Minuten später höre ich ihn aufschreien: »Ach du meine Güte!! Was hast du gerade gesagt? Du bist entlassen worden? Das kann doch nicht sein. Ich meine, du warst doch die rechte Hand deines Chefs!« »Ja, das habe ich auch gedacht. Leider ist dem, allem Anschein nach, nicht so. Andreas, ich bin total fertig. Wo bist du? Kannst du nach Hause kommen?«, wimmere ich kläglich und wische mir immer wieder die heißen Tränen von den Wangen. »Ähm, also … Sorry, Flora, ich kann jetzt hier nicht weg. Ich habe noch eine wichtige Besprechung wegen dem Flug nach Singapur übermorgen. Wir sehen uns später, okay?«, höre ich ihn wie durch Watte sagen. »Alles klar, dann bis später …«, antworte ich leise. Müde lasse ich mich auf einen der Küchenstühle sinken. Wieder einmal hat er keine Zeit für mich, wenn ich ihn brauche. Wieder eine Enttäuschung mehr in all den Jahren unserer Ehe, geht es mir resigniert durch den Kopf. Wie oft habe ich schon auf ihn gewartet, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab? Nur, dieses Mal spüre ich nicht nur Enttäuschung, sondern auch Wut! Wut auf mich selbst. Wut, dass ich es zugelassen habe! Wie hat meine frühere beste Freundin Laura immer zu mir gesagt: »Es gibt immer einen, der es macht, und einen, der es mit sich machen lässt …« Wie recht sie doch hatte, wird es mir auf einmal bewusst. Laura van Meeren, meine beste Freundin aus Jugendtagen. Von ihr habe ich schon lange nichts mehr gehört. Wir haben uns leider vor ein paar Jahren in verschiedene Richtungen entwickelt. Sie hat sich nach ihrer Scheidung von einem reichen Münchner Anwalt aus der High Society verabschiedet und einen Holländer geheiratet. Viel mehr weiß ich leider nicht mehr von ihr …
Völlig erschöpft und müde setze ich mich auf die neue Designercouch im Wohnzimmer, die wir uns von meinem Weihnachtsgeld im letzten Jahr gekauft haben. Ein futuristisches Teil, aber bequem ist was anderes, kommt es mir nachdenklich in den Sinn, als ich meine Schuhe neben den Tisch stelle. Wie soll es jetzt nur weitergehen? Ich muss mir so schnell wie möglich einen neuen Job suchen. Allerdings kann ich mir das hohe Gehalt bei einer anderen Firma höchstwahrscheinlich abschminken, denke ich niedergeschlagen. Gähnend ziehe ich mir die Kaschmirdecke über den Kopf und falle keine fünf Minuten später in einen tiefen Schlaf. Als ich wieder aufwache, ist es mittlerweile dunkel geworden, nur der Mond scheint hell durch die Terrassentür. Mein Kopf dröhnt wie in einem Bienenhaus, als ich mich langsam aufsetze und mein Blick auf die Handyuhr fällt. Viertel vor drei! Ach du meine Güte, habe ich so lange geschlafen? Und ist Andreas immer noch nicht da?, denke ich irritiert. Im selben Augenblick höre ich den Schlüssel an der Haustür.
»Was machst du denn noch hier? Hast du auf mich gewartet?« Andreas knipst die hellen Deckenstrahler im Wohnzimmer an und kommt missmutig auf mich zu. Müde und schlaftrunken schaue ich ihn an. »Ähm, nein. Ich bin wohl eingeschlafen. Ist aber auch sehr spät geworden bei dir. Eigentlich wollte ich noch mit dir reden«, antworte ich ihm und blinzele in das grelle Licht der Strahler. Verärgert sieht er zu mir herab und sagt mit einem ironischen Gesichtsausdruck: »Sorry, dass ich wieder einmal später von einer Sitzung gekommen bin. Meinst du, ich mache das nur aus Spaß? Jetzt, wo du keinen Job mehr hast, muss ich ja sehn, dass ich die Kohle verdiene, oder meinst du, das hier bezahlt sich von selbst?!« Rums! Das hat gegessen … Seine Worte hallen laut in meinen Ohren und mein Magen beginnt sich zu drehen. Langsam stehe ich auf. Meine Beine zittern, und ich habe Angst, dass sie mir den Dienst versagen. Jetzt nur nicht schwach machen, Flora! »Lass dich nicht, wie so oft in der Vergangenheit, erniedrigen. Bleib stark!«, geht es mir augenblicklich durch den Kopf, als ich ohne ein Wort zu sagen, an ihm vorbeigehe. »Hallo! Ich denke, du wolltest mit mir reden?!«, ruft er aufgebracht hinter mir her, als ich die Badezimmertür öffne. Noch einmal drehe ich mich zu ihm um und sehe in seine kalten Augen: »Lass mal. Ich denke, wir reden morgen darüber. Gute Nacht.« Leise schließe ich die Tür hinter mir zu.
Jetzt kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Was ist er nur für ein egoistisches Scheusal geworden? Wo ist der aufmerksame, charmante Mann, in den ich mich vor fast fünfundzwanzig Jahren verliebt habe?, schießt es mir im selben Augenblick in den Sinn, als ich schluchzend neben unseren Whirlpool sinke. Ich spüre schon länger, dass sich zwischen uns eine Mauer der Entfremdung aufgebaut hat, aber dass er so gefühllos und kalt sein kann, übersteigt meine Vorstellungskraft! Immer wieder laufen mir die heißen Tränen über die Wangen, und ich schluchze in ein vor mir liegendes Handtuch. »Mensch, Flora! Was muss denn noch passieren, dass du dich von diesem egomanischen Typen endlich verabschiedest? Jetzt hat er doch wieder einmal sein wahres Gesicht gezeigt!«, kommt es mir aufgewühlt in den Sinn. Ja, ja, verdammt! Ich weiß es schon länger, aber wir haben doch eine gemeinsame Vergangenheit, ein tolles Haus, eine wunderbare Tochter. Soll ich das alles aufgeben? Ganz zu schweigen davon, dass ich jetzt arbeitslos bin und obendrein nicht mehr die Jüngste …, höre ich meine eigene Stimme im Kopf lauthals protestieren. Kraftlos ziehe ich meine Kleidung aus und schlurfe zu unserer puristischen Designdusche. Der warme Wasserstrahl tut mir gut, und ich schäume mich von Kopf bis Fuß mit meinem Lieblings-Duschgel ein. Meine dunkelbraunen Locken binde ich zu einem losen Knoten auf dem Kopf zusammen. Schließlich ist es schon fast halb vier am frühen Morgen, und meine Haare möchte ich mir nun nicht mehr föhnen. Eilig trockne ich mich ab und schlüpfe in meinen champagnerfarbenen Pyjama. »Den hatte mir Andreas noch im Frühjahr aus Thailand mitgebracht …«, denke ich schon fast wieder wehmütig. Noch schnell die Zähne putzen, dann öffne ich vorsichtig die Badezimmertür. Alles liegt im Dunkeln, nur der Vollmond strahlt noch friedlich in unser Wohnzimmer. Kurz kommt es mir in den Sinn, dass es vielleicht besser ist, wenn ich auf der Couch schlafe. Ich verwerfe den Gedanken aber sofort wieder. Andreas hat sich sicherlich in unserem zweiten Badezimmer geduscht und liegt schon im Bett, denke ich unsicher und schleiche mich leise ins Schlafzimmer. Vorsichtig lege ich mich auf meine Seite. Ich schlafe immer auf der rechten Hälfte des Bettes, worüber sich Andreas seit jeher lustig macht, wie über so viele andere Dinge, über die er sich auf meine Kosten köstlich amüsieren kann. Kein Lichtstrahl kommt durch die tiefen Fenster. Es ist stockdunkel, so wie es mein Ehemann bevorzugt. Obwohl ich es lieber mag, wenn es im Schlafzimmer etwas heller ist, habe ich mich auch da ganz nach Andreas Vorlieben gerichtet. Augenblicklich spüre ich wieder die Tränen in mir aufsteigen vor Wut und Enttäuschung. Schnell ziehe ich mir die Bettdecke über den Kopf. »Bitte, jetzt nur nicht wieder weinen!«, denke ich verzweifelt und halte mir die Hände vors Gesicht. Einatmen, ausatmen, ganz ruhig, Flora, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Etwas verwundert höre ich in die Stille. Kein Atemzug, kein leichtes Schnarchen, rein gar nichts kommt von seiner Bettseite. Merkwürdig! Ist er überhaupt da? Vorsichtig setze ich mich auf und knipse das kleine Nachtlicht neben meinem Bett an … Andreas ist weg!
Irritiert schaue ich zur Seite. Die Bettdecke scheint unbenutzt. Oh mein Gott! Er muss wohl direkt wieder gefahren sein, nachdem ich ins Badezimmer gegangen bin. »So ein egoistischer Idiot!«, entfährt es mir vor Wut und Enttäuschung, und die Tränen bahnen sich ihren Weg. An Schlafen ist nun nicht mehr zu denken, und ich schlurfe kraftlos in die Küche. Noch immer verwirrt, stelle ich den Wasserkocher an und hole einen Kamillenteebeutel aus dem Schrank. Mein geliebter Kaffee muss jetzt nicht sein, schließlich bin ich schon aufgewühlt genug. In meinem Kopf schießen die Gedanken wie Blitze hin und her. Wo ist er nur hingefahren, mitten in der Nacht? Vielleicht hat er sich in einem Hotel eingebucht oder schläft im Auto? In all unseren gemeinsamen Jahren hat er schon oft an verschiedenen Orten geschlafen, aber ich wusste immer, wo er ist … Oder dachte ich nur zu wissen, wo er war, kommt es mir plötzlich in den Sinn. In meinem Magen grummelt es fürchterlich, als ich den ersten Schluck des heißen Kamillentees widerwillig trinke. Eigentlich liebe ich Tee, besonders in den Herbst- und Wintermonaten. Allerdings muss es kein Kamillentee sein … Ihn trinke ich nur, wenn es mir echt beschissen geht, und jetzt geht es mir total beschissen!
Mein Handy? Wo liegt mein Handy? Aufgeregt schaue ich mich um. Es liegt neben meinem Bett im Schlafzimmer. Eilig schaue ich auf das Display. Zwei Nachrichten! Vielleicht ist eine von Andreas? Vielleicht entschuldigt er sich für sein unmögliches Verhalten, geht es mir nervös durch den Kopf, als ich die WhatsApp öffne. Es ist eine Nachricht von meiner Tochter: »Hallo, Mama. Wir sind gerade in einer supercoolen Location in Mailand. Schick dir ein dickes Bussi, deine Lena.« Enttäuscht lege ich das Handy zur Seite. Natürlich freue ich mich immer über eine Nachricht meiner Tochter, aber in diesem Moment hatte ich gehofft, dass Andreas ein Lebenszeichen geschickt hätte. Noch einmal nehme ich einen großen Schluck meines Kamillentees und schaue durch die Terrassentür nach draußen. Es wird langsam hell und die Vögel in den Bäumen unseres Gartens fangen an zu zwitschern. Noch einmal schaue ich auf mein Handy. Fünf Uhr. Noch immer keine Nachricht von ihm.
Puh! Ich muss wohl noch einmal auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen sein, die halb leere Tasse Tee steht noch vor mir auf dem Tisch. »Hallo, Flora? Was ist denn heute Nacht passiert?«, kommt es mir verwirrt in den Sinn. Augenblicklich wird mir klar, dass Andreas sich, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Staub gemacht hat. Verdammt … und arbeitslos bin ich auch noch! Was ist nur mit meinem Leben los? Gestern war ich noch die in ihrem Beruf höchst erfolgreiche, von ihrem Mann geliebte Ehefrau! Und heute ist plötzlich alles anders …
Langsam trotte ich zur Terrassentür und öffne sie vorsichtig. Die frische Frühjahrsluft strömt mir entgegen, und der zarte Geruch meiner vor zwei Wochen gepflanzten Rosensträucher zieht in meine Nase. Tief atme ich den herrlichen Duft ein und ich spüre die sanften Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Für einen Moment ist alles gut und ich genieße den Augenblick … In diesem Moment werde ich jäh durch das Klingeln meines Handys in die Realität zurückgeholt. Eilig nehme ich es vom Couchtisch und schaue auf das Display. Andreas! In meinem Kopf braut sich ein Gewitter zusammen, und mein Mund fühlt sich trocken und schal an. Mit zittriger Stimme nehme ich das Gespräch entgegen. »Guten Morgen, Flora. Ähm. Ich glaube, wir müssen reden. Bist du zu Hause?«, höre ich ihn nervös fragen. Wir müssen reden?! »Äh, okay. Ich denke auch, dass wir einiges zu besprechen haben, Andreas. Ich bin zu Hause. Wie du dir denken kannst, bin ich heute nicht ins Büro gefahren. Wann kommst du?«, gebe ich ihm aufgewühlt zurück. »Gegen dreizehn Uhr. Okay, bis gleich …«, antwortet er knapp, und dann ist er auch schon weg.
Oh mein Gott! Im Büro habe ich mich auch noch nicht abgemeldet! Am liebsten würde ich überhaupt keinen Fuß mehr in diese beschissene Firma setzen. Sollen sie doch ihren Kram allein regeln, denke ich wütend, als ich die Nummer meines Chefs im Handy eingebe. »Guten Morgen, Herr Breuer, Florentina Bruckner. Ich möchte mich für die nächsten Tage krankmelden. Ihnen noch einen schönen Tag!«, sage ich aufgeregt, und meine Stimme klingt brüchig, als sich mein Chef meldet. Sofort höre ich ihn aufgebracht antworten: »Guten Morgen, Frau Bruckner. Äh, Sie wissen, dass wir so schnell keinen Ersatz für Sie finden. Wir sind mitten in einem neuen Projekt. Also, natürlich wünsche ich Ihnen schnelle Genesung. Bis dahin, alles Gute. Melden Sie sich wieder, damit wir planen können!« »Danke, ich melde mich. Auf Wiederhören, Herr Breuer! «, kann ich gerade noch sagen. Rums! Bis gestern hatte ich ein gutes Verhältnis zu meinem Chef, dachte ich zumindest. »Was für ein arroganter Schnösel, dieser Breuer!«, geht es mir jetzt enttäuscht durch den Kopf. Natürlich denkt er nur an die Firma. Die Mitarbeiter sind nur Mittel zum Zweck für ihn. Mensch Flora, hast du all die Jahre nicht gemerkt, dass du nur eine von vielen in dieser Firma bist? Austauschbar wie ein Stück Dreck! Langsam lasse ich mich auf die Couch sinken. Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich schluchze verzweifelt in meinen Seidenpyjama. Erneut höre ich wie durch Watte mein Handy klingeln … »Verdammt! Lasst mich doch alle in Ruhe!«, schreie ich meine Wut heraus und würdige mein Handy keines Blickes. Nach gefühlt einer halben Stunde, in der ich mich meinem Schmerz hingebe und immer wieder die heißen Tränen über meine Wangen rollen, stehe ich endlich auf und trotte ins Badezimmer. »Ach du meine Güte! Wie sehe ich den aus?«, stoße ich erschrocken hervor, als ich mich im Spiegel sehe. Meine Augen sind rot unterlaufen und die Lider dick angeschwollen. Ist ja auch kein Wunder, wenn man sich die halbe Nacht die Augen aus dem Kopf heult, denke ich traurig und schlurfe unter die Dusche. Das kühle Wasser tut mir gut, und den gut riechenden Badeschaum, den mir Lena bei ihrem letzten Besuch aus Mailand mitgebracht hat, spüre ich sanft auf meiner Haut. Langsam streiche ich über meine Arme und Brüste. »Wann hatten wir überhaupt das letzte Mal Sex? Das muss irgendwann vor einem Jahr im Sommerurlaub in Nizza gewesen sein. Ist das tatsächlich schon so lange her?«, kommt es mir entsetzt in den Sinn. Niedergeschlagen nehme ich ein Badetuch aus dem Regal und trockne mich eilig ab. Andreas wird gleich hier sein, und ich möchte ihm ungern nackt gegenübertreten. Schnell ziehe ich meine weißen Jeans und mein hellblaues Shirt über. Das lässt mich wenigstens etwas positiver erscheinen. Schließlich möchte ich ihm auf keinen Fall zeigen, wie beschissen ich mich fühle. Noch etwas Mascara und Rouge auf die Lippen und Wangen, und ich sehe wieder einigermaßen annehmbar aus. Meine braunen Locken fallen mir locker über die Schultern. Im selben Augenblick höre ich die Haustür ins Schloss fallen.
»Hallo, Flora, bist du hier?!«, höre ich Andreas rufen. »Ja, ich komme!«, gebe ich eilig zurück. Noch ein letzter Blick in den Spiegel, dann trete ich ihm im Wohnzimmer gegenüber. Sein Blick wirkt fahrig, als er mich mit einem gehauchten Kuss auf die Wange begrüßt. »Willst du einen Kaffee?«, frage ich ihn mit einem schiefen Lächeln und versuche, so unbekümmert wie möglich zu klingen. »Ja, danke«, gibt er kurz zurück und setzt sich auf die Couch. Eilig laufe ich in die Küche und schütte frische Espressobohnen in unsere neue Siebträgermaschine, die wir uns im letzten Urlaub in Italien gekauft haben. In meinem Magen rumort es fürchterlich und meine Hände zittern, als ich die Tassen aus dem Schrank hole. Mensch, Flora, jetzt reiß dich zusammen! Das Gespräch mit Andreas ist doch schon längst überfällig. Es läuft doch schon lange nicht mehr rund. Es wird Zeit, dass ihr endlich mal darüber redet, was alles schief läuft …, höre ich meine innere Stimme mahnen. Rasch stelle ich die Tassen unter die Maschine, und der heiße Espresso läuft sattbraun hinein. Keine zwei Minuten später sitze ich neben ihm auf der Couch und stelle die Tassen vor uns auf den Tisch. »Danke. Die Maschine war wirklich ihr Geld wert«, sagt er angespannt und nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse. Unsicher schaue ich ihn an und nippe nervös an meinem Espresso. »Tja, Flora. Das war gestern ein echter Schlag. Eine Entlassung ist immer beschissen, und das nach all den Jahren. Es tut mir absolut leid für dich, das musst du mir glauben. Ich weiß ja, wie sehr du dich für die Firma eingesetzt hast«, sagt er zögerlich und schaut mit einem undurchsichtigen Blick zu mir rüber. »Ja, das war echt mehr als beschissen, Andreas. Ich werde mir wohl eine neue Arbeit suchen müssen«, antworte ich leise und nippe noch einmal an meinem Espresso. »Das denke ich auch, Flora, und zwar so schnell wie möglich. Du weißt ja, was wir für monatliche Kosten haben«, gibt er sofort kopfnickend zurück. Was für ein gefühlloser Idiot! Denkt natürlich nur an unsere Kosten! Kein tröstendes Wort, geschweige denn eine Umarmung kommt von ihm. Plötzlich spüre ich, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Nur nicht wieder weinen, Flora! Du musst jetzt stark bleiben, kommt es mir sofort in den Sinn, als ich den Kloß im Hals spüre. Im selben Augenblick steht er abrupt auf und läuft nervös vor mir auf und ab. »Ähm, also Flora. Wir müssen reden. Ich, ich … ach, verdammt! Du merkst doch auch schon länger, dass bei uns was absolut schiefläuft, oder? Wann hatten wir das letzte Mal Sex? Vor einem Jahr, oder wann?!«, wirft er mir lautstark vor, und seine Augen funkeln wütend, als er aufgebracht den letzten Schluck aus seiner Tasse nimmt. Was wirft er mir jetzt vor? Dass wir keinen Sex haben? Das ist ja eine bodenlose Gemeinheit! Wer ist denn immer zu müde und sucht ständig Ausflüchte? Wut und Enttäuschung steigen in mir auf, als ich unter Tränen schluchzend zurückgebe: »Ah, so ist das also? Du willst die Schuld an unserer entgleisten Beziehung mir in die Schuhe schieben? Sorry, Andreas, dass kannst du dir sparen! Es gehören immer zwei dazu. Leider hast du das letzte Jahr auch nicht gerade viel für unsere Beziehung getan!« »Okay, Flora! Dann lag es an uns beiden. Wenn du damit besser leben kannst. Ich kann und will aber nicht mehr so weiterleben. Dafür bin ich noch zu jung, und du im Übrigen auch. Lass uns bitte nicht auf diesem Niveau weiterreden. Ich möchte, dass wir wie vernünftige Erwachsene miteinander umgehen und eine Lösung finden. Ich denke, es ist besser, wenn wir uns klar darüber werden, ob es mit uns noch Sinn macht. Ich für meinen Teil brauche erst einmal Abstand!«
Rums! Abstand?! Was soll das denn heißen? In meinem Kopf explodieren gerade alle Synapsen auf einmal und meine Stimme versagt. Verzweifelt wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, als ich im selben Moment seine Hand auf meiner Schulter spüre: »Bitte, Flora, lass uns in Ruhe reden. Ich möchte, dass wir uns im Guten trennen«, höre ich wie durch Watte seine Stimme. Im Guten trennen?!, hallt es in meinem Kopf, und ich fühle, wie ich nur noch Kälte spüre, für den Mann, den ich einmal über alles geliebt habe. Mit dem letzten Rest meiner Selbstachtung wische ich seine Hand von meiner Schulter und antworte bitter: »Wenn du dich dazu entschieden hast, und ich denke, das hast du schon seit Längerem, will ich deinem weiteren Glück nicht im Wege stehen.«
Vor fünf Minuten ist Andreas gefahren. Noch immer sitze ich wie in Trance auf der Couch und kann keinen klaren Gedanken fassen. Andreas will sich von mir trennen … Von heute auf morgen ist mein komplettes Leben zerstört! Das kann doch nicht wirklich wahr sein. Womit habe ich das nur verdient? Oder habe ich die Zeichen des Lebens ignoriert? Natürlich habe ich schon länger gemerkt, dass es zwischen uns nicht mehr so ist wie früher. Aber das ist doch in jeder Beziehung irgendwann einmal der Fall, oder? Die rosarote Brille haben wir schon seit Jahren nicht mehr auf und jeder machte sein Ding. Nur, muss man sich deshalb gleich trennen? Oh mein Gott! Wie wird Lena darauf reagieren? Fragen über Fragen, die sich in meinem Kopf zu einem Riesenberg türmen und auf die ich keine Antworten finde.
Langsam schlurfe ich auf die Terrasse, wo die Vögel, wie jeden Tag im Frühjahr, fröhlich zwitschernd ihre Kreise über unserem Haus ziehen. Alles wie immer … und doch ganz anders, kommt es mir bitter in den Sinn, als ich mir verzweifelt die Tränen mit einem Taschentuch wegwische. Das Handyklingeln holt mich aus meinen Gedanken und ich laufe rasch zurück ins Wohnzimmer. Als ich es gerade vom Tisch aufnehmen will, verstummt es und eine unbekannte niederländische Nummer wird mir angezeigt. Sorry, aber heute habe ich absolut keine Nerven mehr, um mit wildfremden Menschen zu telefonieren, geht es mir augenblicklich durch den Kopf. Nachdenklich schaue ich nach draußen auf unsere wunderschöne Terrasse. Wird ER das Haus behalten wollen? Ich kann mir die horrende Miete auf jeden Fall nicht erlauben, auch wenn ich wieder einen einigermaßen passablen Job finde. Und für ihn allein ist das Haus auch viel zu groß! Wehmütig schaue ich das Foto von uns beiden auf dem alten Sekretär an. Unser erster Urlaub in Frankreich. Wie jung wir beide waren, lachend schmiege ich mich an Andreas … »Alles vorbei, Flora!«, höre ich die innere Stimme zynisch in meinem Kopf, und mein Magen dreht sich im selben Moment auf links. Wütend auf ihn und enttäuscht von mir selbst, werfe ich das Bild mit einem lauten Knall verbittert in den Mülleimer in der Küche. Verzweifelt sinke ich auf den Esszimmerstuhl und schluchze unter Tränen in meine Hände: »Verdammt, Flora! Du hast dir all die Jahre selbst etwas vorgemacht. Dein Traum ist geplatzt …« Wie soll ich meinen Eltern unsere Trennung und meine Entlassung nur erklären? Sie waren so stolz auf mich! In ihren Augen war Andreas der perfekte Ehemann. Gut aussehend, erfolgreich und ein liebevoller Vater für unsere Tochter. Wenn ich das ein oder andere Mal mit meiner Mutter über unsere ach so tolle Beziehung reden wollte, wiegelte sie sofort ab und sagte: »Florentina, du kannst dich glücklich schätzen! Viele andere Frauen würden sofort liebend gerne mit dir tauschen. Andreas ist einfach großartig. In jeder Ehe gibt es Schwierigkeiten, du musst dich ihm halt etwas anpassen!« Oh ja! Anpassen! Das habe ich lange genug gemacht. Nein, ich habe keine Lust mehr, mich zu verbiegen, kommt es mir wütend in den Kopf, und mein Blutdruck schießt gefühlt ins Unermessliche, bei dem Gedanken an die vielen faulen Kompromisse in unserer Beziehung. Meine Eltern wollten natürlich immer nur das Beste für mich. Andreas war wie ihr eigener Sohn, den sie nie bekommen haben, und schon oft beschlich mich das Gefühl, dass sie ihm mehr Zuneigung zeigten als mir, ihrer eigenen Tochter … Dass ich jetzt auch noch meinen gut bezahlten und angesehenen Job verloren habe, macht das Ganze noch schwieriger. Besonders meiner Mutter war und ist es immer sehr wichtig gewesen, dass ihre Tochter eine gute Ausbildung vorweisen kann, um nicht zuletzt in ihrem Bekanntenkreis damit zu prahlen. Ich liebe meine Eltern, aber ihr oft überhöhtes Geltungsbedürfnis, in der Münchner Hautevolée anerkannt zu werden, war für mich oft nicht zu ertragen. Schon in der Schule musste ich mich mit Kindern aus sogenannten »besseren Kreisen« verabreden. Meine damals beste Freundin Laura kam aus einfachen Verhältnissen und war meiner Mutter immer ein Dorn im Auge. Trotz der schwierigen Umstände studierte Laura Kunstgeschichte und machte ihren Bachelor of Art. Danach heiratete sie besagten Anwalt, von dem sie mittlerweile geschieden ist … Wieder muss ich an meine Freundin aus Jugendtagen denken. Ich hoffe, dass wenigstens sie ihr Glück gefunden hat.
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