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"Man braucht im Leben nichts zu fürchten, man muss nur alles verstehen." Das sagte einst die Forscherin Marie Curie, deren entdeckten Elemente strahlten – und nicht nur die. Selbst am Ende ihrer jahrelangen Forschung hatte sie die schädlichen Auswirkungen von Strahlungen nicht vollständig verstanden - ihre Aufzeichnungen sind bis heute strahlenbelastet. Im Jahr 1934 starb sie an den Folgen einer strahleninduzierten Erkrankung des Knochenmarks. Ionisierende Strahlung können zu Veränderungen im Erbgut von Zellen führen. Sind Keimzellen betroffen, können die Schäden auch an die nächste Generation weitergegeben werden. Heute ist also klar, dass äußerste Vorsicht bei dem Umgang mit Strahlung geboten ist. Nicht so genau nahm es der Professor Rosenbohm, der als Mediziner in den Bereichen Humangenetik und Nuklearmedizin mit seiner neu erforschten Bestrahlungstechnik ein neues Kapitel aufschlagen wollte. Das bei der Forschungsarbeit neue Wege beschritten und dabei die Ergebnisse nicht immer von Anfang an erfolgreich waren, kümmerte nicht weiter. Das letztendlich das auf Kosten der Umwelt passierte, wurde anfänglich von den meisten Mitarbeitern ignoriert. Die ionisierende Strahlung und die damit verbundene Gefahr der genetischen Veränderungen von Menschen und Tieren sind aber real – oder nicht? Da kommt einiges zusammen! In diesem Zusammenhang herrscht ein eklatanter Informationsmangel gegenüber einer gesellschaftlich hoch relevanten Technologie. Fiktion oder Wirklichkeit – das ist hier die Frage!
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wolfgang Schröder
Tote Fische schweigen nicht
Selbstverlag
Wolfgang Schröder
Tote Fische
schweigen nicht
Kriminalgeschichte
Neele: „Warum kriegt man immer Ratschläge von jemand, der selbst keine annimmt?“
Selbstverlag
Meiner Familie sei Dank
Claudia – Pia – Lukas – Simon
1
Die Luft lag schwer über Berlin. Schon zu Jahresbeginn teilten die Wetterfrösche mit, dass dieses Jahr ein ganz besonderes Jahr werden könnte. Wetterkapriolen ließen eine ordentliche Vorhersage gar nicht zu, sodass das Leben unter freiem Himmel vielerorts von Improvisationen gekennzeichnet war.
Heute war wieder so ein Tag.
Schwülwarmes Juliwetter am Morgen ließ nichts Gutes hoffen. Erste dunkle Wolken formierten sich zu einer immer stärker werdenden schwarzen Wand, die unheilvoll von Südwest aufstieg. Subtropisches Wetter war zu dieser Jahreszeit nichts Außergewöhnliches, aber dieses Wetter hielt sich schon beharrlich einige Wochen und ließ die Menschen stöhnen.
Die Trauergemeinde, die Abschied nehmen wollte, wuchs stetig an. Obwohl noch eine gute Stunde Zeit war, füllte sich der Parkplatz am Südstern mehr und mehr. Autos mit fremden Kennzeichen ließen nur den einen Schluss zu, dass Gretchen eine ganz besondere Frau war. Dicht an dicht drängten sich die Autos nebeneinander und ließen bei den Aussteigenden den Gedanken aufkommen, dass sie diesen Tag so schnell nicht vergessen werden.
Von allen Seiten strömten die Verwandten, Freunde und Bekannten in die Kirche, um Abschied zu nehmen. Einige von ihnen gingen gemächlich und ohne Hast vorbei an Bekannten und Unbekannten. Die Grabanlage mit freistehendem Kenotaph eines berühmten Zeitgenossen war für die Vorbeischlendernden ebenso wenig interessant wie die einfach gestaltete Ruhestätte einer Selbstmörderin.
Die Gedanken der Trauernden waren bei Gretchen Schellenberg. Eine tapfere Frau, die bis zum Schluss an ihre baldige Genesung geglaubt hatte. Die Ursache ihres Ablebens sollte aber erst viel später aufgedeckt werden und Licht in das Dunkel ihrer Lebensumstände bringen.
Klaus Schellenberg und sein Sohn Maximilian saßen in der Kirche gleich vorne in der ersten Reihe, eingerahmt von den nächsten Verwandten. In sich gekehrt und seltsam abwesend ließ sich Klaus Schellenberg die letzten Tage noch einmal durch den Kopf gehen. Wie schnell doch alles gegangen war. Nicht das er nicht gemerkt hatte, dass es seiner Frau immer schlechter ging, so hatte er doch gehofft, die Ärzte im Krankenhaus hätten alles unter Kontrolle. Aber auch sie standen vor einem Rätsel und hatten alles versucht, Gretchen Schellenberg zu stabilisieren. Die Ärzte im Krankenhaus kannten Frau Schellenberg und ihre Krankenakte nur zu gut. Dreimal in ihrem Leben musste sie sich in die Hände von Prof. Rosenbohm und sein Team begeben. Vor etwa zwei Jahren musste bei Frau Schellenberg ein neues Hüftgelenk eingesetzt werden. Diese Operation war ein voller Erfolg und für sie ein Segen. Auch die zweite Hüft-OP steckte Gretchen ohne große Probleme weg. In den folgenden Monaten jedoch wurde ihr Allgemeinbefinden zusehends schlechter. Sie schob diese gesundheitlichen Schwankungen auf ihr Älterwerden. Mit achtundfünfzig Jahren hatte sie allerdings nicht vor, sich diesen Launen ihres Körpers kampflos zu ergeben.
Der Hausarzt Dr. Hartmann stellte dann irgendwann fest, dass die Blutwerte nicht in Ordnung waren und das Herz nicht rhythmisch schlug. Zum dritten Mal waren die Fachleute im Krankenhaus gefragt, denn Gretchen Schellenberg hatte zu Prof. Rosenbohm großes Vertrauen. Die eingehenden Untersuchungen bestätigten die Diagnose vom Hausarzt: Herzrhythmusstörungen.
Über die Blutbildveränderungen konnte abschließend noch nichts gesagt werden. Auf Anraten des Professors wurde Gretchen Schellenberg erneut operiert und ein Herzschrittmacher eingesetzt. Ein Routine-Eingriff, wie es hieß.
Das war vor genau zwei Monaten. Am 20. Juli starb Gretchen Schellenberg an einem akuten Herz-, Kreislaufversagen, obwohl sie die OP gut verkraftet hatte und schon wieder voller Lebensmut und Tatendrang war.
Klaus Schellenberg hatte seine Frau im Hausflur gefunden, als er von der Arbeit kam. Noch einmal durchlebte er diese schrecklichen Stunden und Tage, in denen er und sein Sohn Max von dem schrecklichen Ereignis überrollt wurden.
Ihm kam die Anzeige in der Tageszeitung wieder in den Sinn, die er für seine Frau ausgesucht hatte. Er konnte den Vers auswendig und sagte ihn ganz leise vor sich hin:
Es weht der Wind ein Blatt vom Baum,
von vielen Blättern eines.
Das eine Blatt, man merkt es kaum,
denn eines ist ja keines.
Doch dieses eine Blatt allein,
war ein Teil von unserem Leben.
Erscheint uns dieses Blatt auch klein,
es wird kein gleiches geben.
Jäh wurde er aus den Gedanken gerissen, als die Orgelmusik einsetzte und den Beginn der Trauerfeier ankündigte. Fast zeitgleich entlud sich draußen zum ersten Mal das schon angekündigte Gewitter mit einem nahen Blitzschlag.
Die Trauerfeier verlief ganz im Sinne von Klaus und seinem Sohn – und auch im Sinne von Gretchen, so hofften beide zumindest. Das Wetter hatte sich wieder beruhigt und die Trauergäste konnten Gretchen zur Grabstätte begleiten.
Das anschließende Beisammensein der Verwandten und Bekannten fand bei den Schellenbergs zuhause statt. Die Haushaltshilfe hatte schon die nötigen Vorbereitungen getroffen, den Kaffee gekocht und den Kuchen angeschnitten.
„Wenn ich sie nicht hätte,“ sagte Klaus Schellenberg und umarmte die treue Seele des Hauses. Schon viele Jahre kam Frau Lambrecht, die um die Ecke wohnte, vorbei und unterstützte die Familie, wo sie nur konnte.
Laut wurde es im Haus und auch im Garten, denn das Wetter hatte sich insoweit gebessert, dass man auch draußen sitzen konnte. Man stand oder saß in kleinen Grüppchen beieinander und sprach von vergangenen Zeiten, die man mehr oder weniger intensiv mit Gretchen verbracht hatte.
„Du, Klaus – wie konnte das nur passieren?“ fragte sein Schwager, der sich gerade von einer kleinen Gruppe, die im Garten stand, löste und auf Klaus zuging.
„Wir sind alle total sprachlos und selbst die Ärzte im Krankenhaus wissen nicht wie das passieren konnte.“
Gretchens Bruder war beruflich viel im Ausland unterwegs und hatte wenig Gelegenheit, sich regelmäßig daheim um seine Verwandtschaft zu kümmern. Aber er war über den Gesundheitszustand seiner Schwester jeder Zeit gut informiert.
„Es wurde wirklich alles getan, aber der Gesundheitszustand von Gretchen wurde immer instabiler.“ sagte Klaus - „Das Herz spielte nicht mehr mit und auch die Blutwerte wurden immer schlechter. Das Immunsystem war komplett geschwächt und es traten zum Ende hin immer intensivere Schmerzen auf. Und das verstanden die Ärzte auch nicht und waren ziemlich ratlos. Irgendetwas war im Körper, was Gretchens Gesundheit zu stark zu schaffen machte. Aber was?“
„Hast du denn noch mal mit dem Professor über Gretchen gesprochen? Vielleicht gibt es noch irgendeinen Hinweis auf die Verschlechterung ihres Zustandes “, vermutete sein Schwager
„Ich habe nächste Woche einen Termin bei Prof. Rosenbohm im Krankenhaus. Ich hatte um diesen Termin gebeten. Er will mir noch einmal in aller Ruhe erklären, wie sich alles verhält. Ich hoffe, ich komme aus diesem Gespräch heraus mit der Überzeugung, dass wir wirklich alles getan haben,“ zweifelte Klaus so vor sich hin.
„Wie war das damals mit den beiden Hüftoperationen verlaufen,“ hakte sein Schwager nach - „die hatte Gretchen doch super weggesteckt und das auch ohne Komplikationen. Sie hatte seit ihrer frühesten Jugend immer eine eiserne Konstitution gehabt und war nie krank gewesen.“
„Die erste OP an der Hüfte hatte sie so gut verkraftet, dass selbst der Professor nicht glauben konnte, dass sie schon nach einer Woche nach Hause wollte und voller Lebenslust und Tatendrang war. Auch die zweite Hüft-OP war für Gretchen kein Problem.
In der Folgezeit baute Gretchen aber zusehends ab. Erst jetzt nach ihrem Tod fiel mir auf, dass sie schon länger nicht mehr so belastbar gewesen war. Irgendetwas bremste ihren Lebensmut von Tag zu Tag. Die dritte OP wurde notwendig, weil ihr Hausarzt bei einem Routine Check Herzrhythmusstörungen feststellte und der Professor im Krankenhaus ihr den Herzschrittmacher als nötigen Eingriff empfahl. Nun dachten wir, dass Gretchens Unwohlsein von dieser Herzrhythmusstörung herrührte und alles nach dieser OP wieder ins rechte Lot kommen würde. Zuerst sah es auch danach aus. Aber …“ Klaus war den Tränen nahe und war froh, dass sein Sohn Max zu ihnen kam und sie auf andere Gedanken brachte.
Die Zeit war wie im Flug vergangen und einige Gäste hatten das Bedürfnis, sich auf den Weg nach Hause zu begeben.
„Du musst dich eben von ein paar Gästen verabschieden, die jetzt gehen wollen“, sagte Max und schob seinen Vater ins Haus.
„Was macht die Kunst, Max?“ fragte sein Onkel - „wir haben uns ja lange nicht gesehen.“
„Ach, ich studiere immer noch Biologie und hoffe bald mal fertig zu werden,“ erwiderte Max. „In zwei Wochen muss ich ein letztes Mal zu unserem Projekt in die Alpen und hoffe dann endlich, mit dieser Langzeitstudie und den gewonnenen Daten meine Diplomarbeit zusammen zu basteln. Aber bis dahin wird wohl noch einige Zeit vergehen. Im Moment kann ich mich auch auf gar nichts konzentrieren. Alles ist so anders.“
„Das Studium scheint sehr interessant zu sein,“ erwiderte Max Onkel – welches Projekt begleitest du denn dort in den Alpen?“
„Das Projekt erforscht die Klimaveränderungen und Umweltbelastungen in den Alpen und untersucht die Folgen für die Tierwelt – unsere Projektgruppe ist an einem Hochgebirgssee und untersucht das Verhalten von Fischen,“ erklärte Max.
„Vielleicht kannst du mal einige leckere Fische mitbringen, wenn euer Projekt zu Ende geht?“ flachste sein Onkel.
„Das wird schlecht möglich sein, denn an diesem Projekt werden sich noch einige Studenten vergnügen müssen,“ sagte Max und begleitete seinen Onkel ins Haus.
Es machte sich eine gewisse Aufbruchstimmung breit und viele verabschiedeten sich mit tröstenden Worten und der Bitte, sich zu melden, wenn die Sorgen und Nöte zu groß werden. Einige Verwandte blieben noch und kamen der Bitte von Klaus nach, Max und ihn noch einmal zum Südstern zu begleiten.
2
In der Meisenstr.10 in Dahlem saß Prof. Rosenbohm an seinem Schreibtisch und machte sich noch einige Notizen für den morgigen Vorlesungstag. Zweimal in der Woche war der Professor noch für die Studenten zuständig. Trotz der enormen OP-Belastung im Krankenhaus hatte er das Bedürfnis, den Studenten Neues von seinen beiden Spezialgebieten mitzuteilen: Medizinische Genetik/Humangenetik und Nuklearmedizin.
Edith kam in das Arbeitszimmer und brachte ihm noch einen starken Kaffee, so wie er es mochte und eine Kleinigkeit zu essen.
„Du, stell dir vor,“ sagte seine Frau - „deine Tochter Neele kommt gleich nach Hause und hat ein paar Neuigkeiten für dich. Bitte hab ein bisschen Zeit für sie und hör zu, was sie dir zu sagen hat.“
„Wieso so geheimnisvoll,“ erwiderte Heinrich Rosenbohm,“du kannst es mir doch schon einmal verraten. Zumindest kannst du eine kleine Andeutung machen.“
„Nichts da, das soll sie dir lieber selber sagen, aber es wird dich sicher freuen.“
Neele war noch im Fitness-Center und hatte es sich gut gehen lassen. Nach dem intensiven Lernen fürs Abitur hatte sie sich eine 10er-Karte gegönnt und nun regelmäßig etwas für ihren Körper getan.
Mit ihrer Freundin Pia nutzte sie das volle Programm und war jetzt in der Sauna gelandet. Die Sauna war nur etwa zur Hälfte belegt, sodass sie sich ganz entspannt auf einer der Holzpritschen ausbreiten konnten.
„Was meinst du, ob sich unsere Väter heute Abend wohl freuen werden, wenn wir ihnen unsere frohe Botschaft überbringen?“ fragte Pia ihre Freundin.
„Ich glaube schon,“ sagte Neele, „obwohl mein Vater lieber gesehen hätte, dass ich Medizin studiere so wie du, aber ich glaube mir macht das Biologiestudium mehr Spaß. Zumindest das Praktikum während der Schulzeit war sehr interessant und hat mein Interesse auf diesem Gebiet irgendwie geweckt. Na ja, und die Noten waren auch nicht so schlecht, oder?“
„Du warst im Notendurchschnitt sogar noch besser als ich und ich kann von Glück sagen, dass ich sofort einen Studienplatz bekommen habe. Auch das wir hier in Berlin bleiben können und uns nicht aus den Augen verlieren finde ich super.“
„Das finde ich auch, „sagte Neele - „vielleicht finden wir auch mit etwas Glück ein Zimmer in einem Studenten-Wohnheim oder sogar eine eigene kleine Bude. Aber bis dahin werden wohl noch einige Gespräche mit unseren Eltern laufen.“ „Zuerst müssen sie erfahren, dass wir einen Studienplatz ergattert haben,“ sagte Pia - „und das müssen sie erst mal verarbeiten. Vielleicht fallen sie ja aus allen Wolken, wenn sie merken, dass wir nun endlich erwachsen geworden sind und unsere eigenen Wege gehen wollen.“
Neele und Pia mussten lachen, sie hätten gerne schon in die Gesichter ihrer Eltern gesehen.
3
In der Pathologie des Beste-Krankenhauses war an Feierabend nicht zu denken, denn es gab alle Hände voll zu tun. Es starben zu viele Menschen unterschiedlichen Alters, die dann bei Dr. Jens Meyenburg und seinem Team landeten.
Für den Pathologen Dr. Meyenburg war dies ein gewohnter Stress, aber eigentlich fand er es nicht schlimm, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Überdies konnte er sich in den ruhigeren Abendstunden besser auf seine Arbeit konzentrieren und keiner schaute ihm zu oder konnte dumme Fragen stellen. Es war so gegen 20 Uhr und nur wenige Mitarbeiter hatten noch Mut, eine neue Arbeit zu beginnen. Das Arbeitsklima hier in der Pathologie war ausgesprochen gut und das Team um Dr. Meyenburg war eingespielt. Die letzten Mitarbeiter gingen und versprachen dem Chef ein pünktliches Erscheinen am nächsten Morgen.
Sie wussten, dass ihr Chef ein Arbeitstier und Nachtmensch war und dass sie ihn ohne weiteres alleine lassen konnten. Andererseits konnte sich der Chef auch auf seine Leute verlassen. Sie standen morgen früh wieder pünktlich auf der Matte.
Heute Abend kam ihm das Alleinsein in seinem Keller nur recht, denn er hatte noch einige wichtige Arbeiten und Telefonate zu erledigen, die keinen etwas angingen. Sofort nachdem er die Eingangstür im Flur zum letzten Mal hatte zuschlagen hören, betätigte er den Startknopf seines Computers und lockte sich in das Betriebssystem des Krankenhauses ein. Schnell hatte er die entsprechenden Krankenakten rausgesucht und wie immer studierte er sie sehr sorgfältig. Doch für Dr. Meyenburg war in den letzten Jahren nur ein Punkt in den vielen Krankenakten wichtig und dem galt sein besonderes Interesse.
4
Neele und ihre Freundin Pia fanden erst spät den Weg hinaus aus dem Fitness-Center und nahmen gleich eine der vielen Treppen hinunter in das unterirdische Labyrinth der Berliner U-Bahn. Das Center lag nur einen Steinwurf vom Fehrbelliner Platz entfernt und war insofern sehr günstig gelegen für die Beiden. Sie konnten eine Station zusammenfahren, bis sich ihre Wege trennten und Pia Richtung Halensee umsteigen musste. „Also, mach es gut!“ rief Pia noch, war aber schon von einer Menge junger Leute ihres Alters mit aus dem Waggon gespült worden.
Neeles Weg ging weiter die U1, bis sie die Station Oskar-Helene-Heim erreichte und dann den Rest des Weges bis zu ihrem Elternhaus zu Fuß gehen musste.
Im Haus der Eltern brannte noch Licht und Neele sah von der Straße aus, dass ihr Vater noch am Schreibtisch saß und arbeitete. Das sieht ihm wieder mal ähnlich, dachte Neele, nie kann er ein Ende finden und Feierabend machen. Früher durfte er auf gar keinen Fall gestört werden, aber mit der Zeit hatte er sich auch an die kleinen Unterbrechungen gewöhnt, die Neele ihm einbrockte.
Sie ging die Stufen zur Haustür hinauf und merkte erst jetzt, dass sie ziemlich müde war. Sie schloss die Tür auf und rief durchs ganze Haus „Hi, ich bin es, ich bin wieder da.“
„Wie immer bist du nicht zu überhören,“ sagte der Vater, der an der Tür zum Arbeitszimmer lehnte.
„Na, wie wars heute den ganzen Tag. Hast du viel erlebt?“ fragte der Vater und war schon auf den Weg zurück ins Arbeitszimmer.
„Halt“, rief Neele in ihrer ureigensten Art, sodass selbst der Vater nicht anders konnte als sich noch einmal nach ihr umzudrehen und ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken,
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute eine Zusage für das Biologiestudium bekommen habe – falls es dich überhaupt interessiert. Ich kann hier in Berlin anfangen zu studieren Ich habe auch schon einen Termin für eine Exkursion in die Berge bekommen. Ein Praktikum zum Studienanfang finde ich einfach genial.“
Der Vater hatte sich schon so etwas gedacht, obwohl Edith zwar nur Andeutungen gemacht hatte, aber er konnte eins und eins zusammenzählen. Auch wenn er Neeles berufliche Pläne nicht so unbedingt nachvollziehen konnte, steuerte er geradewegs auf seine Tochter zu, umarmte sie und sagte: „Hast du dir das auch gut überlegt. Ich glaube, aus dir wäre auch eine gute Ärztin geworden. Aber Biologie – ich weiß nicht so recht. Vielleicht schläfst du noch eine Nacht drüber. Wo in den Bergen soll denn das Praktikum eigentlich stattfinden?“
Neele wusste auch noch keine Details, aber im Gespräch war ein Versuchsgut in den Alpen genannt worden. Das Thema ging wohl um die vielfach diskutierte Klimaveränderung in den Bergen.
„So, so“, sagte ihr Vater,“ das ist ja sehr interessant.“
5
Der Termin mit Prof. Rosenbohm für eine letzte abschließende Besprechung über den Krankheitsverlauf seiner Frau hatte immer wieder verschoben werden müssen, sodass Klaus Schellenberg schon nicht mehr daran glaubte, dass dieser überhaupt noch zustande kommen würde. Die ganze Zeit hatte Klaus Schellenberg das Gefühl, dass das Verschieben der Besprechung vom Krankenhaus gewollt war.
Heute hatte er nun kurzfristig telefonisch eine kurze Mitteilung vom Sekretariat erhalten, dass der Professor gegen 16 Uhr Zeit für eine kurze Unterredung hatte. Klaus Schellenberg kam dieser Termin sehr ungelegen, da er als Architekt im Moment sehr viel zu tun hatte. Durch den Tod seiner Frau waren auch einige wichtige Arbeiten liegen geblieben und erlaubten keinen Aufschub mehr. Unter anderem wurde eine Ausschreibung für den Teilausbau der Kinderklinik im Beste-Krankenhaus an ihm vergeben, an deren Planung er jetzt verstärkt arbeitete.
Auf dem Weg von seinem Büro ins Krankenhaus kam ihm der Gedanke, den Termin mit Prof. Rosenbohm zu nutzen, um sich vor Ort die räumlichen Verhältnisse für den Teilausbau der Kinderklinik anzusehen.
Eigentlich wollte Max zu dem Gespräch mit Prof. Rosenbohm dabei sein, aber die Vorbereitungen für seinen letzten Exkurs in die Berge waren in vollem Gange und er brauchte etwas Abstand, um sich auf die kommenden Aufgaben besser vorbereiten zu können.
Das Gespräch mit Prof. Rosenbohm verlief für Klaus Schellenberg sehr enttäuschend. Fahrig und unkonzentriert schilderte der Professor den Krankenverlauf seiner Frau und konnte sich den stetig schlechter werdenden Gesundheitszustand nicht erklären. Die vitalen Funktionen der Organe sowie das Blutbild wurden trotz ständiger Überwachung und medizinischer Versorgung immer instabiler.
„Aber woher rührte dieser Zustand“, fragte Klaus Schellenberg den Professor. „Irgendetwas muss doch in Gretchens Körper gewesen sein, was ihr so große Probleme bereitete?“
Fragen über Fragen, auf die er hier keine Antworten bekommen sollte.
Er verabschiedete sich vom Professor und ging einen endlos langen Flur entlang. Er hatte vor, in den Trakt der Kinderklinik zu gelangen. Wahrscheinlich musste er erst ganz wieder nach unten. Das Krankenhaus hatte trotz der Hinweisschilder das Problem, dass man sich darin verlaufen konnte.
Plötzlich ging ein Mann im weißen Kittel neben ihm her und zupfte ihn kurz am Ärmel.
„Herr Schellenberg, haben sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich. Ich bin Oberarzt Dr. Schmidt im Team von Prof. Rosenbohm. Ich hätte da vielleicht was für sie?“
Dr. Schmidt nahm Klaus Schellenberg beiseite, als der Pieper von Dr. Schmidt sich meldete. „Es tut mir leid, ich muss leider zu einem Notfall. Ich rufe sie an und dann können wir uns irgendwo treffen. Aber nur, wenn sie Interesse haben?“
Natürlich hatte er Interesse, aber diese geheimnisvolle Art von Dr. Schmidt machte ihn auch ein wenig Angst.
Klaus Schellenberg wollte eigentlich wieder zurück in sein Büro, um der liegengebliebenen Arbeit einer vernünftigen Lösung zuzuführen, aber die letzten Stunden hatten seine Arbeitsmoral einen kräftigen Dämpfer gegeben, sodass er im Moment jedenfalls kaum Gedanken an einer gelungenen Architektur verschwenden konnte. Außerdem war Max nur noch bis morgen früh im Haus, bevor er sich für einige Zeit wieder seinen Studien widmen musste. So war die Überlegung doch die beste, nach Hause zu fahren und ihm das Wichtigste vom Tage mitzuteilen. Vielleicht konnten sie bei dieser Gelegenheit zusammen eine Kleinigkeit essen.
Zuhause angekommen stapelte sich das Gepäck von Max im Hausflur in der Art, das sein Vater die Haustür kaum öffnen konnte.
„Na, das sieht aus, als wolltest du eine Weltreise machen und auf gar nichts verzichten?“ sagte Klaus Schellenberg und wäre seinem Sohn fast in die Arme gefallen.
„Das brauche ich alles für meinen letzten großen Auftritt an meiner alten Wirkungsstätte in den Bergen,“ erwiderte Max seinem Vater. „Unsere Projektgruppe trifft sich ein letztes Mal, um die gesammelten Daten auszuwerten. Und dann geht die Arbeit erst richtig los. Am Ende wollen wir aber hoffen, dass eine anständige Diplomarbeit dabei herausspringt.“
Klaus war sich ziemlich sicher, dass Max sein Studium gewissenhaft zu Ende bringen werde, denn er hatte während des ganzen Studiums über den Eindruck gehabt, dass sein Sohn mit ganzem Herzen und viel Engagement bei der Sache war.
Spontan fragte Klaus: „Max, hast du schon etwas gegessen? Ich jedenfalls habe einen Bärenhunger.“
„Nö, eigentlich war ich zu sehr mit dem Packen beschäftigt, aber wo du`s sagst, merke ich auch ein ziemliches Loch im Bauch. Lass uns um die Ecke zum Chinesen gehen,“ schlug Max vor. Klaus war damit einverstanden und so zogen sie ohne noch einmal einen Blick auf das Chaos im Hausflur zu werfen, die Haustür ins Schloss.
Im China-Restaurant saßen sie wieder am Tisch 5, an dem sie immer saßen, wenn sie hier speisten. Gretchen konnte eigentlich die chinesische Küche nicht gut leiden, war aber aus Solidarität gegenüber den Männern früher mitgegangen.
„Nun, wie ist die Unterredung mit dem Professor im Krankenhaus gelaufen,“ fragte Max neugierig seinen Vater, der nach der Bestellung der Getränke noch tief mit seiner Nase in der Speisekarte hing, obwohl er beim Chinesen immer das gleiche aß.
„Irgendwie ist alles sehr merkwürdig. Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, dass die Herren uns irgendetwas verschweigen. Und kurioser Weise sprach mich auf dem Flur des Krankenhauses ganz unvermittelt ein Dr. Schmidt an. Er tat sehr geheimnisvoll und sagt, dass er Informationen hätte, die mich interessieren könnten. Er wurde dann aber zu einem Notfall gerufen und verschwand direkt im nächsten Korridor. Alles sehr suspekt. Er sagte aber, dass er sich noch einmal telefonisch bei mir melden wollte.“
„Das klingt aber auch wirklich sehr komisch,“ grübelte Max. „Was kann er wohl gemeint haben?“
„Ich denke, dass es mit dem Tod deiner Mutter zu tun hat,“ glaubte Klaus „aber ich werde auf jeden Fall versuchen, Kontakt mit dem Arzt aufzunehmen“.
Als der Ober kam und die Bestellung aufnehmen wollte, bestellte Klaus wieder das Gleiche wie immer. Max konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
6
Nachdem Dr. Meyenburg noch einige Informationen aus der Patientenkartei seines Computers herausgesucht hatte, ging für ihn wieder mal ein langer Tag zu Ende. Den angefertigten Zettel über die Patienten schob er allerdings noch unter die Schreibunterlage seines Schreibtisches. Er verließ sein Büro und war froh, dass die Putzkolonne für das Großreinemachen noch nicht angefangen hatte. Alles musste natürlich gut gereinigt und desinfiziert werden. Darauf legte Dr. Meyenburg großen Wert – und das mit Recht.
Jens Meyenburg verließ das Krankenhaus gegen 21 Uhr, stieg in sein Auto und fuhr dann direkt nach Hause, gönnte sich noch einen Absacker und fiel erschöpft ins Bett.
Der nächste Tag war wieder einmal ein Stress-Tag, mit dem Vorteil, dass der Tag auch umso schneller vorbeiging. Er hatte seine gestrige Arbeit noch nicht abgeschlossen, blieb also auch an diesem Abend wieder, bis der letzte Mitarbeiter die Pathologie verlassen hatte. Er hatte noch etwa zwei Stunden Zeit, die er hier ungestört weiterarbeiten konnte. Der Computer war noch betriebsbereit und so fand er auch schnell die Datei, die er brauchte. Doch bevor er sich in die Krankenakten der Patienten des Krankenhauses vertiefte, nahm er den Telefonhörer ab und wählte eine ihn wohlbekannte Nummer. Lutz Wegener war am anderen Ende der Leitung und sagte:“ Na, Dr. Jens, was gibt es Neues?“
Er wusste aus der langjährigen Zusammenarbeit mit Jens Meyenburg, dass um diese Zeit nur einer anrufen konnte. Im Laufe der letzten Jahre war durch die Zusammenarbeit, die für beide Seiten sehr einträglich war, eine gewisse Freundschaft entstanden. Mittlerweile uferte das geschäftliche Treiben der beiden aus, ohne dass sie ein schlechtes Gewissen bekamen.
„Wie immer sind es lange Tage, wie du weißt. Ich glaube, ich brauche mal wieder etwas Urlaub,“ sagte Jens und fragte Lutz, ob er schon Kontakt zu den Georgiern gehabt hätte und wüsste, wann sie eventuell kämen. „Beim letzten Besuch von den beiden Georgiern waren sie ja sehr ungehalten und verlangten noch mehr Material, obwohl wir eigentlich ziemlich viel zusammen hatten. Zurzeit wollen unsere Geschäftspartner immer mehr Ware und dann auch noch billig,“ schimpfte Jens.
Lutz verneinte die Frage mit dem Kontakt und erwiderte, dass bisher Funkstille herrschte, aber sich das schnell ändern könnte, sodass die Georgier innerhalb von kürzester Zeit vor der Tür stehen würden.
„Hast du denn eigentlich was für mich?“ fragte Lutz ganz vorsichtig an.
„Ja, ich werde wieder einiges vom Krankenhaus mitbringen können und für dich wieder meinen Patientenzettel mitbringen, an dem du dich orientieren kannst. Wir könnten uns aber wirklich mal wieder auf ein Bier treffen. Wir sollten unsere Geschäftsbeziehung mit Georgien überdenken und in aller Ruhe darüber reden,“ sagte Jens.
„Das letzte Mal, als wir uns trafen werde ich so schnell nicht vergessen. Sturzbetrunken und mit dreihundert Euro weniger in der Tasche kam ich nach Hause. Ich glaube, den ganzen Abend habe nur ich finanziert, du Schuft. Und dann den nächsten Tag erst – da ging es mir erst richtig schlecht.“
Ein schallendes Lachen dröhnte durch den Hörer und wollte gar nicht wieder aufhören.
„Ja, ja – unsere Treffen haben es in sich. Aber ich schwöre, dieses Mal gebe ich auch mal einen aus,“ sagte Lutz am anderen Ende der Strippe. „Wann hast du denn Zeit für einen kleinen Umtrunk?“
„Möglichst in der nächsten Woche, denn die Zeit rennt mir davon und ich kann noch einiges an Material erarbeiten, da für Nachschub im Moment verstärkt gesorgt wird. Für dich ist auch wieder einiges dabei.“
„Also, nächste Woche Mittwoch um 22 Uhr an gewohnter Stelle. Einverstanden?“ machte Lutz den Vorschlag und Jens sagte nur: “OK!“.
7
Max war am nächsten Tag früh aufgestanden, hatte seine im Flur abgestellten Sachen in das Auto seines Vaters verstaut, der ihn dann zum Bahnhof brachte.
Gegen 7 Uhr trafen sich die Kursteilnehmer vor dem Bahnhof und begrüßten sich herzlich – einige umarmten sich freundschaftlich, denn sie kannten sich nun schon einige lange Studienjahre. Zwei Gesichter waren heute am Treffpunkt aber neu, sodass der Leiter des Projektes, Prof. Max Melzig, einige erklärende Worte fand.
„Meine Damen und Herren; liebe Naturfreunde“, ertönte seine markige Stimme und sofort war Schluss mit dem Geschnatter. Fünfzehn Studenten und Studentinnen sowie zwei Tutoren hingen sofort an seinen Lippen, denn der Melzig war beliebt unter den Studenten. Viele versuchten, bei ihm eine Diplomarbeit oder Doktorarbeit zu bekommen, aber der Professor hielt die Schar seiner Fans klein, sodass es unheimlich schwer war, eine Arbeit bei ihm zu schreiben. Gute Voraussetzungen hatte man allerdings, wenn man sich an einem seiner Kurse oder Projekte in der Natur aktiv beteiligte und so schon einmal positiv auffiel.
„Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas Aufmerksamkeit. Bevor wir in den Zug einsteigen und uns wieder auf den Weg in die Berge machen, ist diese Fahrt für zwei Studienanfänger etwas ganz Besonderes. Ich darf die beiden Neuen in unserer Runde vorstellen und den Rest der Truppe bitten, sie herzlich willkommen zu heißen und beide mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Es sind Frau Neele Rosenbohm und Herr Markus Beierle.“
Lautes Gegröle und Applaus sorgten dafür, dass es den beiden Neulingen etwas besser ging und sie etwas lockerer wurden.
„Da einige der alten Hasen dieses Projekt nach dieser Exkursion verlassen werden, habe ich mich entschlossen, diesmal zwei Studienanfänger mitzunehmen, damit sie gleich einen Einblick in unsere Arbeitsweise und in die Thematik bekommen. Ich hoffe, dass wir uns alle auch weiterhin so verstehen, wie das bisher der Fall war. Ich danke Ihnen.“
Das laute Geschnatter setzte schlagartig wieder ein und jeder begrüßte die beiden Neuen mit Handschlag und natürlich guten Ratschlägen für die kommenden Tage. Neele und Markus hatten von einem solchen Empfang nicht einmal geträumt, aber jetzt fühlten sie sich schon richtig dazugehörig.
Professor Melzig hatte nach Max Ausschau gehalten, entdeckte ihn zwischen den vielen Anderen und nahm ihn beiseite.
„Hallo Max, wie schön sie wieder zu sehen, Ich muss ihnen noch eine kurze Information zum Versuchsgut geben. Es gibt in den ihnen bekannten Versuchshallen einen Bereich, der ausschließlich für ein neues Forschungsprojekt zur Verfügung steht. Aber die ihnen bekannten Arbeitsvorgänge bleiben natürlich die Gleichen. Sie werden sich schon wie gewohnt zurechtfinden. Alles weitere dann in den Bergen,“ sagte er und schlug Max freundschaftlich auf die Schulter.
Max war ein bisschen irritiert von den unterbreiteten Informationen, ging aber dann auf die beiden neuen Studienanfänger zu und sagte:“ Alles wird gut – nur Mut. Nun kommt, sonst verpassen wir noch den Zug – und übrigens, ich heiße Max.“
8
Klaus Schellenberg war die ganze Woche rund um die Uhr damit beschäftigt, seine Aufträge und Projekte auf die Reihe zu kriegen und etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Als er die Projektunterlagen für den Teilausbau der Kinderklinik in den Händen hielt, fiel ihm sofort wieder ein, dass Dr. Schmidt unbedingt mit ihm reden wollte. Er hatte auf jeden Fall das Bedürfnis, vielleicht Details aus dem internen Bereich des Krankenhauses zu erfahren. Es war gegen 13 Uhr und er überlegte sich, dass er nach dem Mittagessen einen Abstecher in Richtung Beste-Krankenhaus machen könnte.
Nachdem er eine Currywurst mit Brötchen an der Bude schräg gegenüber vom Krankenhaus gegessen hatte, beschloss er, den Wagen gleich stehen zu lassen und ein paar Schritte zu Fuß zum Krankenhaus zu gehen.
Die Frau an der Information zog nur die Schultern hoch und antwortete auf die Frage nach Dr. Schmidt, dass er schon seit einigen Tagen nicht im Krankenhaus erschienen war. Das Krankenhaus hätte schon mehrfach versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, doch es ging nur der Anrufbeantworter an.
„Einige Mitarbeiter der Abteilung hier im Krankenhaus sind schon bei Dr. Schmidt zu Hause gewesen,“ sagte die Frau hinter der Glasscheibe, „aber sie haben niemanden angetroffen. Weiter kann ich ihnen auch nichts sagen, als das wir uns schon Sorgen machen. Dr. Schmidt ist hier im Krankenhaus ein sehr netter und sympathischer Mann, der mit allen sehr gut auskommt.“
„Haben sie vielleicht die Adresse von Dr. Schmidt zur Hand, dann suche ich ihn heute Abend noch auf und hoffe, ihn anzutreffen, denn er hatte mir etwas wichtiges mitzuteilen.“
„Eigentlich darf ich die Adresse nicht herausgeben, aber es wäre nicht verkehrt, wenn jemand Nachforschungen anstellen würde. Er wohnt nicht weit von hier in der Falkenseer Chaussee 53. Es wäre nett, wenn sie etwas in Erfahrung bringen, uns auf jeden Fall darüber Bescheid geben.“
„Schönen Dank für ihr Entgegenkommen, ich werde mich bei ihnen melden,“ versprach Klaus Schellenberg.
Das Wetter war hervorragend. Besser konnte es nicht sein. Die Sonne pur am blauen Himmel – nur einige kleine Wolken sorgten kurzfristig für etwas Abkühlung. Die Temperatur schien wohl die der letzten Tage noch toppen zu wollen.
Spontan entschied sich Klaus, in den nahe gelegenen Stadtpark spazieren zu gehen und seinen Kopf frei zu bekommen. Irgendetwas machte ihn unruhig und er wurde das Gefühl nicht los, das sich etwas zusammenbraute, obwohl er überhaupt keine Ahnung hatte, aus welcher Richtung sein Unbehagen kommen konnte. Er beschloss, auf jeden Fall auf dem Rückweg an der Schmidt’schen Wohnung vorbei zu fahren. Er brauchte Klarheit und verschob wieder einmal seine Terminarbeiten auf später.
9
Die Zugfahrt der Kursteilnehmer verlief ohne größere Zwischenfälle, wenn man einmal davon absah, dass der Speisewagen nach Verlassen der Studenten aussah, als wäre eine Bombe eingeschlagen.
Sie hielten sich überwiegend hier auf, bestellten ab und an etwas, aber das meiste an Proviant hatte jeder selbst mitgebracht – und das reichlich. Zum Leidwesen des bedienenden Personals. Jedenfalls blieben so die vorbestellten Abteile einigermaßen vom Chaos verschont.
In München mussten sie nun das erste Mal umsteigen, um dann mit Sack und Pack in einer kleinen Regionalbahn weiter zu kommen. In Bad Tölz warteten sie auf einen Anschlusszug, brauchten den Bahnhof also nicht verlassen. Viele der Kursteilnehmer hatten kein Auge für die herrliche Landschaft, die sich ihnen bot. Sie kannten die lange Fahrt sowie den ganzen Aufwand, der nötig war, um an das Ziel zu gelangen.
Für Neele und Markus war das ein wenig anders. Sie waren beide schon einmal in den Winterferien mit den Eltern in die Alpen gereist, um Ski zu fahren. Aber der Exkurs gleich zu Anfang ihres Studiums mit anderen Studenten der höheren Semester war doch etwas ganz Besonderes. Zumal sich Prof. Melzig für sie beide entschieden hatte. Hier in den Bergen konnten sie sicher eine Menge lernen und die ersten Erfahrungen für ihr weiteres Studium sammeln. Vorfreude kam bei den beiden auf, als sie aus dem Fenster schauten und die ersten höheren Berge zu sehen waren.
Max kam vorbei und sagte:“ Wir werden hier noch ein wenig warten, aber es dauert nicht mehr lange, dann sind wir am Ziel.“ Neele musterte Max etwas genauer und bemerkte eine gewisse Sympathie für ihn. Gut sieht er aus und nett ist er auch noch.
Ihren Gedanken konnte sie nicht lange nachhängen, denn die Zeit verging wie im Flug und sie wurde jäh von Markus angestoßen, der sie wieder in die Realität zurückholte. Der Professor kam vorbei und gab noch letzte Anweisungen, wie demnächst zu verfahren war. Die Studenten begannen dann auch gleich, ihre Sachen zu sortieren und klar Schiff zu machen. Allmählich wurde es eng in den Gängen des Zuges und die Koffer, Taschen und Rucksäcke stapelten sich gefährlich hoch auf. Wie gut, dass alle ihr Gepäck im Auge behielten und sich freuten auf das, was noch kommen sollte.
Wie immer war der Rest der Reise gut organisiert. Die Kursteilnehmer wurden am Bahnhof von einem betriebseigenen Bus in die unwegsame Region chauffiert und dort vor der Institutsaußenstelle abgeladen. Der Gutshof, in dem die Universität Büroräume und einen Wohntrakt für die Mitarbeiter eingerichtet hatte, bestand außerdem aus einem altehrwürdigen Schutzhaus und einer Fischzuchtanlage.
Das Schutzhaus hatte seinen Namen nicht zu Unrecht erhalten, denn in der Höhe von ca. 1000 m über NN hatte es schon vielen Menschen das Leben gerettet oder zumindest vor größeren Schaden bewahrt. In den letzten Jahren hatte sich hier das biologische Institut angesiedelt und mehr und mehr Räume für sich in Anspruch genommen, bis es irgendwann ganz zur Institutsaußenstelle fungierte. Das hieß aber nicht, dass hier keine fremden Leute mehr kamen und Schutz suchten. Der Professor und seine Mitarbeiter hatten extra für solche Fälle einen geeigneten Platz im Haus zur Verfügung gestellt, denn das Haus sollte auch in Zukunft rund um die Uhr für jeden als Schutzhaus da sein.
Das war auch im Sinne der einheimischen Bevölkerung, die dem Projekt erst sehr skeptisch gegenüberstanden. Mittlerweile hatte sich die Skepsis aber gelegt und einige Dorfbewohner unten im Tal arbeiteten sogar mit am Projekt und halfen bei den täglich zu verrichtenden Arbeiten.
Bei der Ankunft wurden der Professor und die Kursteilnehmer von den Mitarbeitern herzlich begrüßt, auch wenn die Stimmung nicht die Beste war. Der Professor wusste schon durch einige Telefonate mit dem Institutsleiter, Herrn Dr. Krause, dass nicht alles rund lief und es zu vermehrten Todesfällen in der Zuchtanlage gekommen war.
Der Institutsleiter trat zum Professor und informierte ihn über die aktuelle Lage – „Wir glauben, dass die Projekte sehr gefährdet sind.“
„Na, so schlimm wird es wohl nicht sein,“ entgegnete der Angesprochene, wandte sich um und rief den noch verbliebenen Rest der Teilnehmer zu: „Heute Abend bitte ich sie zur ersten Besprechung in die Kantine. Bitte geben sie diese Information an die Anderen weiter. Treffpunkt Kantine 18 Uhr,“ wiederholte er.
10
Die Hitze der Großstadt war auch an diesem späten Nachmittag unerträglich und Klaus Schellenberg vermied es, längere Stücke des Parkweges in der prallen Sonne zu gehen. Jede Art von Anstrengung war bei diesem Wetter zu vermeiden. Klaus merkte aber, dass ihm der Spaziergang guttat und er seine ungeordneten Gedanken wieder einigermaßen auf die Reihe bekam. Am Auto angekommen sah er, dass das Auto der direkten Sonnenstrahlung ausgeliefert war und stöhnte.
Die kurze Fahrt zur Falkenseer Chaussee brachte nur wenig Abkühlung, da auch die Klimaanlage seines Autos nicht schnell genug gegen diese brutale Hitze ankam.
Das Haus Nr. 53 war eine sehr schöne alte Villa. Klaus Schellenberg konnte sich an einige gründerzeitlichen Prachtbauten am Stadtrand von Berlin erinnern, die er betreute. Solche anspruchsvollen und repräsentativen Villen gehören auch mit zu seiner Arbeit, zumal er sich gerne an vergangene Architekturperioden orientierte.
Wie Klaus an den Namensschildern sehen konnte, wohnten hier vier Familien. Er sah das Namensschild Schmidt und drückte auf den Klingelknopf. Dieses wiederholte er vier- oder fünfmal, ohne dass eine Reaktion aus der hauseigenen Sprechanlage kam. Er überlegte, was er jetzt tun könnte und kam zu dem Entschluss, dass warten auch keinen Sinn machte. Vielleicht konnte er einen Mitbewohner des Hauses sprechen und wollte gerade einen der verbliebenen Klingelknöpfe drücken, als ihn eine alte Dame etwas unsanft zur Seite schob.
„Darf ick mal!“, berlinerte sie und schob ihren Schlüssel in das dafür vorgesehene Schloss.
„Entschuldigen sie, dass ich hier im Wege stehe, aber können sie mir vielleicht helfen? Wohnen sie in dieser schönen alten Villa?“
„Wat jlauben se denn, junger Mann,“ sagte die ältere Dame - „ick wohn hier schon meen janzes langes Leben und ick denke och bis ick `n Abjang mach`. Pass ma uff – zufällig jehört mir die Bude och. Als meen Mann vor einigen Jahren ins Gras jebissen hat, wurde mir dit Haus zu groß und ick habdet untervermietet. Wat kann ick jegen Sie tun?“
„Ich suche Herrn Dr. Schmidt aus dem Beste–Krankenhaus. Haben sie ihn vielleicht in den letzten Tagen zufällig gesehen?“ fragte Klaus Schellenberg ganz zuversichtlich.
„Nö, jesehen hab‘ ick ihn lange nich, aber ick jehe auch selten vor de Tür. Janz ehrlich, in meen Alter sollste doch bisschen vorsichtig sein. “Ja, da haben sie Recht,“ sagte Klaus. Er wollte aber nicht lockerlassen und fragte sie, ob Herr Dr. Schmidt in letzter Zeit irgendetwas erzählte, was er so vorhatte oder wie es ihm ginge.
„Det letzte Mal, als ick ihn jesehn hab,“ sagte die ältere Dame, „war er wie immer janz freundlich, machte mir die Haustür uff und wünschte mir einen schönen Tach. Etwas nervös und abjespannt war er schon. Sagen se mal, sind sie vielleicht von de Polente und wollen deshalb so viel wissen. Also, mach ma keene Fissimatenten hier.
„Nein, nein, keine Angst,“ sagte Klaus, “ich bin nur ein alter Freund von Dr. Schmidt und wollte ihn gern wiedersehen. Aber haben sie erst einmal vielen Dank für ihre Auskünfte. Wenn er ihnen über den Weg läuft, rufen sie mich bitte an. Es ist sehr wichtig für mich. Hier ist meine Karte. Vielen Dank noch einmal und auf Wiedersehen.“