Tote vergeben nicht - Bernadette Klein - E-Book

Tote vergeben nicht E-Book

Bernadette Klein

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Beschreibung

„Früher oder später wirst du ernten, was du säst – und ich gieße hiermit die Saat.“ Als Horatio, ehemaliger Artefaktjäger und Weltenbummler, der Einladung eines Freundes nach Ferra folgt, ahnt er nicht, welche Herausforderungen die fortschrittlichste Stadt der bekannten Welt für ihn bereithält. Verwirrende Apparaturen, viel zu scharfes Essen, und dann wird auch noch der Arbeitgeber seines Freundes ermordet – der prompt die Ermittlungen übernimmt. Schnell wird klar, dass fast jeder ein Motiv hat – sogar Horatios Freund selbst. Während der Kreis der Verdächtigen wächst, schwindet die Aussicht auf Aufklärung. Der Versuch, Wahrheit von Täuschung zu trennen, wird schon bald zum Wettlauf gegen die Zeit, denn die Reichen und Mächtigen Ferras brauchen um jeden Preis einen Sündenbock – egal, ob schuldig oder nicht, und Horatios Freund steckt viel tiefer in der Sache als er zugeben will. Ein magisch-technologisches Krimiabenteuer voller Intrigen und Rätsel in einer Welt, in der Chaos und Ordnung gefährlich nah beieinander liegen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Erster Tag

Erster Abend

Zweiter Tag

Zweiter Nachmittag

Zweiter Abend

Dritter Tag

Dritter Nachmittag

Vierter Tag

Fünfter Tag

Letzter Tag

Drei Tage zuvor

Epilog

5 Monde später

Danksagung

„Das Geheimnis des Vorankommens liegt im Anfangen.“

— Agatha Christie

Bernadette & Alexander

Klein

Tote

vergeben

nicht

Horatios Ruhestand 1

© 2025 Bernadette Klein

Website: bessassin.com

Lektorat: K. L. Conrad

Korrektorat: Konstanze Hunold

Coverdesign & Buchsatz: Alexander Klein

Verlagslabel: Triangular Square Publishing,

triangularsquare.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheber-rechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:

Bernadette Klein,

Böhmerwaldstr. 16, 94431 Pilsting, Germany.

Barnabas,

stets hast du dir genommen, was dir nicht gehört, ohne je einen Gedanken an die Leben zu verschwenden, die du zerstörst. So wie das von Graf Volkin Sturmhardt, eines Herrn von einer Größe, die du niemals erreichen konntest.

Du unterstelltest ihm Verrat, dabei bist du der eigentliche Verräter.

Durch Niedertracht und Heimtücke hast du seinen viel zu frühen Tod herbeigeführt und ihn aus dem öffentlichen Andenken tilgen lassen, ohne jemals die Konsequenzen dafür zu tragen. Doch nun bin ich zurück und mein gerechter Zorn wird dich schon bald in das finstere Grab schicken, das du verdienst.

In tiefer Verachtung

Deine ewige Feindin

Erster Tag

Horatio schob sich im Pulk der Reisenden zur Waggontür. Sein Knie machte ihm nach der langen Fahrt durch die Chaoslande zu schaffen, sodass er die Hilfe des Schaffners mit dem schweren Lederkoffer gern annahm. Keuchend stieg er die Treppe hinab.

„Danke, mein Junge“, murmelte er und sah sich nach Goswin um. Der etwa hüfthohe, vierarmige Gnom hielt sich dicht hinter ihm und schlich ebenso gebeugt auf den Bahnsteig. Es schien, als wäre durch die ständige Gegenwart seines Herrn alle Energie aus seinem Körper gewichen, obwohl Gnome weder alterten noch starben.

Überall drängelten sich geschäftige Ezranekherer in schicken Anzügen und aufgebauschten Kleidern an ihnen vorbei – nur selten reisten Geschöpfe mit Geldsorgen in der stählernen Innovation des Fernverkehrs zwischen den Fürstentümern.

Horatios Rücken schmerzte vom dreitägigen Akkordsitzen, das ihm die Reise durch die Chaoslande von Revenshain hierher nach Ezranekhera abverlangt hatte. Drei Tage ohne Zwischenstopp, der in den Chaoslanden schlicht nicht möglich war. Dementsprechend freute es Horatio, sich ein wenig die Beine vertreten zu können. Und sei es auch nur in dieser dräuenden Bergmetropole Ferra.

In schwarzem Rauch aus zahllosen Schornsteinen eingehüllt, ragte sie vor ihm empor. Er streckte sich, um den Kopf so weit heben zu können, dass er mit dem Blick den Pfaden der in den Berg getriebenen Fabrikhöhlen folgen konnte, doch die Stadt hatte den Berg vollkommen durchdrungen und thronte wie ein gigantischer Monolith über der Vorstadt mit dem Bahnhof.

„Ouweh“, murmelte er in seinem schweren Revenshainer Dialekt. „Da hab I mi ja auf was eingelassen.“

Goswin hockte neben ihm und beobachtete eine handtellergroße Fallgrubenspinne. Etwas musste sie aufgescheucht haben, denn diese Tiere jagten ihre Beute nicht, sondern erwarteten sie geduldig in einer namensgebenden Fallgrube. Diese hier aber versuchte verzweifelt, den Stiefeln der Reisenden auszuweichen. Horatio, im Herzen durch und durch ein Naturbursche, war nicht wohl beim Gedanken, die nächsten Wochen in dieser Stadt voll mechanischer und arkaner Gerätschaften zu verbringen, daher freute er sich über die achtbeinige Pracht, die der Zug aus der Wildnis mitgebracht hatte.

„Horatio, alter Freund, da bist du ja!“ Beherzt trat Falk auf ihn zu und zerquetschte dabei fast das arme Tier. Goswin quietschte, packte die Spinne und eilte mit ihr an den Rand des Bahnsteigs. Falk sah ihm verwirrt nach. „Ein Gnom? Ist das deiner?“ Er klopfte Horatio zur Begrüßung freundlich auf die Schulter.

Horatio lächelte. „Ja, das ist mein Freund Goswin. Ich fand ihn auf einer meiner letzten Artefaktjagden am Rande der Chaoslande und gab ihm ein Zuhause.“ Er winkte den kleinen Kerl zu sich. „He du Lauser. Komm mal her. Des is da Falk, von dem i dir erzählt hab.“

Goswin kam zurück, nun wieder gebeugt wie ein alter Mann und mit schleppendem Gang. Falk betrachtete ihn skeptisch. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der ohne Bart so bärtig aussieht.“

Horatio lachte, strich über seinen langen Vollbart und wandte sich dann ganz Falk zu. Der Junge war groß geworden, trug einen gut gepflegten Henriquatre, das schwarze Haar gescheitelt, die Hauer geputzt und gefeilt und die Uniform tadellos gebügelt. „Du siehst gut aus, Bua. Arbeitest du jetzt fürs Militär?“

Falk lächelte. „Für die Polizei. Allerdings derzeit als Persönlicher Ermittler in der Himmelsstadt. Da wohne ich auch.“ Er deutete auf das obere Drittel des Berges, das sich hinter dem schwarzen Ring aus Rauch verbarg.

Horatio folgte seiner Geste mit dem Blick. „Bluadiga Hehnagropf … da rauf? Ouweh. Des is ja weit oben.“

„Ach was, alles halb so schlimm.“ Falk winkte ab. „Wollen wir?“ Er machte eine einladende Geste in Richtung des guten Dutzends arkaner Kutschen, die vor dem Bahnhofsgebäude auf Fahrgäste warteten.

Horatio nickte bedächtig. „Wie weit wär’s denn zu Fuß?“

Mit einem Schmunzeln erwiderte Falk: „Zwei oder drei Stunden. Zumindest bis zur Gondelstation, die uns dort hinaufbringt.“

Horatio hob die Augenbrauen. Auf seinen Stock gestützt musterte er die schwarzen Kästen mit dem brummenden Aufbau am hinteren Ende und den gelangweilt wirkenden Fahrern in der von Glas umgebenen Frontkabine. In Revenshain wurden Kutschen, wie es sich gehörte, von Ziehmeren gezogen, aber er würde sich dieser röhrenden und knurrenden Konstruktion überlassen müssen, wenn er nicht den ganzen Weg gehen wollte.

„Ouweh. Na dann, auf gehts.“

Goswin schlurfte vor Horatio her und krabbelte in die Kabine einer Kutsche, während Falk dem Fahrer das Ziel nannte.

Horatio ließ sich auf das Polster fallen und seufzte. Schon hier unten am Fuße des Berges stachen ihm Qualm und Rauch in die Nase. Wie würde es erst an der Spitze sein?

Falk setzte sich ihm gegenüber. Er wirkte angespannt. Als belaste ihn etwas, über das er jedoch nicht sprechen wollte, zumindest noch nicht. Horatio lächelte. Sein junger Freund hatte ihn gewiss nicht von ungefähr nach Ferra eingeladen, aber er würde ihn nicht drängen, mit der Sprache herauszurücken.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung und preschte mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Straßen.

„Oha!“ Horatio hielt sich am Seitengriff fest und sah aus dem Fenster auf die vorbeirauschenden Gebäude. „Des geht fix.“

„In der Tat.“ Falk beobachtete Goswin, der sich mit zwei seiner Arme auf einen imaginären Stock stützte, und mit den anderen beiden Händen tänzelnde Bewegungen über seinen Rock machte. Die langen, geflochtenen Zöpfe wippten dabei auf und ab, als führten sie ein Eigenleben. „In Ferra herrschen deshalb auch strenge Verkehrsregeln. Das Gehen auf der Straße ist nur in den Gehzonen erlaubt. Dafür gelangt man sehr schnell in alle Ecken der Stadt.“

Horatio nickte nur.

Nach einer Viertelstunde kam die Talstation in Sicht. Die Gondel stand auf einer Plattform, zu der eine schmale, vergitterte Treppe hinaufführte. Diese war von einer Freifläche aus Beton umgeben, an die sich eine stachelbewehrte Umzäunung anschloss, dazu drei Dutzend Wachen mit Säbeln. Der Zugang wurde von zwei Türmen flankiert, auf denen Soldaten mit Repetierarmbrüsten patrouillierten. Horatios Augenbrauen wanderten in die Höhe.

„Do legst de nieda. Wos is jetzt des?“

„Ah, keine Sorge, ich habe die nötigen Papiere für dich schon beantragt. Die Kontrollen dürften kein Problem sein. Trotz deines Begleiters … auf den ich nicht vorbereitet war. Aber Gnome gelten ja glücklicherweise als Haustiere und nicht als Personen. Wir brauchen also keine Papiere für ihn.“

Horatio schnaubte. „So ein Grammfgschmarre. Gnome sind durchaus Personen, auch wenn unsere Gesellschaft sie ned als solche betrachtet! Sie sind denkende, fühlende Wesen von ausgesprochener Intelligenz und Integrität, und keine Haustiere!“

„Oh.“ Falk sah unbehaglich aus, als würde ihn dieser Ausbruch seines Freundes in Verlegenheit bringen. „Dann hast du also keine Besitzurkunde für ihn? Das könnte dann doch ein Problem werden.“

Horatio seufzte. „Doch, die habe ich.“ Er sah seinen Begleiter an, der den Kopf auf eine Hand gestützt hatte und aus dem Fenster sah, während zwei der anderen Hände Stein-Schere-Papier gegeneinander spielten und die vierte Hand eine Sinfonie zu dirigieren schien.

Erleichterung machte sich auf Falks Gesicht bereit. „Das ist gut. Dann sollten wir ohne Schwierigkeiten in die Himmelsstadt fahren können. Der Zugang ist streng reguliert, aber die Wachen sind in der Regel freundlich und zugewandt, wenn alle Papiere in Ordnung sind.“

Sie verließen die Kutsche, Falk bezahlte den Fahrer und schleppte dann Horatios Koffer zu der Schlange Reisewilliger vor dem Kontrollschalter zwischen den beiden Türmen.

Mit wachsendem Unbehagen betrachtete Horatio die Gondel. Sie hing an einem stabil wirkenden, aber für seinen Geschmack viel zu dünnen Stahlseil und schaukelte jedes Mal, wenn jemand einstieg. „I weiß ned“, murmelte er. „Gibt’s keinen andern Weg do rauf?“

Falk schmunzelte. „Ach, nun stell dich nicht so an. Mag sein, dass es in Revenshain nur Wald und Wiesen gibt und das Land so flach ist wie eine Butterstulle, aber als erfahrener Artefaktjäger bist du doch schon in ganz andere Höhen aufgestiegen.“

„Abgestiegen“, verbesserte Horatio. „Immer nur runter, nie rauf, weil’s Chaos nun mal Täler gräbt und die Hügel, die’s aufschicht, um die machst oweil besser an großen Bogen.“

Falk nickte. „Ja, ich erinnere mich.“ Er schien für einen Moment in die gemeinsame Vergangenheit einzutauchen, denn sein Blick ging in die Ferne. „Aber aus den Täler haben wir ja dann auch wieder hoch gemusst“, sagte er leichthin.

„Des scho, aber dann waren wir grad amoi wieder plan, sonst nix. Außerdem klebt mir der Qualm jetzt scho auf da Zung, i weiß gar ned, ob i da so weit rauf mag.“ Horatio starrte den dicken, wabernden Ring auf halber Höhe des Berges an, in dem das Stahlseil der Gondel verschwand.

Falk winkte ab.

„Keine Sorge, wir passieren die Unterstadt in der geschlossenen Gondel, oben in der Himmelsstadt ist die Luft genauso rein und frisch wie in einem Revenshainer Laubwald.“

Horatio hielt das für unwahrscheinlich, ließ es aber dabei bewenden. Er fixierte den Schalter. „Dann los.“

Sie reihten sich ein und näherten sich unter dem wachsamen Auge der Soldaten, die entlang der Schlange patrouillierten, der Passkontrolle. Plötzlich packte einer der Soldaten eine Frau in einem violett schimmernden Kleid am Arm und zog sie aus der Schlange. Ein Mann stürzte ihr nach. „Lassen Sie das!“, sagte er.

„Koffer auf!“, blaffte der Soldat und deutete mit seinem Schlagstock auf den großen Schrankkoffer der Dame.

„Aber wir sind schon am Bahnhof eingehend durchsucht worden“, widersprach die Dame und richtete ihren Hut, der durch die ruckartige Bewegung verrutscht war.

„Mach den Koffer auf, Lunareth-Abschaum, wenn du nicht gleich wieder zurück zum Bahnhof verfrachtet und aus der Stadt geworfen werden willst!“ Der Soldat zog seinen Säbel.

Horatio wandte sich flüsternd an Falk. „Was ist denn da los?“

Falk sah bekümmert aus. „Der Krieg ist vielleicht offiziell beendet, doch in den Köpfen herrscht er noch immer. Zumindest in manchen.“

Horatio machte einen Schritt nach vorn, um dazwischenzugehen, doch Falk fasste ihn beim Arm. „Nicht“, flüsterte er. „Das würde alles nur noch schlimmer machen.“

Horatio runzelte die Stirn.

„Noch werden sie nur schikaniert, aber wenn du dich einmischst, machen sie es offiziell. Das schadet nicht nur ihnen, sondern auch dir.“ Falk zog Horatio in die Schlange zurück.

Der alte Artefaktjäger betrachtete die Umstehenden und sah in mehr als einem Gesicht unverhohlene Häme. Anderen schien die Situation unangenehm, doch sie unternahmen nichts. Die wenigen Reisenden aus anderen Fürstentümern hielten sich so gut es ging bedeckt. Die meisten jedoch schienen nicht einmal zu bemerken, was hier geschah. Für Horatio war das alles nicht neu, er hatte es schon selbst zu spüren bekommen. Dennoch traf es ihn immer wieder ins Herz.

Als sie an der Reihe waren, legte Falk ihre Papiere vor. Der Soldat blickte misstrauisch auf Goswin hinab.

„Ist das ein Chaosberührter?“, blaffte er. „So etwas kommt nicht in die Himmelsstadt.“

„Nein“, Falk wandte sich an Horatio, der grummelnd die Besitzurkunde vorzeigte. „Das ist ein Gnom. Hier.“

Der Soldat überflog kurz die Zeilen, dann winkte er sie weiter. „Na ja, wenigstens kein Lunari“, raunte er seinem Kollegen zu, woraufhin beide lachten. Horatio und seine Freunde bestiegen die Gondel.

Falk ließ sich auf einen der Sitze nieder und auch Horatio nahm Platz, wenn auch mit keinem guten Gefühl. Falk klopfte ihm auf den Oberarm. „Wie Fendelin Meertau einst dichtete: So führ uns hinauf in luftige Höh’n – Stählerne Ferra, was bist du schön.“ Er lächelte verschämt. „Nun, von hier unten vielleicht nicht, aber die Himmelsstadt hat es wirklich in sich.“

Horatio sah hinaus und versuchte, nicht an die hunderten Meter zu denken, die in wenigen Augenblicken zwischen ihm und dem Erdboden und damit dem unweigerlichen Tod durch Zerschellen liegen würden. „Was du nicht sagst.“

Mit einem bedrohlichen Quietschen setzte sich die Gondel in Bewegung. Horatios Hand verkrampfte sich um seinen Gehstock. Goswin sprang auf und rannte zur gläsernen Wand, um hinaus auf den sich entfernenden Boden zu sehen. Er presste zwei Hände an die Scheibe, während die anderen beiden die Zipfel seines Rockes umherwarfen. Er hüpfte auf und ab, rannte hinüber auf die andere Seite, um auch dort hinauszuschauen, und schließlich wieder zurück.

So ging es hin und her, bis die Gondel in eine spürbare Pendelbewegung verfiel. Die anderen Passagiere schien das völlig kalt zu lassen, während sie den Gnom selbst mit Faszination betrachteten.

„Goswin, du Lausbua, lass des doch.“ Horatio seufzte, denn ihm war klar, dass die Begeisterung seines Freunds nicht zu bändigen wäre, egal, was er versuchte. Gnome lebten in ihrer eigenen Welt. Dass Goswin ihm überhaupt so bereitwillig folgte und ihn mit seiner sprühenden Lebensfreude vor der Einsamkeit bewahrte, betrachtete Horatio bereits als Geschenk. Er wandte sich an Falk, der gedankenverloren aus dem Fenster sah. „Wie lange ist das jetzt her, dass der Krieg zwischen Lunareth und Ezranekhera begann?“

„Sechsunddreißig Jahre“, erwiderte Falk. Er sagte es mit dem Pathos eines Mannes, der auch die Monate, Tage und Stunden noch hätte aufzählen können, wenn es jemand genau wissen wollte.

Horatio hätte sich ohrfeigen können. „Verzeih“, murmelte er. „Für einen Augenblick hatte ich vergessen, dass du deine Eltern in diesem Krieg verloren hast.“

Falk winkte ab. „Ich weiß nicht, ob verloren das richtige Wort ist. Ich habe meine Eltern nie kennengelernt und im Waisenhaus kümmerte man sich gut um mich. Und außerdem habe ich allen Grund zu der Annahme, dass …“ Falk hielt inne und deutete stattdessen auf die Stadt unter ihnen. „Siehst du die Stahlfabriken dort drüben? Sie gehören zum Besitz meines Auftraggebers. Ich habe sie vor Kurzem inspiziert. Gute Arbeiter, hervorragender Stahl. Der Mann hat ein Händchen fürs Geschäft.“

Horatio sah sich die gewaltigen Gebäude an. In Revenshain gab es auch zahlreiche Relikte der Chaosbändiger, nicht nur die allgegenwärtigen Stabilisatortürme. Doch im Gegensatz zur brutalistischen Architektur Ezranekheras legte man dort Wert auf Naturverbundenheit. Das Chaos in allen Geschöpfen, in allen Geschöpfen das Chaos, lautete eine alte Revenshainer Weisheit.

Plötzlich fuhren Metallplatten vor den Fenstern herunter und Lichtrunen an Decke und Wänden glommen auf. Horatio schreckte hoch.

„Nur die Ruhe“, sagte Falk. „Wir passieren jetzt den Rauchring. Die toxischen Gase auf dieser Ebene wollen wir nicht in der Gondel haben, deshalb die Sicherheitsmaßnahmen.“

Horatio fasste seinen Gehstock fester. „Verständlich, der Rauch hier drinnan is scho so kaum auszuhalten. Wie könnt ihr des tagtäglich verkraften?“

Falk zuckte mit den Schultern. „Hier drinnen?“

„Ja!“ Horatio räusperte sich. „Ich riech ihn schon seit wir aus dem Zug gestiegen sind. Ach, was sag ich, einige Kilometer vor der Stadt war er schon zu riechen!“

Falk lachte. „Nun sei mal nicht so melodramatisch, mein Bester. Hier drinnen und auch in der Himmelsstadt merkt man vom Rauch rein gar nichts. Der ist draußen und da bleibt er auch.“

Seufzend nickte Horatio. Sein Blick ging zu den Runen. Als er damals als blutjunger Mann zu den Artefaktjägern kam, waren einige von ihnen noch unerforscht gewesen. Seine alte Truppe um Weiland Wayne Wilhelmson hatte einen nicht unerheblichen Beitrag zu dieser Beleuchtungstechnik geleistet. Er lächelte. Wäre nicht der Unfall gewesen, bei dem Falk fast sein Leben verloren hatte, vielleicht hätten sie noch ein paar unerforschte Runen aus Bank Fortruther herausgeholt.

Als hätte er seine Gedanken gelesen senkte Falk den Blick und murmelte: „Ich habe mich nie entschuldigt, dass du meinetwegen deine Karriere beenden musstest.“

Horatio schüttelte den Kopf. „Schon gut, mein Junge. Du weißt, dass ich dir das nie nachgetragen habe. Es war ohnehin Zeit, aufzuhören.“ Er lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.

Die Metallplatten fuhren wieder in die Höhe und das Licht ging aus.

Falks Gesichtsausdruck hellte sich auf. „Ah, da ist sie ja, die Himmelsstadt.“

Horatio erhob sich und sah hinaus. Die unteren Teile der Stadt lagen nur wenige hundert Meter über dem Qualm, die oberen Teile jedoch zierte eine für Ferra-Verhältnisse erstaunliche Fauna, die sogar einige Chaoselemente aufwies. „Hm“, machte Horatio. Und damit war eigentlich alles gesagt.

Falks Gesichtsausdruck verriet, dass er etwas mehr Begeisterung erwartet hätte, dennoch erwiderte er nichts.

Sie stiegen aus und bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Goswin hatte wieder in die Gangart eines alten Mannes umgeschaltet und schlurfte hinter Horatio her, auf einen imaginären Stock gestützt, während zwei seiner Hände in Schlangenlinien um seinen Körper tanzten. Horatio atmete tief durch und schüttelte den Kopf. „Lass dir des gesagt sein, mein Freund: Dieser Rauch ist überall, überall! Dort unten, hier oben, dort drüben. Er klebt an dir und nun auch an mir und verstopft mir die Nasenflügel.“

Falk sah entrüstet aus. „Also wirklich, Horatio, ich habe mehr Schneid von dir erwartet. Wer lässt sich denn von dieser herrlich frischen Luft beeinträchtigen?“

Horatio zuckte mit den Schultern und nahm sich vor, das Thema ruhen zu lassen. Offenbar gehörte es in Ezranekhera zum guten Ton, wie eine Salami im Rauch zu marinieren und das auch noch als angenehm zu empfinden.

„Du bist sicher müde von der Reise“, sagte Falk, „aber wäre es in Ordnung, wenn wir einen Abstecher bei meinem Herrn vorbei machen, bevor ich dich in deine Unterkunft begleite? Ich bin da an einem Fall dran und muss einen Bericht abgeben.“

„Selbstverständlich“, sagte Horatio. „Es schadet nie, ein paar Leute kennenzulernen.“

Sie bestiegen wieder eine der arkanen Kutschen und ließen sich entlang der herrschaftlichen Villen und Schlösschen weiter den Berg hinauf befördern.

„Was ist das denn für ein Fall?“, fragte Horatio. Seine Neugier war geweckt. Hatte ihn Falk deshalb herbestellt? Immerhin hatte Horatio einen Ruf, was seine Beobachtungsgabe anging.

„Im Grunde ist das vertraulich“, sagte Falk gedehnt, „aber es geht um einen Einbruch in einer der Fabriken. Ich sagte ja, dass ich sie vor kurzem inspiziert habe.“

„Und? Erfolgreich gewesen?“ Horatios Augen leuchteten, denn er glaubte, die Antwort zu kennen.

Falk wiegte den Kopf. „Mehr oder weniger.“

„Ist sie denn wenigstens lukrativ, die Stellung als Persönlicher Ermittler? Ich sehe hier oben gar keine Wachleute patrouillieren.“ Horatio blickte an einer Hecke entlang, die eine Lücke an der Zufahrt ließ, ohne dass ein Tor oder ähnliches den Weg versperrte.

Falk nickte. „Der Zugang zur Himmelsstadt ist streng bewacht. Es führen nur die Gondel und ein paar bestens gesicherte Zufahrten hinauf. Dementsprechend gibt es hier oben auch kein Verbrechen.“ Falk wahrte seinen stoischen Gesichtsausdruck, schob jedoch nach: „Offiziell zumindest. Die Realität sieht wie immer ein bisschen anders aus, weshalb es mir auch keine Schwierigkeiten bereitet hat, hier oben als Ermittler eine Anstellung zu finden.“

„Also bist du so eine Art unsichtbare Stadtwache der Himmelsstadt?“, scherzte Horatio.

Falk strich sich über das Jackett und sah nachdenklich aus. „Gewissermaßen könntest du es so nennen. Als Persönlicher Ermittler meines Herrn würde ich automatisch zu seinem Untersuchungsgehilfen werden, wenn etwa einer der Angestellten etwas entwendet oder es in der Zufahrt zu einem Kutschenunfall kommt.“

Horatio kniff die Augen zusammen. „Und wenn’s was Derberes wär? Ein Raubüberfall? Mord?“

Falk wirkte entsetzt. „In diesem Fall natürlich auch, aber wir wollen doch hoffen, dass es dazu niemals kommt.“

Horatio lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. Je höher sie kamen, desto nobler wurden die Paläste.

„Daher also der Passierschein für diesen Oberschichtbereich? Für deinen Polizistenjob?“, fragte er.

Falk räusperte sich. „Nun, ich habe mich an deine Ratschläge gehalten und die nicht unerheblichen Gewinne aus unseren Artefaktjagden investiert und was soll ich sagen? In Ferra kann man mit Geld fast alles kaufen, einschließlich Status. Mein Heim liegt zwar in der untersten Ebene der Himmelsstadt, aber immerhin noch deutlich über dem Rauch. Insofern kann ich mich glücklich schätzen.“ Er sah Horatio mit tiefer Wärme im Blick an. „Danke, mein Freund.“

Horatio lächelte. „Freut mich zu hören.“

Die Kutsche hielt vor einem stattlichen Gebäude, das von einer weitläufigen Grünanlage umgeben war. Falk stieg aus und half Horatio aus der Kabine.

„Da wären wir“, sagte er und strich sein Jackett glatt. „Das Boltenstein-Anwesen.“ Er deutete eine Verbeugung an und wies in Richtung des Schotterwegs. „Alter vor Schönheit.“

Mit einem Augenzwinkern erwiderte Horatio: „Dann hab i ja in beiden Fällen den Vortritt“, und ging voran.

Der Garten des Herrenhauses lag verwildert und brach vor ihnen. Horatio hatte schon bemerkt, dass man in Ferra nicht annähernd so viel Wert auf gepflegtes Grün legte wie in Revenshain, doch selbst für Ferraner Verhältnisse war dieser Garten in einem desolaten Zustand. Es tat ihm in der Seele weh, welch Potenzial hier verschwendet wurde.

Sie hatten den Haupteingang fast erreicht, als ihnen eine junge Orkfrau von der Hausecke aus zuwinkte. Sie hatte lockiges, blondes Haar, das einen hübschen Kontrast zu ihrer sattgrünen Haut bildete. Falk lief sofort los, Goswin folgte ihm mit fliegenden Zöpfen. Horatio selbst ließ sich Zeit, zu den beiden aufzuschließen.

Er konnte sehen, dass Falk und die junge Frau Zuneigung verband. Falk hatte sich immer ein wenig schwer getan mit den Damen, da er sehr pflichtbewusst war. Als Halbork hatte er auch immer das Gefühl, sich besonders beweisen zu müssen. Das hatte er ihm einmal sogar offen anvertraut.

„Horatio, darf ich dir Freydis vorstellen?“ Falks zartgrünes Gesicht färbte sich an den Wangen dunkel. Er sah sehr glücklich aus, als er „Meine Verlobte“ hinzufügte.

Horatio lächelte und reichte Freydis die Hand. „Sehr erfreut, meine Dame. Sind Sie die Hausherrin?“

Freydis winkte lachend ab. Sie trug ein marineblaues Sommerkleid mit einer weißen Schürze und derbe, dreckstarrende Stiefel. „Nein, das ist mein … Vormund Barnabas Boltenstein.“ Ihre Stimmung kühlte merklich ab, als sie seinen Namen aussprach, doch fing sie sich sofort wieder. „Und Sie sind also der berühmte Horatio Rabenfeld, der sagenumwobene Revenshainer Artefaktjäger, der uns die Lichtmagie von Reginaldsfort und die Transportrunen von Stroffenfels gebracht hat? Man sagt, an Ihnen wäre ein Kasadier verloren gegangen.“

Horatio hob die Augenbrauen. Mit einem Schmunzeln erwiderte er: „Zu viel der Ehre. Ich war hauptsächlich für die ganzn verkopften Sachen zuständig. Die großen Abenteuer haben andere erledigt. Außerdem warn wir eine ganze Truppe und auch unser tapferer Falk hier hat einiges aus den Ruinen der Alten Welt geborgen, was sich als äußerst nützlich erwiesen hat.“

„Tapfer! Ha!“ Falk räusperte sich. „Wenn ich wirklich tapfer wäre, hättest du deinen Job nicht aufgrund deiner Verletzung an den Nagel hängen müssen.“ Er wirkte geknickt. „Etwas, das mich bis heute nicht loslässt.“

Horatio klopfte ihm auf die Schulter. „Na na, lass ma die Vergangenheit ruhen.“ Er deutete zur Haustür. „Gehen wir denn noch hinein oder sind wir hier schon fertig?“

„Oh, doch, das hier war nur ein inoffizielles Treffen.“ Falk verabschiedete sich mit einem schnellen Kuss und einem Papier, dass er Freydis unauffällig in die Hand drückte. Sie zog sich hinter die Hausecke zurück, während Falk Horatio zum Haupteingang führte. Goswin packte Horatio an der Jacke und hüpfte auf und ab.

„Hm?“ Horatio folgte dem hektischen Deuten dreier der vier Arme des Gnoms zu einem Fenster des Westflügels hinauf. Eine Frau mit strengem Blick beobachtete sie. „Wer ist denn des?“, fragte Horatio seinen Freund.

Falk drehte sich um, doch die Frau war verschwunden. „Wer?“

„Eine Menschenfrau, vermutlich an die fünfzig Sommer, mit hochgeschlossenem Gewand und Turmfrisur.“

„Ah, das klingt nach Barnabas’ Sekretärin. Minerva. Ich finde sie, unter uns gesagt, ein bisschen gruselig.“ Falk fuhr sich mit dem Finger unter den Hemdkragen.

Als sie endlich die Vordertür erreichten, öffnete ein müde wirkender Ork, der schon bessere Jahre gesehen hatte. Wortlos lenkte er einen fragenden Blick von einem der beiden Männer zum anderen und wieder zurück.

„Guten Tag, Baldwin. Das hier ist ein alter Freund aus Revenshain, Horatio Rabenfeld.“ Falk holte ein gefaltetes Papier aus der Tasche. „Ich wollte nur schnell Herrn Boltenstein meinen Bericht übergeben. Dürfen wir reinkommen?“

Der Bedienstete hob die Augenbrauen, als sein Blick auf Goswin fiel. Nur einen Augenblick später schien er das Interesse an ihm wieder verloren zu haben. Achselzuckend wandte er sich um und schlurfte ins Haus. „Hier lang.“

Falk entledigte sich seiner Jacke und seines Huts, indem er sie an einen Haken neben der Tür hängte. Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte er sich an Horatio. „Baldwin ist nicht unbedingt der tüchtigste Hausdiener.“ Er half seinem alten Freund aus der Jacke und hängte sie an einen weiteren Haken. Stolz sagte er: „Aber zum Glück haben wir in Ferra dafür unsere Apparaturen.“

Er drückte mehrere Knöpfe auf einer Tafel. Mit einem leisen Rattern fuhren die Kleidungsstücke an der Wand entlang zu einem Schrank, der sich wie von Geisterhand öffnete und hinter ihnen schloss.

„Ich weiß nicht, warum Barnabas dem alten Kauz so ein Verhalten durchgehen lässt. Er beweist jeden Tag aufs Neue, dass seinesgleichen leicht zu ersetzen ist.“ Falk stutzte. Er strich sich über den Hinterkopf. „Jetzt rede ich schon wie der Hausherr. Es ist zwar schade, aber mit der neuesten Technik braucht man fast kein Personal mehr. Der Küchenapparatus, den sich Barnabas vor einem halben Jahr hat einbauen lassen, ist ein gutes Beispiel dafür. Kurz danach hat er die Köchin gefeuert. Schade eigentlich. Ich mochte ihren Auflauf …“

Ein ungeduldiges Räuspern unterbrach Falks Ausführungen. Baldwin stand am Ende des Ganges und sah sie mit einer Mischung aus Langeweile und Verärgerung an.

Während sie dem Hausdiener folgten, ließ Horatio den Blick schweifen. Den Eingangsbereich des Anwesens dominierten verzierte Marmorsäulen, die links und rechts neben der Freitreppe thronten. Gemälde, die die Errungenschaften ezranekherischer Metallkunst darstellten, hingen an den Wänden. Doch wie auch der Garten wirkte hier alles etwas speckig und abgegriffen. Einige halb vertrocknete Zimmerpflanzen vegetierten vor sich hin, der Fußboden wies Sprünge auf, die arkanen Lichter vermittelten den Eindruck, als würden sie beim Aktivieren der Runen eher zerspringen als leuchten.

Der Hausdiener führte die drei durch die Eingangshalle den Flur nach rechts hinunter in den Seitenflügel, wo er vor einer der prunkvollen Holztüren stehen blieb und anklopfte.

„Herein!“, tönte es von drinnen.

Baldwin öffnete und wollte gerade die Besucher ankündigen, als Goswin mit einem begeisterten Quietschen an ihm vorbeisprang. Er tanzte mit hüpfenden Zöpfen durch den Raum, kletterte auf eines der Bücherregale und zog ein Buch heraus. Schnell blätterte er es durch, legte es behutsam zur Seite und nahm sich sofort das Nächste vor.

„Goswin, du gspunads Oachkatzl! Hör auf damit, wir sind hier Gast!“, rief Horatio erschrocken. Er wollte keinesfalls riskieren, dass sein Begleiter in Schwierigkeiten geriet, noch dazu in der Fremde.

„Ja, was haben wir denn da?“ Barnabas Boltenstein, ein übergewichtiger, alternder Ork, umrundete seinen Schreibtisch und baute sich grinsend vor dem Gnom auf. „Fünfzigtausend und keinen Dukaten mehr“, sagte er.

„Bitte was?“, fragte Horatio.

„Also schön, Sechzig. Aber das ist mein letztes Angebot!“ Boltenstein stampfte auf ihn zu. „Sie sind ein Artefaktjäger, nicht wahr? Wer sonst verkauft heute noch Kuriositäten von Tür zu Tür und hat überdies noch einen Gnom im Angebot? Aber Sie haben Glück, ich bin guter Laune und so was Hübsches fehlt noch in meiner Sammlung.“ Er beäugte Horatio schräg von der Seite. „Obwohl Sie, zugegeben, etwas, wie soll ich sagen, gewöhnlich wirken. Ich hätte größere Entstellungen vermutet.“

„Wos is los?“ Horatios Schnurrbart zog sich zusammen.

„Na, wenn Sie wahrlich die Chaoslande als Artefaktjäger durchstreift hätten, sollte man dies doch auch an Ihrer Gestalt feststellen können.“ Er fuhr sich in einer Kreisbewegung ums Gesicht und an seinem üppigen Wanst hinab. „Nicht wahr?“

„I glaubs ja woi!“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Horatio nur Probleme gehabt, dem Gespräch zu folgen, jetzt aber stieg eine herztiefe Grantigkeit in ihm auf. „I hab mehr als 40 Jahre an Expeditionen teilgenommen, da kannt Ihrereiner sich…“

„Ach kommen Sie, mein Bester“, unterbrach ihn Barnabas. „Ich verstehe nur zu gut, dass ein ansprechendes Narrativ bei den feisten Damen die Preise gut nach oben treibt. Das nehme ich Ihnen nicht krumm, verstehen Sie mich nicht falsch, denn es zeugt ja von Geschäftstüchtigkeit und die respektiere ich. Aber vielleicht denken Sie einmal über etwas Schminke oder Ähnliches nach.“ Er tippte Horatio vor die Brust. „Wenn Sie sich ein bisschen Farbe ins Gesicht kleistern, ein Buckel käme auch sicher gut an, dann könnten Sie die Einwirkungen des Chaos bereits wirksam darstellen.“

Boltenstein hob die Hände und lächelte gönnerhaft. „Nicht zu viel, versteht sich. Die Leute sollen sich ja nur ein wenig gruseln, nicht vor Angst davonlaufen.“

„Bluadiga Hehnagropf! Und was wissen Sie über die Chaoslande? Kennen S’ den Unterschied zwischen de Nahen und de Fernen Chaoslande? Waren S’ schon mal da? Wissen S’, was eine mobile Stabilisatoranlage is oder ham S’ schon mal in einer Ruine einen Schutzkreis eingerichtet?“

„Ach was!“ Barnabas wischte die Fragen unwirsch beiseite. „Man muss nicht in den Chaoslanden gewesen sein, um darüber Bescheid zu wissen. Aber lassen wir uns nicht vom Geschäft ablenken. Fünfundfünfzig war Ihr Preis, nicht wahr?“ Er hielt ihm die Hand hin. „Schlagen Sie ein.“

„Kimmt ned infrage!“ Horatios Hände verkrampften sich um seinen Gehstock. „Goswin! Komm jetzt sofort hierher!“, rief er scharf.

Goswin zuckte mit den Schultern und trottete wieder an Horatios Seite, wo dieser ihn instinktiv hinter sich schob.

„War das etwa ein Nein?“, fragte Boltenstein mit zusammengekniffenen Augen.

Falk schob sich zwischen die beiden. „Ich wollte eigentlich nur schnell meinen Bericht abgeben“, sagte er und faltete das Papier auf.

„Das kann warten. Zuerst müssen der Herr und ich die Besitzverhältnisse des Gnoms klären.“

„Da gibt es nichts zu klären“, sagte Horatio barsch. „Er steht ned zum Verkauf.“

Boltenstein, noch immer mit zusammengekniffenen Augen, nickte langsam. „Na gut. Sie sind ein harter Brocken, verstehe. Kommen Sie mit.“

„Barnabas, ich …“ begann Falk, doch Boltenstein schnitt ihm das Wort ab. „Mitkommen!“

Der Hausherr wandte sich der Tür zu, in der noch immer Baldwin stand. „Weggetreten, Bursche“, sagte Barnabas mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und scheuchte ihn fort.

Falk und Horatio tauschten Blicke. Goswin hielt sich dicht hinter ihnen, als sie dem Hausherrn über die Freitreppe hinauf in einen großen Raum im Hauptgebäude folgten. Gerade als Boltenstein die Tür öffnete, fuhr ein Windstoß hindurch und stieß krachend die Balkontüre an der gegenüberliegenden Wand auf.

„Ist diese verdammte Tür noch immer nicht repariert. BALDWIN!“ Barnabas’ Brüllen hallte durch die Gänge seines Anwesens. „Ich hab ihm schon dutzende Male gesagt, er soll den Verschluss wieder festschrauben, damit sich die vermaledeite Tür endlich wieder verriegeln lässt. BALDWIN!“

Mit einer laustarken Schimpftirade stampfte der Hausherr quer durch ein Zimmer, das mit allerlei Ausstellungsstücken vollgestopft war. Viele davon weckten Horatios Interesse, doch die Beliebigkeit, mit der sie hier gezeigt wurden, versetzte ihm einen Stich. Es wirkte, als dienten die Kostbarkeiten nur der Zurschaustellung von Macht und Reichtum, ohne den nötigen Respekt für ihre Schönheit und Einzigartigkeit. Porzellan klirrte im heftigen Zug, Blätter raschelten, Stoffe bauschten sich. Wütend schlug Barnabas die Balkontür wieder zu und stellte einen Stuhl davor. Horatio sah gleich, dass dieser den nächsten Windstoß nicht würde aufhalten können.

„BALDWI…! Ah, da bist du ja.“ Der Diener stand in der Tür und blickte ausdruckslos in den Raum. „Reparier endlich diese verdammte Tür. Marsch-marsch.“

„Jaja“, nuschelte Baldwin und schlurfte wieder davon.

„So wie ich den alten Taugenichts kenne, fliegt mir die Tür auch in einem Mond noch auf. Aber wo waren wir? Ach ja!“ Barnabas wandte sich wieder Horatio zu. „Ich bin Sammler“, sagte er, „und wie Sie sehen, einer der erfolgreichsten Ferras. Meine Trophäen sind die seltensten.“ Er strich mit der Hand über die Bronzestatue einer Orkkriegerin mit erhobenem Speer. „Und die ausgefallensten.“ Sein fleischiger Finger deutete auf eine Konstruktion, die vermutlich einmal Teil einer Maschine in der Alten Welt gewesen war, deren Verwendung niemand mehr kannte. „Erst vor kurzem hab ich wieder ein paar sehr exklusive Stücke hinzufügen können.“ In seinen Augen lag ein Glitzern, das Horatio frösteln ließ.

„Siebzigtausend“, sagte er dann mit einem Tonfall, der unmissverständlich klar machte, dass er keine Widerrede duldete.

Falk neigte den Kopf und lächelte besänftigend. „Werter Barnabas, ich hatte noch keine Gelegenheit euch einander bekannt zu machen: Das ist Horatio Rabenfeld, mein alter Freund und Mentor aus meinen Tagen der Artefaktjagd. Er ist nur zufällig gerade zu Besuch und ich wollte ihm meinen zukünftigen Schwiegervater vorstellen. Der Gnom ist wirklich unverkäuflich.“

Barnabas seufzte. Er verzog das Gesicht zu etwas, das einem Lächeln ähnelte und schüttelte Horatio die Hand. „Ich verstehe, ich verstehe. Dann machen Sie mir doch wenigstens die Freude und kommen Sie heute Abend wieder. Ich gebe einen kleinen Empfang, nur für bedeutende Leute, und Falks Freunde sind schließlich auch meine Freunde.“ Er klopfte Horatio auf die Schulter. „Aber bringen Sie den Gnom mit. Wenn ich ihn schon nicht kaufen kann, so würde ich ihn doch zumindest gern der noblen Gesellschaft Ferras vorstellen dürfen. Wären Sie so freundlich?“

Horatio blickte unsicher zu Falk, doch dieser zuckte nur mit den Schultern. „Ja mei, warum ned?“, sagte er schließlich überrumpelt. „Dann kimm I hoid, wenn‘s sei muaß, du Gschaffdlhuawa du nediga.“

Barnabas runzelte die Stirn. „Was sagt er?“

Mit einem Räuspern und einem Seitenblick auf Horatio dolmetschte Falk. „Er würde sich sehr freuen und dankt für die Einladung.“

„Ausgezeichnet!“ Barnabas klatschte in die Hände. „Nun zu deinem Bericht, Falk.“ Er warf Horatio einen prüfenden Blick zu.

„I geh scho wieda“, sagte Horatio und wollte sich zurückziehen, doch Barnabas gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. „Bleiben Sie, Artefaktjäger. Ich möchte gerne hören, was Sie davon halten.“

„Dann so.“ Horatio stützte sich auf seinen Gehstock und achtete darauf, dass Goswin hinter ihm blieb und nichts anfasste.

Barnabas fasste Falk bei der Schulter. „Also, mein Junge, was hast du herausgefunden?“

Falk straffte sich. „Ich habe die Mitarbeiter der Nachtschicht und das Wachpersonal befragt. Von denen will keiner etwas bemerkt oder gesehen haben. Allerdings konnte ich die Tatzeit schon eingrenzen.“ Er holte seinen Notizblock hervor. „Einbruchsspuren waren keine festzustellen. Der Einbrecher muss folglich in der Belegschaft zu suchen sein.“ Er steckte den Notizblock wieder weg. „Jemand hat sich irgendwie einen Schlüssel zum Büro verschafft. Wie genau, werde ich noch prüfen müssen. Ich nehme nicht an, dass du deinen Schlüssel vermisst?“

Barnabas rümpfte die Nase. „Falls ihn jemand entwendet hat, hat er ihn zurückgelegt, bevor mir sein Verschwinden auffallen konnte.“

Falk nickte. „Ich werde das morgen weiter verfolgen und dich auf dem Laufenden halten.“

Horatio bemerkte, dass sich Barnabas’ Gesicht für einen Sekundenbruchteil verfinsterte, bevor er sich zusammenriss und erneut den Anschein des väterlichen Freundes erweckte. „Sehr gut, Falk. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

Horatio drängte sich das Bild der Fallgrubenspinne vom Bahnhof auf. Erst war Boltenstein aufgescheucht worden, doch nun, da er wieder in seiner selbstgegrabenen Falle saß, behielt er alles genau im Auge, darauf wartend, dass seine Beute einen Fehler beging, um dann blitzschnell und gnadenlos zuzuschlagen.

Horatio wollte sich nun endlich verabschieden, denn Barnabas’ Gesellschaft sagte ihm immer weniger zu, da ging die Tür auf. Die lange Frau, die er am Fenster gesehen hatte, kam herein. „Verzeihung, die Herren, aber die Morgenpost ist soeben eingetroffen.“ Sie reichte Barnabas einen Stapel Briefe, darunter einen unbeschrifteten Umschlag, der sofort Horatios Aufmerksamkeit erregte.

Barnabas erging sich in Belanglosigkeiten, während er die Post durchsah. Bei dem unbeschrifteten Umschlag stutzte auch er. Eilig öffnete er ihn und überflog die wenigen Zeilen. Sein Gesicht verfärbte sich violett. Er zerknüllte das Blatt und warf es gegen die Wand. „Da hört sich doch wohl alles auf!“

„Was ist los, Barnabas?“ fragte Falk besorgt.

Barnabas’ Gesicht leuchtete so ob des Zornesvioletts, dass man ihn für einen Phönixfalken halten konnte. „Ein schändlicher Drohbrief! Jemand wagt es, mir, Barnabas Boltenstein, zu drohen!“

Horatio schien es, dass die Überraschung Boltenstein diese Worte entlockt hatte. Unter normalen Umständen hätte er vermutlich zuvor seine Möglichkeiten abgewogen. Als wolle er Horatios Verdacht bestätigen, räusperte sich Boltenstein und strich sich übers Jackett. „Wie auch immer. Für heute können wir das auf sich beruhen lassen und den Empfang genießen.“ Er legte Falk den Arm um die Schulter. „Ich kann mich doch darauf verlassen, dass du mir den Rücken freihältst und darauf achtest, dass mir nichts passiert. Nicht wahr, mein Junge?“

Falk sah besorgt aus. „Barnabas, das sollten wir ernst nehmen. Ein Drohbrief, sagst du? Darf ich …“

Er wollte das zerknüllte Papier aufheben, doch Barnabas hielt ihn an der Schulter fest. „Nein, schon gut, so wichtig ist das nicht. Lass mal gut sein. Das Mädchen soll den Unrat wegräumen und wir müssen hier noch jede Menge für heute Abend vorbereiten.“ Er gestikulierte in Richtung Haupteingang. „Baldwin! Unsere Gäste wünschen zu gehen!“

Der Hausdiener kam herein. „Bitte zu folgen“, nuschelte er und schlurfte voraus. „Als ob sie den Weg nicht kennen würden“, fügte er kaum hörbar an.

Falk und Horatio tauschten Blicke, ließen sich jedoch hinauskomplimentieren.

„Wir sehen uns heute Abend!“, rief ihnen Barnabas nach. „Kommt nicht zu spät!“

„Nun, damit sind wir wohl um eine Erfahrung reicher“, sagte Falk, als sie vor der Tür standen. „Dann bringe ich dich und Goswin mal zu eurer Unterkunft.“

„Des gfällt mir ned“, murmelte Horatio und spähte auf seinen Stock gestützt zum Trophäenraum hinauf. „Hast was erkennen können vo dem Brief? Ist des was Ernstes?“

Falk seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Schwer zu sagen. Barnabas hat viele Feinde, aber auch viele Freunde. Es könnte eine harmlose Drohung sein, um ihn einzuschüchtern, oder es könnte etwas Gefährlicheres dahinterstecken. Ich werde die Augen offen halten.“

„Und dieser Empfang heute Abend? Wird das eine große Gesellschaft?“ fragte Horatio. Sie gingen die Auffahrt hinunter und steuerten auf eine der wartenden arkanen Kutschen zu.

„Nein, keine Angst“, antwortete Falk. „Barnabas hält nichts von großen Gelagen. Das gierige Volk der Oberstadt soll sich nicht auf seine Kosten die Bäuche vollschlagen, wie er zu sagen pflegt. Ein paar Claqueure sind immer dabei, das gehört zum guten Ton, aber ansonsten wählt er seine Gäste sehr gezielt aus.“ Er stieß Horatio freundschaftlich mit der Schulter an. „Dementsprechend wird es eine schöne Gelegenheit, ein paar der interessanteren Bewohner Ferras kennenzulernen.“

Sie stiegen in die Kutsche, und Falk nannte dem Fahrer die Adresse der Unterkunft.

„Naa, so ganz nach meinem Geschmack is des ned, aber es wär wohl unhöflich, ned zu kommen.“ Horatio beobachtete die protzigen Villen, die mit jedem Höhenmeter, den sie sich den unteren Bezirken näherten, ein Stückchen kleiner wurden.

„Ja, tut mir leid, dass ich dir das nun ans Bein gebunden habe. Andererseits bin ich froh, dass du dabei sein wirst, denn ich könnte mir vorstellen, dass … na ja, wer weiß, wen wir dort treffen, nicht?“ Falk lachte unbehaglich.

„Na, du weißt es, oder ned?“, sagte Horatio.

Falk zögerte, wieder schien ihm etwas auf der Zunge zu liegen, aber er winkte nur ab. „Ja, natürlich, du hast recht.“

Horatio entschied, nicht weiter nachzuhaken, was da wohl noch für Geheimnisse auf den rechten Augenblick warteten, um von seinem Freund an ihn herangetragen zu werden. Er bekam mehr und mehr den Eindruck, dass nicht nur die Einladung nach Ferra, sondern auch die zum Empfang des Boltenstein mit Hintergedanken geschehen waren.

Nach einer kurzen Fahrt erreichten sie eine Pension, die in einem hübschen, zweistöckigen Gebäude untergebracht war. Ein gepflegter Garten mit blühenden Sträuchern und schattenspendenden Bäumen erstreckte sich vor dem Haus, und der Portier, der sie begrüßte, schien bester Laune. „Willkommen, meine Herren! Ihr Zimmer ist bereits vorbereitet“, sagte er mit einem Lächeln und führte sie die Treppe hinauf zu einem Zimmer im ersten Stock.

Die Einrichtung wirkte großzügig, Bett und Sessel sahen bequem aus und es gab sogar einen Schreibtisch. Vom Fenster aus sah man direkt hinter den Bäumen die dicken Rußwolken der Unterstadt aufsteigen. „Danke für die Gastfreundschaft“, sagte Horatio und ließ sich auf das Bett fallen. „Des ist ein ganz passables Eckchen hier.“

Falk lächelte. „Freut mich, dass es deine Zustimmung findet. Ich habe noch ein bisschen was für den Empfang vorzubereiten, ruh dich derweilen aus. Ich hole dich in drei Stunden ab.“ Er deutete auf eine Konstruktion an der Wand, in der Horatio erst bei genauerem Hinsehen auch ein Ziffernblatt erkannte. Die restlichen Zeiger und Scheiben blieben ihm aber ein Rätsel. „Ich stell dir eine Erinnerung ein.“

Sichtlich stolz begann Falk an mehreren Rädchen zu drehen und legte schließlich einen kleinen Hebel an der Seite um. Goswin stand neben ihm und beobachtete jeden Handstreich genau.

„Des Drum geht aber ned plötzlich in die Luft, oder?“, fragte Horatio vorsichtig aus gebührender Entfernung. Als alter Artefaktjäger wusste er nicht so recht, was er von der Bastelwut der Ezranekherer halten sollte. Verstanden sie wirklich, was sie taten, oder hatten sie bisher einfach nur Glück gehabt, dass ihnen ihre Versuche, den alten Chaosbändigern nachzueifern, noch nicht um die Ohren geflogen waren?

Schlimmer waren nur noch die Lunari und deren verrückten Experimente.

„Keine Angst, mein Freund. Von denen hat jeder hier in der Himmelsstadt mindestens eines im Haus. So, jetzt muss ich aber los.“

„In Ordnung“, sagte Horatio. „Bis später.“

Nachdem Falk gegangen war, setzte sich Horatio auf den Sessel und zog seine Stiefel aus. Goswin hatte offenbar genug vom Artigsein und erkundete neugierig das Zimmer. Er untersuchte die Schubladen des Schreibtisches, kletterte auf das Bett und sah aus dem Fenster hinaus.

Horatio lächelte. „Was für ein Tag, nicht wahr? Zuerst die lange Reise, dann die Begegnung mit Barnabas und dieser mysteriöse Drohbrief. Es scheint, als wäre Ferra voller Überraschungen.“

Zwei von Goswins Armen stritten sich um ein zerknülltes Stück Papier, das sie aus seiner Rocktasche geholt hatten. Horatio erschrak. War das etwa der Drohbrief? Der Kleine steckte nur allzu gern wahllos Dinge ein, was Horatio schon mehr als einmal Ärger eingehandelt hatte.

Er nahm ihm den Zettel ab und entfaltete ihn. Es handelte sich um eine Broschüre mit Freizeitangeboten in der Stadt, die Goswin wohl am Bahnhof aufgelesen haben musste. Kopfschüttelnd und auch ein klein wenig enttäuscht gab Horatio ihm das Papier zurück. Zugegeben, kurz hatte ihn die Neugierde gepackt.

„Ich frage mich, was wir von diesem Empfang erwarten können“, fuhr er fort. „Wie die Elite Ferras wohl so ausschaut? Wenn die alle so sind wie der Ruaskoda Barnabas, na dann Habedere!“ Er lehnte sich zurück und seufzte. „I bin seit drei Stund’ hier und vermiss schon mein Revenshain. Aber andererseits – wo wär des Abenteuer, wenn wir nur daheim blieben?“

Goswin wandte sich ihm zu, als hätte er ihn verstanden, und lächelte. Die beiden Hände, die nicht mit dem Papierbällchen befasst waren, breiteten sich aus und bildeten eine runde Form, die wohl ein Luftschiff darstellen sollten, denn Goswin sprang auf und glitt mit Fluggeräuschen durch den Raum.

„Recht hast, mein Freund!“ Horatio schlug sich auf die Oberschenkel und stand auf. „Dann wollen wir uns auch mal vorbereiten, gell?“

Während Goswin weiterhin umherhüpfte, packte Horatio seine Reisetasche aus und machte sich frisch. Danach setzte er sich in den Sessel und sah aus dem Fenster. Ein Knistern lag in der Luft, und auch, wenn er diese verkniffene Snob-Gesellschaft nicht gerade schätzte, so spürte er doch, dass es hier Rätsel gab, die sich ihm zu entziehen suchten, und das weckte seine Lebensgeister.

So vertieft, wurde Horatio plötzlich von einem Höllenlärm aufgeschreckt. Es dauerte einen Moment, bis er ihn der Konstruktion an der Wand zuordnen konnte. „Bluadigs Dreggsglump“, schimpfte er. „Wie geht des nu wieder aus?“ Wahllos schraubte er an den Schaltern und Rädchen herum, was das Gerät jedoch nur dazu brachte, auch noch aufgeregt zu schnattern. Resigniert gab Horatio sein Unterfangen auf und beschloss, die Uhr in eine Decke zu wickeln, damit sie wenigstens nicht so laut war. Er hatte gerade eine vom Bett gepflückt, als der Lärm verstummte. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass das Goswin zu verdanken war.

„Ah, du bist meine Rettung. Für so was hast wirklich a Händchen.“ Mit einem erschöpften Seufzen ließ er sich aufs Bett sinken. Dann aber erst wurde ihm klar, was das ganze Spektakel zu bedeuten hatte. „Durchgmatschda Schdreisslkuacha, jetzt müss ma uns wirklich beeilen, Goswin“, sagte Horatio und setzte seinen Hut auf. „Falk wird bald hier sein.“

Drei von Goswins Armen tätschelten Horatio den Rücken, der vierte wirbelte einen Zipfel des Gnomenkleids umher.

„Danke, mein Freund“, sagte Horatio lächelnd. „Mit dir an meiner Seite kann nichts schiefgehen.“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, klopfte es an der Tür. Falk trat ein, elegant gekleidet und sichtlich nervös. „Bereit?“

Horatio nickte. „So bereit, wie’s halt geht.“

Erster Abend

Die Kutsche summte vor arkaner Energie und rumpelte über die kopfsteingepflasterten Straßen in die höheren Ebenen der Himmelsstadt. Horatio saß neben Falk und sah aus dem Fenster, während Goswin das Innere der Kutsche genau in Augenschein nahm.

„Schau ma moi, was uns heut Abend erwartet“, murmelte Horatio und betrachtete die Lichter der Villen, die an ihnen vorbeizogen.

Falk wirkte wieder unbehaglich, lächelte aber, als Horatio ihn ansah. „Es wird sicherlich ein Spektakel. Das sind Barnabas’ Empfänge immer.“

Schon bald darauf erreichten sie das Anwesen. Ihre Kutsche war die dritte in der Reihe der Wartenden. Gerade stieg eine bildhübsche Orkin in einem aufgebauschten, pinkfarbenen Kleid aus. Ihre Hauer zierte jeweils ein winziger Diamant, der im Licht der arkanen Laternen glitzerte. Der mürrische Hausdiener Baldwin strich ihren Namen von der Gästeliste und winkte sie vorbei.

Als die Reihe an Horatio und Falk kam, öffnete der Kutscher ihnen die Tür. Baldwin notierte auch ihr Eintreffen mit einem leise gemurmelten „Eisenthal, Rabenfeld angetreten“ auf der Gästeliste und winkte sie hindurch.

Die Eingangshalle wirkte jetzt etwas gepflegter, was vermutlich der arkanen Beleuchtung geschuldet war, die in warmen Farben glühte und sie so in ein gütiges Licht tauchte. Im Festsaal, der durch zwei Türen links und rechts der Freitreppe zu erreichen war, glitzerte ein mit Dutzenden Kristallen behängter Kronleuchter. Hier zierten Gemälde die Wände, die offenbar von Barnabas’ Erfolgen erzählen sollten. Jedenfalls zeigten sie ihn in verschiedenen Siegesposen, wie er eine Ehrung des Stadtrates entgegennahm, wie er einer Gruppe orkischer Geschäftsleute einen Handel abrang, wie er einen Phönixfalken mit bloßen Händen bezwang. Horatio hob die Augenbrauen. Dieses Gemälde entsprang vermutlich eher einem Fiebertraum als der Realität.

Das leise Klirren von Gläsern mischte sich mit der sanften Musik des Harfenisten in der Ecke des Raumes. Einige der Gäste unterhielten sich leise, die meisten aber wirkten unterkühlt. Ein schwerer Duft von Räucherwaren und Blütenessenzen durchzog den Raum, vermischt mit dem Aroma frisch zubereiteter Speisen. Eine süßliche Note von mit Honig glasiertem Wild hing in der Luft, die Aromen von gekochten Knollen und Kräutern lagen darunter und versprachen die typisch ezranekherische Schärfe der Speisen, die Horatio schon durch ihren Geruch Magenbeschwerden bereitete.

Gerade, als sie sich unters Volk mischen wollten, bemerkte Horatio Minerva am Zugang zum Dienstbotentrakt. Sie hatte einen jungen Ork beim Ohr gepackt und schimpfte mit ihm. „Du Nichtsnutz!“ Ihre Stimme klang gedämpft und doch wütend. „Wie kannst du es wagen, dich vor der Arbeit zu drücken? Es gibt noch so viel zu tun! Es reicht, dass du mitten in der Nacht ständig auf die Toilette rennst.“

Der Junge hatte die Schultern hochgezogen und hob abwehrend die Hände. „Es tut mir leid!“, rief er.

„Der Herr Boltenstein wird davon erfahren!“, sagte Minerva. „Jetzt ab in die Küche mit dir!“

Auch Falk bemerkte den Tumult. Er wartete ab, bis der Junge verschwunden war. Mit freundlicher Miene trat er an Minerva heran. „Gutes Personal ist schwer zu finden, hm?“

Die Sekretärin seufzte und faltete die Hände. „Was kann ich für Sie tun, Falk?“

„Könnten Sie mir sagen, wo Freydis ist? Ich möchte sie zum Empfang führen.“

Minerva zögerte, ihr Blick flackerte. „Freydis fühlt sich nicht wohl“, sagte sie. „Es ist besser, wenn sie auf ihrem Zimmer bleibt.“

Falk runzelte die Stirn. Gerade wollte er noch einmal ansetzen, da kam Barnabas auf ihn zu. „Falk, altes Haus!“, rief er mit einem breiten Grinsen. „Schön, dass ihr da seid!“ Er legte die Arme um ihn und Horatio und schlenderte mit ihnen in Richtung des Buffets, wo sich die meisten Gäste eingefunden hatten. „Und der Gnom ist auch dabei. Formidabel! Sie sind sicher, dass Sie ihn nicht verkaufen wollen?“

„Ganz sicher“, erwiderte Horatio. Es taugte ihm nicht, so jovial herumgeführt zu werden, doch hatte sich inzwischen eine erkleckliche Menge Ungereimtheiten angesammelt, dass er dennoch die Gelegenheit nutzte, Barnabas so nahe zu sein. „Haben Sie den Verfasser des Drohbriefs schon zur Rede gestellt?“, fragte er.

Barnabas’ Miene verfinsterte sich. „Er war nicht unterzeichnet, mein Lieber, sonst hätte ich denjenigen – oder sollte ich besser sagen, diejenige – schon längst der Obrigkeit überstellt.“

Horatio nickte nachdenklich.

„Ah, Giuliana!“, rief Barnabas da plötzlich. Er löste sich von Falk und Horatio und nahm ein Glas von einem automatisch durch den Raum rotierenden Tablett. Damit ausgestattet schlenderte er zu einer Menschenfrau in grünem Taft. „Welche Ehre, heute auch dich in diesem deinem ehemaligen Domizil begrüßen zu können.“ Er blieb direkt vor ihr stehen, ein süffisantes Lächeln im Gesicht.

Die Frau betrachtete ihn unter halb geschlossenen Lidern heraus mit einem schwer deutbaren Gesichtsausdruck.

„Ich hoffe, du hast die Ereignisse von damals hinter dir gelassen. Es muss doch schön sein, dein altes Heim in so guten Händen zu sehen, nicht wahr?“

Giuliana nickte ihm zu und wandte sich dann ab. Mit steinerner Miene nahm sie ebenfalls ein Glas Sekt und nippte daran. Ein feiner, aber intensiver Geruch nach Pfirsich umgab sie wie eine Wolke, die sich vom alles durchdringenden Rauchgeruch abhob. Horatio bemerkte, wie Falk sie anstarrte. „Eine Lunari? Das wundert mich aber auch.“

Falk schien Horatio nicht gehört zu haben. Er fuhr sich mit dem Finger unter den Hemdkragen und räusperte sich. Als Giuliana sich zu ihm umwandte, eilte er an das Buffet und griff nach den Häppchen.

Horatio blickte seinem Freund nach. „Ihre Herkunft war’s wohl ned, die ihn aus’m Konzept gebracht hat.“

Eine Dienstmagd huschte an Falk vorbei. Hastig schluckte er seinen Bissen hinunter und berührte sie am Arm. „Anneli! Weißt du, was mit Freydis los ist?“

Anneli zögerte, warf einen nervösen Blick über die Schulter. Horatio folgte dem Blick und sah, dass er zu Minerva ging, die ihn streng erwiderte. „Ich … ich habe gehört, dass sie sich lautstark mit dem Herrn Boltenstein gestritten hat“, flüsterte sie hastig. „Mehr weiß ich nicht.“

Minerva winkte ihr, und Anneli eilte davon. Die Sekretärin sagte ein paar scharfe Worte zur Magd, die daraufhin mit eingezogenem Kopf weiterlief.

Horatio entschied, Minerva ein wenig im Auge zu behalten. Er sah, wie sie sich der pinkgekleideten Dame mit den glitzernden Hauern näherte und einige Worte mit ihr wechselte. Untypisch für die resolute Sekretärin hielt sie dabei den Kopf gesenkt und knetete ihre Finger.

Anfangs wirkte die Dame kühl, doch ihre Miene wandelte sich schnell. Horatio kitzelte wie so oft die Neugier. Als Falk, er und die alte Truppe noch regelmäßig die Ruinen der Großen Erbauer durchstreift hatten, war er es gewesen, auf dessen scharfes Auge und schnellen Geist sich alle verlassen hatten. So konnte er auch heute nicht aus seiner Haut und versuchte, unauffällig näher zu kommen.

Die Dame lächelte und nickte eifrig, während Minerva sich immer wieder umblickte. Horatio achtete sorgsam darauf, nicht in ihr Blickfeld zu treten. Als Horatio endlich in Hörweite gelangt war, berührte die Dame Minervas Handgelenk und lächelte ihr aufmunternd zu. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kümmere mich darum. Bei mir ist sie in guten Händen.“ Kurz darauf trennten sie sich.

Nachdenklich sah Horatio Minerva nach. Der junge Ork, mit dem sie zuvor geschimpft hatte, kam vorbei. Die Dame hielt ihn auf und griff nach einem der Brote. Hastig zog der Junge ihr das Tablett weg, nahm ein anderes Häppchen und reichte es ihr. „Die sind die besten!“, stotterte er und lächelte entschuldigend. „Nur das Beste für die Herrin Hohenstein.“

Ihre irritierte Miene wurde sanfter. „Danke, Jarik“, sagte sie.

„Sehr gerne! Äh, genießen Sie den Abend!“ Der Junge hastete weiter, als gelte es, ein Rennen zu gewinnen. Dabei entging ihm offenbar der Wink eines weiteren Gastes.

Die Dame Hohenstein sah ihm nach. Sie schien sein Verhalten ebenso ungewöhnlich zu finden wie Horatio. Als sie ihn bemerkte, betrachtete sie ihn interessiert. „Ist das ihrer?“ Sie deutete auf Goswin.

Horatio trat näher und nickte. „Ja, mein treuer Begleiter seit den Tagen in den Grenzlanden. Er heißt Goswin.“

Ein herber Parfümduft umgab die Frau, deutlich wahrnehmbar, doch durch den Rauch und die würzigen Gerüche des Salons nicht vollends zuzuordnen. Sie beugte sich herab und streichelte Goswins wippende Zöpfe. Er wandte sich zu ihr um und zupfte an ihrem Kleid. Sie lachte. „Was für ein putziges Kerlchen.“

„Das stimmt“, murmelte Horatio, während sein Blick weiterhin Jarik folgte, der gerade vor einer jungen, stämmigen Orkfrau in einem schwarzen Anzug stehen blieb und ihr eines der Brote vom Tablett reichte. Die Frau, die bisher etwas verloren gewirkt hatte, hielt das Häppchen mit grimmiger Miene fest, ohne davon abzubeißen.

„Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden“, sagte die Dame und reichte Horatio die Hand. „Solveig Hohenstein. Aber nennen Sie mich Solveig; ich verbinde nichts Gutes mit meinem Namen. Er ähnelt dem meines Ex-Mannes zu sehr.“ Sie neigte den Kopf.

Horatio riss sich vom Geschehen los, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Horatio Rabenfeld, Artefaktjäger außer Dienst.“

„Was führt Sie hierher? Sie sehen nicht aus wie ein typischer Ferraner.“ Offensichtlich spielte sie auf seine Wollweste und den Filzhut mit den Schmuckfedern an.

Horatio lächelte. „Danke, Sie aber auch nicht, verehrte Solveig.“

Sie hob die Augenbrauen. „Scharf beobachtet, mein Lieber. Ja, ich muss gestehen, dass mich das Fernweh quält. Ich bin schon zu lange hier und möchte endlich die Welt sehen. Sie kommen doch bestimmt aus Revenshain. Wie ist es da?“

„Grüner.“ Horatio musste bei dem Gedanken an seine Heimat lächeln. „Es gibt viel mehr Pflanzen und Tiere. Auch in den Städten. Außerdem ist die Luft besser und es ist nicht so … hoch und verraucht.“

Die Orkin musste lachen. „In der Tat, Sie scheinen nicht allzu glücklich darüber, hier zu sein.“

Horatio fühlte sich ertappt. „Nun … es ist nicht so, dass es mir hier nicht gefällt. Es ist nur so, dass …“

„Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen.“ Sacht legte sie eine Hand auf seinen Arm. „Ich finde es hier auch abscheulich.“

„So weit würde ich auch wieder nicht gehen. Es ist … gewöhnungsbedürftig.“

Solveig lächelte verschmitzt. „Sehr diplomatisch gesprochen. Ich gebe zu, dass meine Gefühle durch private Umstände zurzeit vielleicht etwas zu stark eingefärbt sind. Ferra hat seine guten Seiten, auch wenn mir gerade keine einfallen wollen.“ Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, als sie das Geräusch einer Gabel unterbrach, die nachdrücklich gegen ein Glas geschlagen wurde.

Barnabas, offenbar gut abgefüllt, stieg auf ein Podest, das vor der breiten Fensterfront zur Terrasse aufgestellt worden war.

„Meine Damen und Herren, hochverehrte Gäste“, begann er. „Ich möchte diesen Moment nutzen, um einige Worte zu sagen. Zunächst möchte ich mich bei Ihnen allen für Ihr Kommen bedanken. Es ist mir eine Ehre, Sie begrüßen zu dürfen.“ Er machte eine Pause und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. „Bevor ich beginne, möchte ich die Fragen bezüglich meines Mündels Freydis beantworten. Sie wäre wirklich gerne dabei gewesen, aber leider geht es ihr nicht gut. Seien Sie unbesorgt, es ist nichts Ansteckendes.“ Barnabas schlechter Scherz erntete nur ein knappes, pflichtschuldiges Lachen, was seine Laune nicht zu trüben schien. „Dennoch möchte ich die Gelegenheit nutzen und meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, wie schön es ist, sie in meinem Haus zu wissen. Es war mir nie vergönnt, selber Kinder zu haben, obwohl ich mich redlich bemüht habe.“

Solveigs Wangen färbten sich violett. Das Sektglas in ihrer Hand zitterte.

„Umso mehr freue ich mich, Freydis an jenem schicksalhaften Tag bei mir aufgenommen zu haben, als ihre Mutter auf so egoistische Weise entschied, sich das Leben zu nehmen. Da ihr Vater schon verstorben war, hatte das arme Kind niemanden mehr auf dieser weiten, von Chaos umringten Welt, sodass ich seither alles daran setze, ihr ein Zuhause zu schenken.“

Die Gäste murmelten zustimmend, Solveig aber schnaubte abfällig.

Barnabas fuhr fort: „Und weil wir gerade über Tote sprechen, die durch ihre Taten anderen so großes Leid zufügten – vor vielen Jahren hat ein Verräter nicht nur unsere geliebte Stadt in Gefahr gebracht, sondern auch das Leben zweier Personen zerstört, die mir nun nahestehen. Ich freue mich, sie an diesem Abend beide hier zu haben.“

Horatio hatte sich etwas an den Rand geflüchtet, um die Menge besser im Blick zu haben. So bemerkte er, wie Giuliana bei diesen Worten zusammenzuckte. Doch auch Falk schien bei diesen Worten aufzuhorchen.

Barnabas winkte mit einem gönnerhaften Lächeln in ihre Richtung. „Aber nun genug von den Toten. Sie haben keine Macht mehr über uns und sollen vergessen sein. Ich möchte mich stattdessen lieber den Lebenden zuwenden.“

In diesem Moment versuchte sich ein untersetzter Mensch in einem pompösen Anzug unauffällig in den Raum zu schleichen. Barnabas bemerkte ihn jedoch sofort und prostete ihm zu. „Die Lebenden, jawohl und da kommt auch schon einer von den besonders Lebendigen. Ich begrüße meinen sehr verehrten Geschäftspartner und Freund Herrn Grimhain. Wie kaum ein Zweiter vermag er das Leben in vollen Zügen zu genießen, nicht wahr, Lodwig, mein Bester?“

Grimhain nickte leicht verlegen und setzte sich in eine Ecke des Raumes. Barnabas fuhr fort, nun in einem jovialeren Tonfall. „Ich möchte auch betonen, wie ich aufstrebenden jungen Talenten großzügig und selbstaufopfernd unter die Arme greife. Es ist eine meiner größten Freuden, zu sehen, wie sie wie Vögel dem Nest entfliehen, auch wenn sie dabei keine große Dankbarkeit zeigen. Aber so ist nun mal die Welt.“

Auf diese Bemerkung hin schnalzte die Orkin im schwarzen Anzug verächtlich mit der Zunge und zog die Nasenflügel hoch. Barnabas überging dies geflissentlich – oder bemerkte es gar nicht – und fuhr fort: „Doch manchmal werden gute Taten erst über Umwege doch noch belohnt. Nach großen Enttäuschungen und schändlichem Verrat habe ich endlich die Liebe meines Lebens gefunden. Diese besondere Person ist bereits auf dem Weg zu mir. Zuvor hat man mit meinen Gefühlen gespielt und sich an mir bereichert. Doch nun habe ich die Kraft gefunden, mich von diesen toxischen Beziehungen zu lösen. Ich hege keinen Groll und verwahre die sehr wenigen, schönen Momente dieser Beziehung in meinem Herzen, um nicht so verbittert wie andere in die Zukunft zu gehen.“

Herrisch klackten die Absätze der Dame Hohenstein auf dem Parkett, als sie auf Barnabas zutrat. „Früher oder später wirst du ernten, was du säst, und ich gieße hiermit die Saat“, sagte sie mit eisiger Stimme und schüttete ihm ihren Drink ins Gesicht. „In deinen letzten Momenten wirst du allein sein – und das früher, als du denkst.“

Barnabas stand einen Moment lang sprachlos da, während Solveig erhobenen Hauptes aus dem Saal stolzierte. Die meisten Gäste folgten tuschelnd dem Spektakel, Horatio hingegen beobachtete, was sich am Rand des Geschehens zutrug. Giuliana lächelte süffisant und sah Solveig anerkennend nach. Die Orkin im schwarzen Anzug ballte die Hände zu Fäusten und starrte auf ihre Schuhspitzen. Falk gab ein Geräusch von sich, das ein Räuspern hätte sein können, aber wohl ein unterdrückter Fluch war. Baldwins ausdruckslose Miene hellte sich für einen Augenblick auf. Anneli erbleichte. Minerva eilte mit einer Serviette herbei, doch Barnabas riss ihr das Tuch aus der Hand, schnauzte sie an und schickte sie wieder weg.

Mit zackigen Bewegungen trocknete Barnabas sich ab und atmete tief durch. Er hatte seine Fassung zurückgewonnen und setzte seine Rede unverdrossen fort. „Wenn sich auch viele deine Freunde nennen, lernst du doch erst in der Not deine wahren Freunde kennen. Ich bin froh, meine Verbindung zu diesem undankbaren Weib endlich gelöst zu haben. Lasst euch dies eine Warnung sein, verehrte Freunde! Großzügigkeit ist an die Kleingeistigen verschwendet. Wie auch immer, geht nun hin und esst und trinkt auf meine Kosten, wissen die Großen Erbauer, dass ihr mir alle letztlich auf der Tasche liegt. Da müsste man eigentlich etwas Freundlichkeit erwarten können. Nicht wahr, Rike?“

Die Orkin im schwarzen Anzug hob überrascht den Kopf. Sie kniff die Augen zusammen und murmelte eine Entschuldigung, bevor sie den Raum verließ.

Barnabas schnaubte. „Undank ist der Welten Lohn, ich sag’s immer wieder.“ Er winkte dem Harfenisten, der sofort ein fröhliches Stück anstimmte.

Als sich der Aufruhr gelegt hatte, trat Lodwig an Barnabas heran und entschuldigte sich wortreich für sein Zuspätkommen. Horatio stand am Buffet in der Nähe und tat, als begutachte er die Speisenauswahl, während er dem Gespräch lauschte.

„Das macht doch gar nichts“, sagte Barnabas geradezu überfreundlich. „Ich wollte sowieso mit dir sprechen, wenn es etwas ruhiger geworden ist. Gehen wir auf die Terrasse.“