Seelenschulden - Bernadette Klein - E-Book
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Seelenschulden E-Book

Bernadette Klein

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Beschreibung

Die magiebegabte Möbelpackerin Gene hat durch Seelenschulden ihre Heilkräfte verloren, doch diese braucht sie dringend, um ihre Mutter von einer mysteriösen Krankheit zu befreien. Der Einzige, der ihr helfen kann, ist ein Dämon im Besitz des mächtigsten Magiers der Stadt. Also geht sie einen Handel mit ihm ein, obwohl sie dabei nur verlieren kann – für Zimperlichkeit bleibt keine Zeit, denn das Leben ihrer Mutter hängt am seidenen Faden. Rasante Action, knisternde Romance und queere Charaktere laden auf eine Reise von den Abgründen der Seele durch die Arenen des Dämonenreichs zu den dekadenten Partys der Übernatürlichen ein, auf der nur selten Zeit zum Luftholen bleibt.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Epilog

Danksagung

Impressum

Bernadette Klein

Böhmerwaldstr. 16

94431 Pilsting

Lektorat: Sascha Schnitzer

Umschlagillustration: Elli Puukangas

Umschlaggestaltung & Satz: Sascha Schnitzer

© Bernadette Klein 2023

Für Sean und Sarah, ihr seid mein Licht.

Kapitel Eins

Eines Tages würde ich bei dieser Scheiße draufgehen.

So vollgepumpt mit Magie und Fokus wie ich war, wirkte die Höhle wie das Innere einer Discokugel auf mich. Das Licht der verdammten Feuerschalen stach mir in die Augen als wären sie Baustrahler. Wozu brauchten wir die überhaupt? Doktor Telmara kannte die Beschwörungen auswendig – das dicke Buch auf dem Sockel erfüllte seinen Zweck schon durch bloße Anwesenheit.

»Wir sind hinter dem Zeitplan, Gene.« Telmaras kniende Silhouette flackerte über die Wand. Sie wirkte wie eine hagere Ziege, die am Ritualkreis graste. Tatsächlich vervollständigte sie wohl eine der Runen.

»Begib dich in Position, es ist fast Sonnenaufgang.« Ihre Knie knackten, als sie aufstand und zu dem Sockel außerhalb des Kreises ging.

Ich stand auf, massierte mir die Schulter unter dem Stoff des Kampfanzugs und kniete mich auf die goldenen Leitungen im Zentrum des Kreises. Sie verteilten die Magieströme gleichmäßig auf alle Runen am Rand. »Ich wünschte, wir könnten mal wieder eine Pflanze beschwören statt diesem aggressiven Viehzeug«, murmelte ich.

»Dieses.«

»Was?«

»Statt dieses aggressive Viehzeug. Im Gegensatz zu unserer täglichen Arbeit ist korrekte Grammatik kein Hexenwerk, Evgenia.«

Sie wusste, wie ich es hasste, wenn sie meinen vollen Namen benutzte. »Ich scheiß auf Grammatik.«

»Unerfreulicherweise.« Sie straffte sich. »Konzentration, jetzt!«

Wirkte ich etwa unkonzentriert? Bis jetzt war ich noch mit jedem Dämon fertig geworden, egal ob Vogel, Schlange oder Wolf. Das bedeutete nicht, dass mir das Spaß bereitete – ich hasste es. Ich hatte nur keine Wahl.

Telmara stimmte ihren andersweltlichen Gesang an. Die Runen am Rande des Kreises flammten auf und schossen in die Höhe, bis sie vom Lehmboden bis zur Höhlendecke eine bläuliche Barriere bildeten. Ein probates Mittel, um das, was sich im Kreis befand, darin zu halten. Mich zum Beispiel. Und natürlich den Dämon. Die Magieströme sammelten sich im Kreis und flossen durch meine Hände und Knie gebündelt in die Leiterbahnen. Das zuvor noch angenehme Kribbeln wandelte sich zu einem Zerren und Ziehen an meinem Inneren. Die Magie, durch Telmaras Gesang gelenkt, suchte den Schleier zwischen den Welten zu durchdringen. Dunkles Wasser brodelte vom Boden auf. Es markierte die Verbindung zum Dämonenreich und stieg manchmal bis in meine Nase. Anders als stoffliches Wasser hinderte es mich nicht am Atmen, aber es störte meine Konzentration empfindlich.

Telmaras Gesang wanderte eine Tonlage höher, die Anspannung in mir wuchs. Gleich war es so weit. Die Magie bündelte sich in den glühenden Strukturen des Beschwörungskreises, bis sie mit einem unhörbaren Ton explodierte. Der Schleier zwischen den Welten riss und offenbarte einen Durchgang zum Dämonenreich. Dahinter wogte tosend das dunkle Wasser und spie auf den gesungenen Befehl hin eine Kreatur aus.

Diesmal war es eine Art Keiler. Nur mit viel längeren und spitzeren Hauern. Hörner ragten überall zwischen seinen Borsten hervor, die schwarzen Augen reflektierten das Licht der Feuerschalen. Schnaubend schüttelte er sich und sah sich um, bis sein Blick an mir hängen blieb. Ich löste die Hände von den Leiterbahnen, rieb das Kribbeln weg und hob das Messer auf, das vor mir lag. Es nicht am Körper zu tragen, barg Risiken, da die Entfernung zwischen mir und dem Riss nur drei Schritte betrug. Aber seit meiner ersten Ritualkreiserfahrung vermied ich es, irgendwelches Metall zu berühren, wenn starke Magie im Spiel war.

Das Vieh maß gut eineinhalb Meter in der Höhe, fast so viel wie ich, und damit deutlich mehr als ein gewöhnliches Wildschwein. In einer besseren Welt würde ich es mit sanften Worten zu meinem Vertrauten machen und auf ihm in den Sonnenaufgang reiten.

»Erledige ihn schnell und sauber, Gene. Je weniger Energie er verbraucht, desto mehr bleibt für uns.«

Tja, nicht in dieser Welt. Sorry, Kumpel.

Der Keiler bäumte sich auf und brüllte. Er rammte die Hufe in den weichen Boden, fuhr herum und trat nach mir. Blitzartig wich ich aus. Die Magie verstärkte meine Reflexe und meine Kraft – anders hätte ein Mensch keine Chance gegen den gehörnten Sonntagsbraten. Den Messergriff fest gepackt, gab ich einen Schub Magie in die Bewegung und schnitt ihm die Flanke auf. Dunkles Blut schoss hervor und fiel zischend auf den Boden. Er quiekte schmerzerfüllt und wankte. Ich ließ das Messer sinken.

Armes Vieh.

Doch der Dämon gab sich noch nicht besiegt. Die Todesangst verlieh ihm neue Kraft. Er stieß mit dem Kopf nach mir. Ich wich aus, doch zu langsam. Ein Hauer durchdrang den Kampfanzug und schlitzte mir den Oberarm auf. Ächzend taumelte ich rückwärts und prallte gegen die Barriere. Mit derselben Kraft wurde ich von ihr in den Kreis zurückgeworfen. Kein Entkommen. Wieder bäumte der Keiler sich auf und ließ seine Hufe auf mich herabdonnern. Um Haaresbreite rollte ich mich zur Seite davon und kam wieder auf die Beine. Durch die Verletzung, die er mir beigebracht hatte, war etwas von der Dämonenmagie in meinem Körper auf ihn übergegangen. Zischend und blubbernd schloss sich die Wunde in seiner Flanke.

Ach, fuck.

»Was tust du denn da, Gene? Schnell und sauber habe ich gesagt!« Telmara war an den Kreis getreten und hatte die Arme verschränkt.

»Machen Sie Ihren Job und ich mache meinen, ja?« Ich nahm das Messer in die linke Hand und presste die rechte auf die Wunde an meinem Arm, bevor ich langsam zurückwich. Der Keiler schlug mit den Hinterbeinen aus und sprang auf mich zu.

Diesmal konnte ich reagieren.

Mit einer magisch verstärkten Bewegung trieb ich ihm das Messer bis zum Heft in die Stirn. Er brüllte, wankte und stieß mich weg. Wieder erwischte mich einer der spitzen Hauer und riss mir den Anzug quer über den Bauch auf. Ich wollte das Messer herausreißen, blieb jedoch hängen. Der Kopf des Viehs schnellte in die Höhe und traf mich mit meinem eigenen Messergriff gegen die Stirn. Kurz wurde mir schwarz vor Augen und ich fühlte mich wie eine Idiotin. Das Messer immer noch fest umklammert, taumelte ich rückwärts. Mit einem schmatzenden Geräusch löste es sich. Das Vieh heulte auf und sank zu Boden, gerade als ich wieder auf die Beine kam. Noch einmal holte ich aus, grub das Messer in seinen Hals und zog es durch. Dunkles Blut quoll über meine Hände, der Dämon sackte zusammen.

»Na endlich.« Telmara ließ den Kreis fallen und schlang dem Keiler das Halsband um den Nacken. Die Runen auf dem weißen Leder flammten auf. Der Keiler erstarrte. Statt sich aufzulösen, blieb seine Energie in dem Bannkreis des Halsbands gefangen.

Reglos lag er da, der Besiegte, während ich nach Atem rang. Ich sah zu, wie Telmara ihn streichelte und ein wenig von der Essenz kostete. Blut lief mir ins Auge. Ein genüssliches Stöhnen kam über ihre Lippen.

»Ich kann das nicht mehr.« Mehr Blut quoll aus der Platzwunde an meinem Schädel. Ich wischte es fort.

»Hm?« Telmara machte sich daran, die Runen zu deaktivieren und die Restmagie aufzunehmen. Wie ein Kind, das nach seinem Lieblingsessen den Teller ableckte.

»Das Töten. Ich mache das nicht mehr.« Ich schleppte mich zum Rand des Kreises und sah ihr zu.

Sie stand auf, schlug den Almanach behutsam in das samtene Tuch ein und lächelte. »Wenn Mutter wüsste, wie ich ihre Forschung adaptiert habe … Sie wäre rasend vor Wut.« Verschmitzt zwinkerte sie mir zu. »Wir sind ein fantastisches Team, Gene.«

»Haben Sie mir nicht zugehört?« Inzwischen hatten meine Wunden angefangen sich zu schließen und mein Brustkorb fühlte sich nicht mehr so an, als würde er gleich zerspringen. »Ich mache das nicht mehr. Ich hab genug von Ihren Geschäften und Ihren Dämonen-Grillpartys und dem ganzen Scheiß hier.«

Telmara hob die Augenbrauen und musterte mich herablassend. Ihre hagere Gestalt, das schmale Gesicht mit der Brille und ihre scharf geschnittenen Züge schienen geradezu prädestiniert für diese Haltung. Der Doktorkittel dazu war fast schon redundant. »Pacta sunt servanda, Evgenia.«

Ich verdrehte die Augen. Zum zweiten Mal heute benutzte sie meinen vollen Namen.

»Hast du unseren Vertrag vergessen?«

Ich knurrte. »Sie sagten, dass ich Ihnen bei Ihrer Forschung helfen soll. Nicht, dass ich Woche für Woche Dämonen töten muss.«

Sie lächelte dünn. »Genau das ist aber der Inhalt meiner Forschung. Und aufs Töten hast du dich doch schon immer recht gut verstanden.«

Ich schloss die Augen und wandte den Kopf ab. »Das war ein Unfall.«

»Na, aber doch nicht alles davon, hm?« Sie zwinkerte mir zu.

Meine Ohren glühten.

»Außerdem musst du zugeben, dass es zu deinen Talenten gehört.« Sie legte die Arme um den Almanach und kam auf mich zu. »Und du hast ja auch profitiert von unserem kleinen Arrangement. Wenn ich mich damals nicht um die Bereinigung deines … Gefühlsausbruchs gekümmert hätte, säßest du jetzt wahrscheinlich in einer Strafvollzugsanstalt. Und was würde dann aus deiner armen, hilfsbedürftigen Pflegemutter?« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Sicher ist dir bewusst, dass ich im Falle eines Vertragsbruchs auch deiner Schwester die Wahrheit über den Tod ihres …«

»Schon gut! Hören Sie auf!« Meine Ohren brannten so sehr, dass ich die Hände an den Kopf presste. Warum musste sie ständig darauf herumreiten?

Noch immer das spöttische Lächeln auf den Lippen legte Telmara den Almanach in seine Schatulle zurück. »Das Schweinchen kommt morgen Abend auf den Teller. Wenn du dabei sein willst, um meine Gäste zu schröpfen, bist du herzlich eingeladen.«

Mit gesenktem Kopf starrte ich auf meine bloßen Füße. Schwieg.

Sie nickte. »Vergiss nicht, hier aufzuräumen.« Damit drehte sie sich um und ging.

Finster sah ich ihr zu, wie sie in Richtung des Durchgangs zum Kellergewölbe verschwand. »Ach, fuck.« Ich ließ mich auf den Boden sinken und vergrub die Hände in den Haaren.

Wie man es auch wendete, mein Arsch gehörte ihr. Und wenn ich nicht wollte, dass meine Ma einen qualvollen Tod starb und meine Schwester mich hasste, würde das auch für alle Ewigkeit so bleiben. Genervt machte ich mich dran, das Dämonenblut aufzuwischen.

***

Als ich in die Küche kam, fiel strahlender Sonnenschein durch das Fenster. Die letzten Septembertage zeigten sich noch einmal von ihrer heißesten Seite. Ich suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem und fand überraschenderweise ein fertig belegtes Sandwich sowie ein gut gekühltes Mooser Liesl. Vielleicht mochte Telmara mich nicht besonders, aber ihre Haushälterin dachte immer an mich. Ich betrachtete die braune Flasche, auf der das Kondenswasser im Sonnenlicht schimmerte. Fiel ein Bier am Morgen schon in die Kategorie Alkoholproblem? Na ja, wen juckt’s? Ich nahm noch einen Heidelbeerjoghurt mit und ging hinüber in den Westflügel, wo mir Telmara ein kleines Zimmer zur Verfügung stellte. War ja auch in ihrem Sinne, dass ich nicht zu spät zu unseren Terminen kam, weil die S-Bahn eine Signalstörung plagte oder den Nachtbus ein Motorschaden.

Das Ritual hatte mich ausgelaugt, auch wenn meine Wunden inzwischen verschwunden waren. Bevor ich wieder etwas in dem Tempo heilen konnte, musste ich mich mit der Quelle verbinden und meine inneren Reserven füllen. Aber vorher musste ich aus den ruinierten Klamotten raus und duschen.

Das heiße Wasser rann über meinen Körper und wusch zumindest den Dreck von mir, wenn schon nicht die miese Laune. Danach fühlte ich mich erst so richtig müde. Allerdings hatte der Einsatz der Magie wie immer auch einen erregenden Effekt gehabt, sodass ich mich auch auf den Abend mit den Gefallenen freute. Es gab unerfreulichere Arten, Geld zu verdienen, als mit Massagen und Streicheleinheiten. Ich teilte meine Kraft gern – ob gegen Bezahlung oder ohne.

Nach dem Abtrocknen und Anziehen holte ich meine metallenen Piercings aus dem Behälter im Spiegelschrank, um sie gegen die aus Acryl zu tauschen, die ich beim Ritual trug. Das in der Augenbraue war bei dem Stirntreffer weggeflogen, wie ich feststellen musste, und natürlich hatte sich das Loch geschlossen. Ich machte eine geistige Notiz, dass ich neue Acrylstecker brauchte. Diese Dinger gingen einfach zu schnell kaputt. Ich warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und ließ mich aufs Bett fallen. Ein paar Stunden Schlaf, bevor ich zu meinem anderen Job musste – das klang nach einem klugen Plan.

Gerade als ich die Augen geschlossen hatte, schallte Demons Are a Girl’s Best Friend aus der Tasche meiner Jeansjacke. Ich stand auf und sah nach, wer anrief. Stirnrunzelnd starrte ich die Nummer an. Meine Schwester. Es gab eine stillschweigende Vereinbarung zwischen uns: Sie fragte nicht, wo das Geld herkam, und ich teilte alles mit ihr und Ma. Und sie rief mich nicht an, wenn ich unterwegs war. Es musste etwas passiert sein. Mit zusammengepressten Lippen nahm ich das Gespräch entgegen.

Ein markerschütternder Schrei drang mir ins Ohr. Fast hätte ich das Handy fallen gelassen. Ich hörte aufgeregte Stimmen, die sich in einer Mischung aus Arabisch und Deutsch stritten.

»Gene?« Es knackte in der Leitung. Irgendwo krachte es. »Bist du da?«

»Mona, was ist denn nur los?« Mein Herz hämmerte.

»Sie wollen maman in die Psychiatrie einweisen.« Ihre Stimme klang abgehackt, immer wieder unterbrochen von Geräuschen aus dem Hintergrund. In schnellem Stakkato ließ sie eine arabische Wortsalve auf eine der anderen Personen los. »Kannst du schnell nach Hause kommen?« Aufgelegt.

Ich rieb mir übers Gesicht. Fuck.

Hastig schlüpfte ich in meine ausgetretenen Turnschuhe und warf die Jeansjacke über. Hoffentlich war die U-Bahn nicht gerade weg.

***

Als ich vom Ostbahnhof kommend die Grafinger Straße hinunterrannte, eine halbe Stunde nach Monas Anruf und ohne Hoffnung, noch rechtzeitig anzukommen, bog ein Krankenwagen um die Ecke und verschwand Richtung Westen. Verdammt! Hatten sie sie mitgenommen? Für einen Augenblick schwankte ich, ob ich die Verfolgung aufnehmen sollte, doch magische Stärke hin oder her – ein Auto konnte ich nicht einholen. Also sprintete ich weiter nach Hause. Vor unserem Wohnblock am Ende der Sackgasse hätte ich fast Frau Seligmann mit ihrem Rollator über den Haufen gerannt und musste über die Blumenrabatte springen. Die Alte schimpfte mir nach, obwohl ich ihr eine Entschuldigung zugerufen hatte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte ich die knarzende Treppe hinauf bis zum vierten Stock. Gerade wollte ich den Schlüssel ins Schloss stecken, als die Tür geöffnet wurde. Angie stand da und maß mich mit vorwurfsvollem Blick. So sah sie mich immer an, obwohl ich es war, die sie bezahlte. Ein bisschen Dankbarkeit empfand sie offensichtlich als zu viel verlangt.

»Mona ist bei ihr«, sagte die Pflegerin und ließ mich vorbei.

Mein Herz klopfte. Ich kickte die Schuhe unter die Garderobe und ging mit nackten Füßen den Flur hinunter zu Anas Schlafzimmer. Sie lag im Bett, trotz des warmen Tages bis zum Kinn unter der Decke verborgen, und atmete schwer. Das feuchte Tuch auf ihrer Stirn dampfte unter der Hitze ihres Kopfes.

Mona saß auf dem Stuhl neben ihr und hielt ihre Hand. Sie sah mich nicht an. »Du bist da.« Ihr sorgenvoller Blick ruhte auf Ma. »Kannst du was für sie tun?«

Behutsam schloss ich die Schlafzimmertür hinter mir. »Ich versuch’s.«

»Sie haben ihr Morphium gegeben.« Mona stand auf und machte mir Platz. »Aber wenn es nicht besser wird, wollen sie sie mitnehmen.«

»Wer denn?« Ich setzte mich zu Ana ans Bett und nahm ihre Hand. Sie fühlte sich kalt und wächsern an.

»Die Bittner hat den Sanka gerufen, als maman wieder einen ihrer Anfälle hatte. Sie sagt, das Geschrei gehe ihr durch und durch. Kann ich ja verstehen.« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. »Wenn Angie nicht gerade hier gewesen wäre, hätte ich die Rettungskräfte nicht davon abhalten können, sie mitzunehmen. Aber Angie hat sie mit ihrem Pflegefachsprech belabert, sodass sie wieder abgezogen sind.«

Plötzliche Dankbarkeit gegenüber der übellaunigen Pflegekraft wallte in mir auf. Wenigstens verschlang ihr Honorar nicht grundlos den Großteil meines Geldes, das Telmara mir zahlte. »Das ist gut.«

Plötzlich fasste Ana meine Hand fester. Ihr Körper bäumte sich unter einer neuerlichen Welle des Schmerzes auf.

»Lass uns einen Moment allein, bitte.« Sanft drückte ich sie zurück in das Bett und schnallte sie fest. Sie riss die Augen auf und schrie angsterfüllt. Es war kaum zu ertragen, sie so zu sehen.

Mona standen Tränen in den Augen, als sie sich umdrehte und fluchtartig das Zimmer verließ.

Ich holte das Messer hervor und fuhr mit den Fingerspitzen über die Stelle zwischen Daumen und Handfläche der Rechten. Es war die Stelle, die ich mir ausgesucht hatte, weil sie mich an die Nacht erinnerte, in der alles zum Teufel ging. Ich legte meine Hand auf Anas und setzte die Spitze der Klinge auf meinen Handrücken. In Erwartung des Schmerzes atmete ich flacher, schneller. Mein Herz schlug bis zur Kehle hinauf.

Mach schon, bring es hinter dich!

Ich hielt die Luft an und stieß das Messer mit einem Ruck ganz hindurch. Fast hätte ich mich an dem unterdrückten Schrei verschluckt. Mit zitternden Fingern streichelte ich Anas Arm. Die Spitze des Messers ritzte ihren Handrücken, sodass die Magie, die die Wunde zu schließen versuchte, entlang der Klinge in ihren Körper floss.

Eine Technik, die ich durch Zufall entdeckt hatte und die mich zwischen Dankbarkeit und Agonie gefangen hielt.

Ächzend und fluchend versuchte ich, mit dem Schmerz zu atmen. Sternchen sammelten sich in meinem Blickfeld. Nach und nach beruhigte sich Ana. Die Anspannung wich aus ihr, als die Magie ihre Seele berührte und die Fehlzündungen in ihren Nerven nachließen. Die Zähne so fest aufeinandergepresst, dass sie knackten, beobachtete ich, wie sie sich zunehmend entspannte und die Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. Kalter Schweiß rann mir über die Stirn. Ein Stechen fuhr in meinen Brustkorb. Das Atmen wurde schwerer. Mit letzter Kraft riss ich das Messer heraus und presste den Lappen, den Ana zuvor auf der Stirn gehabt hatte, auf die Wunde. Ein großer, dunkler Blutfleck hatte sich auf der Bettdecke gebildet. Angie würde wieder meckern, weil das so schwer sauber zu kriegen war.

Erschöpft lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und sah meiner Ma beim Schlafen zu. Wie friedlich sie jetzt aussah … War das ein Lächeln auf ihrem Gesicht? Ich atmete etwas leichter. Der Schmerz in meiner Hand ließ nach, doch das Stechen im Brustkorb blieb. Ich hatte heute Morgen schon eine Menge Kraft verbraucht, um den Dämon zu töten. Jetzt den Rest davon in Ana zu pumpen, hatte mich ausgelaugt. Ich konnte froh sein, wenn ich es bis nach nebenan in mein Bett schaffte. Mühsam schob ich mich in die Höhe und wankte aus dem Zimmer. Ana sollte schlafen und ich auch. Die Ruhezeit bis Schichtbeginn betrug gerade noch zwei Stunden.

Mona saß in der Küche. Als sie mich sah, stand sie auf und kam herüber. »Und?«

Ich wich ihrem Blick aus. »Die Anfälle werden schlimmer. Manchmal habe ich das Gefühl, was immer ich tue, ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.«

Mona deutete auf den Stuhl an dem winzigen Ecktisch in der Küche. »Setz dich.« Sie nahm zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie vor uns hin. »Ich weiß, du gibst dir alle Mühe, Gene, mit deinem Job bei Habermann und Söhne und diesen Frag-nicht-danach-Geschichten draußen in Garching.« Mit dem Wasserkocher ging sie hinüber zur Spüle. »Aber du musst mehr tun, hörst du?« Der Hahn rauschte und quietschte. Sie stellte den vollen Kocher auf seine Bodenplatte zurück und setzte sich zu mir. »Ich will das Café wieder eröffnen. Ben hätte es so gewollt. Und maman würde es guttun, ab und zu wieder hinter der Theke zu stehen.«

Als sie Ben erwähnte, versetzte es mir einen Stich. Jedes Mal, wenn wir über ihn sprachen, fürchtete ich, sie könnte mir an den Augen ablesen, was damals wirklich geschehen war. »Du meinst, wir sollen Angie rund um die Uhr anstellen? Ich denke, ich könnte wohl noch einen Tausender mehr im Monat erwirtschaften.« Immerhin hatte ich noch nicht versucht, eine Niere zu verkaufen. Vielleicht wuchs sie ja nach?

Mona nahm meine Hand. »Ich meine damit, dass du in Ordnung bringen musst, was nicht mit dir stimmt.«

Mein Herz setzte zwei Schläge lang aus, nur um dann in vierfacher Geschwindigkeit loszugaloppieren. »Was?«

»Du konntest mal alles heilen, Gene. Alles.« Sie hielt mir die Linke unter die Nase. Wer es nicht wusste, hätte nicht sagen können, dass die Endgelenke von Ring- und Mittelfinger ein paar Jahre lang gefehlt hatten. Lediglich eine weiße, gezackte Narbe erinnerte daran, dass sie einmal ein Schäferhundsnack gewesen waren. »Was auch immer diese Männer damals getan haben, du musst darüber hinwegkommen. Du musst deine Seele heilen, damit du maman heilen kannst.«

Ich wich ihrem Blick aus. Mona war viel scharfsinniger als alle, die ich kannte. Dass Telmara ihre Erinnerungen an jene Nacht im Englischen Garten manipuliert hatte, war zu ihrem Schutz geschehen – und zu meinem. Dennoch tat es weh, sie wieder und wieder anzulügen. Nur eines könnte schlimmer sein – ihr die Wahrheit zu sagen.

Der Wasserkocher brodelte und verschaffte mir etwas Bedenkzeit. Mona gab je einen Teebeutel in die beiden Tassen mit der Aufschrift Mein Tatenvolumen ist aufgebraucht und Ich habe heute keine Verbindung zu meinem E-Lan und übergoss sie mit dem heißen Wasser.

»Mona, hör mal … ich … das ist nicht so einfach, weißt du? Was damals passiert ist …«

Sie stellte die Tasse vor mich hin und setzte sich wieder. »Uns läuft die Zeit davon, Gene.« Müde rieb sie sich über das Gesicht. »Ich wollte dich eigentlich nicht damit belasten, aber du sollst es erfahren.«

Jedes ihrer Worte fraß ein Loch in mein Herz.

»Mamans Krankheit … sie liegt in der Familie. Ihre Mutter, meine mamie, hat sich von einer Brücke gestürzt, weil sie es nicht mehr aushielt. Da war sie gerade einmal sechsunddreißig. Und deren Mutter wiederum ist bei einem Exorzismus ums Leben gekommen.« Sie nahm einen Schluck Tee, den Blick in die Ferne gerichtet. »Und ich …«

Bitte nicht, Mona, mein Herz tut schon so weh.

»Und ich sehe es auch manchmal. Am Rand meines Blickfelds huschen diese Schatten vorbei. Wenn ich müde bin oder unkonzentriert. Ich weiß, dass sie nicht real sind. Noch …«

Ich stand so hastig auf, dass der Stuhl gegen die Heizung polterte. Mit zitternden Händen nahm ich sie in die Arme. »Wir kriegen das hin, hörst du? Wir kriegen das hin.«

Mona berührte mich am Arm. »Danke«, flüsterte sie.

Kapitel Zwei

»Vorsicht mit dem Flügel, das ist ein original Steinway & Sons!« Die gut ausgestattete Blondine mit dem perfekten Make-up trug nur einen Morgenmantel. In der rechten Hand hielt sie ein Glas Sekt, in der linken ein iPhone, mit dem sie unsere Arbeit dokumentierte.

»Schwer wie ein Sack Steine ist das Ding jedenfalls«, sagte ich, aber gerade laut genug für Peter.

Er hievte mit mir das fette Klavier auf den Laster und verzurrte es. Sein Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass ihm was wehtat. Während ich vom Laster sprang, ließ er sich mit der Hebebühne runterfahren. »Alles okay?«

Er winkte ab. »Nur das Alter.«

Wir nahmen den Aufzug in den dritten Stock des Apartmenthauses. Vom lichtdurchfluteten Flur aus hatte man einen schönen Blick auf die Passauer Innstadt, den Inn selbst und den ganzen Rest des Ortes.

»Pittoresk, nicht wahr?« Peter schaute mit mir hinaus.

»Pitabrot mit Gyros und extra viel Tsatsiki, das wäre was zum Mittagessen.« Schon bekam ich Hunger.

Er lachte. »Du bist eine Banausin, Gene. Aber du hast recht – bald ist es Zeit für eine Pause.«

Ingo und Hubert kamen mit dem Aufzug rauf. »Ach, rumstehen und Däumchen drehen, das ham wa gern!« Ingo boxte Peter gegen die Schulter.

»Was gibt’s da zu sehen?« Hubert trat neben mich. Ich mochte ihn, allein schon, weil er der einzige bei Habermann und Söhne war, der mir nicht auf den Kopf, sondern nur auf die Schulter spucken konnte.

»Ein Pitabrot mit Tsatsiki«, erklärte ich.

Hubert runzelte die Stirn.

»Wat?«, fragte Ingo.

Peter verdrehte die Augen. »Ihr habt die junge Dame gehört, wir machen Mittag beim griechischen Imbiss unten am Supermarkt.«

Als wir fünf Minuten später an den Laden kamen, ließ sich Peter schwerfällig auf eine der Sitzbänke davor fallen.

»Was ist los mit dir?« Besorgt sah ich ihn an.

»Das scheiß Knie nervt schon seit ’ner Woche.« Das Bein hatte er ausgestreckt und massierte den Bereich um das Gelenk.

»Geh halt mal zum Arzt.« Ingo nahm eine Karte und studierte sie.

»Hab einen Termin in drei Wochen.« Peter deutete auf die Tafel mit dem Tagesgericht links neben der Theke. »Bring mir davon eins mit, ja, Gene?«

Ich gab Hubert einen Zwanziger. »Mach du mal, bitte. Ich nehm auch das.«

Hubert sah mich und den Geldschein wenig begeistert an. Ich deutete mit dem Blick auf Peter und formte die Lippen zu einem lautlosen bitte.

Er schnaubte. »Na gut.«

Als die beiden anderen sich auf den Weg zur Theke machten, hockte ich mich vor Peter und legte die Hände auf sein Knie.

»Was wird das, wenn’s fertig ist?« Er stützte den Ellenbogen auf den Oberschenkel und beobachtete mich.

»Eine Akupressurtechnik, die ich von meiner mamie gelernt habe.« Lügen konnte ich eigentlich nicht gut, aber die hatte ich schon oft genug benutzt, dass sie mir mühelos über die Lippen kam. Ich presste die Finger rund um das Knie ins Gewebe und gab ein wenig von der Feenkraft hinein. Seit dieser verdammten Nacht vor drei Jahren konnte ich die beiden Kräfte nicht mehr mischen und deshalb nicht mehr heilen. Schmerzen lindern ging noch.

»Deiner Mami?«

»Nein, meiner mamie, also meiner Oma.«

»Hui, das kribbelt ja ganz schön.« Er wollte das Bein wegziehen.

»Jetzt stell dich nicht so an. Wirst sehen, das wirkt Wunder.« Die Kraft kribbelte unter meiner Haut und floss in das entzündete Gewebe hinüber. Die nächsten paar Stunden würde Peter nichts mehr von seiner Arthritis merken. Schließlich stand ich auf und setzte mich neben ihn. »Besser?«

Er rieb sich das Gelenk und nickte anerkennend. »Wow. Die Technik musst du mir zeigen, es tut kaum noch weh.«

»Nope, Familiengeheimnis.« Ich legte zwei Finger auf mein Herz.

Ingo und Hubert kamen an den Tisch zurück. »Ihr müsst eure Pötte selber holen, die haben hier keine Tabletts und ich nur zwei Hände«, sagte Ingo.

Hubert hielt mir das Wechselgeld hin. »Lass stecken«, sagte ich und stand auf, um unsere Schüsseln zu holen.

Peter folgte mir. »Den Arztbesuch kann ich mir ja dann sparen, oder?«

»Auf keinen Fall! Das war nur was gegen die Schmerzen.« Ich sackte innerlich zusammen. Verdammt, so ging das nicht weiter.

Er steckte mir einen Zwanziger in die Hemdtasche. »Das Essen geht auf mich.«

***

Zurück in der Wohnung der iPhone-Blondine wirkte Peter, als könne er Bäume ausreißen.

»Na, das war aber ein kräftiges Gyros, was?« Ingo trug mit Hubert eine weiß glänzende Kommode zum Fahrstuhl, während Peter und ich uns mit einer Waschmaschine befassten.

»Das waren Genes heilende Hände.« Peter zwinkerte mir zu.

Meine Ohren glühten. Wenn sie doch nur heilen würden, diese verdammten Hände!

Ich strauchelte.

»Vorsicht, Mädchen. Sollen wir lieber was Leichteres nehmen?« Peter setzte die Waschmaschine ab und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Nein, schon gut«, murmelte ich. »Es ist nur … Ach, vergiss es.«

Besorgt sah er mich an. »Rück schon raus mit der Sprache!«

Seufzend setzte ich mich auf die Maschine. »Meine Pflegemutter ist krank. Ziemlich üble Psychokiste mit Hallus, Phantomschmerzen und Krämpfen – schon seit Jahren. Eine Seherin hat mal behauptet, es läge am Dämonenblut in ihrer Linie, aber das ist natürlich Bullshit.« Meine persönliche Theorie war, dass es was mit mir zu tun hatte. Eine Art Allergie auf Feen, Dämonen oder ihre unehelichen Kinder. »Und heute erzählt mir meine Schwester, also Pflegeschwester, dass sie das jetzt auch hat.«

Peter sah mich mitfühlend an. »Das ist übel. Was sagen die Ärzte?«

»Morphium. Weil sonst absolut nix hilft. Nicht mal die härtesten Neuroleptika.«

Ingo und Hubert kamen wieder rauf. »Na? Sitzt ihr schon wieder rum? Ist doch nicht das erste Mal, dass wir so einen Laden ausräumen. Sonst schwächelt Miss Universum doch auch nicht.«

Ich lachte gezwungen und sprang von der Maschine. »Schwächeln? Ich? Pass mal auf!« Bevor Peter mit anpacken konnte, fasste ich die Waschmaschine an den beiden schräg gegenüberliegenden Kanten und hievte sie den Flur hinunter in den Fahrstuhl. Peter lief mir hinterher. »Jetzt übertreib mal nicht! Du hebst dir noch ’nen Bruch.«

Er trat zu mir in die Kabine und wir fuhren hinunter. »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte er.

Ich seufzte. »Kennst du jemanden mit Wissen über karmische Auswirkungen auf die Seele magiebegabter Wesen und wie man sie umkehrt?«

Peter blinzelte. »Äh …«

Ich lächelte schief. »Entschuldige, war nur ein Witz.«

War es nicht.

Die Fahrstuhltür öffnete sich und wir trugen die Waschmaschine zum Laster. Die Blondine stand direkt davor und filmte auf die Ladefläche. »Verzeihung, junge Dame.« Peter schob sich an ihr vorbei.

»Oh!« Sie wich aus und streifte dabei meine Schulter. Sofort prickelte es. Überrascht berührte sie die Stelle an ihrem Arm und sah mich an.

»Elektrische Ladung, die Gummisohlen sind schuld«, sagte ich schnell. Noch so eine einstudierte Lüge. Es kam selten vor, dass sich die Kraft selbständig machte, aber jedes Mal brachte es mich in Erklärungsnot.

Mit aufmerksamem Blick folgte sie uns und lächelte liebenswürdig. »Natürlich. Tut mir leid, dass ich im Weg stand.« Wie ein Blütenblatt im Wind schwebte sie ins Haus und außer Sicht.

»Was macht die eigentlich beruflich?«, fragte ich Peter.

»So, wie sie aussieht und hier herumstolziert? Vermutlich Inflationärin.«

»Du meinst Influencerin?« Keuchend setzte ich die Waschmaschine ab.

»Na, das kommt ja noch dazu!«

»Emil-Steinberger-Kalauer bei der Arbeit?« Ingo schleppte ein Schuhschränkchen ran. »Ich bin entsetzt!«

»Und mit was? Mit Recht«, ergänzte Hubert.

Wir lachten.

***

Das Beladen des Lasters dauerte noch gute zwei Stunden, dann konnten wir endlich nach München aufbrechen.

»Eigentlich hätten sie für so einen Auftrag Max und Eli schicken sollen statt den Rentnerhaufen und die Azubine.« Ingo rieb sich die schmerzende Schulter. Er saß vorn neben Peter. Hubert und ich belegten die Rückbank des Führerhauses.

»Azubine am Arsch. Ich bin fertig mit der Ausbildung, Alter.«

Hubert lachte. »Was, wirklich? Bist du schon über drei Jahre bei uns?«

Peter lenkte den Laster auf die Autobahn. »Du hast trotzdem recht, Blondie hatte einen Haufen sauschweres Zeugs. Ruf mal den Chef an und sag ihm, wir brauchen die großen Jungs bei der Zieladresse.«

Ingo winkte ab. »Die ziehen in Mühlheim ein Einfamilienhaus um.« Ächzend rieb er sich den Nacken.

»Komm mal her.« Ich beugte mich vor und knetete ihm die Schultern. Dabei ließ ich ein bisschen Feenmagie mit in die Massage fließen.

Ingo brummte selig. »Ich nehm’s zurück. Die Azubine ist besser als die schweren Jungs.«

Ich gab ihm einen Klaps auf den Kopf.

Er lachte. »Kleiner Scherz. Fühlt sich unheimlich gut an, danke.«

Hubert neben mir schmunzelte. Er hielt eine Tüte Studentenfutter, aus der er nur die Nüsschen aß.

»Keine Sorge, du bist auch gleich dran.«

Er winkte ab. »Schon gut. Meine Schwiegertochter ist Physiotherapeutin. Die wird sonst noch eifersüchtig.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Muss sie ja nicht erfahren.«

Eine Viertelstunde lang durften erst Ingo, dann die anderen beiden eine Nackenmassage genießen, bevor ich mich zurücklehnte und die Finger ausschüttelte. Magie zu übertragen, fühlte sich verdammt gut an. Deshalb standen auch die Gefallenen alle so auf mich. Ich wünschte nur, ich müsste ihnen nicht immer ihre Dämonensnacks liefern. Klar war es besser für die menschliche Bevölkerung, wenn sich die Gefallenen von Dämonen ernährten, statt von ihnen. Klar war es besser für meine Ma, wenn Telmara mir obszöne Summen für die Beschwörung dieser Wesen zahlte, die sie doppelt und dreifach von ihren Gästen einforderte. Die hatten dann immer noch mehr als genug auf der Tasche, um sich ein wenig Extraunterhaltung durch meine Wenigkeit zu gönnen – weil ein lebendiger Mensch eben mehr Spaß machte als ein totes Schwein. Trotzdem war das einfach krank und ich wünschte mir, es nicht mehr tun zu müssen.

Bis wir das letzte Möbelstück in die Penthouse-Suite im Lehel geschafft hatten, zeigte die Uhr weit nach Mitternacht. Der Nachtarbeitszuschlag machte Freude, doch uns allen steckte der Tag so in den Knochen, dass keiner das richtig zu würdigen wusste. Wir standen im Hof beisammen und tranken ein Feierabendbier, bevor jeder seiner Wege zog. Peter fuhr den Laster zurück zur Firma, Hubert und Ingo gingen zur U-Bahn. Ich spürte das Kribbeln in meinem Rücken, kurz bevor eine weiche Hand sich auf meine Schulter legte. »Evgenia Sommer, richtig?« Die Blondine war neben mich getreten. Sie sah noch hübscher als heute Morgen aus.

»Äh, ja?«

Genüsslich ließ sie den Blick über mich wandern, während sie federnden Schrittes vor mich trat. Ihre perfekten Kurven wurden von dem Seidenkleid kaum verborgen. Ich schluckte. Mein einziger Gedanke in diesem Moment war, wie es sich wohl anfühlte, das Gesicht zwischen den samtigen Hügeln ihres Dekolletés zu vergraben.

»Darf ich dich was fragen?«

Waren wir schon beim Du?

»Klar.« Mit einiger Anstrengung riss ich den Blick los und richtete ihn auf ihre strahlend blauen Augen.

Sie kicherte. »Du kennst dich doch aus in dieser Stadt, oder?«

Langsam nickte ich.

»Weißt du, wo man hier richtig gut feiern kann?« Sie strich mir übers Kinn. »Du weißt, welche Art Feiern ich meine?«

Ah, daher wehte der Wind. »Morgen Abend in der Waldresidenz in Garching. Da gibt es genug von allem, was du dir wünschst. Kostet aber ein Stängchen.«

»Wie lieb, danke.« Ihre Fingerspitzen wanderten an meiner Kehle hinab und blieben auf meinem Schlüsselbein liegen. »Und du? Wirst du auch da sein?«

Ich schluckte. Verdammt, sie war heiß. »Werde ich. Kostet aber auch was.«

Ihr bezauberndes Lächeln ließ mich dahinschmelzen. »Geld spielt keine Rolle. Dann bis morgen, ja?« Sie beugte sich dicht an mein Ohr und hauchte: »Ich freue mich auf dich.«

Das Pochen in meiner Mitte wurde zu einem Ziehen. »Klar, äh … ich auch.« Unfähig, mich zu bewegen, sah ich ihr zu, wie sie wiegenden Schrittes zur Haustür ging.

Ich wusste, dass Gefallene im Allgemeinen hübsch waren und unglaublich sexy sein konnten, wenn sie wollten, aber eine wie diese hatte ich noch nie getroffen. Bis sie so explizit nach Spaß der besonderen Art gefragt hatte, war mir nicht einmal aufgefallen, dass sie zu ihnen gehörte. Normalerweise hatte ich dafür ein gutes Gespür. Kopfschüttelnd machte ich mich auf den Weg zur U-Bahn.

***

Zum ersten Mal seit fast drei Jahren hatte ich ein mulmiges Gefühl, als ich gegen neun Uhr vor Telmaras Anwesen stand. Woher die plötzliche Nervosität? Das war nicht die erste neue Gefallene in der Stadt. Aber die erste, die es mir so angetan hatte.

Das Anwesen lag allein inmitten eines großen Parks, einen schmalen Asphaltweg von der Landstraße entfernt. Hier gab es nur alte Bäume und Felder, sodass man die Millionenmetropole nebenan fast vergaß.

Erst als ich Blut schmeckte, fiel mir auf, wie aggressiv ich an meinem Piercing nagte.

Verdammt, Gene. Komm runter. Das ist nur eine langweilige Gefallenenparty, auf der zufällig auch eine heiße Blondine mit einem wunderschönen Körper auf dich wartet, die nichts als unverbindlichen Sex und ein bisschen Magie von dir will.

Stöhnend fasste ich mir an den Kopf.

Nicht hilfreich, Gehirn, nicht hilfreich!

Ich atmete tief durch und klingelte. Margit ließ mich rein. Die Haushälterin wirkte so begeistert wie immer, wenn Telmara zum Festessen lud. Eigentlich hätten sie und ich uns inzwischen daran gewöhnt haben müssen, aber an manche Dinge gewöhnten Menschen sich nicht so leicht.

»Sie sind alle im Ballsaal«, brummte sie. Ich mochte die sonore Alt-Stimme der großen Frau. »Kannst du eine Platte aus der Küche mitnehmen, wenn du nach hinten gehst?«

Ich konnte.

Bevor ich in den Saal trat, zögerte ich. Ob sie schon hier war? Ich hatte ein Oberteil mit tiefem Ausschnitt angezogen und eine hautenge Jeans. Normalerweise trug ich so was nicht, schon gar nicht, wenn ich hierherkam, aber ich wollte wenigstens ein bisschen sexy für Diana aussehen. So hieß sie, laut der Auftragsbestätigung, die ich mir heute Morgen aus dem Büro … ausgeliehen hatte.

Als ich gerade die Flügeltür aufdrücken wollte, wurde sie von innen aufgezogen. Vor mir stand – wie konnte es anders sein – Diana. Sie trug ein cremefarbenes, tailliertes Cocktailkleid, das ihren Busen gekonnt in Szene setzte. Ich starrte angestrengt in ihr Gesicht. Als sie mich sah, wurde es von einem strahlenden Lächeln erhellt. »Evgenia! Wie schön! Was bringst du denn da?«

Ich schluckte. »Häppchen.«

»Oh, wie lieb von dir. Darf ich dir helfen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, schnappte sie sich das Tablett und stellte es auf einem der Tische in der Raummitte ab.

Zahlreiche Kronleuchter erhellten den Saal, in dem etwa fünfzig Gefallene versammelt waren. Sie standen überwiegend mit Sektgläsern und Häppchen ausgestattet oder ins Gespräch vertieft um die kleinen, runden Tische oder saßen auf den diversen Sofas und Sesseln. Wie immer herrschte ausgelassene Stimmung. In der Mitte des Buffets thronte der tote Dämon. Noch hatten wenige begonnen, seine Essenz zu verschlingen, sodass er überwiegend intakt auf der silbernen Platte lag.

»Du hast mich übrigens falsch verstanden«, sagte Diana und stieß mich spielerisch mit der Hüfte an. »Ich meinte eine Party mit Nahrung, ohne eine halbe Hundertschaft Konkurrenten.« Sie zog eine Schnute. »Oder muss ich mich erst bei eurer Fürstin anmelden? In Passau lief das alles ganz ungezwungen.«

Ich räusperte mich. »Niemand muss sich irgendwo anmelden. Und Telmara ist auch nicht die Fürstin.«

»Nicht?« Demonstrativ sah sie sich um und breitete die Arme aus. »Tatsächlich?«

Ich hielt einen der Kellner auf und bat ihn, mir ein Bier zu holen. »Telmara hatte einfach nur Glück, dass sie bei ihrem Ausschluss aus dem Feenreich ein obskures Beschwörungsbuch mitbringen konnte und dann auch noch eine Deppin gefunden hat, die ihr die Batterie fürs Dämonenangeln macht.«

Diana verzog das Gesicht, als würde sie angestrengt nachdenken. »Tut mir leid, aber ich verstehe kein Wort.«

Wir setzten uns auf eines der Sofas unter den großen Buntglasfenstern. »Sie hat ein Geschäftsmodell draus gemacht. Mit meiner Hilfe beschwört sie zweimal wöchentlich einen niederen Dämon. Ich kille ihn, sie hindert seine Essenz mit einem Bannhalsband daran, sich aufzulösen, und dann lädt sie alle ihre Gefallenenfreunde zum Festmahl ein. Natürlich gegen Cash.«

Diana sah zu dem Schwein in der Mitte der Tafel. »Das ist ein Dämon?« Sie schloss die Augen und sog die Luft ein. »Tatsächlich!« Ihre Augen leuchteten, als sie mich wieder ansah. »Der Raum ist so voller Magiewirker, dass ich es gar nicht bemerkt habe.« Sie stand auf und ging zu der Silberplatte. Sacht berührte sie die Flanke des Keilers. Eine Wolke löste sich daraus und schwebte wie schwarze Schneeflocken ihren Arm hinauf, bevor sich die Energie auflöste. Sie erschauerte. Wippenden Schrittes kam sie zurück und ließ sich neben mir aufs Sofa fallen. »Wow. Das war … intensiv.« Ein spitzbübisches Blitzen lag in ihren Augen. »Und das Geheimnis hinter dieser … Köstlichkeit bist du, ja? Du beschwörst sie?«

»Telmara beschwört sie«. Dankbar nahm ich dem Kellner mein Bier ab. »Ich bin nur die Batterie. Der Katalysator oder was auch immer. Ganz kapiert hab ich’s nicht.«

Sie kicherte und drückte sich an mich. »Und bist du manchmal auch der Katalysator für ein wenig irdischere Genüsse?«

Ich schluckte. »Ab und zu, ja.« Meine Ohren wurden heiß.

»Gibt es hier einen passenden Ort für die Verlockungen der Evgenia?«, flüsterte sie mir in anzüglichem Tonfall ins Ohr.

Ich nahm einen langen Zug aus der Flasche. »Gibt es. Unter einer Bedingung: Nenn mich Gene.«

»Aber gern. Und du kannst mich Di nennen.« Sie wickelte eine meiner schwarz-grünen Haarsträhnen um ihren Finger und strich über meinen Hals. »Kurzform von Diana.« Sie sprach den Namen englisch aus, als wäre sie die tote Prinzessin.

»Das erinnert mich an einen Witz.« Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Dodi Al-Fayed zu Gott: ›God, I told you, I wanted to fuck Di in my car, not to die in my fucking car.‹«

Diana lachte amüsiert. »Du hast Sinn für Humor.« Ich nahm ihre Hand und küsste sie. »Komm, ich zeig dir mein kleines Reich.« Wir verließen den Saal und durchquerten die fast schon unheimlich stillen Flure zu meinem Zimmer im Westflügel. Ich hatte vergessen, die Heizung aufzudrehen und das Fenster zu schließen, als ich gestern Morgen aufgebrochen war.

»Ui.« Diana rieb ihre Oberarme. »Frisch hier.«

Ich schloss die Tür hinter uns und legte die Arme um sie. »Soll ich dir ein bisschen einheizen?«

Sie warf den Kopf in den Nacken und ließ ein glockenhelles Lachen erklingen. »Hast du das Fenster offen gelassen, um diesen doofen Anmachspruch rauszuhauen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nö. Aber das Angebot steht.«

Behutsam berührte sie meine Schultern und ließ die Fingerspitzen langsam unter die Topträger gleiten. »Ich bitte darum«, hauchte sie.

»Gut.« Ich zog sie mit mir, bis wir auf mein Bett sanken. Das Prickeln der magischen Essenz, die sie mit jeder Faser ihres Körpers aufsaugte, steigerte mein Verlangen ins Unerträgliche. Mein einziger Gedanke galt dem Gefühl ihrer Haut auf meiner Haut.

***

Als ich später mit dem Kopf auf ihrem Bauch lag, mit den Fingerspitzen geistesabwesend über ihren Arm streichelte, wanderten meine Gedanken zu diesem fernen Ort, an dem Ben noch am Leben war, wir eine glückliche Familie, Ma gesund und Telmara eine Fremde. An dem ich tagsüber bei Umzügen half und abends in Monas Café Wunder-Bar die Gäste mit meinen Fähigkeiten unterhielt. Ich erreichte ihn nie, bevor etwas anderes an meiner Aufmerksamkeit zog.

»Ich bin beeindruckt. Du warst viel besser, als ich erwartet hatte.«

Ich lachte. In den letzten beiden Stunden hatte ich viel gelacht, neben all dem anderen, was wir noch so getan hatten. »Das höre ich öfter.«

»Wie schade, dass ich dich nicht einfach für mich behalten kann.« Ein wölfisches Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

»Das höre ich auch öfter.«

Jetzt war sie es, die grinste. Sie schob sich unter mir hervor und angelte nach ihrem Kleid, das auf der Kommode gelandet war. »Was bin ich denn schuldig?«

Ich winkte ab. »Geht aufs Haus.«

»O?« Sie zog eine Rolle Geldscheine aus einer Tasche in ihrem Körbchen. »Wie komme ich zu der Ehre?«

Ich stützte mich auf die Ellenbogen und lächelte sie an. »Ein Willkommensgeschenk zur Begrüßung in der neuen Stadt.«

Diana schmunzelte. »Ein sehr großzügiges Geschenk. Aber du sagst bestimmt nicht Nein zu einem Trinkgeld, oder?« Sie legte drei grüne Scheine auf die Kommode.

Überrascht blinzelte ich. »Davon kann man eine Menge trinken.« Oder Angie drei Tage bezahlen.

Sie schlüpfte zurück in ihr Kleid. »Betrachte es als mein Gastgeschenk und Dank für die Einführung in die noble Gesellschaft der Münchner Gefallenen.«

Ich stand auf und zog mich auch an. »Gehst du schon?«

Sie legte die Arme um mich und küsste mich auf die Nasenspitze. »Leider. Aber wir sehen uns bald wieder, nicht wahr? Meine Adresse hast du ja.« Schon schwebte sie davon.

Mein Herz pochte noch immer. Was für eine Frau!

Zurück im Ballsaal hatte die Stimmung von heiter zu ausgelassen umgeschlagen. Überall wurde gelacht und getanzt. Den Dämon hatten sie verschlungen. Hier und da trieb noch etwas von dem schwarzen Schnee durch die Luft, das Bannhalsband lag auf der Silberplatte, die Zeichen leuchteten nicht mehr. Mein Moment war gekommen – jetzt hatten sie alle Lust auf Nachtisch. Etwas süße Feenmagie, etwas herbe Dämonenmagie, dazu ein paar sanfte Streicheleinheiten oder manchmal auch mehr, so ließen viele von ihnen gern den Abend ausklingen. Ich mischte mich unter die Gefallenen, um mir die passende Gesellschaft zu suchen. Nach den vergangenen Stunden mit Diana verspürte ich wenig Lust dazu, doch ich war magisch und brauchte das Geld.

»Hast du von dem neuen Fürsten gehört?«, fragte Affrieda von Theodorenz ihre Begleitung. »Er soll schon Hamburg und Berlin regieren und jetzt ist er hier.«

Die Begleitung, eine junge Frau in meinem Alter mit toupiertem Haar und vollen Lippen, gab sich erstaunt. »Unmöglich! Gibt es nicht allein in Berlin über zehntausend Gefallene?«

Von Theodorenz schnaubte. »Fünfundzwanzigtausend, Liebes! Dagegen leben die zwölfhundert Münchner Gefallenen in der Diaspora.« Sie streifte mich an der Schulter und nahm ein wenig meiner Magie. »Möchtest du uns Gesellschaft leisten, Gene?«

Ich mochte. »Über wen redet ihr?«

»Sein Name ist Augustus Hormezyor. Angeblich stammt er aus Ungarn. Ein neuer Gefallener – er soll erst seit fünfzig oder sechzig Jahren auf der Erde sein, aber schon mächtiger als einige von Napoleons Generälen.« Affrieda fächelte sich Luft zu.

Oberst Kitlitzberger trat von der Seite an sie heran. »Mit Verlaub, meine Teuerste, aber ich glaube kein Wort davon. Das sind Schauermärchen, die sich der preußische Plebs erzählt, um uns zu verunsichern.«

Von Theodorenz setzte sich auf einen der Sessel und legte meine Hände auf ihre Schultern. Automatisch begann ich damit, sie unter Zugabe süßer Feenmagie zu kneten. »Ich würde das nicht so einfach abtun, Josef.« Sie räkelte sich. »In jedem Gerücht steckt ein Körnchen Wahrheit. Wenn wir unvorsichtig sind, könnte sich das zu einer ernst zu nehmenden Gefahr auswachsen.«

»Wenn einer einen auf Fürst macht, müssen die anderen ihm dann Schutzgeld zahlen, oder sowas?« Fragend sah ich die Gefallenen an.

Sie tauschten Blicke. »Schwer zu sagen«, meinte der Oberst. »Das hängt stark von der jeweiligen Person ab. Wenn jedoch jemand eine Stadt zu übernehmen gedenkt, die seit zwei Jahrhunderten keinen Fürsten mehr akzeptiert hat, so ist davon auszugehen, dass er Steuerpläne hat.«

Ich blinzelte. »Also … ja?«

Von Theodorenz seufzte. »Du siehst das ganz richtig, Gene. Ein bisschen weiter links, genau da.« Aus dem Seufzen wurde ein Schnurren. »Wir werden uns damit genauer auseinandersetzen müssen. Liebes?« Sie berührte ihre Begleitung am Oberschenkel. »Gib Gene doch bitte ihr Honorar.«

Die Begleitung reichte mir einen Fünfziger. Ich ließ ihn in meiner Gesäßtasche verschwinden und verwöhnte Affrieda noch ein wenig mit meiner magischen Massage. Schließlich stand sie auf. »Wie dem auch sei, heute Abend werden wir nichts mehr erfahren und auch nichts verändern. Lass uns heimgehen, Amalia.« Sie verabschiedete sich mit einem Nicken von mir. Die beiden Frauen steuerten Dr. Telmara an, die unweit der zentralen Tafel mit einem der Sicherheitsleute sprach.

Der Oberst maß mich mit einem prüfenden Blick. »Ich nehme auch noch etwas vom Spezialbuffet«, sagte er und hielt mir die Hand hin.

Ich ergriff sie und ließ ihn einen kräftigen Schluck Feenmagie abzapfen. Meine Arme und Hände prickelten. Mir wurde ein bisschen schwummerig. Vielleicht sollte ich auch langsam nach Hause gehen. Er reichte mir einen Fünfziger und klopfte mir auf die Schulter. »Pass auf dich auf, Mädchen. Falls es zu einer Machtübernahme kommen sollte, erleben Bedienstete allzu oft einen unerfreulichen Besitzerwechsel.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch er beachtete mich schon nicht mehr, sondern hielt einen vorbeieilenden Militärkollegen auf. »Blöder Wichser«, murmelte ich und steckte den Schein ein.

Immer schön lächeln und an das Geld denken.

Telmara kam zu mir herüber. »Nun, Gene? Wie ich feststellen konnte, hast du dich gleich persönlich um das Wohlbefinden unseres Neuzugangs gekümmert. Wo ist sie denn hin?«

Ich deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Tür. »Heim. Hat sich wohl was anderes vorgestellt, als an einem toten Dämon zu zuzeln.«

Die Gefallene verzog das Gesicht. »So etwas Undankbares! Lade sie ja nicht noch einmal ein.«

Achselzuckend wandte ich mich ab. »Wie Sie meinen.«

»Bleibst du über Nacht?« Sie leckte sich über die Lippen. »Das Schwein war so schnell verzehrt, ich würde gerne gleich im Morgengrauen einen neuen Dämon beschwören.«

Ich ließ die Schultern sinken. Nein, wollte ich sagen, ich will diesen Dreck nicht mehr machen. »Sicher. Kein Problem«, sagte ich.

Kapitel Drei

Der neue Dämon stellte sich als ein fetter Python mit Zähnen heraus, die nicht nur den Kampfanzug und die Haut darunter mühelos durchdringen konnten. Nein, ich musste die spitzen Dinger abbrechen und warten, bis das sich regenerierende Gewebe des Unterarmknochens die Reste hinausgedrückt hatte, weil sie so feststeckten. Wenigstens gefiel das riesige Mistvieh Telmara so sehr, dass sie mir einen Bonus zahlte.

Das Bett im Westflügel duftete noch immer nach Diana. Tapfer widerstand ich dem Drang, mich einfach hineinzulegen und bis zum Abend nicht mehr aufzustehen. Mona hatte mir eine Nachricht geschrieben – Ana ging es heute so gut, dass sie sich zum Mittagessen Shish Taouk gewünscht hatte. Mona wollte es für sie kochen, aber es fehlte so ziemlich alles, vom Hühnchen über das Fladenbrot bis hin zur Petersilie für ein Taboulé. Also hatte ich noch einiges einzukaufen, bevor ich nach Hause kommen und schlafen konnte.

Auf der Treppe zur U-Bahn-Station verpasste mir die angeknackste Rippe auf jeder Stufe einen Stich. Ich presste den Arm vor die Brust und fühlte das Bargeld in der Innentasche meiner Jeansjacke. Seufzend humpelte ich auf den Bahnsteig, gerade rechtzeitig, um die Rücklichter der U6 verschwinden zu sehen. Ich stieß eine Verwünschung aus und setzte mich auf einen der kalten Metallsitze. Ein kurzes Abtasten meiner Jacke ergab, dass ich nicht mal Kippen dabeihatte. Genervt legte ich den Kopf in den Nacken und zählte die Streben der Überdachung. Der Gegenzug fuhr ein und entließ eine geschäftige Gruppe Pendler auf den Bahnsteig. Jetzt im Herbst fiel das Ende der Dämonenbeschwörung mitten in die Rushhour. Wir hatten mit anderen Zeiten experimentiert, aber es kostete so viel weniger Kraft, das Tor direkt bei Sonnenaufgang zu öffnen als zu irgendeiner anderen Stunde, dass ich das frühe Aufstehen dafür in Kauf nahm. Ich wünschte nur, ich hätte irgendeine Alternative zu diesem Scheißjob. Mona wollte, dass ich meine Seele heilte. Bei Lemmy, das wollte ich doch auch, nur wie?

»Hey, Gene, was machst du denn hier in aller Herrgottsfrühe?« Peter umrundete die Sitzreihe. Offenbar war er gerade mit dem Zug aus der Stadt angekommen.

Ich stand auf. »Hey, hi. Ich war auf ’ner Party und fahre nach Hause, aber natürlich hab ich die blöde Bahn verpasst. Und du?«

»Mir ist am Sonntag auf dem Heimweg von Landshut mein Wagen hier verreckt. Jetzt geh ich ihn holen.« Er neigte den Kopf. »Willst du mitkommen? Dann fahre ich dich nach Hause.«

Ich winkte ab. »Das ist nett, aber ich muss noch zum Hauptbahnhof in den türkischen Markt, fürs Mittagessen einkaufen.«

Er holte eine Schachtel seiner unvermeidlichen Mentholzigaretten aus der Innentasche seiner Lederjacke und bot mir eine an. Ich zögerte, aber eine Mentholzigarette war besser als gar keine Kippe. »Dann drehen wir eben eine Runde über den Hauptbahnhof«, sagte er mit einem verschmitzten Grinsen. »Rob freut sich bestimmt, wenn ich ihm Baklava mitbringe.«

Dankbar lächelte ich.

***

»Ich hab nachgedacht.« Peter lenkte seinen alten Honda Accord auf die Stadtautobahn. »Wer dir mit deinem Magieproblem helfen könnte.«

Überrascht schnaubte ich. »Du glaubst an Magie, Peter? Hast du nicht den Faktencheck der Bundesregierung gelesen? Fazit: ›Sämtliche Sichtungen lassen sich naturwissenschaftlich oder sozialpsychologisch erklären. Es gibt keine sicher nachweisbaren Anzeichen für die Existenz von anderen Daseinsebenen oder humanoiden Lebensformen, die nicht zur Gänze menschlich sind.‹«

Er blinzelte. »Du kannst das auswendig?«

»Klar. Das rezitiere ich immer, wenn …« Ich biss mir auf die Lippe.

»Wenn jemand beim Schleppen von Möbeln den violetten Schimmer in deinen Augen bemerkt? Oder sich einfach nur fragt, warum ein Eins-Sechzig-Punkmädchen, das bestenfalls fünfzig Kilo wiegt, eine Miele allein in den Fahrstuhl gewuchtet bekommt?«

Meine Ohren wurden heiß. »Genau«, murmelte ich. Sorgenvoll sah ich zu ihm rüber. »Was denken die Jungs, was ich bin?«

Er lächelte. »Keine Ahnung, was die anderen für Theorien haben. Mir ist es egal, was du bist. Weil ich weiß, wer du bist.«

Ich schluckte. »Wer bin ich denn?«

»Meine Freundin und Kollegin, die sich Tag für Tag ein Bein ausreißt, damit ihre Familie über die Runden kommt. Und dabei immer noch Zeit für die Wehwehchen eines alten Mannes hat.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sank tiefer in den Beifahrersitz.

»Aber zurück zum Thema. Ich hab mich ein bisschen informiert und einige interessante Sachen im Internet gefunden, über Gefallene, Aufgestiegene, Feen und Dämonen.«

»Das Potpourri der übernatürlichen Wesenheiten.« Und dann gab es noch solche wie mich. Die irgendwas mittendrin waren.

»Es gibt ziemlich viel darüber, wenn man nur tief genug gräbt und bereit ist, ein paar Sachen einfach zu glauben.« Peter setzte den Blinker. Wir verließen die Stadtautobahn und frästen uns durch den dichten Verkehr auf der Schenkendorfstraße Richtung Süden. »Feen wirst du vermutlich keine finden, von Gefallenen hältst du dich lieber fern, ebenso von Dämonen, logischerweise. Aber die Aufgestiegenen – die müssten dir helfen können.« Er warf mir einen scharfen Blick zu. »Oder bist du eine von denen?«

Abwehrend hob ich die Hände. »Ha! Schön wär’s. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, was ich bin. Aber definitiv keine Aufgestiegene.«

»Versuch, welche zu finden. Wenn sie das Dämonenreich hinter sich gelassen haben, dann, weil sie das eine oder andere darüber wissen, wie man karmische Auswirkungen auf die Seele neutralisiert.« Peter bog in die Prinzregentenstraße ein, hupte einen Elektroroller an, der bei Rot über die Fußgängerampel zischte, und schnitt einen SUV, der ihn rechts überholen wollte. »Der Trick ist, ein Auto zu fahren, dessen Wert du durch Volltanken verdoppeln kannst. Wenn dich mal einer streift, kannst du nur gewinnen.« Er lachte. »Aber im Ernst: Such dir Unterstützung durch Aufgestiegene.«

Ich nickte. »Ist einen Versuch wert. Aber vermutlich nicht so einfach, die zu finden.«

***

Peter half mir, die Einkäufe zu tragen und bestand darauf, mich nach Hause zu fahren.

»Kann ich dich im Gegenzug wenigstens zum Essen einladen?«, fragte ich ihn unten an der Treppe.

Er winkte ab. »Ich rauch jetzt noch gemütlich eine und dann fahre ich heim. Baklava schmeckt frisch am besten.«

»Danke, du warst echt eine große Hilfe.« Ich überlegte kurz, ob ich ihn umarmen sollte, entschied mich aber dagegen. Mit federnden Schritten stieg ich die ersten Treppenstufen hinauf. »Wir sehen uns bei dem Umzug von Ingolstadt morgen, oder?«

Er nickte und sagte mit einem Augenzwinkern: »Vorher nicht wieder so lange feiern, hörst du?«

Mit einem Grinsen tippte ich mir salutartig an die Stirn und eilte in den vierten Stock hinauf.

Mona fing mich an der Wohnungstür ab. »Hey, Gene. Du hast deine Nachrichten nicht gecheckt, oder?« Sie flüsterte und sah nervös über die Schulter. Die Wohnungstür versperrte den Blick auf den Flur. Stirnrunzelnd setzte ich die Einkaufstüten ab. »Was ist los? Ist was passiert?«

»Tony ist da«, flüsterte sie. »Mit Franzi und Melissa.«

Ein Ziehen in meiner Brust krümmte mir die Schultern. »Warum? Ana hat doch erst im Dezember Geburtstag.«

»Sie wollten in den Urlaub fliegen, während die Kammerjäger ihr Haus ausräuchern, aber der Flug ist gestrichen, wegen dem Vulkanausbruch auf La Palma. Jetzt wohnen sie bei uns.« Aus Anas Schlafzimmer hörte ich Melissa quietschend etwas zum Besten geben. Mona schloss die Tür hinter sich bis auf einen kleinen Spalt. Das Ziehen in meiner Brust wurde zu einer Enge, die mir aufs Herz drückte. Ich hatte die Kleine bisher nur aus der Ferne und auf Fotos gesehen. Ich hätte sie gerne mal erlebt, auch wenn ihre großen, dunklen Augen mich so schmerzhaft an Ben erinnerten. »Das heißt, ich bin raus?« Meine Stimme hörte sich trauriger an, als ich wollte.

»Nur für ein paar Tage.« Mona schien nicht zu bemerken, wie sehr mich das traf. Sie griff durch die Tür und reichte mir die kleine, rote Reisetasche. »Ist alles drin, was du brauchst. Du hast doch ein Zimmer bei dieser Ärztin, wo du aushilfst, oder?«

»Physikerin«, verbesserte ich matt, auch wenn es keine Rolle spielte. »Ja, klar.« Ich tauschte die Einkaufstüten gegen die Reisetasche. »Dann … lasst es euch schmecken.«

Mona lächelte. »Danke dir. Und tut mir wirklich leid.«

Ich versuchte, einen Blick durch die Tür auf Melissa zu erhaschen. Ihre dicken, schwarzen Locken wackelten gerade ins Wohnzimmer rüber. In diesem Moment kam Tony aus meinem Zimmer. Er stutzte kurz, bevor seine Gesichtszüge sich verhärteten. Mona stolperte, als er die Tür aufzog und mich wütend anfunkelte. »Was willst du hier?«, fragte er in scharfem Ton. Er hatte sich nicht verändert. Trug das schwarze Haar noch immer streng nach hinten gegelt, auch wenn es an den Schläfen grau wurde. Weil er als Arzt so europäisch wie möglich wirken wollte, achtete er penibel darauf, nicht in die Sonne zu gehen, und war dennoch deutlich brauner als Mona. Ihr Blick huschte unruhig zwischen uns umher. Ein Teil von mir wollte das Lügengebäude einreißen, das sie errichtet hatte, um ihre Familie und ihre Mutter zu schützen. Wollte ihm ins Gesicht schreien, dass das auch mein Zuhause war, ob es ihm nun passte oder nicht. Ich sah in Monas flehendes Gesicht und die Wut verrauchte. »Hab nur Einkäufe vorbeigebracht. Bye, Mona.« Ich umarmte sie. »Schönen Tag noch, Antoine.« Ich drehte mich um und eilte die Treppe hinab.

»Du bist hier nicht willkommen!«, rief er mir nach.

»Fick dich ins Knie!«, schrie ich zurück.

Die alte Treppe erbebte unter dem Aufprall seiner Schritte. Am untersten Treppenabsatz packte er mich am Kragen meiner Jeansjacke, wirbelte mich herum und presste mich gegen die Wand. »Ich habe dir gesagt, dass du dich von meiner Familie fernhalten sollst.«

»Es ist auch meine Familie«, presste ich zwischen den Zähnen hervor.

Mit vehementem Kopfschütteln stach er den Zeigefinger in die Luft vor meinem Gesicht. »Das ist eine Lüge und das weißt du ganz genau. Wenn Mutter nicht so krank wäre, würde sie das auch erkennen. Ich lasse nicht zu, dass du sie weiter manipulierst.«

Zorneshitze stieg mir in die Wangen. »Ich manipuliere sie? Ich reiße mir den Arsch auf, um für die Pflegekraft zu bezahlen, du Penner!«

Tony schnaubte. »Erzähl keinen Schwachsinn. Monas Agentur bringt das Geld rein. So, wie ich sie kenne, füttert sie dich auch noch mit durch. Warst du deshalb hier? Eine wie du findet in dieser Stadt doch keinen Job.«

Ich presste die Lippen zusammen und schloss die Augen.

Bloß nicht heulen, verdammte Scheiße.

Ich konnte einer Dämonenschlange die Zähne ausreißen, aber wenn der Sohn meiner Pflegemutter Mist über mich laberte, lief mir das Wasser in die Augen.

»Gibt es hier ein Problem?« Peter kam die Treppe herauf und blieb auf dem Absatz stehen.

Tony musterte ihn abschätzig. Er ließ mich los und trat einen Schritt zurück. »Nichts, das Sie was angeht.«

Peter nahm eine Hand aus der Tasche seiner Lederjacke und deutete auf mich. »Ich bin hier, um meine Kollegin zur Schicht abzuholen, und Sie sehen so aus, als bedrohten Sie sie.«

Tony verzog das Gesicht und maß mich mit herablassendem Blick. »Dein Zuhälter, oder was?«

Peter schlug so blitzartig zu, dass ich nicht reagieren konnte. »Nenn mich noch einmal Zuhälter, Arschloch!« Seine Faust knallte auf Tonys Wangenknochen und schickte ihn auf die Treppe.

Tony grunzte, rappelte sich auf und stürzte sich auf Peter. Ich warf mich dazwischen und versuchte, das Handgemenge zu verhindern.

»Hey!« Mona kam die Treppe heruntergerannt. »Was tut ihr denn da? Seid ihr allesamt verrückt geworden?«

Ich packte Tony und Peter bei den Handgelenken und ließ etwas Feenmagie zu ihnen hinüberfließen. Peter erschauderte und stützte sich schwankend an der Wand ab. Tony riss sich los und stolperte auf die Treppenstufen.

»Papa?« Melissas krauser Haarschopf tauchte hinter Mona auf dem oberen Treppenabsatz auf. Sie wirkte verunsichert. »Hat dich der Mann gehauen?«

»Was machst du denn da, Habibi?« Tony eilte die Treppe hinauf und nahm seine Tochter auf den Arm. »Warum bist du nicht bei mamie?«

Melissa, nun wieder mutiger, sah mich an. Ihre Augen wurden groß. Sie schlug die Hände vor den Mund und wandte das Gesicht ab. Die Lippen dicht an ihres Vaters Ohr, flüsterte sie ihm etwas zu. Tony runzelte die Stirn. »Ich verstehe kein Wort. Kannst du es nicht einfach normal sagen?«

Energisch schüttelte die Kleine den Kopf und begann von Neuem.

Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. »Ich sollte jetzt gehen.« Ein kurzer Blick zu Mona, ein schneller Griff zur Reisetasche, die in dem Durcheinander schon halb im Erdgeschoss angekommen war, und die Haustür fiel hinter mir ins Schloss.

Kraftlos sank ich an der Hausmauer hinab und vergrub das Gesicht zwischen den Knien.

»Hey.« Behutsam berührte Peter meine Schulter. »Brauchst du einen Schlafplatz?«

Ich schob die Nasenspitze über die Knie und linste zu ihm hinauf. »Ich hab ein Zimmer in Garching«, murmelte ich. »Ist nur für ein paar Tage.«

Er holte die Zigaretten raus und hielt mir eine hin. Ich konnte echt eine gebrauchen. Schwerfällig ließ er sich neben mir auf den Boden herab. »Wer war der Arsch?«

Eigentlich wollte ich nicht über Antoine reden, aber Peter verdiente eine Erklärung. » Strenggenommen mein Bruder. Auch wenn er immer dagegen gewesen war, dass Ana mich adoptiert hat.«

»Was hat der Typ gegen dich?« Er nahm einen Zug von seiner Kippe und betrachtete seine aufgeplatzten Knöchel.

Ich schnaubte. »Nichts Wirksames.«

Peter lachte.

»Ist ’ne lange Geschichte, aber die Kurzfassung lautet: Er hat eine Theorie darüber, was ich bin, und dementsprechend kein gutes Gefühl dabei, mich mit seiner alten Mutter und seiner kleinen Schwester allein zu lassen.«

»Er hält dich für ’nen Dämon.« Peter blies einen dicken, runden Rauchring in die Luft.

»Jep.«

Schweigend rauchten wir fertig.