Toter Chef - guter Chef - Georg Langenhorst - E-Book

Toter Chef - guter Chef E-Book

Georg Langenhorst

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  • Herausgeber: Echter
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

" 'Das ist mein letztes Wort. Endgültig!' Er sollte recht behalten. Tatsächlich. Das war sein letztes Wort. Ohne dass er es ahnen konnte. Und anders, als er es gemeint hatte." Kurz darauf wird Dr. Bertram Geißendörfner, Direktor des Dom-Gymnasiums von Friedensberg, brutal überfahren. Aber warum tötet jemand einen Pädagogen, der wegen seiner Schülerfreundlichkeit allseits geschätzt war? Warum bringt jemand einen Chef um, der von all seinen Mitarbeitern geachtet wurde? Zur Lösung seines dritten Falles begibt sich Kommissar Kellert in die Untiefen des heutigen Schulwesens. Dass es sich dabei um ein kirchliches Gymnasium handelt, macht die Ermittlungen nicht leichter. Schule heute? Er selbst und die Leser werden ihre bisherigen Einschätzungen überprüfen müssen.

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Georg Langenhorst

Toter Chef – guter Chef

Mord im Domgymnasium

Kriminalroman

Georg Langenhorst

Toter Chef – guter Chef

Mord im Domgymnasium

Kriminalroman

echter

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären reiner Zufall und sind auf keinen Fall beabsichtigt. Auch unmittelbare Bezüge zu real existierenden Institutionen oder Orten entbehren jeglicher Absicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2018

© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.d

Coverfoto: © chiradech/thinkstock

Lektorat: Monika Thaller

Satz: Crossmediabureau – xmediabureau.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim – www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05318-5

978-3-429-04999-7 (PDF)

978-3-429-06409-9 (ePub)

Folgende Personen treten auf

Teresa Andernach, Schülersprecherin

Torsten Bedlinger, Oberstudienrat

Saskia Blum, Chefsekretärin

Peter Brändel, Polizeihauptmeister

Elmar Maria Brandtstätter, Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät

Dr. Franz Joseph Breskamp, Prälat, Leiter der bischöflichen Schulabteilung

Thomas Brox, Studiendirektor, Mitarbeiter im Direktorat

Sandra Friesinger, Studienrätin

Dr. Bertram Geißendörfner, Oberstudiendirektor, Schulleiter

Thea Geißendörfner, Witwe

Monika Höffgen, Oberstudienrätin in Nürnberg

Bogdan Kaminski, Hausmeister

Dr. Werner Jacobs, Polizeipräsident

Beate Kellert, Steuerfachfrau

Bernd Kellert, Kriminalhauptkommissar

Hannah Mellrich, Polizeikommissariats-Anwärterin

Kathrin Prestele, Doktorandin an der Katholisch-Theologischen Fakultät

Lilli Schildbach, Studiendirektorin im Ruhestand

Ulrich Schongauer, Pfarrer und Studiendirektor, Mitarbeiter im Direktorat

Dominik Thiele, Kriminalhauptmann

Verena Thiele, Studienrätin z. A.

Ingrid Wiesmüller, Studendirektorin, stellvertretende Schulleiterin

Lena Winter-Drexler, Kommissariats-Sekretärin

und viele mehr

Ende

„Nein! Die Sache ist erledigt. Ein für alle Mal. Das ist mein letztes Wort. Endgültig!“ Verärgert, aber fest entschlossen schob Oberstudiendirektor Dr. Bertram Geißendörfner sein Handy in die Lenkertasche seines Fahrrads. Er sollte recht behalten. Tatsächlich, das waren seine letzten Worte. Ohne dass er es ahnen konnte. Und anders, als er es gemeint hatte.

Er schob sein Fahrrad aus dem Unterstand, wo er vor dem niederprasselnden Regenschauer Schutz gesucht hatte, zurück auf den schmalen Gehweg. Dunkel gleißte die nasse Fahrbahn. Pfützen spiegelten wacklige Bilder der wenigen, in weitem Abstand aufgestellten Straßenlaternen. Dienstags abends um halb neun waren kaum Fahrzeuge unterwegs.

‚Immerhin bleibt es mir erspart, von vorbeifahrenden Autos nassgespritzt zu werden‘, dachte der achtundfünfzigjährige Direktor des weit über Friedensberg hinaus angesehenen KaRaGe, des Karl-Rahner-Gymnasiums. Er schnürte das Regencape über den Helm, den er für das Gespräch nicht abgesetzt hatte, schlug den durchsichtigen Regenschutz wie zuvor über sich selbst, den Lenker und den Sattel seines Rades und fuhr auf die Fahrbahn, die ihn die drei Kilometer nach Hause führen sollte.

Bei Wind und Wetter nahm er das Fahrrad. „Das hält mich wenigstens ein bisschen in Bewegung“, erklärte er seiner Frau Thea jedes Mal, wenn sie ihn bei allzu widrigen Verhältnissen bat, doch wenigstens ausnahmsweise einmal das Auto zu nehmen.

‚Unfassbar, diese Dreistigkeit!‘, ging es ihm durch den Kopf, während er langsam durch die frühnächtliche Dunkelheit radelte und dabei versuchte, wenigstens den größten Pfützen auszuweichen. Ein wohltuender Rückenwind trieb ihn mit leichten Böen voran. Sie klatschten ihm freilich Regenguss um Regenguss auf den Rücken. Märzwetter! Er war noch ganz in Gedanken. Das Telefongespräch ging ihm nach. Die leidige Angelegenheit hatte ihn nicht nur ganz allgemein Monate, sondern heute noch einmal viele Stunden des Nachmittags und des frühen Abends gekostet. So spät beendete er seinen Dienst sonst nie. Und ihn dann noch auf dem Heimweg per Handy anzurufen!

Ein Scheinwerferkegel tastete sich langsam von hinten auf ihn zu. ‚Mist, doch ein Auto!‘, dachte er. ,Hoffentlich fährt der wenigstens in großem Bogen um mich herum. Platz genug ist ja da.‘ Das Fahrzeug kam langsam näher. Die Person am Steuer schien es nicht besonders eilig zu haben. Oder angesichts der Wetterbedingungen besonders vorsichtig zu fahren. ‚Gut so‘, lobte Bertram Geißendörfner in Gedanken. Einmal Lehrer, immer Lehrer. Das Verteilen von Zensuren wird man nicht los. Das geht über in Fleisch und Blut. Misslungen oder bestanden. Mittelmaß oder Exzellenz. Lob und Tadel.

Plötzlich heulte der Motor laut auf. Das Auto setzte mit einem gewaltigen Sprung nach vorn und schoss auf das Fahrrad zu. Geißendörfner wollte sich umdrehen, um zu verstehen, was da los war, doch dazu kam es nicht mehr. Mit voller Wucht knallte die Stoßstange des PKW an das Hinterrad seines Fahrrads und schleuderte es weit über den glänzenden Asphalt nach vorn. Der Fahrer wurde abgeworfen, überschlug sich zweimal, rutschte über die regennasse Fahrbahn und blieb zuckend liegen.

Geißendörfner hatte den Sturz überlebt. Wie in einem Film nahm er die völlig unwirklichen Bildschnitte wahr, die sich ihm darboten. Kein Schmerz. Kein Bewusstsein von dem, was vor sich ging. Doch! ‚Gut, dass du deinen Helm aufhast!‘, schoss es ihm durch den Kopf, seltsamerweise verbunden mit der Stimme von Thea, seiner Frau.

Bevor er weiterdenken konnte, wurden die Bilder noch unwirklicher. Das Auto war stehen geblieben. Die Person am Lenkrad setzte jetzt zurück, aber nicht, um ihm zu helfen. Tempo aufnehmend überrollte ihn das Fahrzeug ein zweites Mal, dann ein drittes und viertes Mal. Da half kein Helm. Als träges, verrenktes Bündel blieb der Körper Bertram Geißendörfners auf der nassen Straße zurück. Sein Kopf lag in überdehntem Winkel halb in einer schwarzglänzenden Wasserlache, deren Wirbel sich langsam beruhigten, immer wieder neu durchbrochen von aufspritzenden Regentropfen. Nein, nicht sein Körper lag da, sondern sein Leichnam.

Das Auto setzte ein letztes Mal zurück und blieb einige Meter hinter dem Menschenbündel stehen. Die Frontscheinwerfer tauchten das Szenario in ein unwirkliches Licht. Die Fahrertür öffnete sich einen Spalt breit. Wer immer hinausspähte: Er oder sie war offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis. Mit einem lauten Ruck wurde die Tür ins Schloss gezogen. Wieder heulte der Motor laut auf und der Wagen schoss davon. Kleiner und kleiner wurden die roten Rücklichter, es blieb nur das Brausen des Regens und das Heulen der Sturmböen.

1.

„Nein, definitiv kein Verkehrsunfall!“ Dr. Werner Jacobs war seit sechzehn Jahren Polizeipräsident von Friedensberg, zuständig für den ganzen Landkreis. In fünf Jahren würde er in den Ruhestand gehen, aber diese Perspektive lähmte seinen Arbeitseifer in keinster Weise. Friedensberg hatte eine der höchsten Aufklärungsquoten in Deutschland, darauf war er stolz. Und das sollte sich unter seiner Ägide auch nicht mehr ändern.

Mittwochmorgen, acht Uhr dreißig. Jacobs hatte einige Mitarbeiterinnen und Kollegen zu einer Dienstbesprechung in seinem nüchtern-zweckmäßig eingerichteten Büro versammelt. Er fuhr fort: „Erst dachten wir das natürlich auch. Ein Unfall bei Regen und Dunkelheit. Tragisch, aber nichts, womit wir uns befassen müssten. Aber dann …“ Er nickte Polizeihauptmeister Peter Brändel wortlos zu. Brändel war am gestrigen Abend als zuständiger Polizist am Tatort gewesen.

„Kein schöner Anblick, liebe Kollegen und“ – Brändel beugte sich demonstrativ zur Kommissariats-Sekretärin Lena Winter-Drexler und zu einer jungen Polizistin, die unauffällig am Rande der Tischrunde saß – „Kolleginnen. Das Opfer wurde mindestens dreimal überrollt. Ohne Frage vom selben Fahrzeug. Von hinten und von vorn. Das war Absicht! Böse Absicht!“

„Außerdem“, mischte sich sein Chef wieder in das Gespräch, „haben wir das Auto ja gefunden …“ Wieder ließ er den Satz ausklingen und blickte auffordernd zu seinem Mitarbeiter. Alle im Raum kannten diese Art von Impulsen. So war nun einmal der Kommunikationsstil ihres Präsidenten. So war er, der Dr. Jacobs. Wenn man ihn kannte, konnte man gut mit ihm auskommen.

Polizeihauptmeister Peter Brändel war seit mehr als elf Jahren im Dienst. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, schluckte die Unterbrechung hinunter und ergriff wieder das Wort: „Genau, das Tatfahrzeug stand drei Straßen weiter, in der Sackgasse beim Priesterseminar. Kellert, Sie kennen sich da ja aus. Der Motor lief noch, Licht eingeschaltet, Zündschlüssel im Schloss, Fahrertür weit offen, von Insassen natürlich keine Spur …“

Wieder unterbrach ihn der Polizeipräsident: „Das werden wir ja noch sehen!“ Seine Mitarbeiter schauten ihn fragend an, deshalb erklärte er: „Na, ob es von den Insassen wirklich keine Spur gibt. Die KTU hat sich das Auto längst vorgenommen. Die werden schon etwas finden. Dann wissen wir mehr.“

Kommissar Bernd Kellert, zuständig für Verbrechen gegen Leib und Leben bei der Kriminalpolizei von Friedensberg, schaute skeptisch. Das entging auch seinem Chef nicht. „Oder, Herr Kellert? Sind Sie anderer Ansicht?“

„Nichts dagegen, wenn die etwas finden. Am liebsten gleich die entscheidende Spur zum Täter. Aber ich fürchte, das wäre zu schön, um wahr zu sein“, entgegnete der hochgewachsene, kurzgeschorene immer noch sportlich-drahtig wirkende Fünfzigjährige nur. „Ob uns das wirklich weiterhilft, werden wir sehen. Ich bin skeptisch.“

„Skeptisch hin oder her, es ist jedenfalls Ihr Fall!“, raunte Dr. Jacobs Kellert zu. „Und heikel, das wissen Sie ja. Meine Güte, Bertram Geißendörfner, der Chef vom KaReGe, vom Domgymnasium, der ist hier natürlich bekannt wie ein bunter Hund. Mitglied im Stadtrat, in vielen Vereinen, beim Rotary Club. Wir brauchen eine rasche Aufklärung. Und diskret. Die Presse rennt mir ja jetzt schon die Bude ein.“

Kellert nickte bitter. Tolle Arbeitsbedingungen! Aber er konnte es sich natürlich nicht aussuchen. „Wer hat das Opfer gefunden?“, fragte er betont sachlich. „Eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, die noch spät ihren Hund ausführte, trotz Wind und Wetter“, antwortete Brändel nach einer fast unmerklichen Geste seines Vorgesetzten. „Aber die hat von dem Vorgang selbst nichts mitgekriegt. Und einen schweren Schock erlitten. Von der werden Sie kaum hilfreiche Informationen erhalten, Herr Kommissar.“

Peter Brändel sprach Kollegen, die in der Polizei-Hierarchie über ihm standen, grundsätzlich ‚per Sie‘ an. Kellert hatte ihm über die langen Jahre der gelegentlichen Zusammenarbeit mehrfach das eigentlich übliche ‚Du‘ angeboten, aber der Polizeihauptmeister hatte es immer wieder ausgeschlagen. Nun waren sie an diese Form der Anrede gewöhnt. „Weiß man denn, wem der Wagen, also das Tatfahrzeug, gehörte?“, mischte sich Kellerts Mitarbeiter, Kriminalhauptmann Dominik Thiele, in das Gespräch ein.

Peter Brändel blickte zum Polizeipräsidenten. Der gab ihm erneut ein kaum wahrnehmbares, zustimmendes Signal, dann erst antwortete der Polizeihauptmeister: „Klar. Das haben wir selbstverständlich als Erstes gecheckt. Irgendeine alte Kiste, ein Toyota. Gehört einem der Lehrer des Gymnasiums. Der benutzt es aber wohl fast nie. Es steht auf dem Lehrerparkplatz herum, immer am gleichen Platz. Und der Schlüssel liegt offen auf seinem Arbeitsplatz im Lehrerzimmer. Den kann jeder nehmen. Und darf das auch. So ist das da wohl üblich.“

Er blickte kurz in sein Notizbuch, las dann daraus vor: „‚Wenn du mal schnell ein Auto brauchst, nimmst du den alten Toyota vom Torsten. So haben wir das alle gemacht.‘ Sagt eine seiner Kolleginnen, mit der ich gestern Abend noch gesprochen habe.“ Kellert blickte ihn fragend an. Dieses Mal antwortete der Polizeihauptmeister direkt: „Da war Lehrersport, im Gymnasium. Volleyball. Da habe ich zwei der so spät noch anwesenden Kolleginnen sprechen können.“

Kellert nickte. „Und … Torsten?“ Brändel antwortete sofort: „Torsten Bedlinger. Mathelehrer. Muss ein ziemliches Original sein, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Kellert zuckte zusammen: „Der Bedlinger!? Ach je, wenn das wirklich der ist …“ Nun schauten die Kollegen ihn fragend an. Auch Dr. Jacobs.

„Eine meiner Nichten, Julia, hatte zwei Jahre lang bei dem Unterricht. Und der ist, wie sie sagte, ein unglaublicher Chaot. ‚Total verpeilt‘, so hat sie den beschrieben. Pädagogisch völlig unfähig. Einmal hat er kurz vor den Sommerferien einen Klausurtermin schlicht und einfach vergessen. Die Schüler mussten die Arbeit an einem Samstag nachschreiben. Die waren vielleicht begeistert! Wegen dem hat Julia nie einen Zugang zu Mathe gefunden.“ Er überlegte: „Gut, zumindest auch wegen dem. Aber über den hat man schon die ein oder andere Story gehört. Pfff. Na ja, solche Lehrer gibt es an jeder Schule …“

„Wie dem auch sei“, unterbrach Polizeipräsident Dr. Jacobs seinen Kommissar, der eigentlich kein Mann der langen Rede war. „Sie werden sich an der Schule umhören müssen, Kellert. Am Domgymnasium. Und das Privatleben von Dr. Geißendörfner durchleuchten. Und seine Verbindungen hier in Friedensberg!“, zählte der Dienststellenleiter die anstehenden Aufgaben auf. Als ob Kellert das nicht alles wüsste. „Los, Dominik, auf!“, grimassierte er in Richtung seines Mitarbeiters.

Kriminalhauptmann Dominik Thiele druckste herum, zögerte, tappte verlegen von einem Fuß auf den anderen. Seltsam, das entsprach nicht seinem normalen Verhalten. Kellert schaute ihn verwundert von der Seite an. Beim Verlassen des Dienstzimmers stammelte Thiele: „Äh, Chef!?“

„Ja?“, fragend blickte Kellert seinen Mitarbeiter an. Nach mehr als vierjähriger Zusammenarbeit kannten sie sich gut, waren menschlich und dienstlich ein bestens eingespieltes Team. „Was ist denn los?“, fragte er, als er bemerkte, dass sein Mitarbeiter nicht recht mit der Sprache herausrücken wollte. Schließlich rang dieser sich doch die Frage ab: „Kann ich vielleicht andere Arbeiten übernehmen? Ich würde nur höchst ungern da im KaRaGe auftreten.“ Bernd Kellerts Verblüffung stieg. „Warum das denn?“, fragte er irritiert nach.

Dominik Thiele, ein sportlicher, durchtrainierter, normalerweise keineswegs wortkarger Mittdreißiger, noch etwas größer als sein Chef, suchte sichtlich nach Worten. „Weil die Ena da doch jetzt unterrichtet! Wie sieht das denn aus, wenn ich als ihr Ehemann da herumschnüffele? Sie hat doch auch nur einen Jahresvertrag. Ich will ihr da nichts kaputtmachen …“

Richtig! Bernd Kellert tippte sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand an den Kopf. Dominik Thiele hatte letztes Jahr geheiratet. Und seine Frau Verena hatte am KaRaGe ihr Referendariat absolviert, aber dann trotz glänzender Examensnoten im ganzen Bundesland keine Planstelle gefunden. So war das zurzeit. Die Kultusministerien stellten einfach keine Gymnasiallehrer ein, auch wenn an den Schulen durchaus Bedarf bestand. Bestens qualifizierte Leute standen auf der Straße, zogen in ein anderes Bundesland, wo es Jobangebote gab, oder hielten sich mit Übergangsverträgen über Wasser.

So auch Verena. Über ihren Mann war sie mehr oder weniger an den Raum Friedensberg gebunden. Aber ihre Noten waren so gut, dass sie darauf hoffen konnte, früher oder später doch noch hier verbeamtet zu werden. Sie hatte sich so gut in das KaRaGe eingebracht, dass man ihr eine Perspektive aufzeigen konnte. Zunächst hatte sie einen Zeitvertrag über eine Dreiviertelstelle erhalten, daraus sollte aber möglichst bald mehr werden.

„Hm, das kann ich verstehen“, brummte Kellert nach längerem Nachdenken. „Das wäre wirklich eine ungute Rollenkollision. Ehemann einer Kollegin der zu Befragenden und gleichzeitig ermittelnder Kriminalbeamter vor Ort? Nein, das geht nicht. Aber was sollen wir tun? Ich brauche dich da!“

„Ich könnte ja alle Hintergrundrecherchen übernehmen. Und Gespräche außerhalb der Schule führen. Und an das KaRaGe nimmst du die Hannah mit!“, schlug Thiele vor. „Hannah?“ Kellert blickte verwundert. „Na, Hannah, Frau Mellrich, die PKA!“, entgegnete Thiele. Richtig, seit zwei Wochen war Hannah Mellrich ihnen als Polizeikommissars-Anwärterin zugeteilt worden. Furchtbares Wort. Aber so war nun einmal das Beamten-Deutsch. Sie war bei der von Dr. Jacobs anberaumten Besprechung als zweite Frau mit im Raum gewesen, hatte sich aber völlig ruhig verhalten.

Kellert hatte sie bislang eher ignoriert, hatte kaum mit ihr gesprochen. Offensichtlich im Gegensatz zu Thiele, der sie bereits beim Vornamen nannte. Klar, sie war hübsch und jung. Kellert selbst war die Zusammenarbeit mit Kolleginnen nur wenig vertraut. Sicherlich, mit der Kommissariats-Sekretärin Lena Winter-Drexler kam er bestens aus, aber sie war ja auch eher eine Zu- als eine Mitarbeiterin. Doch im täglichen Zusammenspiel der Alltagsarbeit? Ob das funktionieren könnte?

‚Bernd, alter Chauvi‘, hörte er plötzlich die Stimme seiner Frau Beate. Sie waren schon so lange verheiratet, mehr als fünfundzwanzig Jahre, dass er sich ihre Worte und den Tonfall sofort vorstellen konnte. Als würde er ihre Stimme tatsächlich hören. Er seufzte. „Okay, so machen wir das. Es gefällt mir zwar nicht, aber was soll’s? Ich frage Frau Mellrich, ob sie mich begleitet, du bleibst im Hintergrund.“

Kellert strich sich nachdenklich über das glattrasierte Kinn. „Vielleicht kann uns Verena ja sogar den ein oder anderen Hinweis geben. Sie kennt die Schule von innen. Das kann sich als großer Vorteil erweisen. Den wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollen. Also: Zumindest versuchen wir es so! Du bleibst im Gymnasium außen vor. Ungewohnt wird das für mich schon, ohne dich.“

Der Kommissar schmunzelte. „Ja, so ist das: Ich habe mich gut an unsere Teamarbeit gewöhnt“, grinste er seinen Mitarbeiter an. „Aber versprechen kann ich nichts. Wenn es nicht anders geht, musst du dann eben doch mit ans KaRaGe!“ Kellert überlegte kurz und legte sich dann fest: „Heute übernimmst du jedenfalls die Familie von diesem Dr. Geißendörfner. Er war verheiratet, das weißt du ja. Das wird also nicht ganz einfach.“

2.

Ruhig, zügig und sicher steuerte PKA Hannah Mellrich den Dienst-BMW durch die engen Straßen der Friedensberger Innenstadt. Nicht ganz so souverän fühlte sie sich. Endlich hatte der für sie zuständige Kommissar sie einmal direkt angesprochen. Aber er war ihr nicht ganz geheuer, dieser Bernd Kellert. Schweigsam ihr gegenüber. Und ruppig, vielleicht aus Unbeholfenheit. Dass er mit Dominik Thiele bestens harmonierte, hatte sie in den zwei Wochen auf der Dienststelle bereits mehrfach beobachten können. Aber sie selbst hatte er einfach ignoriert. Sie konnte sich auf sein Verhalten ihr gegenüber keinen rechten Reim machen.

Aber jetzt waren sie zu zweit unterwegs: Hannah Mellrich, siebenundzwanzig Jahre alt, kurzer blonder Haarschnitt, ehrgeizig, und er: der Fünfzigjährige, Erfahrene, Unnahbare. „Überlassen Sie mir das Reden!“, ermahnte er sie, während sie in die hohen Vorhallen des KaRaGe eintraten. Sie nickte. Aber was sollte sie dann hier? Kellert bemerkte ihre unausgesprochene Frage, schmunzelte kaum merklich und fügte hinzu: „Aber ich brauche Ihre Beobachtungen. Schauen Sie genau hin! Hören Sie auf die Zwischentöne! Nichts darf uns entgehen. Sie wissen schon: Vier Augen sehen mehr, vier Ohren hören mehr.“ Das klang schon besser.

Die seit etwas mehr als zwanzig Jahren Karl-Rahner-Gymnasium genannte Schule war das traditionsreichste Gymnasium vor Ort. Jahrhundertelang hatte es nur ‚das Domgymnasium‘ geheißen. Ältere Bürger von Friedensberg nannten es immer noch so. Jüngere meistens bei der Abkürzung KaRaGe. Von den Jesuiten kurz nach der Reformation gegründet, hatte hier in fast fünf Jahrhunderten die Bildungselite Friedensbergs ihre schulische Ausbildung erhalten. Bis in die 1970er Jahre war die Schule ausschließlich männlichen Schülern vorbehalten gewesen.

Seitdem gab es auch Schülerinnen. Vieles hatte sich allein dadurch geändert. Früher war man stolz darauf, immer wieder Abiturienten an das nahe Priesterseminar weiterzureichen. Ungezählte Friedensberger Priester und fünf Bischöfe waren zuvor Schüler am Domgymnasium gewesen. Heute stand das Gymnasium immer noch unter kirchlicher Trägerschaft. Aber das religiöse Leben prägte die Schule nur noch zu einem geringen Teil, so wie Religion insgesamt immer weniger Bedeutung für das Leben der Menschen hatte. Trotzdem: Das KaRaGe, das Domgymnasium, hatte immer noch einen ausgezeichneten Ruf. Weit über Friedensberg hinaus.

„Wir haben einen Termin im Direktorat“, erklärte Kellert, aber das wäre nicht nötig gewesen. Eine junge Frau hatte sie am Haupteingang des Gymnasiums erwartet. Neben ihr stand schweigend der an seinem Blaumann unschwer erkennbare Hausmeister, ein hochgewachsener, kräftiger älterer Mann mit großem, buschigen Oberlippenbart. ‚Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher‘, dachte Kellert. ‚Zumindest erinnert es mich an jemanden, den ich kenne. Aber an wen?‘

„Svenja Kaiser“, hatte sich die junge Frau vorgestellt und „Deutsch und Englisch“ hinzugefügt, als markiere das ihre Persönlichkeit. ‚Kaum älter als Jenny!‘, dachte der Kommissar, während ihm als Vergleich das Bild seiner noch studierenden Tochter durch den Kopf blitzte. Wortlos und mit undurchschaubarer Miene zog sich der Hausmeister zurück. Die junge Lehrerin aber nahm den Gesprächsfaden auf und erwiderte: „Ich weiß, wer Sie sind. Die Herrschaften von der Kriminalpolizei. Ich soll Sie empfangen und begleiten, kommen Sie bitte!“

‚Herrschaften!‘, dachte Hannah Mellrich. ‚So bin ich ja auch noch nicht angesprochen worden!‘ Aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Zu dritt schritten sie durch die hohen, breit gemauerten Hallengänge. Es war erstaunlich still, nur hinter den Türen rechts und links konnte man immer wieder gedämpfte Geräusche hören. Sobald das Pausenzeichen ertönte, würden kreischende Schülermassen die Gänge füllen. So war das zumindest normalerweise. Das wussten die beiden Polizisten noch zu gut aus ihren eigenen Schülerzeiten. Und Kellert kannte es noch aus den Schilderungen seiner beiden längst erwachsenen Kinder.

Immer wenn er selbst Schulen betrat, fühlte er sich seltsam beklommen. Als raubte ihm jemand heimtückisch sein Selbstvertrauen und seine berufliche wie private Routine und Erfahrung. Ihm war, als würde er hier ständig beobachtet, und als könne er den Beobachtungsblicken nie genügen.

Kellert war sich natürlich bewusst, dass das mit seinen eigenen Erfahrungen als Schüler zusammenhing. Er war ein durchschnittlicher Schüler gewesen, nicht schlecht, nicht gut. Das hatte ihn alles irgendwie nicht interessiert, was man ihm da vorsetzte. Ein Mitschwimmen im trägen Strom des Unterrichts hatte gereicht, um ihm das Abitur zu ermöglichen. Nicht hier am KaRaGe, das zu seiner Zeit einfach nur ‚Domgymnasium‘ geheißen hatte, sondern am staatlichen Gymnasium von Friedensberg, dem Henri-Dunant-Gymnasium. HaDeGe. Diese Opposition prägte bis heute die kleinstädtische Welt der Bischofsstadt Friedensberg. War man ein KaRaGeler oder ein HaDeGeler? Eigentlich lächerlich, solche kleinen Eitelkeiten. Aber sie hielten sich hier über Generationen.

Bernd Kellert blickte hinüber zu seiner jungen Kollegin, die nicht in Friedensberg aufgewachsen war. Hannah Mellrich stammte aus Rheinland-Pfalz, so glaubte er sich zu erinnern. Aus Speyer? Er war sich nicht sicher. Er wusste auch nicht, warum sie sich ausgerechnet hierher hatte versetzen lassen. Irgendeine private Geschichte, an so viel glaubte er sich zu erinnern. Ob es ihr auch so ging wie ihm, wenn sie Schulen betrat? Anzusehen war es ihr nicht.

Dass es im Schulgebäude so still war, hatte aber nicht nur etwas damit zu tun, dass der Unterricht sich hinter dicken Mauern und schallisolierten Türen abspielte. Als sie in die große Halle kamen, von der aus verschiedene Gänge und das weit geschwungene Treppenhaus abzweigten, sahen sie einen Tisch, der aussah, als sei er ein Altar. In der Mitte war ein Bild – doch wohl das des ermordeten Direktors – aufgestellt, geschmückt mit einer dunkelvioletten Schleife. Rund herum ein Meer von Blumen und auf dem Boden stehenden, angezündeten Kerzen. Kellert erkannte einen Teddybären, mehrere Spielutensilien, Symbole, welche die Schülerinnen und Schüler hier abgelegt hatten.

Die junge Lehrerin nahm seinen fragenden Seitenblick wahr und erklärte: „Unser KIT hat natürlich schon ganze Arbeit geleistet. Das weiß man heute: Kinder und Jugendliche brauchen Formen und Rituale, um sich ihrem Schock oder ihrer Trauer zu stellen.“ Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: „Wir Erwachsenen natürlich auch.“ „KIT?“, fragte Hannah Mellrich zurück, das erste Wort der Kommissars-Anwärterin seit der Begrüßung.

„Ach so“, riss sich Svenja Kaiser aus ihren Gedanken, „das sagt Ihnen natürlich nichts. Kriseninterventionsteam, KIT. Das gibt es inzwischen an jeder Schule. Und das braucht man auch. Sie glauben nicht, was in einem Schuljahr so alles passiert. Ich bin ja erst seit zwei Jahren dabei“ – ‚Aha!‘, dachte Kellert – „aber wir haben schon alles gehabt, wirklich: Selbstmord einer Schülerin, einen schweren Verkehrsunfall, in den drei Mitschüler verwickelt waren, mehrere Todesfälle von Eltern, zwei Kollegen sind gestorben …“, ihre Gedanken gingen erneut über das aktuelle Gespräch hinaus, dann fing sie sich aber wieder.

„Na ja, alles haben wir Gott sei Dank noch nicht gehabt. Einen Amoklauf, zum Beispiel. Hoffentlich bleiben wir wenigstens davon verschont. Jedenfalls: Für all diese Fälle ist das KIT da. Das sind vor allem Kolleginnen aus den Fachschaften Religion und Ethik. Die machen das toll. Also ich weiß nicht, ob ich das könnte …“

Sie stockte und überlegte, verlor sich in ihren Gedanken. Kellert blickte ruhig zu ihr hinüber. Plötzlich riss sich die junge Lehrerin zusammen und besann sich auf ihre aktuelle Aufgabe. Sie schloss die Augen, schüttelte einmal kurz und heftig ihren Kopf, um sich von ihren abschweifenden Gedanken zu befreien, und sprach dann weiter: „Und die Kollegen vom KIT haben hier heute Morgen gleich alles vorbereitet. Die meisten Schülerinnen und Schüler wussten natürlich schon vorher Bescheid. So etwas verbreitet sich in Friedensberg wie ein Lauffeuer. Und jetzt versuchen wir, irgendwie ins Gespräch mit den Schülern zu kommen. Ihre Fragen aufzunehmen. Raum zu geben für Trauer, Unsicherheit, Wut, Fassungslosigkeit … An normalen Unterricht ist heute natürlich gar nicht zu denken.“

Svenja Kaiser hatte sie über die breite Treppe in den ersten Stock zum Direktorat geführt. Nun wandte sie sich an die beiden Polizisten: „Ich habe gerade zwei Freistunden. Ach je: Was sage ich denn gleich meinen Fünftklässlern? Können Sie mir da vielleicht einen Rat geben?“ Kellert schaute unsicher. Da kannte er sich nicht aus. Er überlegte. „Vielleicht gar nichts selber sagen, sondern erst mal zuhören.“

3.

„Konflikte!? Ob es hier Konflikte gibt? Sie scherzen, Herr Kommissar. Was glauben denn Sie?“ Ingrid Wiesmüller lachte bitter vor sich hin, warf dann ihren beiden Kollegen einen amüsierten Blick zu. Zu fünft saßen sie tief eingesunken in den weichen Sesseln im Empfangszimmer des Direktorates des KaRaGe: Kellert und PKA Hannah Mellrich, Ingrid Wiesmüller, die stellvertretende Direktorin des Gymnasiums, daneben Ulrich Schongauer, durch den weißen Kragen als Priester erkennbar, ansonsten aber leger gekleidet, sowie Thomas Brox, die beiden weiteren Mitarbeiter im Direktorat.

Ingrid Wiesmüller war gertenschlank, dezent geschminkt, gekleidet in ein modisches, cremefarbenes, sicherlich nicht ganz billiges Kostüm. Sie mochte knapp fünfzig Jahre alt sein – etwas jünger als ich, schätzte Kellert –, trug eine goldrandeingefasste Brille mit Halbmondgläsern an einer um den Hals hängenden Kette, sprach laut, gewohnt, dass man ihr zuhörte, und – fand Kellert – so, dass man sich automatisch fügen wollte. Sie hatte sofort und wie selbstverständlich die Gesprächsführung an sich gerissen. Jetzt war sie hier die Chefin, daran ließ ihr ganzes Verhalten keinen Zweifel.

Schongauer – sicherlich über sechzig, fast komplett glatzköpfig bis auf einen mattgrau schimmernden Haarkranz, untersetzt, in dunkler Hose, blauem Hemd mit Kollar, dem etwas zu eng anliegenden weißen Priesterkragen, sowie hellgrauem Pullunder – hatte schon bei der Begrüßung klar gemacht, was seine Funktion war: „Ich sage immer: Ich bilde sozusagen die Brücke zum Bistum. Und bin hier als Schulseelsorger eingesetzt.“ Nun seufzte er und verdrehte die Augen zum Himmel. Dass er hier nicht viel zu sagen hatte, war mehr als deutlich.

Thomas Brox sah so aus, wie viele von Kellerts eigenen Lehrern, an die er sich noch erinnerte. Mit gebügelter Jeans, modischem Pullover, halblangen, mit einem ersten Hauch von Silbersträhnen durchsetzten braunen Haaren und einem gepflegten Dreitagesbart. Gewinnendes Lächeln, ein leicht ironischer Zug um den Mund, fester Händedruck. „Brox. Ich bin hier verantwortlich für die Klassenverteilung, den Stundenplan – alles, wofür man einen Lehrer mit Computerkenntnissen braucht“, so hatte er sich vorgestellt.

Nun blickte er mit ein wenig Distanz zu seiner Kollegin, die plötzlich seine Vorgesetzte war. Oder sich so aufführte. Ein leicht zynisches Grinsen setzte sich in seinen Mundwinkeln fest, als er bestätigte: „Konflikte? Aber ja.“ Dass diese beiden in der Schulleitung arbeitenden Kollegen nicht immer einer Meinung waren, ließ sich schon auf den ersten Blick deutlich an Körpersprache, Gestik und Mimik erkennen.

Ingrid Wiesmüller, Lehrerin für Deutsch, Englisch und Sozialkunde, dachte jedenfalls gar nicht daran, einem ihrer Kollegen die Gesprächsführung zu überlassen. Kellerts Frage, ob es an ihrer Schule Konflikte gäbe, fand sie offenbar wirklich amüsant. „Wir entscheiden hier tagtäglich über Lebensläufe. Über Gelingen und Scheitern. Über Vorankommen oder Stagnieren. Bei den Schülerinnen und Schülern, denen wir Noten geben. Geben müssen. Manche müssen die Schule verlassen. Andere scheitern an dem Niveau, das sie sich selbst erhoffen oder – das ist noch viel häufiger der Fall – das ihre Eltern von ihnen erwarten. Und wir“, erneut blickte sie Zustimmung heischend, aber nicht abwartend auf ihre beiden Kollegen, „wir entscheiden darüber, täglich.“

Brox ließ sich nicht so leicht einschüchtern und mischte sich ein. „Das ist ja ganz normal, werte Kollegin, das gehört nun einmal zum gesellschaftlichen Erziehungsauftrag der Schule“, warf er ironisch ein. „Aber wenn Sie mich fragen: Konfliktträchtiger ist der Umgang mit den Kollegen. Seien wir doch ehrlich!“ „Gewiss, dazu wollte ich ja gerade auch kommen“, fuhr ihm die stellvertretende Direktorin in die Parade. „Wissen Sie, wie viele Lehrerinnen und Lehrer wir hier am KaRaGe haben?“, wandte sie sich unvermittelt an die beiden Besucher, die bislang zwar aufmerksam, aber eben doch weitgehend unbeteiligt dem Gesprächs-Scharmützel gelauscht und sich ihre Gedanken gemacht hatten. Sie waren zu verblüfft, um sofort zu antworten.

„Na kommen Sie schon, wagen Sie einen Tipp“, ermunterte Ingrid Wiesmüller den Kommissar. „Sie auch!“, wandte sie sich an die Kommissars-Anwärterin. Kellert räusperte sich, überlegte kurz, sagte zu sich ‚Warum nicht?‘ und antwortete: „Ich sage mal siebzig?“ „Ich tippe auf knapp hundert“, sekundierte Hannah Mellrich mit selbstbewusster Stimme.

„Nicht schlecht“, nickte die stellvertretende Direktorin, als Lehrerin gefangen in der Routine der bewertenden Rückmeldung. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen, und das bei knapp zwölfhundert Schülerinnen und Schülern. So sieht das aus.“ Irgendwie zufrieden blickte sie auf die beiden Kriminalbeamten. Von einer Erschütterung über den Tod ihres bisherigen Chefs war ihr sowieso nichts anzumerken. Ein routiniert benanntes Bedauern hatte sie gleich zu Anfang geäußert, mehr nicht.

Sie hatte ihren Gedankengang aber noch nicht abgeschlossen. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen! Alle wollen gesehen, gelobt, beachtet werden. Alle wollen Karriere machen. – Okay, fast alle!“, korrigierte sie sich, als sie sah, dass Thomas Brox einen kritischen Einwand machen wollte. Weder gab sie ihm dazu die Gelegenheit, noch ließ sie sich in ihrem einmal aufgenommenen rhetorischen Schwung ausbremsen. „Alle haben das Gefühl, benachteiligt zu werden. Alle gehen davon aus, dass sie, sie für die spannenden und besser bezahlten Jobs am besten geeignet sind. Alle wollen gut benotet und gefördert, ach was: befördert werden. Und auch darüber entscheiden letztlich wir. Und das soll ohne Probleme und Konflikte gehen? Sie haben vielleicht Nerven!“

„Wir entscheiden streng genommen allerdings nicht darüber, liebe Kollegin“, nutzte Ulrich Schongauer die kleine Pause, um sich mit sanfter Stimme einzubringen. „Das entscheidet letztlich allein der Chef. Wir beraten ihn natürlich dabei“, fügte er in Richtung der beiden Gäste hinzu. „Ich sage immer: Schule ist wie das Leben überhaupt“, meinte er dann in leicht predigtartigem Tonfall. „Alle Konflikte, die es im Leben gibt, bilden sich auch bei uns ab. Schule ist kein Schonraum. So gern wir das auch hätten. So ist das nun einmal.“ Er hob nachdenklich die Hände.

Kellert nutzte die Möglichkeit, nun doch nachzufragen: „Das habe ich durchaus erwartet, dass wir es selbst beim Domgymnasium nicht mit einer Insel der Seligen zu tun haben.“ Damit wies er mit der rechten Hand auf eines der großen, goldgerahmten Ölgemälde an der Wand, das die selige Lissi von Friedensberg zeigte, eine Ordensfrau des 17. Jahrhunderts. Erst vor siebzehn Jahren war sie seliggesprochen worden. „Aber gab es in letzter Zeit Konflikte, die über das Normalmaß hinausgingen?“

„Sie suchen ein Mordmotiv, oder?“ Kalt blickte ihn Ingrid Wiesmüller über die Halbmondgläser ihrer soeben aufgesetzten Brille an. „Sie haben mich also nicht verstanden. Sie suchen nach etwas Besonderem. Nach einer monströsen Geschichte, die alles Verstehen sprengt. Was ich sagen wollte, war aber genau das Gegenteil: Unser Alltag ist so voller versteckter Aggression, unterdrückter Gewalt und zivilisierter Frustration, dass es das Besondere nicht braucht. Das ist Alltag hier, verstehen Sie? Das kann sich überall entladen. Ohne großen Anlass. Was glauben Sie, warum es zu Amokläufen kommt? Irgendwann kocht etwas über. Dafür braucht es manchmal nur einen dummen Zufall, einen eigentlich belanglosen Auslöser.“ Zufrieden schaute sie ihn an, faltete die Arme vor der Brust und fügte hinzu: „So: Da haben Sie Ihr Motiv.“

Ulrich Schongauer hatte den Ausführungen seiner Kollegin zugehört, mehr und mehr aber seine wachsende Distanz signalisiert. Nun schüttelte er stirnrunzelnd den Kopf: „Also so negativ sehe ich das nicht, Frau Wiesmüller.“ – ‚Kein Duz-Verhältnis‘, notierte sich Hannah Mellrich in Gedanken – „Als säßen wir hier permanent auf einem Pulverfass. Als gäbe es nur ein ständiges Gegeneinander: Lehrer gegen Schüler, Kollegen gegen Kollegen. Wir sind immerhin auch eine Gemeinschaft. Eine Schulfamilie. Wenn das so schrecklich wäre, wie Sie, geschätzte Kollegin, das schildern, dann würde ich mich sofort um eine andere Stelle bewerben. Sofort! Ja, Konflikte sind Teil des Lebens, das habe ich vorhin schon betont. Aber sie sind es hier nicht mehr als anderswo.“

„Aber auch nicht weniger, Pater Schongauer, auch nicht weniger!“, fiel ihm Ingrid Wiesmüller ins Wort. „Und ich sage ja auch gar nicht, dass all das die Oberfläche unseres Alltags bestimmt. Im Gegenteil: Es kommt darauf an, diese Gemengelage zu kontrollieren und zu beherrschen. Und genau dafür sind wir zuständig: die Schulleitung! Das ist unser Job. Dafür bekommt man nicht nur Applaus. Da wird man nicht everybody’s darling. Wenn alles glattläuft, halten viele das für normal. Aber sobald es Schwierigkeiten gibt, fallen sie von allen Seiten über uns her. Ist doch so.“

Nun schaltete sich Thomas Brox ein: „Herr Kommissar. Ich stimme der Kollegin Wiesmüller zwar nicht in allem zu. Aber in einem schon: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie den Täter – oder die Täterin – hier in der Schule finden werden. Also mir ist jedenfalls kein Konflikt bekannt, der aus dem alltäglichen Miteinander und Gegeneinander herausragen würde. Kein Grund, warum der Kessel explodieren müsste, um im Bild der werten Kollegin zu bleiben. Oder?“

Zustimmung heischend blickte er auf seine beiden Kollegen. Die waren ausnahmsweise einmal einer Meinung und nickten: Ulrich Schongauer zögerlich und mit nur angedeutetem Heben und Senken des rundlichen, leicht rot angelaufenen Kopfes, Ingrid Wiesmüller mit energischen, ruckartigen Bewegungen. Obwohl ihr Kollege Brox ihren Hauptgedanken gar nicht aufgenommen hatte.

Es klopfte. Ohne auf eine Reaktion zu warten, öffnete sich die Tür zum Empfangszimmer des Direktorates. Eine vielleicht vierzigjährige, schick gekleidete und dezent, aber perfekt geschminkte, schlanke Frau trat ein, beladen mit einem Tablett voller Tassen, Untertassen, kleinen silbernen Löffeln, einem Zuckerdöschen, einem Milchkännchen und einer Kanne frisch aufgebrühten Kaffees. Die Frau warf einen freundlichen, offen lächelnden Blick in die Runde und fragte: „So, möchte jemand einen Kaffee?“

„Danke, Frau Blum, Sie sind ein Schatz! Aber das wissen Sie ja!“, antwortete Ingrid Wiesmüller sofort, und ihre Stimme nahm eine Wärme an, die sie vorher noch nicht hatte erkennen lassen. „Frau Blum, unsere Chefsekretärin!“, stellte die Lehrerin die Mitarbeiterin vor. „Erst seit zwei Jahren bei uns, aber schon absolut unbezahlbar.“

Die derart Gelobte lächelte, hob aber abwehrend die Hände. „Nein, nein. Sagen Sie das nicht. Ich tue doch nur meine Pflicht. Das aber einfach gern.“ „Und gut“, ergänzte Thomas Brox schmunzelnd. „Lassen Sie das Lob doch einfach mal so stehen, Saskia! Das Sekretariat ist das Herzstück einer Schule. Nicht das Direktorat, wie viele von uns in dreister Selbstüberschätzung meinen.“ Sein Blick verlor sich für den Bruchteil einer Sekunde im Raum. Aber er fuhr fast unmittelbar danach fort: „Und wenn das Herz nicht schlägt, wie es soll, dann leidet der ganze Körper. Seit Sie da sind, Saskia, geht es uns prächtig.“

Brox hielt kurz inne, besann sich und ergänzte: „Was nicht heißen soll, dass es uns vorher schlecht ging.“ Saskia Blum lächelte, warf den Kopf abwägend hin und her und machte sich dann daran, den Raum wieder zu verlassen. „Wenn Sie noch etwas brauchen: Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“

4.

Die beiden Kriminalbeamten hatten dem freundlichen Austausch neugierig gelauscht, wortlos, aber mit unausgesprochener Dankbarkeit der Sekretärin zugenickt und nahmen sich nun jeweils einen Kaffee. „Gratuliere!“, mischte sich Kellert nun ein. „Da haben Sie einen guten Fang gemacht. Das sieht man gleich. Also wenn unsere gute Sekretärin in zwei Jahren in den Ruhestand geht, melde ich mich bei Ihnen.“

„Unterstehen Sie sich!“, gab Ingrid Wiesmüller spielerisch mit dem Zeigefinger drohend zurück. „Die brauchen wir schon selbst!“ Das kleine, unaufgeregte verbale Intermezzo tat allen im Raum gut, das war deutlich zu spüren. Selbst Ingrid Wiesmüller hatte sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und saß nun viel entspannter da als zuvor. Aber es half ja nichts. Sie waren nicht zum Plaudern zusammengekommen.

„Nun sind wir hier, weil Ihr Alltag völlig aus den Angeln gehoben wurde“, führte Kommissar Kellert zum eigentlichen Anlass des Gespräches zurück. „Ihr Chef, Dr. Geißendörfner, ist ermordet worden. Äußerst brutal. Da hat jemand in großer Wut und aus tiefem Hass gehandelt. Der Kessel ist explodiert. Darum geht es. Wir“ – hier deutete Bernd Kellert auf seine Mitarbeiterin, was diese dankbar zur Kenntnis nahm – „müssen und werden diese Tat aufklären.“

Seine Augen verengten sich, seine Miene drückte bittere Entschlossenheit aus. „Und ob das nun aus einem scheinbar nichtigen Anlass heraus passierte“ – hier blickte er nickend zu Frau Wiesmüller – „oder ob da doch eine schwierigere Geschichte dahintersteckt, das werden wir sehen. Auch, ob es etwas mit Dr. Geißendörfners Tätigkeit hier am Domgymnasium zu tun hat. Das ist natürlich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Keine Sorge, unsere Ermittlungen setzen breit an. Wir werden alles prüfen, das kann ich Ihnen versichern! Alles!“

Er blickte konzentriert, aber lächelnd auf die drei Mitarbeitenden des Direktorates. Sie bildeten nun die Leitung des KaRaGe. „Ich bin Ihnen für alle Form der Mitwirkung dankbar“, sicherte der Kommissar ihnen zu, „und glauben Sie mir: Ich weiß, wie heikel diese Angelegenheit ist. Ihr Schulbetrieb muss weitergehen. Das ist mir völlig klar. Und ich verspreche Ihnen größtmögliche Diskretion und Vorsicht. Soweit es eben machbar ist.“

Dankbar und Zustimmung signalisierend lächelte ihn der Schulpfarrer an. Thomas Brox nickte, ohne große Gefühlsregungen erkennen zu lassen. Ingrid Wiesmüller hingegen schaute Kellert herausfordernd und mit leicht skeptischem Schmunzeln an. Wenn ein Kommissar so begann, würde er etwas wollen, da war sie sich sicher. Rhetorisch geschult war sie selbst eben auch. ‚Gib ihnen etwas, bevor du etwas von ihnen willst.‘ Jaja, leicht durchschaubar. ‚Also: Nur heraus damit!‘, dachte sie.

Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht: „Ja, wie war er denn nun, Ihr Chef?“, fragte Kellert. „Als Direktor der Schule und als Mensch. Ich möchte, nein muss mir ein möglichst genaues Bild von ihm machen. Bitte, es geht nicht um eine verklärende Erinnerung von wegen ‚über Tote sagt man nichts Schlechtes‘. Das würde weder Ihnen helfen noch mir. Ich muss verstehen, was für ein Mensch er war.“

Die stellvertretende Schulleiterin fühlte ganz selbstverständlich sich selbst als Erste angesprochen und antwortete ganz direkt: „Da kann ich Ihnen nur wenig sagen, Herr Kommissar. Ich bin erst vor zweieinhalb Jahren an diese Schule gekommen. Vorher war ich an einem kirchlichen Gymnasium in Würzburg. Als hier am KaRaGe die Stellvertretung ausgeschrieben war, habe ich mich beworben. Seitdem bin ich hier. Mit dem Chef hatte ich privat fast keinen Kontakt. Aber wir sind alles in allem gut miteinander klargekommen. Als Schulleiter war er fraglos kompetent: ein echter Pädagoge. Vielleicht ein bisschen zu nachgiebig gegenüber Eltern und Schülern. Ich wäre manchmal etwas härter gewesen. Nein, nicht härter, klarer.“

‚Das glaube ich dir aufs Wort‘, dachte Kellert. Unterdessen hatte Ulrich Schongauer das Wort ergriffen. „Ich kenne – kannte – den Bertram am längsten. Zumindest seit Lilli nicht mehr hier ist.“ Kellert blickte ihn irritiert an. Schongauer fing seinen Blick auf und ergänzte sofort: „Lilli Schildbach, die Vorgängerin von Frau Wiesmüller. Die ehemalige zweite Chefin. Also die war eine Ewigkeit hier an der Schule.“

Schongauer hatte den Faden verloren, überlegte kurz, strich sich mit der linken Hand über die Glatze, dann fiel ihm sichtlich wieder ein, was er hatte sagen wollen: „Jedenfalls: Wir haben damals zusammen Philosophie studiert, der Bertram und ich, hier an der Uni in Friedensberg. Ich im Rahmen meines Theologiestudiums, er als angehender Philosophielehrer. Philosophie, Latein, Griechisch, das war seine Kombination. Das sagt schon vieles über ihn aus. Ein Humanist. Ich sage immer: ein wahrhaft humaner Humanist. Breit gebildet. Humorvoll. Gütig.“

Die stellvertretende Direktorin wollte etwas einwerfen, aber dieses Mal setzte sich der Schulpfarrer durch: „ … wenn man ihn ließ. Nicht alles lässt sich mit Güte klären. Leider Gottes! Ach ja: Noch etwas! Er war ein gläubiger Mensch. Ein Katholik natürlich, sonst hätte er diese Schule nicht leiten dürfen. Aber aus Überzeugung, nicht wie manche hier“ – er vermied bewusst, jemanden konkret anzublicken – „nur pro forma. Aber er trug seinen Glauben nicht vor sich her. Er war einfach Teil seines Lebens. Und das – behaupte ich jetzt einfach mal – haben die Schülerinnen und Schüler auch gespürt.“

Nachdenklich blickte Ulrich Schongauer vor sich hin. Er tupfte sich sanft mit der rechten Hand über die Wange. Zerdrückte er eine heimliche Träne? Er kämpfte sichtlich darum, die Beherrschung nicht zu verlieren. Erfolgreich. Mit unveränderter Stimme sprach er weiter: „Dann haben wir uns überraschend hier an der Schule wieder getroffen, der Bertram und ich. Er stammte ja von hier. Seine Familie hat hier einen guten Namen, und das schon seit Generationen. Damals war er noch stellvertretender Direktor. Und der Lobkowitz der Chef. Zwölf Jahre ist das jetzt her.“

Er rechnete nach: „Ja, zwölf Jahre. Gute Jahre. Geprägt von vertrauensvoller Zusammenarbeit. Fast immer.“ Wieder hielt er inne: „Das Bistum hätte keinen besseren Direktor für diese Schule finden können, denke ich. Er hätte alles getan, um den guten Ruf der Schule – seiner Schule, wie er immer sagte – zu retten, falls er bedroht wäre.“ Er blickte kurz, von dieser unbemerkt, auf Ingrid Wiesmüller. „Er wird fehlen. Der Schule. Mir.“

Fragend blickte Kellert zu Thomas Brox. Aber der zuckte nur mit den Schultern und meinte leichthin: „Dem kann ich eigentlich nichts mehr hinzufügen. So sehe ich das auch. Selbst wenn ich in manchem anderer Meinung war als der Chef. Politisch. Und pädagogisch. Aber wir haben uns respektiert. Sonst hätte er vor sechs Jahren ja wohl kaum meiner Beförderung in die Schulleitung zugestimmt, oder?“

Er überlegte und fügte dann doch noch einen Gedanken hinzu: „Nun, pressegeil war er, ist ja klar.“ „Wie bitte?“ Kellert war sich nicht sicher, ob er sich verhört hatte. „Pressegeil“, wiederholte Brox mit verächtlichem Gesichtsausdruck. „Aber das sind alle Direktoren. Wollen, dass ihre Schule in den Zeitungen auftaucht, auch im Internet. Natürlich nur mit positiver Außendarstellung. Über jede Kleinigkeit soll berichtet werden. Je mehr, desto besser. Und möglichst selber mit drauf auf das Foto. Auf einer Seite mit den Kaninchenzüchtern und Schützenvereinen.“

Ingrid Wiesmüller hatte mit zunehmendem Kopfschütteln zugehört. Jetzt schaltete sie sich ein. „Kollege Brox, was soll das? Sie wissen doch so gut wie wir alle, dass man heute in den Medien präsent sein muss. Sonst wird man nicht wahrgenommen. Da machen die Schulen keine Ausnahme. Sie haben Recht, Dr. Geißendörfner wollte, dass über das KaRaGe möglichst oft berichtet wurde. Aber doch nicht aus persönlicher Eitelkeit! Es ging ihm um den Ruf der Schule. Immer.“

Die stellvertretende Schulleiterin sprach scharf und klar. Sie ließ keinerlei Rückfragen an die Integrität ihres Chefs zu. ‚Loyal, auch über den Tod hinaus‘, dachte Kellert, während sie weitersprach, teils an die Besucher gerichtet, teils an die beiden Kollegen: „Dr. Geißendörfner war sich über die lange Tradition des Domgymnasiums nur zu gut im Klaren. Und er wusste, dass auch sein Porträt einmal in Öl gemalt drüben im Festsaal hängen wird. Wie es eben so üblich ist. Tradition verpflichtet!“

Brox zog eine Grimasse, was Ingrid Wiesmüller geflissentlich übersah. „Wir leben in einer Gesellschaft, die sich viel zu rasch über jahrhundertelang bewährte Erfahrungen und Werte hinwegsetzt“, dozierte sie weiter. „Wir hier versuchen, dem entgegenzusteuern, Dr. Geißendörfner allen voran. Aber verstehen Sie mich richtig“, hier wandte sie sich an ihre beiden Besucher. „Er war gleichzeitig ein Kind seiner Zeit und ein Mensch der Gegenwart. Traditionsbewusstheit und offene Zeitgenossenschaft schließen einander nicht aus. Im Gegenteil! Dafür steht unsere Schule. Dafür stand unser Chef. Dafür! Und er wusste, dass Medienarbeit und Außendarstellung ein unverzichtbarer Teil moderner Schulführung sind.“ Sie konnte sich eine kleine Spitze nicht verkneifen: „Auch wenn Sie da anderer Ansicht sein mögen.“

Thomas Brox grinste matt, sparte sich aber eine Erwiderung. Unnötig. Er winkte kaum wahrnehmbar mit der rechten Hand ab. Plötzlich fiel ihm jedoch noch etwas ein: „Sie sollten mit der Teresa sprechen! Teresa Andernach, unsere Schülersprecherin. Zwölfte Klasse. Die kann Ihnen die Sicht der Schülerinnen und Schüler am besten nahebringen. Wenn Sie ein komplettes Bild haben wollen, sollte diese Stimme doch nicht fehlen. Oder sehen Sie das anders, Frau Kollegin?“

Ingrid Wiesmüller, an die sich diese Frage natürlich gerichtet hatte, kniff die Lippen zusammen, hielt es aber offensichtlich unter ihrer Würde, darauf einzugehen. Immerhin senkte sie sekundenlang die Lider und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Brox fügte an: „Teresa Andernach: eine selbstbewusste junge Dame, Sie werden es schon sehen. Und die hat auch ihre Sträußchen mit dem Chef ausgefochten, wenn ich mich richtig entsinne.“ Er wandte sich an seine beiden Kollegen. „Das wäre doch sinnvoll, oder?“

Ingrid Wiesmüller blickte nach wie vor skeptisch. „Was soll das schon bringen? Ich würde die Schülerinnen und Schüler gern aus der ganzen Sache heraushalten.“ „Das geht nicht. Sie sind doch schon mittendrin“, fiel ihr Thomas Brox ins Wort. Missbilligend blickte sie ihn an. „Vielleicht. Wenn es nicht anders geht. Aber bitte“ – sie blickte die beiden Polizisten an – „mit aller Zurückhaltung. Und glauben Sie der Teresa nicht alles, was sie sagt. Sie neigt zu sehr einseitiger Wahrnehmung und Darstellung.“