Totmannalarm - Karoline Klemke - E-Book

Totmannalarm E-Book

Karoline Klemke

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Beschreibung

Kranke Psyche, schwere Schuld Herr Matzke vergewaltigt fünf Frauen, sitzt seit 30 Jahren in Haft, fühlt sich aber unschuldig. Herr Knieriemen missbraucht seine 10-jährige Nichte. Er genoss ihn, diesen Moment, in dem er endlich selbst ohne Angst sein konnte. Frau Krüger, die ihr Baby, den kleinen "Murkel", totgeschlagen hat, will nie wieder Opfer sein – während des Therapiegesprächs zückt sie ein Messer und sticht zu. Die Psychotherapeutin Karoline Klemke erzählt erschütternde Fälle aus Therapiesitzungen im Maßregelvollzug. Diese führen die Abgründe des Menschen und die Beweggründe der Täter vor Augen, sie spiegeln aber auch, wie die Therapeutin um Kontrolle kämpft und um Fassung ringt – im festen Willen zu helfen. Intensive Einblicke in eine geschlossene Welt.

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Seitenzahl: 307

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Karoline Klemke

Totmannalarm

Begegnungen mit Straftätern

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Vorbemerkung

Ich bin Psychotherapeutin. Seit zwanzig Jahren behandle und begutachte ich Straftäter.

Dabei bin ich interessanten Menschen begegnet. Depressiven Vergewaltigern, ehrgeizigen Berufskriminellen, unterernährten Mördern, zutraulichen Räubern, pädophilen Nazihooligans. Und ich traf auf Kollegen aus anderen Berufen. Sozialarbeiterinnen, Ärzte, Krankenpfleger, Juristinnen. Mit meiner eigenen Lebensgeschichte, Erinnerungen und Konflikten. Im Kosmos von Gefängnis, Maßregelvollzug und Straftäterambulanz.

Die Geschichten der Psychotherapeutin Christiane Richter und ihrer Patienten in diesem Buch sind fiktiv. Doch sie beruhen auf meinen Erfahrungen.

Insofern ist kaum etwas wirklich, aber alles wahr.

In die Klinik

Meine Familie besteht zu einem Gutteil aus bildenden Künstlern. Als ich vier Jahre alt war, wurde ich zu einer Ausstellungseröffnung mitgenommen. Man setzte mich in einer Ecke auf einem klar lackierten Holzstuhl mit der Anweisung ab, diesen Platz nicht zu verlassen, und ließ mich allein. Die Aufforderung war ganz unnötig, meine Sandalen schwebten in schwindelerregender Höhe über dem Fußboden, ohne Hilfe wäre ich niemals von dort weggekommen.

Also beobachtete ich die Menschen um mich herum. Ich sah eine schlanke, sehr geschmückte Dame. Sie stelzte durch den Raum an den beleuchteten, schwarz gerahmten Bildern vorbei, in ihrem blonden Haar steckte ein großer silberner Federpuschel, der Mund war dunkel geschminkt. Sie sah aus wie eine Mischung aus Zirkuspferd und Storch. Vor einem weißbärtigen, rotgesichtigen Mann blieb sie stehen, der war einen ganzen Kopf kleiner und berührte sie fast mit seinem großen Kugelbauch. Beide lachten sehr laut und ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Ich wunderte mich. Es sah anstrengend aus. Als ich ihn später fragte, ob er ein Baby bekommt, lächelte man verdruckst und schob mich zur Seite.

Es gab viele Bilder in meiner Familie und wenig Worte. Menschen, die malten, aber nicht sprachen. Mit meiner Verwunderung blieb ich allein.

Später studierte ich Psychologie. Vielleicht deshalb.

Nach Abschluss des Studiums arbeitete ich mit obdachlosen Jugendlichen in einem Berliner Brennpunktkiez. Innerhalb von einem Jahr hatten drei ihrer Gangs messerbewaffnet unser Büro heimgesucht. Als ich schwanger war, kündigte ich. Sechs Monate später verließ mich Andreas und ich bekam unseren Sohn Max allein. Drei Tage in der Woche holte er ihn nachmittags ab und brachte ihn abends an meine Wohnungstür, die ich bewachte wie eine Festung. Nach einem Jahr war das Geld aufgebraucht, und ich suchte eine neue Arbeit. Etwas Sicheres sollte es sein.

So fuhr ich an einem regnerischen Montagmorgen in meinem alten Seat nach Norden in Richtung einer großen Nervenheilanstalt, zu der auch eine Klinik für Forensische Psychiatrie gehörte. Ausgerechnet dort, im Maßregelvollzug, wo psychisch kranke und gefährliche Verbrecher als Patienten behandelt werden, gab es einige der wenigen Stellen für Berufsanfänger. Die Absurdität fiel mir erst Jahre später auf.

Ich hatte den Kindersitz auf die enge Rückbank geräumt und alle Babykekskrümel und Hundehaare von meiner schwarzen Anzughose gewischt. Auf dem Weg regnete es so stark, dass ich kaum zwei Meter der Straße sehen konnte. Zweimal bog ich falsch ab und musste wenden, um die Richtung wiederzufinden. Mein Ziel war ein Städtchen, das lang gezogen an einer Hauptverkehrsstraße lag, gesäumt von verfallenen Industriebauten aus der Jahrhundertwende. Zeichen einer einst blühenden Schwerindustrie, die der Gegend zu Wohlstand verholfen hatte. Überreste davon ragten nun in Form von halb abgetragenen Schornsteinen und verrosteten Kränen in den Himmel. Dazwischen grasten Kühe. An der Straße reihten sich Dönerläden, Pflegedienste und Bestattungsunternehmen.

Das Klinikgelände lag etwas außerhalb der Stadt, zwischen einer befahrenen Ausfallstraße und einem sumpfigen Waldgebiet. Es war eine der ersten im Pavillonstil errichteten Klinikanlagen, erbaut im 19. Jahrhundert als Märkische Provinzial-Irrenanstalt. In einem weitläufigen Parkgebiet standen unter hohen Buchen zweigeschossige Villen aus rotem Backstein mit breiten Fenstern und gemauerten Balkonen. Einige davon wurden schon lange nicht mehr genutzt. Die Fenster und Türen waren mit Brettern vernagelt und in den Regenrinnen wuchsen junge Birken.

Ich hatte sichere Arbeit gesucht und gefunden. Das Auto parkte ich auf einem der vorgelagerten Parkplätze und lief suchend durch das verwinkelte Gelände. Ich fand die Klinik für Neurologie, die Notaufnahme und die Klinik für Innere Medizin. Nur nicht den Maßregelvollzug. In dem Bemühen, pünktlich zu sein, bog ich nach mehreren ratlosen Blicken auf verwitterte Wegweiser um eine Ecke und stand unvermittelt vor einem vier Meter hohen, feinmaschigen Zaun. An dessen oberem Ende war Stacheldraht in engen Rollen angebracht, von dem der Regen perlte. Dahinter stand eine alte Villa mit zwei Seitenflügeln, vergitterten Fenstern und Videokameras an jeder Hausecke.

Offenbar war ich am Ziel.

Ich bog nach rechts und lief an dem Zaun auf das graue Pförtnerhaus zu. Dabei streifte mein Blick den Klinikgarten. Neben gepflegten Blumenbeeten, in denen Narzissen und Stiefmütterchen blühten, war ein Teich angelegt, vor dem sich ein Entenpaar im nassen Gras duckte. Daneben stand ein gemauerter Grill. Vorgartenidylle.

Ich war nervös. Das Vorstellungsgespräch im Ministerium war schon einige Monate her. Die Zusage kam spät, und ich hatte nicht gewusst, ob ich mich freuen sollte. Dieser Ententeich machte aber einen zivilisierten Eindruck. Vor den alten Eingang des Hauses hatte man ein schmales Torhaus gebaut, in dessen Front eine hohe graue Stahltür eingelassen war. Auf einem matt silbernen Klingelbrett daneben gab es zwei Knöpfe ohne Beschriftung. Ich entschied mich für den oberen.

Ein Summen ertönte und die dickwandige Stahltür öffnete sich mit einem scharfen Zischen. Ich trat in einen fensterlosen, schmalen Raum von der doppelten Größe eines Kleiderschrankes. Links von mir, hinter einer grünen Glaswand, lächelte mich ein Mittsechziger in blaugrauer Uniform freundlich an. Auf seiner Brust prangte ein rot gesticktes Logo: »SICHERHEIT«. Ich fand in seinem Gesicht keine Anzeichen von tödlicher Gefahr. Die Tür schloss sich mit einem scharfen lang gezogenen Zischen hinter mir. Der Mann legte zwei Gegenstände in ein Schubfach, das sich durch die Wand hindurch vor mir öffnete, und zog ein Mikrofon an sich heran.

»Hier Ihr Schlüssel. Und das Alarmgerät. Es hat einen Totmannalarm!«

Die Sätze fielen aus dem Lautsprecher auf mich herab.

»Sie dürfen es niemals länger als fünfundvierzig Sekunden waagerecht liegen lassen, sonst wird auf zwei Stationen Alarm ausgelöst. Sie werden geortet und alle Pfleger rennen zu Ihnen. Also seien Sie vorsichtig damit.«

Im Schubfach lagen ein großes Schlüsselbund und ein schwarzes viereckiges Gerät. Es sah aus wie ein kleiner Walkie-Talkie, mit einem großen roten Knopf auf der Oberseite. Ich nickte etwas beklommen und nahm beides heraus.

Er zog das Schubfach mit einem Ruck zurück und legte einen Stapel Papiere hinein. Allgemeine Sicherheitshinweise, Schlüsselbelehrung, Bedienungsanleitung. Das Alarmgerät konnte man sich an den Hosenbund klemmen, und das tat ich. Zum Glück trug ich kein Kleid. Ich legte den Schlüssel neben mich und unterschrieb die Papiere, während er mir weitere Anweisungen gab. Das Schlüsselbund immer bei sich tragen, jede gekennzeichnete Tür hinter sich verschließen, keine waffenartigen Gegenstände mitführen, Handys, Besteck, Glas unter Verschluss halten, Alarmgerät stets bei sich tragen. Er endete mit den Worten: »Sie bekommen später noch eine ausführliche Sicherheitseinweisung.«

»Ahm«, antwortete ich, und nach einem erneuten Zischen, begleitet von aufforderndem Nicken, trat ich durch die zweite Stahltür in das Gebäude ein. Ich stand in einem schmalen, langen Flur. Die Wände waren an die drei Meter hoch und mit einem vergilbten Lack gestrichen, der an einigen Stellen abplatzte. Eine Reihe Neonröhren strahlten von der Decke weißes Licht aus. Es roch nach Kartoffelkeller, Desinfektionsmittel und Kaffee. An der rechten Seite war ein hohes Gitter mit einer Tür in die Wand eingelassen, es trennte den dahinter liegenden Patientenflur vom Personalbereich. Neben dem Gitter hatte man ein weißes Kunststoffschild angebracht, auf dem in großen schwarzen Druckbuchstaben stand: »Station 8«, darunter ein roter Schlüssel mit Ausrufezeichen.

Genau auf meiner Augenhöhe sah ich auf zwei Fäuste mit weißen Knöcheln, die das Gitter umklammerten. Die Finger waren tätowiert. »HATE« entzifferte ich, und aus irgendeinem Grund fiel mein Blick zuerst nach unten auf eine ausgebeulte Jogginghose und Füße, die in Badelatschen steckten und deren Zehennägel sonderbar verformt waren. Bevor ich auf das Gesicht des Fußbesitzers schauen konnte, kam ein Mann auf mich zu. Er trug keine Uniform, sondern ausgewaschene Jeans und ein himmelblaues Hemd. Die Breite des Flurs füllte er fast aus, und er knurrte dem Patienten, der nicht viel kleiner war als er, im Vorbeigehen etwas zu. Der Patient knurrte zurück, drehte sich um und ging. Ich kam mir vor wie in einem Hundezwinger.

Der Oberpfleger war ein massiger Mann mit einem murmelförmigen Kopf, in dem seine Augen im Fett versanken. Sie waren bemerkenswert blau. Er war in seinen Fünfzigern und sicher als junger Mann nicht unattraktiv gewesen. Nun aber hatte das Fett seiner Mimik jeden Ausdruck und seinem Körper jede Gestalt genommen, ihn aber zu einer eindrucksvollen Erscheinung werden lassen. Zu einem Berg von Mann. Er begrüßte mich mit einem knappen Nicken und wies mir den Weg zu meinem Arbeitszimmer. Wir gingen eine halbe Treppe hinauf, bogen um zwei Ecken, gingen noch paar Treppen hinauf, und nach mehreren Biegungen durch schmale Gänge kamen wir an einer Tür vorbei, an der stand »Sekretariat Frau Radtke«. Noch zwei Ecken weiter waren wir in einem kleinen Büro unter dem Dach angekommen. Ein abgerissenes liniertes Papier war geknickt in das Sichtfenster des Türschildes geschoben. Mit ungelenker Schrift und blauem Kugelschreiber hatte jemand »Frau Richter« darauf geschrieben. Die Tür war nicht verschlossen. Wir traten ein. Das vergitterte Fenster auf der gegenüberliegenden Wand war nicht größer als ein Handtuch. Neben dem Fenster drängten sich auf der rechten Seite ein Schreibtisch und ein grauer Aktenschrank. Links standen an einem ebenso grauen Tisch zwei Metallstühle mit blauroten Sitzpolstern, die an S-Bahn-Sitze vor zwanzig Jahren erinnerten. Hier sollten offenbar die Gespräche geführt werden. Neben mir war hinter einer Plexiglasscheibe, auf der »Hausalarm« stand, ein roter Alarmknopf in die Wand eingelassen. Ich drehte mich zu dem Oberpfleger um.

Er blickte mir fest in die Augen: »Ich sage Ihnen, was hier mein Konzept ist. Im Zweifel spritzen wir die erst mal richtig runter und dann bauen wir sie schrittweise wieder auf. Alle paar Monate kommt hier ein Anfänger wie Sie. Glauben Sie bloß nicht, dass wir alles mitmachen, nur weil Sie einen Doktor haben.«

Er wartete meine Antwort nicht ab. Ich hatte sowieso keine. Keine Antwort, keinen Doktor.

»Guten Start dann. Um acht Uhr ist Morgenrunde auf der Station. Hier links entlang und die Treppe hinunter, dann sind Sie da.«

Ich sah von hinten auf seinen breiten Rücken und die halbrunden Schweißflecken unter den Ärmeln seines Hemdes. Er schloss die Tür. Das Fenster gab den Blick frei auf den Stacheldrahtzaun und einen Erlenwald dahinter, unter dem das Sumpfwasser matt schimmerte. Es hatte aufgehört zu regnen.

Ich glättete mit den Händen meine krümelfreie Anzughose. Was wollte der eigentlich von mir? Waren das Unterlegenheitsgefühle, die sich in chronischer Wut zeigten? Hierarchie- und geschlechtsbezogener Dominanzkonflikt?

Ich beschloss, das Verstehen auf später zu verschieben, und setzte mich auf dem schwarzen Drehstuhl an den Schreibtisch. Der war leer, bis auf einen Zettel, auf dem ein Schokoladenglückskäfer lag. »Guten Start. Radtke« stand darunter. Ich stellte den Computer an, aber als er hochgefahren war, las ich: »Zugang verweigert«, und so drehte ich mich um und öffnete den Aktenschrank. Zwanzig schwarze Leitz-Ordner hatte man mir hereingestellt, alphabetisch geordnet und mit Namen und Geburtsdatum versehen. Meine Patienten.

Ich atmete tief ein. Diese Männer waren gefährlich. Mörder, Vergewaltiger, Pädophile. Durch eine Behandlung in diesem Krankenhaus sollten sie weniger gefährlich werden. Auch durch Gespräche mit mir. Ein wahnsinnig übertriebener Anspruch, den ich nicht bemerkte. Nur ein etwas flaues Gefühl im Magen. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht, ich war spät dran für die Morgenrunde. Aus der Tür trat ich in einen dunklen Gang, in dem Bürostühle gestapelt waren. Links führte nach zwei Schritten eine Gittertür in ein Treppenhaus mit einem Fenster aus Milchglas. Daneben hing das Schild mit dem roten Schlüssel. Ich schloss auf und hinter mir wieder ab.

Der Sicherheitsmann hatte mir eingeschärft, jede gekennzeichnete Tür zu verschließen und niemals einen Schlüssel in der Nähe von Patienten liegen zu lassen. Und es gab viele Schlösser in der Villa und deshalb eine Vielzahl Schlüssel, einer davon war ein fünfundzwanzig Zentimeter langer gusseiserner Bartschlüssel.

Ich war in Eile. Ratlos sah ich an mir herunter. Das Schlüsselbund wog ein knappes Kilo. Wohin damit? Ist das wohl auch zu orten, wie das Alarmgerät?, fragte ich mich.

Meine Hose hatte keine Taschen und so blieb mir nichts anderes übrig, ich lief mit dem großen Bündel in der Hand die Treppen hinunter, bis ich eine Tür fand, auf der »Station 8« stand. Welcher Schlüssel passt da jetzt? – ich nestelte herum und probierte einige aus, nicht ohne mich zu fragen, wie mein vergebliches Stochern im Schloss wohl auf der anderen Seite ankommen würde. Endlich passte einer von vier vollkommen gleich aussehenden Sicherheitsschlüsseln.

Hastig schloss ich auf, trat in einen leeren Flur, schaute mich um und war erleichtert. Ich war auf der Station gelandet. Mein zweiter Sucherfolg an diesem Tag. Kein Mensch war zu sehen. Vor mir tat sich eine Veranda auf, die in den Garten mit den Enten führte. Rechts und links davon gingen die Türen zu den Patientenzimmern ab. Ich lief in die Richtung, in der ich den Gruppenraum vermutete. Nach ein paar Schritten tauchten plötzlich rechts von mir in Kopfhöhe eine Reihe schmaler Fenster auf, die den Blick in einen großen Raum freigaben. Drinnen saßen im Kreis eine Truppe Männer, die offenbar warteten und mich mit Blicken von der Seite verfolgten. Ich wurde rot. Die Fensterfront nahm kein Ende. Ich atmete tief ein, zog die Schultern nach hinten, bemüht um einen aufrechten Gang und eine Art selbstsicheren Gesichts.

So trat ich in den großen Raum ein. »Guten Morgen«, sagte ich in die Runde in einem Ton, von dem ich glaubte, er würde energisch klingen.

In der Ecke mickerte eine blasse Yuccapalme vor sich hin, der Blick aus dem Fenster gegenüber endete auf einer Mauer. Ich erkannte den Oberpfleger, neben ihm saß der Chefarzt in Zivil. Er sah weniger formell aus als bei unserem Termin im Ministerium. Seine dünnen langen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden, sein Bauch wölbte sich hervor wie ein Fremdkörper. Er trug Jeans und ein altrosafarbenes T-Shirt. Die Wangen hingen schlaff herab, wie die von dem alten Basset, der Hund unseres Nachbarn, nur die schwarzen Augenbrauenbüschel gaben dem Gesicht etwas Halt. Er wäre ohne Weiteres als Insasse durchgegangen.

Links und rechts in der Runde saßen die Patienten, bekleidet mit Jogginghosen und T-Shirts in unterschiedlichen Abnutzungsgraden. Eine kurz geschorene, missgestimmte Männermasse, die nicht auf mich gewartet hatte.

Der Chefarzt sah mich an und sagte knapp: »Da sind Sie ja. Wir haben schon mal angefangen. Sie können sich wohl allein vorstellen.«

Mit ein paar Schritten, noch immer hochrot, einem sperrigen Schlüsselbund in der Hand, einem Alarmgerät an der Hose und einem Kloß im Hals, ging ich durch die Runde auf den leeren Platz neben dem Arzt zu. Steif setzte ich mich auf die Stuhlkante, die Knie aneinandergepresst, und umklammerte das Schlüsselbund mit beiden Händen. Ich versuchte ein Lächeln und sagte mit trockenem Mund: »Ich heiße Frau Richter. Ich arbeite seit heute hier.«

»Na mal sehen, wie lange noch«, tönte es aus der Gruppe. Die Männer lachten. Arzt und Pfleger verzogen keine Miene.

»Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte ein magerer Mittvierziger. Er lag fast auf dem Stuhl, mit weit in die Mitte ausgestreckten Beinen. Seine Stimme war übermütig, die Füße steckten in schwarzen Badelatschen.

Ich zögerte. Darf der das eigentlich fragen? Und darf ich antworten?

Hilfe suchend sah ich den Chefarzt neben mir an, aber der musterte nur seine blau karierten Gesundheitsschuhe.

Nach einem Moment des Schweigens antwortete ich: »Achtundzwanzig?«

»Und Sie haben viel Erfahrung in diesem Bereich?«, fragte er spöttisch und beobachtete die Wirkung seiner Worte in der Runde, ein allgemeines Grinsen. Nur ein schmaler junger Mann mir gegenüber lachte nicht. Ich konzentrierte mich auf den Fenstergriff hinter ihm. Rissig silbern hing er am Rahmen.

Und da passierte es.

Auf der Suche nach einer Antwort war ich auf dem Stuhl etwas weiter nach vorn gerutscht und meine Finger hatten völlig ungefragt das Schlüsselbund losgelassen. Er fiel mit lautem Klirren auf den braunen Fliesenboden genau vor die Füße des Patienten neben mir. Da saß ein übergewichtiger älterer Mann mit quadratischem Gesicht und weißem Stoppelhaar. Ich hatte ihn bis dahin kaum bemerkt.

Alle Blicke richteten sich auf den Schlüssel am Boden.

Der Oberpfleger hob kaum merklich die Augenbrauen. Der Chefarzt starrte durchdringend neutral in eine andere Richtung. Und noch bevor ich reagieren konnte, beugte sich der weißhaarige Mann neben mir gemächlich über seinen Bauch hinweg vor. Er hob das Schlüsselbund auf, reichte es mir und sagte langsam und deutlich: »Bitte schön!«

So viel hatte ich bis dahin schon verstanden: Der Schlüssel ist das Zeichen der Macht in jeder geschlossenen Anstalt. Er gehört nicht in die Hände von Patienten. Komme, was wolle.

Der Oberpfleger atmete hörbar ein, die Schweißflecken an seinem Hemd waren nun auch von vorn sichtbar. Er rollte einen schwarzen Kugelschreiber zwischen den Fingern und wandte sich leicht genervt an die Gruppe: »Was gibt es sonst noch für heute?« Am Ende des Satzes senkte sich seine Stimme als eindeutige Aufforderung, nicht zu antworten.

»Ich beantrage die Herausgabe meines Epiliergerätes«, sagte der Mittvierziger mit den langen Beinen.

Der Kugelschreiber in der Hand des Oberpflegers stand still, die Miene zeigte zur Decke. Der Patient war an Armen und Beinen tätowiert. Seine Haut war schlaff, als wäre er einmal fettleibig gewesen, und nirgendwo war er auffällig behaart. Das schüttere Kopfhaar war rasiert. Ich stellte ihn mir beim Epilieren vor.

»Wozu brauchen Sie denn so was?«, fragte der Oberpfleger konsterniert.

»Möglicherweise ist Ihnen entgangen, dass moderne Männer ihre Körperbehaarung entfernen. Dieses Recht steht uns auch hier zu!« Die anderen nickten zustimmend.

»Wir rennen doch nicht herum wie die Affen«, unterstützte ihn ein durchtrainierter junger Mann.

»Aha«, sagte der Oberpfleger nüchtern. »Wie Sie wissen, müssen wir Geräte darauf überprüfen, ob man aus Ihnen eine Waffe herstellen kann. Also funktioniert ihr Enthaarungsgerät mit Messern?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte der Lange aufgebracht zurück. »Ich habe es nur gekauft. Nicht erfunden.«

»Gut, Herr Kluttich, wir prüfen das für Sie«, sagte der Oberpfleger in einem Ton, als würde er ein quengelndes Kind beruhigen. Und sofort darauf: »Unsere Zeit ist um. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« Arzt und Oberpfleger erhoben sich fast gleichzeitig.

Herr Kluttich blieb sitzen. Hochrot war er im Gesicht und sah aus, als würde er gleich beißen.

»Die zweite Brotsorte zum Frühstück ist ungenießbar. Wir haben das schon mehrfach angesprochen. Und geändert hat sich nichts«, sagte er scharf.

»Leite ich an die Küche weiter«, war die knappe Antwort im Gehen.

Da hatte der Chefarzt den Raum schon verlassen. Während der Oberpfleger uns im Flur das Gitter aufschloss, beugte der sich zu mir herunter: »Sie sehen sich in dieser Woche die Patientenakten an. Die Gespräche beginnen in der kommenden Woche. Falls Sie Fragen haben, ich bin erst am Freitag wieder im Haus.«

Er wandte sich um und verschwand in der Schleuse. Ich blieb allein zurück.

Schlüsselprobleme, Enthaarungsprobleme, Essensprobleme. Das Ganze hatte zehn Minuten gedauert, mein Arbeitstag war kaum älter als eine Stunde. Ich wankte zurück in mein Büro, froh, kein weiteres Zusammentreffen mit Patienten zu haben. Man hatte mir eine Woche eingeräumt, um Akten zu lesen. Eine ungefährliche Sache, in der ich Routine hatte.

Und so betrat ich fortan jeden Tag die Schleuse mit den grünen Scheiben. Ich klemmte mir das Alarmgerät an, steckte den Schlüssel in die Jacketttasche. Nie mehr trug ich etwas anderes als Hosen und Jackett. Ich grüßte den Sicherheitsmann, der mittwochs eine Frau war, und die Pfleger im Vorbeigehen. Sie saßen zu dritt oder viert in ihrem Aufenthaltsraum, nickten mir zu und lächelten nie. Hatte ich etwa gegen irgendeine unausgesprochene Grundregel verstoßen?

Warnungen von Dr. Holz klangen in meinem Ohr. »Die Verhältnisse sind klar geregelt in der Klinik, entweder Akademiker gegen Nichtakademiker oder Mediziner und Pflegepersonal gegen den Rest. Also setzen Sie sich um Gottes willen nicht einfach dazu. Und hüten Sie sich, den Kaffee zu trinken. Aber seien Sie dabei nicht unfreundlich.«

Er war mein Lehrer an der Universität und später hatte ich meine Ausbildung zur Psychotherapeutin bei ihm gemacht. Was er sagte, nahm ich ernst.

Ich lief also vorsichtshalber schweigend den schmalen Gang entlang über die Treppe zuerst in das Zimmer von Frau Radtke. Sie war Mitte fünfzig, trug kurzes blondiertes Haar und geblümte Kleider in jeder Ausführung. Seit fünfzehn Jahren bewachte sie das Vorzimmer des Chefarztes. Vor ihrem Schreibtisch in einem Regal hatte jede Abteilung ein Fach für Post: Sporttherapie, Arbeitstherapie, Sozialdienst, Station sieben, Station acht, Chefarzt und, ganz unten, »Frau Richter«, aufgeklebt in Dymo-Klebeschrift. Alle Informationen liefen bei ihr zusammen. Sie lächelte mit einem »Guten Morgen« hinter ihrem Computer hervor. »Da unten ist Ihr Postfach. Und wenn irgendwas mit der Technik nicht klappt, sagen Sie mir Bescheid. Ich kümmere mich darum.«

Ich bedankte mich, sah pflichtschuldig in mein leeres Postfach und war froh über diese kleine Zuwendung.

In meinem Büro angekommen, öffnete ich den Aktenschrank, nahm einen der schwarzen Leitz-Ordner und las. Urteilstexte, Gutachten, Behandlungsprotokolle. Ich suchte nach Fotos, um in Gesichter sehen zu können, es gab keine.

Aber es gab ein Register »Auszüge aus der staatsanwaltlichen Ermittlungsakte«. Dort fand ich Kopien von Vernehmungsprotokollen und Anklageschriften. Und Fotos. Darauf Tatort und Opfer aus jedem Blickwinkel, mit allen Details.

Nah. Sehr nah. Zu nah.

Nach der zweiten Seite schloss ich meine Augen.

Am Mittwoch nahm ich die Efeupflanze aus dem Bad mit, am Donnerstag ein kleines Foto der Pietà von Michelangelo. Am Freitag das grüne Teeglas. Das weiß gerahmte Bild von Max, lachend im Kindersitz, den Mund mit Tomatensauce verschmiert, ließ ich zu Hause.

Max war anderthalb, in den Kindergarten ging er erst seit ein paar Monaten. Den ersten Monat hatte er jeden Morgen geweint, und ich auch. Seine Erzieherin war eine junge Frau Mitte zwanzig und hieß Frau Himmel. Auf ihren blau lackierten Fingernägeln klebten kleine silberne Sterne. Sie schwor mir vom ersten Tag an, dass er mit dem Weinen aufhört, sobald ich aus der Tür bin. Nachts stillte ich ihn, damit er durchschlief. Tagsüber aß er Bratkartoffeln, Räucherfisch und sogar Oliven. Sein Appetit auf nicht babygemäßes Essen war bemerkenswert.

An meinem zweiten Montagmorgen sollten die Therapiegespräche beginnen. Ich bog auf den Parkplatz ein, lief den Weg am Klinikgarten entlang und schaute nach den Enten. Auf der Veranda standen drei Patienten und rauchten. Als ich näher kam, drehten sie ihre Köpfe und folgten mir mit ihren Blicken. Ich hatte das Gemustertwerden nie gemocht, und schon immer war meine Kleidung nach Unauffälligkeit, wenn nicht Unsichtbarkeit ausgewählt. Normalerweise hätte ich jetzt auch hier etwas zur Tarnung zwischen diese Blicke und meinen Körper geschoben. Ein Auto, ein Baum, eine Hecke. Aber da war nichts, außer einem durchsichtigen Stacheldrahtzaun, hinter dem es kein Entrinnen gab. Ich richtete mich auf, um gerade zu laufen, nur ohne die Brust zu weit hervorzustrecken. Das hatte ich gelernt, im Polizeipsychologieseminar der Universität.

Zeige kein Opferverhalten. Aufrechter Gang, ausladende Schritte, fester Blickkontakt, tiefe Stimme, langsam sprechen. Niemals lächeln ohne Grund.

Und so nickte ich den Männern einen stummen, ernsten Gruß zu und betrat die Schleuse. Frau Radtke schickte mir eine Terminliste. Darauf standen die Namen der zwanzig Männer von Station acht. Für jeden war ein Gespräch in der Woche geplant, fünfzig Minuten lang. Vier Patienten am Tag, die übrige Zeit war für Besprechungen und Schreibarbeit reserviert: Behandlungspläne, gutachterliche Stellungnahmen für das Gericht, Fallanalysen, Prognoseverfahren.

Ich würde das für die nächsten sieben Jahre tun. Und dann für weitere zehn Jahre. Und mehr, als ich jemals etwas gegen die Gefährlichkeit meiner Patienten ausrichtete, veränderte ich mich selbst. Und das war mindestens genauso nötig.

Ich war’s nicht gewesen

Frau Radtke sei Dank hatte ich bald Zugang zum Intranet der Klinik, in meinem Kalender waren fein säuberlich alle Termine aufgelistet. Ein ganzes Terminkorsett. Mein Tag war aufgeteilt in Morgenrunden auf der Station, Patientengespräche, Mittagsbesprechungen und Konferenzen der ganzen Klinik. Die Patienten waren nicht weniger beschäftigt: Jeder von ihnen bekam einen Therapieplan. Morgens Stationsgruppe, danach zur Arbeitstherapie, zurück zum Mittagessen, geliefert von der Großküche auf einem grauen Tablett, dann Sporttherapie, Schule, Visite, Einzelgespräch, Abendessen auf dem gleichen Tablett. Patienten, die sich als zuverlässig erwiesen hatten, wurden gelockert: Sie durften nachmittags in die Cafeteria oder sogar in die Stadt gehen, einige in Begleitung der Pfleger, andere allein. Zum Gespräch wurden sie zu meinem Büro gebracht, durch eine Metalltür und zwei Gitter hindurch.

Meine Woche begann nun immer mit Herrn Matzke, mein Montag-neun-Uhr-Termin.

»Wir schließen ihn durch, direkt nach der Lebendzählung«, hatte der Oberpfleger gesagt und mich bedeutungsvoll angesehen.

Ich verstand hier oft nur die Hälfte. Was bloß sollen einem diese martialischen Substantive auch sagen? Aber ich lernte dazu. Von »Durchschluss« spricht man in dem Metier, wenn man einen Gefangenen durch die Türen begleitet und dabei vor ihm auf- und hinter ihm wieder zuschließt, »Lebendzählung« meint die morgendliche Zählung nach dem nächtlichen Einschluss. Könnte ja jemand gestorben sein. Maßregelvollzug, Vollstreckungsreihenfolge, Sicherungsverwahrung, Führungsaufsicht. Worte wie Maschinen. Und Juristensprache kommt anscheinend ohne Adjektive aus und fast ohne Verben.

Es klopfte. Ein Pfleger trat ein und brachte Herrn Matzke. Der dicke Alte, der mir in der Morgenrunde den Schlüssel gereicht hatte. Ich stand auf und lief ihm zwei Schritte entgegen. Er hatte wache braune Augen, trat dicht an mich heran und streckte seine Hand aus. Einen Kopf größer war er, und ich sah genau auf sein Doppelkinn: »Guten Morgen, Frau Richter. Wir haben doch jetzt einen Termin.«

Er wartete nicht ab, sondern nahm Platz, als wäre das selbstverständlich. Ich setzte mich ihm gegenüber. Der Pfleger schloss die Tür hinter meinem Rücken. Sitz niemals so, dass der Patient den Weg zur Tür und zum Alarmknopf versperrt!, fiel mir ein. Die Einweisung durch den Sicherheitsbeauftragten am Ende meiner ersten Arbeitswoche hatte eine ganze Stunde gedauert, unmöglich konnte ich mir das alles merken.

Herr Matzke hatte, wie ich der Akte entnommen hatte, sein Leben lang Frauen vergewaltigt und dafür über dreißig Jahre in Haft gesessen, fast die Hälfte seines Lebens. Nichts hatte ihn abgehalten. Immer wieder wurde er rückfällig. Mal nach drei Monaten in Freiheit, mal nach zwei Monaten. Nach seinem letzten Delikt hatte es dem Strafrichter gereicht, und er wies ihn zu uns in den Maßregelvollzug ein. Der psychiatrische Gutachter hatte eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, nicht auszuschließen, dass sich Herr Matzke deshalb bei der Tat nicht hat steuern können.

Ziel der Behandlung in der Klinik ist die »Besserung und Sicherung«. Man bessert und sichert seit 1933, in jenem Jahr haben die Nazis das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher eingeführt. Der Weg in diese Art des Maßregelvollzugs ist steinig. Voraussetzung ist eine schwere Straftat. Dann muss das Gericht feststellen, dass erstens diese Tat aufgrund einer psychischen Erkrankung begangen wurde und dass zweitens eine Wiederholungsgefahr besteht. Die Gefährlichkeit ist also die Eintrittskarte.

Herr Matzke hatte sie gelöst.

Und da saßen wir beide nun. Aber während ich jeden Abend nach Hause fuhr, würde er erst wieder in die Freiheit entlassen werden, wenn das Gericht ihn für nicht mehr gefährlich befand. Und dafür zu sorgen, war meine Aufgabe.

Über den Gesprächsbeginn hatte ich eine Weile nachgedacht. Eindeutig wollte ich sein und nicht unsicher wirken. Irgendwer hatte mir gesagt, dass es drei Regeln in der Straftäterbehandlung gibt:

Der Therapeut hat die Kontrolle.

Der Therapeut hat die Kontrolle.

Der Therapeut hat die Kontrolle.

Ich wusste noch nicht, was für ein Blödsinn das war, und sagte deshalb nachdrücklich: »Mein Name ist Richter, ich bin Ihre Psychotherapeutin, wir werden über Ihre Gefährl …«

»Frau Richter, wie schön«, unterbrach er mich, und sein Ton hatte etwas Komplizenhaftes. »Ich bin ja jetzt seit zehn Jahren hier, und Sie sind meine achte Therapeutin. Die Straftataufarbeitung ist wirklich wichtig, und Empathie, die hatte ich ja damals nicht. Dabei sind Frauen doch auch Menschen. Und bald werde ich hoffentlich Ausgang haben, aber erst mal müssen wir ja miteinander …«, er lächelte und senkte seine Stimme verschwörerisch, »… warm werden.« Sein Blick traf mich geradeheraus.

Er hatte mich einfach überrannt. Mit einem therapeutischen »Hmhm« verschaffte ich mir eine Atempause und rettete mich in ein paar Floskeln. »Bitte erzählen Sie mir etwas über Ihre aktuelle Lebenssituation.« Und: »Wie ist Ihr Tagesablauf im Moment?«

Freundlich und ausführlich antwortete er mir. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, er arbeite in der Tischlerei, Kontakte nach draußen habe er keine mehr, aber seit zwei Jahren eine Brieffreundin, die gerade in der Psychiatrie sei. Mit den anderen Patienten und den Pflegern verstehe er sich gut. So weit, so unkompliziert. Aber eigentlich sollte ich ihn zu den Straftaten befragen, und an dem Punkt wurde es heikel. Das stand schon in seiner Akte.

Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder gefangen und setzte neu an: »Nun, Sie sind ja recht lange in Haft gewesen. Wie kam es denn dazu, dass Sie die Vergewaltigungen begangen haben?«

Ein empörter Blick traf mich. Wütendes Schweigen folgte. Er presste die Lippen aufeinander, alle Freundlichkeit war dahin. Dann: »Sie glauben doch nicht etwa, dass ich jemals einer Frau etwas zuleide getan habe?« Es war keine Frage, sondern eine eindringliche Aussage.

Ich schwieg. Einen Moment glaubte ich, mich verhört zu haben. Hat der Mann nicht eben von Straftataufarbeitung gesprochen?, dachte ich. Der spinnt wohl. Will der mir erzählen, dass er dreißig Jahre für nichts gesessen hat?

Als Psychotherapeutin war ich jetzt in einer unangenehmen Lage. Ich musste etwas Sinnvolles sagen. Schlagfertig war ich in meiner wortlosen Familie nicht gerade geworden. Und in sechs Jahren psychologischer Ausbildung bereitet einen niemand auf so etwas vor. »So, liebe Studenten, eines Tages werden Sie vor Menschen sitzen, die ihre gesamte Lebenswirklichkeit verleugnen. Was sagen wir denn in so einem Fall?«

Ein charismatischer holländischer Straftätertherapeut, den ich auf einer Tagung gesehen hatte, empfahl in einer solchen Situation, laut und ausgiebig zu lachen. Ich wollte unbedingt charismatisch sein, aber nach Lachen war mir gar nicht zumute. Und die dramatische Psychotante wollte ich nicht geben. Also dachte ich einen weiteren Moment nach.

Die Grundlage jeder Straftäterbehandlung ist die Bearbeitung der Straftat. Es ist der Kern jeder Behandlung. Dafür muss der Täter die Tat aber erst einmal zugeben. Leugnen ist auf keinen Fall erlaubt.

Ich stand auf, lief die drei Schritte zum Aktenschrank hinter meinem Schreibtisch und zog den Aktenband mit dem Urteil heraus. Ich blätterte auf, sprach die klugen Worte: »Wissen Sie, hier in Ihrem Urteil steht Folgendes« und begann vorzulesen: »Am 23. Juni 1986 nach einer durchzechten Nacht …«

Klug, aber eindeutig nicht klug genug.

Herr Matzke wurde rot. »Unglaublich ist das! Das habe ich nicht. Ich habe noch nie zu viel Alkohol getrunken …«, unterbrach er mich, musterte die Tischplatte und strich mit beiden Händen die nicht vorhandene Tischdecke glatt.

Ich las weiter: »… hat der Frank Matzke die Frau Protz gegen ihren Willen …«

»Was soll das denn heißen, die wollte das auch. Was die da nachher erzählt hat …« Er wurde laut, und ich sah mich kurz nach dem Alarmknopf neben der Tür um. Aber eigentlich fühlte ich mich nicht bedroht. Er brüllte, als würde er mit einer Schwerhörigen sprechen.

So schnell konnte man mich nun nicht beeindrucken. Überzeugt von meiner Strategie, fuhr ich fort: »… auf dem Rücken liegend festgehalten, und an ihrem unbedeckten Geschlechtst …«

Er sprang in einer Geschwindigkeit auf, die ich ihm mit seinem Gewicht nicht zugetraut hätte.

»Das ist nicht wahr!«, rief er. »Mit Ihnen kann man ja nicht reden, Sie sind ja verrückt! Was wollen Sie eigentlich von mir?« Bevor ich das erklären konnte, drehte er sich um und rannte türknallend aus dem Büro. Er kam nicht weit. Nur bis zum nächsten Gitter.

Ein paar Minuten saß ich unschlüssig auf meinem Platz und wartete, dann rief ich auf der Station an. »Herr Matzke möchte nicht mehr mit mir sprechen. Könnten Sie ihn bitte … durchschließen.«

Dieses Therapiegespräch hatte genau fünfzehn Minuten gedauert. Ich legte den Hörer auf. Das war wohl keine so gute Idee, die Sache mit der Akte. Ich sah einen Moment aus dem Fenster und dann auf den digitalen Wecker, der auf dem Schreibtisch 9.23 Uhr anzeigte.

Bei meinem letzten Zusammentreffen mit einem Vergewaltiger, ein Jahr vor der Geburt von Max, hatte die rot beleuchtete Uhr an der Konsole meines Seat 0.32 Uhr angezeigt. Ich parkte ein, im Radio lief Green Day, ich wartete einen Moment, um »When I Come Around« zu Ende zu hören, dann stieg ich aus. Da kam direkt aus einem Busch neben dem Fußgängerweg eine gebückte, dunkle Gestalt mit Kapuze schnellen Schrittes auf mich zu. Gerade noch eine halbe Sekunde hatte ich Zeit, die hintere Autotür zu öffnen, und Katinka sprang heraus. Meine schwarze Mischlingshündin, die es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatte, mich zu beschützen. Sie stürzte sich wütend bellend auf den Mann. Das war der Teil Schäferhund in ihr. Ich taumelte drei Schritte rückwärts, die Gestalt erstarrte und stand einen Moment wie eingefroren. Dann drehte sich der Mann um und rannte panisch davon. Im Dunklen sah ich, wie er sich auf die hell erleuchtete Hauptstraße zubewegte. Mein Herz raste, aber ich wunderte mich auch. Seine Beine bildeten eine rotierende Scheibe, wie man so sagt. Er flüchtete, als würde die Gefahr nicht von ihm ausgehen, sondern von mir. Sein Gesicht hatte ich nicht gesehen. Katinka hatte ihn ein paar Schritte verfolgt, dann war sie schwanzwedelnd umgekehrt und hatte mir die Hände geleckt.

Mir fiel auf, dass ich erstmals in meinem Leben mit einem verurteilten Vergewaltiger an einem Tisch gesessen hatte. Ich sah mich in meinem Büro um. Angst fühlte ich nicht, ich war höchstens ärgerlich. Dieser Typ, Frank Matzke, war einmal so ein Schattenmann gewesen, mit Opfern, die keinen schwarzen Hund hatten. Und der setzt sich ernsthaft hier hin, blickt mir ins Gesicht und streitet alles ab? So billig will der davonkommen? Das könnte dem so passen, dachte ich.

Reue war ja wohl das Mindeste, was man erwarten konnte.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, öffnete die Patientenakte und schrieb wütend: »Pat. verweigert weiter das Gespräch über seine Straftaten.«

 

Am Ende dieser langen zweiten Woche hatte ich mit zwanzig schwerkriminellen Männern gesprochen. Und ich war angeschaut worden, von den Patienten, Pflegern, Arbeitstherapeuten, Assistenzärzten und der Sozialarbeiterin. Männer waren eindeutig in der Überzahl. Es hatte auch abschätzige Blicke und Fragen gegeben.

Ja. Ich bin jung.

Ja. Ich komme eben erst von der Universität.

Ja. Ich habe kaum praktische Erfahrung.

Immerhin hatte ich obdachlose Jugendliche betreut. Zumindest damit konnte ich etwas Eindruck bei den Kollegen schinden: heroinabhängige Borderline-Mädchen, sie flogen herein und heraus aus der Suchtklinik wie aus einem Taubenschlag. Unterernährte, minderjährige Stricher auf der Flucht vor ihren Familien und die Jungs aus den kriminellen Großfamilien, die so plötzlich im Jugendknast verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.

Nun also Herr Heinz und Herr Kluttich und Herr Schmidt.

»Guten Tag. Mein Name ist Richter. Ich bin Ihre Therapeutin. Wir werden über Ihre Straftat sprechen. Es geht um Ihre Gefährlichkeit. Bitte erzählen Sie mir etwas über sich.«

Am Freitag um 16 Uhr, sagte ich mir, fahre ich den Computer herunter, lege Alarmgerät und Schlüsselbund in die metallene Klappe der Schleuse und mache mich auf den Heimweg in dem sicheren Gefühl, ein Fake zu sein. Eine Papptherapeutin. Ich sitze mit Alarmgerät am Hosenbund, Schlüssel in der Hand und Schild an der Tür auf meinem Stuhl und tue so, als ob ich echt wäre. Ich spreche die Sprache und kann etwas Theorie hersagen, so hält die Staffage. Dabei bin ich Christiane. Christiane Richter, ein Kind mit vielen Bildern, ein Kind auf der Suche nach Worten und nach etwas Halt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand hinter den Schwindel kommt und alles auffliegt.

Meine Gedanken führten mich zurück in die Studienzeit. Ich dachte an die Monate, in denen ich meine Diplomarbeit geschrieben hatte. Damals hatte ich ein aufregendes Thema gesucht. Die Seminarthemen hießen »Sexualstraftäter – Kriminalprognose 1 und 2«, »Kriminologische Typologie der Missbrauchstäter« oder »Intimizid aus psychopathologischer Perspektive«. Als ein intellektuelles Problem betrachtete ich das alles, die Theorie war mir vertraut. Deshalb hatte ich mir den Job auch zugetraut. Diese Täter. Das waren nur Fälle, nichts als Nummern und Daten einer Aktenanalyse. Ich erinnerte mich, wie ich mit einer Kommilitonin im niedrigen Dachgeschoss einer abgelegenen Maßregelvollzugsklinik über bluttriefenden Akten brütete und Rotwein trank, und wie wir theoretische Überlegungen anstellten zu unserer empirischen Studie. Auf der Suche nach einer Tätertypologie, als ob es uns nicht selbst betreffen würde und als sei es nicht die Wirklichkeit, über die wir sprachen, sondern nur ein fantastischer Abklatsch. Ein brutaler, unwirklicher Comic-Psychothriller, während durch die gewölbeartigen, geschlossenen Gittergänge unter uns weiß gewandete Menschen mit Patienten in Zivil entlangliefen wie Dompteure mit Löwen in Käfigen und manchmal ein Schreien zu uns drang, das uns nicht berührte, sondern nur streifte, an einer Schutzhaut naiver Unempfindlichkeit.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es anders sein würde. Ich hatte nicht mit mir selbst gerechnet.

In der Nacht auf Samstag öffnete ich die Augen und sah an die Decke. Mein Kopf lag schwer auf dem Kissen, aber der Rest meines Körpers fiel. Rücklings in einen schwarzen, bodenlosen Raum. Mein Herz raste, der Magen ein Stein, im Mund ein metallischer Geschmack. Und in der Vierteldrehung, die ich versuchte, um dem Fallen zu entkommen, in dem halben Augenaufschlag waren alle Bilder da. In mir. Eine blutende, wimmernde Frau, der junge Mann mit zertretenem Kopf, ein langsam sterbender Junge und das ungeschützte Mädchen mit dem klebrigen Atem im Nacken.