Tötungsdelikt Gisela G. - Remo Kroll - E-Book

Tötungsdelikt Gisela G. E-Book

Remo Kroll

4,4

Beschreibung

Kurz vor Weihnachten 1964 begleitet eine achtjährige Berlinerin ihren Stiefvater in den Volkspark Friedrichshain - aber nur er allein kommt wieder zu Hause an. Eine alte Dame wird in ihrer Wohnung ermordet. In der Sache wird jahrelang unter großen Anstrengungen gegen den Enkel ermittelt - allein die Beweislage bleibt dünn. Tötungsdelikt gegen Gisela G. aus Berlin-Rahnsdorf - ist wirklich der Ehemann der gesuchte Triebtäter? Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich stellen drei spannende wahre Kriminalfälle aus DDR-Zeiten vor. Sachbezogen und auf Basis der originalen Akten rekonstruieren sie den Tathergang, analysieren die Ermittlungsansätze und lassen die Leser an der mitunter überraschenden Aufklärung teilhaben, die in zwei Fällen erst Jahre nach den Taten selbst erfolgt - und beweisen damit einmal mehr: Verbrechen lohnt sich (doch) nicht!

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Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

TötungsdeliktGisela G.

und zwei weitereauthentische Kriminalfälle aus der DDR

Bild und Heimat

Von Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:

Die Tote von Wandlitz und zwei weitereauthentische Kriminalfälle aus der DDR (2015)

eISBN 978-3-95958-719-8

1. Auflage

© 2016 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © arfo, shutterstock

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Inhalt

Vorwort

Tod im Friedrichshain

Tötungsdelikt Gisela G.

Die Tote in der Besenkammer

Literatur

Abkürzungen

Vorwort

In unserem Buch Die Tote von Wandlitz stellen wir drei spektakuläre Mordfälle aus der DDR vor, die alle einen Bezug zur Gegend um die Gemeinde Wandlitz bei Berlin haben. Die Verbrechen, über die wir hier in Tötungsdelikt Gisela G. berichten, spielen nunmehr mitten in Berlin, in der Hauptstadt der DDR, und zwar in den Jahren 1964, 1967 und 1971. Die Tatorte befinden sich im Stadtbezirk Friedrichshain und am S-Bahnhof Berlin-Rahnsdorf, im Stadtbezirk Köpenick.

Wir studierten wieder Berge von Akten, wälzten zusätzlich Fachliteratur und lasen Zeitungsberichte aus jener Zeit. Wir rekonstruieren die Begehungsweisen, analysieren die Ermittlungsansätze und stellen die zum Teil sehr überraschende Aufklärung der Kriminalfälle dar. Wir fragen nach den Tätern und ihren Motiven, nach den Opfern und nach den bei der Untersuchung dieser Tötungsdelikte aufgetretenen taktischen Fehlern. Und: Soweit es uns möglich ist, verfolgen wir, was aus den damaligen Tätern geworden ist. In der Geschichte Tod im Friedrichshain wird zum Beispiel der Mörder nach Verurteilung und Haftverbüßung ein geachtetes Mitglied einer Brigade der sozialistischen Arbeit in den Berliner Verkehrsbetrieben. (Ein Beleg dafür, dass es die DDR mit der sogenannten Wiedereingliederung wirklich ernst gemeint hat.) Sozusagen als Nebeneffekt ist es unsere Absicht, das damalige Lebensgefühl nicht nur der Kriminalisten, sondern aller irgendwie an den Fällen beteiligten Personen lebendig werden zu lassen, was auch die Psychologie der Täter und ihre Resozialisierung einschließt.

Die Namen der Täter, Opfer und Zeugen sowie einige Handlungsorte haben wir aus personenrechtlichen Gründen verändert. Für die so neu erfundenen Namen erklären der Verlag und die Autoren, dass Personen mit diesen Namen in den behandelten drei Mordfällen in keinem Fall agiert haben. Übereinstimmungen sind rein zufällig. Die Namensänderungen sind nicht gesondert gekennzeichnet, aber notwendige Ergänzungen in Zitaten in [Klammern] gesetzt.

Zitate aus den Originaldokumenten, zum Beispiel aus Gutachten und Vernehmungsprotokollen, sind wie die dazugehörige Dokumentenquelle oft kursiv gesetzt. Dadurch ist im Sinne einer besseren Lesbarkeit auf den ersten Blick sichtbar, welche Details und Aussagen zitiert wurden.

Die Abbildungen sind bis auf einige Ausnahmen den Akten der BStU (Fall 2) und des Generalstaatsanwalts von Groß-Berlin (Fälle 1, 2 und 3) entnommen. Bei der Nutzung anderer Quellen weisen wir bei den jeweiligen Bildern darauf hin.

Wir danken allen sehr herzlich, die unser Projekt unterstützt haben, namentlich Frau Brandt von der BStU für die Bereitstellung der Akten und Herrn Christian Beyer dafür, dass er uns für die Darstellung des ersten Falls zwei Fotografien zur Verfügung gestellt hat. Die Diplom-Kriminalistin Petra Noack half uns als fachkundige Redakteurin bei der Fertigstellung des Manuskripts, wofür wir uns ebenfalls ganz herzlich bedanken möchten.

In diesem Buch treten wieder fachlich sehr gut ausgebildete Kriminalisten auf, die sich das Ziel gesetzt haben, Straftaten aufzudecken, zu untersuchen und aufzuklären – was letztlich immer heißt, den Täter dingfest zu machen –, die von dem Willen getragen waren, mit einer exzellenten kriminalistischen Denkarbeit die Wahrheit in jedem konkreten Fall festzustellen. Manche der von uns aufgefundenen Dokumente, wie Tatortbefundberichte, Bildanlagekarten, Protokolle und Expertisen, eignen sich noch heute als Lehrbeispiele. Chapeau!

Nicht alle Fragen können wir beantworten. Denn immer, wenn wir uns auf Akten zu verlassen haben, wird es Lücken im Verständnis geben. Müssen wir aber nicht alles verstehen, um abschließen zu können? Peter Høeg schreibt am Ende seines berühmten Romans Fräulein Smillas Gespür für Schnee: »Nur was man nicht versteht, kann man abschließen. Die Entscheidung bleibt offen.« Darüber sollten wir nachdenken.

Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

Tod im Friedrichshain

»In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.« So begann Friedrich Schiller seine berühmte Kriminalerzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte über den Mörder und Räuber Christian Wolf. Es war die erste Kriminalnovelle von Weltrang.

Wir lesen heute Berichte von Verbrechen und stellen mit Erstaunen fest, dass die Verirrungen des Menschen kaum thematisiert werden, sondern nur die oftmals verstörenden und grausamen Folgen seines verbrecherischen Handelns. Und wir wundern uns über die Aussage, dass Verbrechen eben zu unserer Kultur gehören, wie jüngst Frauke Hunfeld in der Zeitschrift Crime formulierte.

In der DDR hatte man in der Tat eine andere Sichtweise, die Hans-Joachim Kruse in seinem Vorwort zu dem Buch Wer ist schuld? wie folgt ausdrückte: »Die Ausbeutergesellschaft, die den Menschen nur als Mittel der Bereicherung betrachtet, musste mit dem Verbrechen leben. Wir hingegen haben in realer ›Beförderung der Humanität‹ ein neues Kapitel im Buche der Menschheit begonnen, in dem sich die Forderung von Marx erfüllt: ›Das höchste Wesen für den Menschen ist der Mensch selbst, folglich muss man alle Beziehungen, alle Bedingungen vernichten, in denen der Mensch ein unterdrücktes, versklavtes, verächtliches Wesen ist.‹«

Wir wollen von einem Menschen und den Annalen seiner Verirrungen erzählen, der in der DDR, genauer gesagt in Ostberlin, an seiner Psychologie komplett gescheitert ist, obwohl er als Wanderer zwischen den Welten nicht mehr als »Mittel der Bereicherung« betrachtet worden war. Und wir wollen, auch nach Schiller, aufzeigen, dass die Öffnung seines »Lasters … vielleicht die Menschheit und – es ist möglich, auch die Gerechtigkeit« unterrichtet.

Walter Steeger, so wollen wir ihn nennen, arbeitete beim VEB Bauhof Pankow und wohnte in einem Vorderhaus in der Pettenkoferstraße im Friedrichshain, einer Straße, die parallel zum S-Bahn-Ring verläuft. Die Straße erhielt 1904 ihren Namen. Benannt wurde sie nach Max von Pettenkofer, einem deutschen Arzt, der unter anderem den Einfluss von Kleidung, Ernährung und Klima auf die Gesundheit des Menschen erforschte und somit die Notwendigkeit einer umfassenden Sozialhygiene erkannte. Im Ergebnis dessen entstand zum Beispiel die Schrift Über Nahrungsmittel und über den Wert des Fleischextrakts (2. Auflage 1876), eine seiner fundamentalen Arbeiten. Wir dürfen annehmen, dass Walter Steeger das alles nicht wusste.

Auch über seine Sozialhygiene war nichts bekannt, als er an einem Donnerstag, dem 10. Dezember 1964, in der VP-Inspektion Friedrichshain in einem Zustand völliger Auflösung eine Vermisstenanzeige erstattete. Seine Stieftochter Monika, die seinen Familiennamen angenommen hatte, acht Jahre alt, sei spurlos verschwunden.

Er wurde von einem Wachhabenden, nachdem er den Sachverhalt kurz erläutert hatte, zum Dauerdienst der Kriminalpolizei begleitet. Dort nahm Leutnant der VP Müller die Anzeige unter der Tagebuchnummer 2956/64 entgegen. Nach Beendigung der Protokollaufnahme zeigte die Uhr im Kriminalbüro 23.45 an. Diese stürmische Nacht – der Regen ergoss sich in wahren Kaskaden schräg gegen die Fensterscheiben – passte so gar nicht zur vorweihnachtlichen Zeit, auch nicht zu dem Bericht von Walter Steeger.

Er war 25 Jahre alt, ein kräftiger Kerl, der ein wenig nach Alkohol roch. Ein Bauarbeiter, ein Maurer, wie man ihn sich vorstellen kann. Etwas Weiches in seinen Gesichtszügen ließ ihn auf Leutnant Müller durchaus sympathisch wirken. Dieser hatte auf der VP-Schule gelernt, dass man den Menschen unvoreingenommen gegenübertreten muss und sich in jedem Gesicht ein Zauber verbirgt.

Walter Steeger war sehr aufgeregt, als der Bericht über das Vorgefallene aus ihm heraussprudelte, auch wie eine Kaskade und im Gleichklang mit den Regengüssen. Man sah ihm seine Verzweiflung an, und er stockte, er wiederholte sich, er fragte nach, ob er überhaupt verstanden würde.

»Beruhigen Sie sich«, sagte der Leutnant, »man wird Ihre Stieftochter ganz schnell finden. Die meisten Kinder, die weggelaufen sind, kommen alsbald wieder zu ihren Eltern zurück.«

»Aber Monika ist nicht weggelaufen! Sie ist nie weggelaufen, so etwas macht sie nicht. Wirklich. Da ist bestimmt was Schlimmes passiert.«

»Also, noch einmal von vorn. Was ist dem Verschwinden Ihrer Stieftochter vorausgegangen?«

»Das sagte ich doch schon … So gegen halb sieben schickte meine Frau unsere Tochter zum Schlächter, um etwas Speck zu kaufen. Als Monika die Wohnung verließ, hatte ich mit meiner Frau einen kleinen Streit. Das kommt ja in der besten Ehe vor, oder? Ich war es leid, mich schon wieder wegen irgendetwas entschuldigen zu müssen, zog mir meinen Mantel über und verließ ohne Worte die Wohnung, denn ich wollte etwas frische Luft schnappen. Vorher ein paar Bierchen – das hatte meiner Frau ja überhaupt nicht gepasst. Ich ging zur Bänschstraße, denn in dem Stück zwischen der Pettenkofer und der Voigtstraße ist der Fleischer. Ich dachte mir, wenn du schon mal an der frischen Luft bist, dann kannst du auch gleich mal nachsehen, ob Monika trödelt. Das tut sie nämlich ziemlich häufig.

Ich habe Monika auch getroffen, als sie schon auf dem Rückweg war. Wir gingen noch ein wenig im Karree, wie wir Berliner sagen, und kamen so in die Dolziger Straße. Wir haben uns wirklich nett unterhalten. Ich musste dann mal, und ich wollte in einem Hausflur in der Dolziger Straße, es könnte die Hausnummer 28 gewesen sein, meine Notdurft verrichten.«

»Welcher Hausflur war das genau?«

»Kurz vor der Einmündung in die Eldenaer Straße, auf der rechten Seite, die Nummer weiß ich nicht mehr genau. Es kam jedoch eine Frau ins Haus, und ich wollte mit ihr keine Auseinandersetzung haben. Ich verließ den Hausflur, vor dem Haus wartete Monika, so, wie ich es ihr gesagt hatte.«

Leutnant Müller schüttelte ein wenig den Kopf: »In den Hausflur pinkeln, das ist aber nicht die feine englische Art.«

Walter Steeger gab zunächst keine Erklärung ab, meinte dann aber kleinlaut: »Nun ja, wenn’s drückt. Da kann man halt nichts machen.«

»Und wohin sind Sie dann gegangen?«

»Zum Forckenbeckplatz. Monika fragte, ob das hier der Märchenbrunnen ist, und ich sagte ihr, dass sich der Märchenbrunnen im Friedrichshain befindet. Monika trug den Speck, und ich bat sie noch, meinen Mantelgürtel, der mich störte, zu tragen. Monika war ein gutes und folgsames Kind, und sie tat, worum ich sie gebeten hatte. An der Proskauer Straße steht ein massives Häuschen, vielleicht eine Schaltstation der Bewag. Das weiß ich aber nicht genau. Jedenfalls habe ich Monika angewiesen zu warten, weil ich hinter dem Häuschen zur Parkanlage hin jetzt … Na, Sie wissen schon. Es hat vielleicht zwei oder drei Minuten gedauert …«

Walter Steeger hatte sich emotional nun nicht mehr unter Kontrolle; Tränen schossen in seine Augen, und schluchzend erzählte er das Ende der Geschichte. »Monika, Monika, war … nicht mehr … da. Ach Gott, das arme Kind.«

»Wissen Sie, wohin sie gegangen sein könnte?«

»Nein, keine Ahnung. Wir kennen uns doch noch gar nicht so richtig aus in dieser Gegend. Wir wohnen erst seit Februar dieses Jahres im Friedrichshain. Wir sind im November 1963 aus Westberlin in den Osten gekommen, weil alle unsere Angehörigen in diesem Teil von Berlin wohnen. Zuvor waren wir im Bezirksheim in Weißensee in der Rennbahnstraße 74–78 untergebracht.«

»Das ist ja eine interessante Geschichte. Woher wissen Sie denn die Hausnummer von der Rennbahnstraße noch so genau?«

»Wir hatten hier viel Bürokratie zu erledigen, und unsere Flüchtlingsadresse mussten wir auf allen Ämtern angeben. Deshalb.«

»Ist Ihre Tochter schon einmal weggelaufen?«

»Nein, noch nie. Wirklich. Sie ist eine gute Schülerin.«

»Welche Schule?«

»Die 11. Oberschule in der Pettenkoferstraße. Sie geht in die zweite Klasse.«

Leutnant Müller wollte noch mehr wissen: »Sie sagten, Sie hätten Verwandte hier im Osten. Welche sind das? Es könnte doch sein, dass Monika zu ihnen gegangen ist.«

»Das kann nicht sein«, wehrte Walter Steeger entschieden ab, »unmöglich. Bei meinem Bruder, der mit seiner Familie am Strausberger Platz wohnt, habe ich schon nachgefragt, dort ist Monika nicht. Meine Schwägerin wohnt in der Oderberger Straße, sie ist Schichtleiterin beim VEB Aktivist. Monika weiß gar nicht, wo das ist. Meine andere Schwägerin wohnt noch weiter weg, in Wilhelmshagen in der Schettkatstraße. Da würde Monika überhaupt nicht hinfinden. Außerdem sind diese Adressen meiner Tochter gar nicht bekannt, glaube ich jedenfalls.«

»Wo haben Sie denn überall gesucht?«

»Na, im Karree. Wir sind wie die Wahnsinnigen durch die Straßen gelaufen und haben immerzu gerufen: ›Monika, Monika, wo bist du?‹ Aber niemand hat uns geantwortet.«

In der Nachricht über eine vermisste Person vom 10. Dezember 1964 der Volkspolizeiinspektion Friedrichshain liest sich das Geschehen des Verschwindens von Monika in der Kurzform so:

Vater ging mit Tochter spazieren und sagte, dass sie warten soll, während er sich ca. 10 m von ihr entfernt in Bln. O 112, Forckenbeckplatz, hinter ein Häuschen stellte, um zu urinieren. Als er nach ca. 2–3 Minuten wieder hinter dem Häuschen vorkam, war das Kind verschwunden.

Selbstverständlich wurde die Personenbeschreibung des vermissten Kindes exakt aufgenommen; nur ein Foto war zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Akten beigefügt. In der Rubrik Mitgeführte Schmucksachen und Gebrauchsgegenstände war verzeichnet worden: führte 100 gr. mageren Speck, graubraunen Popelinbindegürtel vom Herrenmantel mit. So, wie der Stiefvater es ausgesagt hatte.

Monika Steeger war nach der abgegebenen Personenbeschreibung ungefähr 130 Zentimeter groß, hatte dunkelbraune Augen und abstehende Ohren. Als besonderes Kennzeichen wurde eine zwei Zentimeter lange Narbe über dem linken Auge angegeben. Die Beschreibung der Bekleidung war exakt.

So ungefähr könnte sich die Anzeigeerstattung durch Walter Steeger abgespielt haben. Leutnant der VP Müller hatte sich richtig verhalten, auch die richtigen Fragen gestellt, aber leider nicht alles protokolliert.

Als der Oberleutnant der VP Lothar Ottmann vom Kommissariat AK II den Vorgang auf den Tisch bekam, fragte er natürlich nach, ob es Personen gab, die die kleine Monika Steeger hätten an sich bringen, entführen können. Und so schob Leutnant der VP Müller am nächsten Tag ein Protokoll hinterher, aus dem hervorging, dass die Kindesmutter Michaela Steeger bei der Anzeigenaufnahme zugegen war, jedoch fast gar nichts gesagt hatte, als ihr Mann über das Verschwinden ihrer Tochter berichtete.

Angaben zur Bekleidung der Vermissten Monika Steeger Auszug aus der Nachricht über eine vermisste Person vom 10. Dezember 1964

Sie gab aber an, dass der Anzeigeerstatter der Stiefvater des Kindes sei und laut Namenswechsel die Vermisste den Namen ihres Mannes erhalten habe. Der richtige Vater sei ein gewisser Herr Beinhauer, der in Westberlin wohne und dort bei der Müllabfuhr arbeite. Sie gab auch an, dass sie über ihre Schwester von der Mutter gehört habe, dass Beinhauer die Absicht hegte, seine leibliche Tochter wieder zu sich nach Westberlin zu holen. Fast drohend-geheimnisvoll wie im Märchen vom Rumpelstilzchen soll er gesagt haben: »Wenn heute und morgen nicht, eines Tages hole ich mir das Kind.« Die nicht unwichtige Information, dass sich Beinhauer strikt weigerte, Unterhalt für sein Kind zu zahlen, fügte Michaela Steeger hinzu. Er habe keine Verwandten im sowjetischen Sektor von Berlin und auch seine Tochter noch nie besucht. Und als sie dann fragte, welche Möglichkeiten denn bestünden, ein Kind in den Westen zu entführen, meinte ihr Mann, dass »drüben« schon Subjekte seien, die das fertigbringen würden.

Oberleutnant Ottmann, der die Mittlere Polizeischule in Aschersleben erfolgreich absolviert hatte, dachte lange über den Fall nach, denn das Kind war auch am nächsten Tag nicht aufzufinden. War es schon in Westberlin? Aber wie sollte es dahin gekommen sein? Die Grenzen waren doch seit dem 13. August 1961 dicht.

Nun wollte er wissen, was vor der Vermisstenanzeige in der VPI Friedrichshain passiert war. Es stellte sich heraus, dass sich das Ehepaar Steeger zunächst im VP-Revier 83, in der Proskauer Straße 37/38, gemeldet hatte. Ottmann konnte schnell ermitteln, dass Fredi Kaßler dort zu dieser Zeit seinen Dienst versehen hatte, und zwar vom 10. Dezember 18.30 Uhr bis zum 11. Dezember 7.00 Uhr. Schon um 15.10 Uhr an diesem 11. Dezember saß Fredi Kaßler auf dem Zeugenstuhl in der VPI Friedrichshain, Abteilung Kriminalpolizei, und sagte aus, dass er die Eltern erst einmal aufgefordert hatte, weiterzusuchen, zum Beispiel auch auf dem nahe gelegenen Weihnachtsmarkt, und sich doch die Suche zu teilen. Er gab ihnen die Telefonnummer des Reviers, damit er verständigt werde, falls die Suche erfolgreich war.

»Welchen Eindruck haben die beiden auf Sie gemacht?«, wollte Ottmann nun wissen.

»Welchen Eindruck haben die beiden gemacht?«, wiederholte Fredi Kaßler. »Nun ja, was soll ich sagen. Die Frau schien bedrückt zu sein, sie war verweint und sprach wenig. Sie warf nur ab und zu Worte ins Gespräch. Es erweckte den Anschein, als ob tatsächlich ein Streit vorausgegangen war. Der Mann führte die Unterhaltung und schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein. Sein Verhalten war etwas aufgeregt, die Stimme aber ruhig, so, als wenn er sich fortwährend zur Ruhe zwingen müsste. Er war mit allen meinen Vorschlägen einverstanden, die Frau sagte ja ohnehin nichts.«

»Gab es im Äußeren, in der Bekleidung, am Körper der Eheleute irgendwelche Auffälligkeiten?«

»Nein, keine Verletzungen, nichts. Auch kein Blut, wenn Sie das meinen. Gar nichts.«

Nach einer kleinen Pause fragte Ottmann: »Wie waren die beiden denn bekleidet? Was hatten sie an? Können Sie sich daran noch erinnern?«

»Nun ja, der Kindesvater trug einen braungrauen alten Trenchcoat mit Gurt. Er ist circa 180 Zentimeter groß, hatte keine Kopfbedeckung auf. Obwohl er noch ziemlich jung ist, hat er schon einen leichten Ansatz zur Stirnglatze. Ja, und die Frau, circa 165 Zentimeter groß, aschblondes Haar, nicht sehr modern frisiert. Ich glaube, sie trug einen grauen Wintermantel in Glockenform. – Ach so, eineinhalb Stunden, nachdem sie mich verlassen hatten, rief der Mann an und teilte mir mit, dass ihre Suche ergebnislos verlaufen ist. Dann habe ich ihnen empfohlen, sich sofort in die VPI, Wedekindstraße 10 zu begeben, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.«

Lothar Ottmann besaß nun alle Informationen, die er für eine weitere Versionsbildung benötigte. Er war zufrieden, und dieser Zustand löste wohl bei ihm urplötzlich einen emotionalen Wechsel in der Anrede aus.

»Genosse Kaßler, ich danke dir. Ich schreibe jetzt schnell alles in das Protokoll, dass du dann bitte noch unterzeichnest. Anschließend will ich dich nicht länger aufhalten, schließlich hast du ja frei.«

Die Zeugenvernehmung endete um 16.15 Uhr, Fredi Kaßler unterschrieb seine Aussagen, und er wusste nicht, ob er wirklich zweckdienliche Angaben, wie es im Polizeideutsch heißt, geäußert hatte.

Ottmanns Gedanken verloren sich in der Weite der Möglichkeiten, die das Verschwinden des Kindes irgendwie erklären konnten. Dass das Kind in Westberlin war, konnte natürlich nicht ausgeschlossen werden, auch nicht, dass sich Monika verlaufen hatte oder einfach nur weggelaufen war. Vielleicht wurde sie, als sie am Forckenbeckplatz auf ihren Stiefvater wartete, durch irgendein Ereignis abgelenkt? Übte der nahe gelegene Weihnachtsmarkt eine besondere Faszination auf sie aus? War sie hilflos in eine gefährliche Situation geraten? Oder war sie ermordet worden? Wenn ja, durch wen? Wer käme als Täter in Frage? Und vor allem: Aus welchem Motiv heraus?

Aber ohne eine Leiche gestalteten sich derartige Gedankenspiele schwierig, die bei Ottmann immer mehr zu kreisen anfingen. Irgendwie bewegten sie sich um ein Zentrum herum, in dessen Mitte Walter Steeger stand, leicht alkoholisiert, aber freundlich, ein bisschen halbstark, aber dennoch sympathisch, wie Leutnant Müller es ja empfunden hatte.

Und es stieg in Ottmann der dringende dienstliche Wunsch auf, den Stiefvater des vermissten Kindes selbst zu hören, als Zeugen zu vernehmen, denn all das, was Genosse Müller aufgeschrieben hatte, taugte wegen der fehlenden gesetzlichen Rahmenbedingungen (wie die Belehrung usw.) nicht als Aussage. Der Kriminalist brauchte aber gerichtsverwertbare, handfeste Beweise; zudem könnte er sich selbst ein Bild von Herrn Steeger machen und ihm ein wenig auf den Zahn fühlen.

So bat Ottmann ihn zur Zeugenvernehmung, die noch am Freitag, dem 11. Dezember 1964, um 19.15 Uhr begann.

Walter Steeger saß ziemlich verklemmt auf seinem Stuhl, der vor Ottmanns Schreibtisch in einem schlicht eingerichteten Büro mit vergittertem Fenster stand. In einer Regalwand türmten sich Akten, links stand die Tür zu einem weiteren Raum offen, und Steeger hörte, wie ein anderer Polizist etwas auf einer Schreibmaschine hämmerte und ab und zu hustete. Diese Nebengeräusche nahm der Zeuge dann später überhaupt nicht mehr wahr.

Zu Beginn wurde Walter Steeger darauf hingewiesen, dass er als Zeuge wahrheitsgemäße Aussagen zu machen habe, außer wenn durch die Beantwortung von Fragen, die nun einmal zwangsläufig in einer Vernehmung durch die Kriminalpolizei gestellt werden müssen, die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung des Zeugen und seiner Angehörigen bestehe. Der Vernommene nickte, zeigte sich kühl und distanziert und fügte seiner Geste nach einer kurzen Pause hinzu: »Ja, das habe ich verstanden. Hier läuft alles auf rechtsstaatlicher Grundlage, denn wir sind ja im demokratischen Berlin.«

Lothar Ottmann fand, dass diese letzte Bemerkung gut in eine Dienstversammlung der Deutschen Volkspolizei passte, aber welche Rolle sie hier in diesem Stück spielen sollte, konnte er nur vermuten.

»Seit wann sind Sie denn verheiratet?«

»Seit dem 25. Oktober 1961. Meine Frau ist vier Jahre älter. Als wir heirateten, brachte sie ein Kind mit in die Ehe. Das ist meine jetzt vermisste Stieftochter Monika. Meiner Kenntnis nach ist der Vater ein gewisser Arthur Beinhauer, der in Westberlin am Vinetaplatz wohnt. Das ist am Gesundbrunnen.«

»Woher wissen Sie denn, dass der Vinetaplatz am Gesundbrunnen liegt?«

»Ich hatte dem Kollegen ja schon gesagt, dass wir bis November 1963 in Westberlin in der Swinemünder Straße gewohnt haben. Dann kamen wir in die Hauptstadt der DDR, ich als Rückkehrer und meine Frau als Neuzuziehende. Wir waren zuerst im Aufnahmeheim Blankenfelde und anschließend im Bezirkswohnheim Rennbahnstraße. Seit dem 25. Februar haben wir jetzt diese Wohnung in der Pettenkoferstraße im Friedrichshain.«

»Haben Sie auch gemeinsame Kinder?«

»Ja, drei. Zwei sind leider verstorben. Andrea, im März 1962 geboren, verstarb zu Hause, an einer akuten Darm- und Mageninfektion; Michael, im Februar 1964 geboren, starb auch zu Hause an Speisebreiaspiration. So ist uns leider nur Christoph übriggeblieben, der jetzt fast zwei Jahre alt ist.«

Lothar Ottmann stutzte. Was ist denn bloß in dieser Familie passiert? Er hatte einmal in einer Zeitung gelesen, dass alles Unglück dieser Welt daher rührt, dass die Menschen nicht in ihren Wohnungen blieben. Das war vielleicht ein wirklich kluger Gedanke, aber unter dem Maßstab dessen, was der Zeuge Steeger jetzt berichtete, wird diese Aussage dadurch, dass die Kleinen die Wohnung gar nicht verlassen haben, ad acta gelegt.

»Das tut mir aber sehr leid«, meinte Ottmann etwas gerührt. »Aber, um zu einem anderen Thema zu kommen, welcher Beschäftigung gehen Sie zurzeit nach?«

»Seit Oktober 1964 beim VEB Bauhof in Pankow. Davor war ich Maschinenarbeiter im BMHW in Niederschöneweide, das sind die VEB Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerke. Jetzt bin ich aber arbeitsunfähig geschrieben, da ich seit längerer Zeit starke Kopfschmerzen habe. Meine Frau arbeitet nicht, sie ist Hausfrau.«

»Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Ihrer Stieftochter? Was ist das für ein Kind? Besteht die Möglichkeit, dass sie mit einer fremden Person mitgegangen ist?«

»Sie hört einfach nicht. Sie ist verspielt und bummelt viel herum, wenn sie zum Beispiel von meiner Frau zum Einholen geschickt wird. In der Schule gibt’s ebenfalls Schwierigkeiten. Auch dort kommt sie zu spät, obwohl sie pünktlich die Wohnung verlassen hatte. In der Schule hat sie in der letzten Zeit den Unterricht gestört. Ich kann aber sagen, dass sich Monika nie, wie es jetzt der Fall ist, umhergetrieben hat. Ab Mittwoch dieser Woche hatte ich sie in der Schule entschuldigt, da sie Durchfall mit Erbrechen und Bauchschmerzen hatte. Beim Arzt waren wir aber nicht, denn so etwas ging bei ihr immer schnell von alleine weg. Und was wollten Sie noch wissen?«

»Geht sie mit fremden Personen mit?«

»Soweit ich die Monika einschätze, geht sie nur mit Personen mit, die ihr irgendwie bekannt sind. Ich glaube kaum, dass sie mit fremden Leuten mitgehen würde, mit solchen, die sie einfach auf der Straße angesprochen haben. – Ach so, der Genosse im Revier hatte ja gesagt, dass es gut wäre, wenn ich ein Bild von Monika mitnehmen würde.«

Walter Steeger kramte reichlich umständlich in seiner Manteltasche, fand dann endlich das Bild und überreichte es dem Kriminalisten. Es steckte sogar in einem Briefumschlag.

Dann schilderte er den Ablauf des gestrigen Tages, als seine Stieftochter Monika verschwand. Für den Kriminalisten war neu, dass sich die Familie, also die Eltern und die beiden Kinder, bis 14.30 Uhr in der Wohnung aufgehalten hatte. Um diese Zeit verließ Walter Steeger die Wohnung mit einem Kohlensack unter dem Arm, weil er Braunkohlenbriketts holen wollte. Abweichend davon suchte er jedoch die Gaststätte Zum Bären auf, da er Appetit auf ein Bier verspürte. Bis circa 17.30 Uhr trank er acht helle Bier. Weiteren Alkohol nahm er nicht zu sich, denn er sei kein Schnapstrinker. Was er nicht wusste: Seine Frau hatte Monika zweimal geschickt, um zu sehen, wo er war, und sie konnte zweimal stolz berichten, dass er in der Gaststätte (immer noch) Bier trinkt. Ob des vielen Alkohols trotz Krankschreibung vergaß er die Braunkohlenbriketts und sogar den Kohlensack in der Kneipe – er behauptete sogar, keine Kohlen mehr bekommen zu haben, was zu einer heftigen Auseinandersetzung mit seiner Frau führte. Sie hatten »einen kleinen Ehekrach, ohne dass es zu Tätlichkeiten kam«.

Neu war auch die Information, dass der Zeuge, nachdem er Monika am Forckenbeckplatz partout nicht finden konnte, die Eldenaer Straße entlangging und so auf verschlungenen Wegen zur Karl-Marx-Allee kam. Plötzlich stand er vor dem berühmten Café Warschau; wie er dort genau hingekommen war, wusste Walter Steeger nicht mehr. Er lief wie in Trance und fuhr dann mit einem der am nahe gelegenen Halteplatz wartenden Taxis der Marke Moskwitsch nach Hause, denn er nahm an, dass Monika inzwischen dort wieder eingetroffen war. Die Fahrt in die Pettenkoferstraße kostete 3,50 MDN (Mark der Deutschen Notenbank, wie die DDR-Währung zu diesem Zeitpunkt hieß). Dem Fahrer gab er 50 Pfennige Trinkgeld. Gegen 19.30 Uhr war er dann wieder in seiner Wohnung, aber er fand das Kind nicht vor.

Die Vorgeschichte ist dem Leser bereits bekannt: Michaela Steeger hatte beabsichtigt, Eier zu braten, und Monika in die HO-Schlächterei in der Bänschstraße geschickt, um dort etwas Speck einzukaufen …

Die Zeugenvernehmung endete um 21.35 Uhr. Laut Protokoll. Lothar Ottmann wünschte Walter Steeger noch einen guten Nachhauseweg und geleitete ihn zur Tür. Der Kriminalist empfand das Lächeln des Zeugen in diesem Moment als zynisch.

»Ach so«, fiel dem Kriminalisten scheinbar beiläufig noch ein, »ich wollte noch fragen: Haben Sie Ihre Stieftochter umgebracht?«