Polizistenmorde - Remo Kroll - E-Book

Polizistenmorde E-Book

Remo Kroll

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Beschreibung

Am 13. April 1972 verrichtet der Abschnittsbevollmächtigte Karl L. in seinem beschaulichen Heimatstädtchen seinen alltäglichen Dienst. Als er einen auffälligen Bürger zur Ordnung ruft, wird ihm das zum tödlichen Verhängnis. In der Nacht des 15. Februar 1973 wird der im Streifendienst befindliche Hauptwachtmeister Manfred B. in Berlin-Buch von hinten überfahren und getötet. Der Täter flüchtet, nachdem er dem Polizisten seine Dienstwaffe mit 16 Schuss Munition entwendet hat. Mit einer Maschinenpistole "Kalaschnikow" wird am 15. Januar 1981 der Volkspolizist Gerhard G. in Leipzig erschossen. Die Waffe stammt von einem Posten der NVA. Gegen 22.30 Uhr wird am 21. September 1982 der Schutzpolizist Lutz L. in einem Innenhof in Berlin-Pankow leblos aufgefunden. An seinem Körper werden 14 Stich- und eine Schnittverletzung entdeckt. Vom Täter sowie von der Dienstwaffe des getöteten Polizisten fehlt zunächst jede Spur. Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich schlagen ein bisher unbekanntes Kapitel der DDR-Kriminalgeschichte auf: heimtückische Morde an Angehörigen der Deutschen Volkspolizei. Auf Basis der originalen Akten rekonstruiert das erfolgreiche Autorenduo die realen Tathergänge und lässt die Leser minutiös und mitreißend an der Spurensuche und Aufklärung teilhaben. Gelingt es den Ermittlern, die Schlinge um den Hals der Täter zu legen?

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Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

Polizistenmorde

Vier authentische Kriminalfälle aus der DDR

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-780-8

1. Auflage

© 2019 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © photopsist (Einschusslöcher);

Autorenmaterial (Auto)

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Vorwort

Unser neues Buch schlägt ein bisher unbekanntes Kapitel der DDR-Kriminalgeschichte auf: heimtückische Morde an Angehörigen der Deutschen Volkspolizei. Auf Basis der originalen Akten rekonstruieren wir die realen Tathergänge und schildern minutiös die kriminalistischen Untersuchungen, die Spurensuche und -sicherung sowie die Befragungen und Vernehmungen. Jedoch nur zwei der insgesamt vier hier dargestellten Verbrechen konnten aufgeklärt, zwei Mörder ermittelt werden. In den anderen beiden Fällen wurde der Täter nie gefunden. Die Untersuchung dieser Verbrechen mit einem hohen personellen und technischen Aufwand gestaltete sich sehr komplex, kompliziert und intensiv – und war letztlich nicht von Erfolg gekrönt. Aber die Kriminalisten wissen nur zu gut, dass Stärke nicht immer mit Siegen einhergeht. Es sind nicht die Erfolge, aus denen man lernen muss, sondern die Niederlagen. Auch deshalb dieses Buch.

Zum Handwerkszeug eines guten und kreativen Ermittlers gehört auf der ganzen Welt, einen Fall aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Aber diese beiden nicht aufgeklärten Verbrechen an Volkspolizisten beweisen, dass zuweilen sehr gut ausgebildete und erfahrene Kriminalisten, auch vom Ermittlungsdruck beherrscht, diese Grundregel außer Acht lassen können und sich plötzlich dort befinden, wo sie eigentlich nicht sein sollten: auf der anderen Seite, wo es falsche Verdächtigungen, unrichtige Geständnisse und Spuren gibt, die gar keine sind. Den Kriminalisten muss aber zugutegehalten werden, dass sie nach umfangreichen Analysen erkannt haben, dass die Verdachtsmomente nicht ausreichen. So wurde zum Beispiel das Ermittlungsverfahren gegen Olaf Rühmer wegen Verdachts des Mordes an Hauptwachtmeister Lutz Lawrenz in der Trelleborger Straße in Berlin-Pankow von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin gemäß Paragraph 148 Absatz 1 Ziffer 1 StPO der DDR eingestellt, weil sich die Beschuldigung oder der Verdacht einer Straftat nicht als begründet erwiesen hatte. Die geführten Untersuchungen gegen Olaf Rühmer erbrachten keinerlei Beweistatsachen für seine Täterschaft. Das war ein später Sieg des Rechts.

Die Namen der Täter und Zeugen sowie einige Handlungsorte haben wir aus personenrechtlichen Gründen verändert. Für die neu erfundenen Namen erklären Verlag und Autoren, dass Personen mit diesen Namen in den behandelten vier authentischen Kriminalfällen niemals existiert oder agiert haben. Etwaige Übereinstimmungen sind rein zufällig.

Eine Ausnahme bilden die Namen der ermordeten Volkspolizisten: Karl Lindner, Manfred Biernaczyk, Gerhard Gergaut und Lutz Lawrenz. Wir haben uns trotz einiger Bedenken entschlossen, die Opfer mit Vor- und Nachnamen zu nennen – wie andere Autoren vor uns, die über wahre Kriminalfälle berichteten. Man sollte den ermordeten Volkspolizisten die Ehrbezeugung nicht durch eine Anonymität nehmen.

Zitate aus den Originaldokumenten, zum Beispiel aus Gutachten und Vernehmungsprotokollen, sind wie die dazugehörige Dokumentenquelle in einigen Fällen kursiv gesetzt, insbesondere dann, wenn es sich um längere Texte handelt. Dadurch ist im Sinne einer besseren Lesbarkeit auf den ersten Blick sichtbar, welche Details und Aussagen zitiert wurden. Auslassungen in den Dokumenten sind durch (…) gekennzeichnet. Die Abbildungen haben wir den Akten der BStU entnommen.

Wir danken allen sehr herzlich, die unser Projekt engagiert unterstützt haben, an erster Stelle Frau Christel Brandt von der BStU für die Bereitstellung der Akten.

Oft werden wir gefragt, warum wir so alte Geschichten neu erzählen. Die Antwort ist relativ einfach: Als sie passierten, waren es eben keine »alten Geschichten«, sondern solche, in denen Menschen zu Tode gekommen waren und die Angehörigen Wunden davontrugen, mit welchen sie fortan leben mussten. Wir widmen dieses Buch deshalb den Opfern und ihren Familienangehörigen und haben den Wunsch, dass diese blutigen Taten und die Umstände ihrer versuchten oder geglückten Aufklärung niemals vergessen werden.

Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

Zwei Pistolenschüsse

Seehausen/Börde. Sonntag, 13. Februar 1972

Der Kriminalfall, über den wir berichten wollen, ereignete sich in der DDR vor über 47 Jahren in Seehausen, Kreis Wanzleben, westlich der Bezirksstadt Magdeburg. Heute ist die Stadt Seehausen mit ungefähr 1.800 Einwohnern ein Ortsteil der Stadt Wanzleben-Börde im Landkreis Börde, Bundesland Sachsen-Anhalt. Der westlich gelegene kleine See hat der Stadt ihren Namen gegeben.

Im Februar 1972 war die Bevölkerung dieser Kleinstadt und der gesamten Umgebung in Angst und Schrecken versetzt. Einige vertraten sogar die Meinung, dass man einen Galgen auf dem Marktplatz aufstellen und den Verbrecher hängen sollte – dann wüssten die Menschen wenigstens, dass dieser keinen mehr gefährden könnte. »Man sollte ihn sofort erschießen, dieses Schwein«, meinte ein anderer. »Das sind ja Zustände wie im Westen«, sagte eine BRD-Bürgerin, die in Seehausen zu Besuch war. »Wenn die alle im Osten noch Waffen hätten, dann würden auch die DDR-Bürger nur so um sich schießen.«

Doch damit nicht genug. Unter den Freiwilligen Helfern der VP kursierte die Auffassung, dass das Opfer noch hätte leben können, wenn man den Verbrecher damals eingesperrt hätte, als er dem Hoge die Waffe entwendete. Und auch Hoge hatte die Kriminalisten mehrfach eindringlich gewarnt: »Schafft den hinter Gitter, bevor noch Schlimmeres passiert!« Und es war passiert!

Als die Gerüchte um den Mord in Seehausen die Runde machten, verbot eine Mutter ihrem zwanzigjährigen Sohn, am Montag zur Arbeit zu gehen; der Mörder würde auch ihn rücksichtslos umlegen. Zu den Gerüchten gehörte auch, dass ein Lehrer angeschossen worden wäre; die Verwandten fuhren sogleich zu seiner Wohnung, um sich zu überzeugen, dass ihm nichts passiert sei. Was denn auch so war.

Jedenfalls war das Mordopfer, der ABV, Unterleutnant der VP Karl Lindner, beliebt und genoss großes Ansehen im Ort. Übereinstimmend äußerten die Seehausener den Wunsch, den Mörder alsbald zu fassen; sonst hätten sie gar keine Ruhe mehr. Und es wurde auch thematisiert, dass Jatzek, so hieß der rasch ermittelte Täter, 1970 wegen eines Selbstmordversuchs in der Psychiatrie in Haldensleben gewesen war. Er hatte Mädchen und junge Frauen mit einem Taschenmesser bedroht; nach seiner Ausnüchterung hatte er versucht, sich zu erhängen. Als er nach Seehausen zurückgekehrt war, sagte er in seinem Betrieb: »Den Lindner bringe ich einmal um!« Warum hatte das keiner ernst genommen? Warum hatte man ihn nicht in Haldensleben gelassen? Denn Jatzek war nur zu trauen, wenn man ihn vor sich hatte, aber nicht, wenn er hinter einem stand …

Im Betrieb von Jatzek, dem VEB Hydraulik Seehausen, kochte es. Die Gesetze sind zu lasch, viel zu human für einen solchen Gewaltverbrecher, den hätte man früher schon einsperren müssen. Er soll sich ja nicht wieder in Seehausen blicken lassen, wir schlagen ihn tot. Wir wollten ja sowieso mit ihm nichts zu tun haben. Es wurde großes Unverständnis geäußert, warum der ABV Lindner überhaupt zu Jatzek ging, denn er wusste doch, dass dieser zu Tätlichkeiten neigte. Wenn Jatzek nicht bestraft würde, gäbe es einen Aufstand!

Einige Bürger Seehausens hatten am Sonntag, den 13. Februar 1972, nach Bekanntwerden des Vorkommnisses ihre Häuser und Höfe verschlossen.

Es herrschte also Wut und Angst. Doch was war konkret geschehen am Sonntag, den 13. Februar 1972, in diesem ansonsten friedlichen und beschaulichen Seehausen, in dem auch Klaus Jatzek wohnte? Wir werden darauf zurückkommen, erst einmal die Vorgeschichte.

Ein Jahr zuvor, am 21. Februar 1971, besuchte Klaus Jatzek die Gaststätte Deutscher Hof in Seehausen, Breiter Weg 23. Unter Alkoholeinfluss kam es zu einer Ausein­andersetzung zwischen ihm und den Gaststättenleiter Fritz Havermann, was dem ABV von Seehausen, Unterleutnant der VP Hoge, angezeigt wurde. In der Anzeige können wir lesen, dass der Gastwirt von Klaus Jatzek durch mehrere Fußtritte verletzt wurde; das Opfer wurde wegen Prellungen arbeitsunfähig geschrieben. »Als Klaus Jatzek«, schrieb der ABV, »mit der Gasherdplatte, dem Kartoffelstampfer und dem Messer nichts mehr versehen konnte und dieses durch Havermann verhindert wurde, trat Klaus Jatzek um sich. In drei Fällen traf er den Havermann, so dass er einmal gegen den Kühlschrank, ein zweites Mal gegen das Waschbecken und ein drittes Mal gegen das Kastenschloss der Küchentür fiel.« Die Kriminalpolizei in Wanzleben ermittelte gegen den Farbspritzer Klaus Jatzek, geboren 1949, beschäftigt im VEB Hydraulik Seehausen, wegen Körperverletzung gemäß Paragraph 115 StGB der DDR. Das abgeschlossene Verfahren wurde dem Kreisstaatsanwalt in Wanzleben übergeben. Da Jatzek von 1968 bis 1970 Angehöriger der NVA war, informierte man auch das Wehrkreiskommando Wanzleben.

Der die Untersuchung führende Kriminalist war Oberleutnant der K Duckstein, und es sollte nicht seine letzte Beschäftigung mit dem Bürger Jatzek sein. Am 28. Dezember 1971 meldete der andere Seehausener ABV, Unterleutnant der VP Lindner, wieder ein paar Vorkommnisse zur Kriminalpolizei nach Wanzleben. Jatzek hatte im betrunkenen Zustand mit dem Luftgewehr auf Menschen geschossen und auch auf fahrende Pkw Zielschüsse abgegeben. Alkoholisiert überfiel er einen Bürger in der dunklen Poststraße. Seine Eltern, bei denen er wohnte, und seinen Bruder vertrieb er unter Alkoholeinfluss und mit dem Luftgewehr mehrfach aus ihrer Wohnung, die sie fluchtartig verlassen mussten. Er würgte zwei Rentnerinnen aus Seehausen und schlug ihnen ins Gesicht. Er versuchte sogar, stark betrunken, einen Angehörigen der VP, nämlich Hoge, zu entwaffnen, in der staatlichen Arztpraxis bedrohte er den Arzt und die zur Hilfe gerufenen Volkspolizisten mit zwei Scheren und einer Nagelfeile. Und so weiter. Oberleutnant Duckstein führte daraufhin am 29. Dezember 1971 ein Gespräch mit dem Übeltäter, in dem dieser erklärte, dass er Alkoholiker sei und die »Ausraster« auf den übermäßigen Alkoholgenuss zurückzuführen wären. Duckstein ermahnte ihn, den Alkoholkonsum einzuschränken und sich in der Zukunft ordnungsgemäß zu verhalten – was Jatzek erstaunlicherweise in vollem Umfang akzeptierte.

Aber schon im Januar 1972 und am 12. Februar 1972 konsumierte Klaus Jatzek in der HO-Gaststätte Ratskeller in Seehausen erneut größere Mengen Alkohol. Mit drei Männern kam es gegen 24 Uhr zu einem Streit aus nichtigem Anlass – und zu einer tätlichen Auseinandersetzung, bei der Jatzek einem Mann die Jacke zerriss. Kurz nach Mitternacht klingelte der Geschädigte beim ABV Lindner und erstattete Anzeige gegen Jatzek wegen Sachbeschädigung.

Am darauffolgenden Vormittag gegen 10.30 Uhr suchte Lindner Jatzek in der elterlichen Wohnung auf und wies ihn darauf hin, dass gegen ihn eine Anzeige erstattet worden ist. Es kam zu einer Auseinandersetzung, Lindner wurde niedergeschlagen. Er rief um Hilfe, und die Mutter kam ins Zimmer gestürmt und verfolgte das Geschehen. Jatzek entwendete dem am Boden liegenden ABV die Dienstwaffe gewaltsam; dabei wurde die Fangschnur der Pistole, die am Koppel des ABV befestigt war, zerrissen. Aufgrund des Hilferufs von Lindner strömten weitere Hausbewohner herbei, Jatzek gab zwei Schüsse auf den am Boden liegenden Lindner ab und flüchtete mit gezogener Pistole aus der Wohnung. Um 11.05 Uhr teilte Herr Kleiner, gleiche Anschrift wie Jatzek, über VP-Notruf mit, dass sich der ABV Lindner in der Wohnung von Jatzek befindet und dort zwei Schüsse gefallen sind. Sie trauen sich nicht mehr aus der Wohnung.

Unterleutnant der VP Hoge wurde daraufhin umgehend zum Wohnsitz des Jatzek geschickt. Schon um 11.13 Uhr teilte Hoge mit, dass Lindner in der Wohnung tot aufgefunden wurde und Jatzek mit der Waffe flüchtig ist. Hoge übernahm die Sicherung des Tatorts.

Nach dem Überfall auf den ABV, der, wie wir jetzt wissen, sofort angezeigt worden war, wurde er von der Kreisdienststelle (KD) Wanzleben des MfS in einer telefonischen Vorausmeldung dem Operativen Diensthabenden (OpD) der Bezirksverwaltung (BV) Magdeburg mitgeteilt. Der Leiter der KD, Major Bog, schickte unter der Tagebuchnummer 233/72 am 13. Februar 1972 um 13.25 Uhr noch eine Ergänzung an verschiedene Dienststellen des MfS. Darin werden die ersten wesentlichen Erkenntnisse zum Tathergang und zur Flucht von Klaus Jatzek zusammengefasst, ebenso in einem Abschlussbericht zum Fahndungseinsatz vom Leiter des Volkspolizeikreisamts (VPKA) Wanzleben, Major Schulze, auch vom 13. Februar 1972.

Auf der Flucht habe der Jatzek dem Bürger Otto Schrelle in Dreileben, Kolonie, unter Anwendung der Schusswaffe ein Krad vom Typ ES 150 Kubikzentimeter, Farbe schwarz, polizeiliches Kennzeichen HT 14-58, entwendet. Dabei gab Jatzek auf Schrelle einen Schuss ab, ohne ihn aber zu verletzen. Letztmalig wurde Jatzek gegen 11.30 Uhr in Dreileben, Kreis Wanzleben, gesehen. Der Tankinhalt des Kraftrads betrug circa drei bis vier Liter.

Die Untersuchungsgruppe der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (BVfS) Magdeburg (Untersuchungsorgan), bestehend aus einem Untersucher, Oberleutnant Sklarek, und einem Sachkundigen für Spurensuche und -sicherung, Oberleutnant Krause, traf am 13. Februar 1972 um 13.55 Uhr in Seehausen ein; die Tatortuntersuchung begann um 14.35 Uhr, teilweise war ein Staatsanwalt zugegen. Angehörige der Kriminalpolizei sicherten den Tatort. Vor dem Eintreffen der Untersuchungsgruppe hatten nur ein Arzt zur Feststellung des Todes und ein Angehöriger der Deutschen Volkspolizei (DVP), der das Vorhandensein von Waffe und Munition prüfte, Zutritt zur Wohnung erhalten. Nach Beendigung der Tatbestandaufnahme wurde die Leiche des ABV zur Medizinischen Akademie Magdeburg, Abteilung Gerichtliche Medizin, überführt. Die Tatortuntersuchung schlossen die Kriminalisten am 13. Februar 1972 um 17.30 Uhr ab.

Der Arzt, der um 16.20 Uhr den Totenschein ausstellte, war H. Bock, Facharzt für Allgemeinmedizin, vom Landambulatorium Eilsleben. Als Todesursache nannte er »Tod durch Erschießen«, eventuell mit der Verletzung der Bauchaorta. Er beantragte die Autopsie in der Gerichtsmedizin Magdeburg.

Nach Bekanntwerden der Verbrechen von Klaus Jatzek war um 12.30 Uhr eine Großfahndung beziehungsweise eine Eilfahndung Stufe I und II durch den Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Magdeburg eingeleitet worden; das Fernschreiben ging auch an die BV des MfS Magdeburg und an die NVA, Kommando Nord Kalbe/Milde. Gefahndet wurde nicht nur nach Jatzek, sondern auch nach dem entwendeten Motorrad mit dem polizeilichen Kennzeichen HT 14-58.

Ein Bericht über den Fluchtweg von Jatzek nach der Tötung von Karl Lindner von der BVfS Magdeburg, Untersuchungsorgan, vom 30. Mai 1972 lässt uns in einer Kurzfassung erahnen, was wirklich wann und wo passiert ist, zumal auch Kartenmaterial beigefügt war. Die im Bericht angegebenen Ziffern finden sich auf den beiden Karten:

Am 13. Februar 1972 gegen 11 Uhr hatte der ABV Karl Lindner Klaus Jatzek an seinem Wohnort aufgesucht, um einen Sachverhalt mit ihm zu klären. Bei diesem Zusammentreffen schlug Jatzek den ABV nieder, entwendete ihm seine Dienstwaffe und tötete ihn durch zwei Schüsse vorsätzlich. (1)

Nach diesem Verbrechen verließ Jatzek gegen 11.15 Uhr unter Mitnahme der Pistole und Munition aus dem Reservemagazin des ABV die Wohnung. Zu Fuß begab er sich vom Breiten Weg 19 über die Karl-Liebknecht-Straße zur Nebenstraße Am Grauen Tor und zu den am Ortsrand von Seehausen in Richtung Dreileben befindlichen Neubauten. Von hier ab benutzte er einen Pfad und gelangte nach Überqueren der Bahnlinie Eilsleben–Wanzleben auf einen dort verlaufenden Feldweg, der in nordöstlicher Richtung auf die Landstraße Seehausen–Dreileben führt. Auf dieser Straße ging Jatzek bis zu einer 1,7 Kilometer vor Dreileben befindlichen Rechtskurve, in der ein Feldweg beginnt, der in gerader Richtung nach 1,4 Kilometern in eine Betonstraße der Wohnsiedlung Kolonie des Ortes Dreileben übergeht. Hier traf Jatzek gegen 11.45 Uhr auf den in der Kolonie wohnenden Otto Schrelle. (2)

Dem Bürger Otto Schrelle entwendete er nach circa fünf bis sieben Minuten Aufenthalt unter Anwendung der Schusswaffe ein Motorrad Typ »ES 150 ccm« und fuhr damit auf der Betonstraße, die von der Wohnsiedlung Kolonie in den Ort führt, nach Dreileben. Hier unterbrach er in der Hauptstraße 23 (3) für circa zwei bis drei Minuten seine Flucht und lieh sich von der dort wohnenden Hannelore Munter einen Sturzhelm, um bei der weiteren Fahrt keiner Streife der Deutschen Volkspolizei aufzufallen. Gegen 12 Uhr setzte er von Dreileben aus seine Flucht über Bergen nach Groß-Rodensleben fort. Etwa einen Kilometer vor Groß-Rodensleben (4) hatte Jatzke für circa zwei bis drei Minuten die Fahrt unterbrochen, um seine Notdurft zu verrichten und den Sturzhelm festzuziehen. Danach fuhr er über Klein-Rodensleben, Niederndodeleben, Irxleben in Richtung Olvenstedt weiter. Ungefähr einen Kilometer vor Olvenstedt (5) hielt Jatzek erneut für circa zwei Minuten an, um abermals den Sturzhelm festzuziehen. Sein weiterer Weg führte dann nach Magdeburg über Olvenstedter Platz, Wilhelm-Pieck-Allee, Jakobstraße, Walter-Rathenau-Straße, Berliner Chaussee zur Stadtgrenze. Er fuhr danach über Biederitz, Gerwisch, Möser bis zur Autobahnauffahrt Burg bei Schermen. Hier fuhr er gegen 13 Uhr auf die Autobahn in Fahrtrichtung Berlin und stellte das Motorrad circa 20 Meter hinter der Auffahrt auf der Autobahn am Fahrbahnrand ab. (6) Der Grund des Stopps war, dass er abermals seine Notdurft verrichten musste. Sonst wäre er so weit gefahren, wie der Tank des Motorrads gereicht hätte.

Nach Verrichtung der Notdurft hatte er sich noch circa 20 Minuten in dem an der Autobahn befindlichen Wald aufgehalten und ging dann zu einem circa 500 Meter entfernt liegenden Grundstück der Gemeinde Schermen, Karlshof. (7) Hier traf er gegen 13.30 Uhr auf den Zeugen Klaus-Dieter Neunauge und hielt sich bis 13.50 Uhr bei ihm auf. Anschließend begab sich Neunauge mit dem Jatzek zum an der Autobahn abgestellten Motorrad, und beide fuhren damit zum ABV Krüger in Schermen, wo gegen 14 Uhr die Festnahme Jatzeks erfolgte. (8)

Die durch Jatzek von Dreileben bis zur Autobahnauffahrt Burg bei Schermen befahrene Strecke betrug 50 Kilometer. Er sagte später aus, dass er beim Durchfahren von Ortschaften die Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde eingehalten habe. Außerhalb der Ortschaften fuhr er mit einer Geschwindigkeit von 90 bis 100 Kilometern pro Stunde.

Fluchtweg von Jatzek IDie Ziffern im vorstehenden Text verweisen auf die Orte.

Fluchtweg von Jatzek IIDie Ziffern im vorstehenden Text verweisen auf die Orte.

Täterfoto Klaus Jatzek

Die weiteren Ermittlungen führte die Untersuchungsabteilung der BV des MfS Magdeburg. Am 13. Februar 1972 wurde gemäß Paragraph 98 der StPO der DDR gegen Klaus Jatzek ein Ermittlungsverfahren verfügt, der des individuellen Terrors im schweren Fall tateinheitlich mit Mord dringend verdächtig war. Die Verfügung wurde allerdings am 23. Juni 1972 inhaltlich verändert: »Der Beschuldigte Jatzek ist des Unternehmens des Terrors dringend verdächtig, indem er am 13. Februar 1972 nach der vorsätzlichen Tötung eines Offiziers der DVP dessen Schusswaffe an sich nahm mit dem Ziel, mittels Waffengewalt die Staatsgrenze zur BRD im Abschnitt Ohrsleben, Kreis Oschersleben, zu durch­brechen und dabei Widerstand gegen die dort eingesetzten Grenzsicherungskräfte der NVA zu leisten. Auf seinem Fluchtweg bedrohte der Beschuldigte mit der Waffe die Bürger Otto und Erika Schrelle, wandte sie gegen die Genannten, indem er aus der Tasche seines Anoraks einen Schuss in Richtung der beiden Personen abgab, um sich widerrechtlich in den Besitz eines Motorrades für seine weitere Flucht zu setzen. Den Bürger Tietze bedrohte er dabei mit der Waffe in der Absicht, auf diesen zu schießen, falls er an seiner weiteren Flucht gehindert werden sollte.« Als Untersuchungsführer benannte man Leutnant Möbius. Am 5. Juli 1972 teilte dieser Jatzek mit, dass das Ermittlungsverfahren erweitert worden und er nun des Unternehmens des Terrors an der Staatsgrenze der DDR dringend verdächtig sei (Paragraph 101 Absatz 1 StGB).

Klaus Jatzek war am 13. Februar 1972 in die Untersuchungshaftanstalt Magdeburg Neustadt eingeliefert worden. Der Staatsanwalt des Bezirks Magdeburg beantragte am 14. Februar 1972 bei der Strafkammer des Kreisgerichts Magdeburg einen Haftbefehl, der noch am gleichen Tag vom Kreisgericht Magdeburg-Süd mit dem Aktenzeichen I/4/72 erlassen wurde. Handschriftlich vermerkte jemand auf dem Dokument: »Der genannte Tatverdacht beruht auf Geständnis des Beschuldigten.«

Am 14. Februar 1972 um 13.15 Uhr ergänzte Oberärztin Dr. med. Margot Laufer, Fachärztin für Gerichtliche Medizin, von der Abteilung Gerichtliche Medizin des Pathologischen Instituts der Medizinischen Akademie Magdeburg den Totenschein. Als sichere Todesursache benannte sie eine Schussverletzung des Bauches.

Die Obduktion hatten OMR Prof. Dr. Friedrich Wolff und Oberärztin Dr. med. Margot Laufer in ebendiesem Institut durchgeführt, und zwar in der Zeit von 11 bis 20 Uhr – mit einer zweistündigen Unterbrechung.

Im Leichenöffnungsbericht vom 14. Februar 1972 gingen die Obduzenten davon aus, dass der Tod nach zweimaliger Schussverletzung des Bauches mit Durch- und Steckschuss infolge Verblutung eingetreten ist.

Zum ersten Schuss: »Nach der relativ großen Schuss­öffnung mit dem breiten Schürfsaum muss das Geschoss verkantet, offenbar als Querschläger, eingedrungen sein und ist links im 4. Lendenwirbelkörper mit der Spitze nach unten liegen geblieben. (…) Das im Wirbelkörper vorgefundene Projektil besaß ein Kaliber von 9 mm und zeigte eine deutliche bogenförmige Schrammung. Diese ist entstanden durch einen tangentialen Aufschlag auf Metall vor Eintritt in den Körper. Dadurch ist auch die Verkantung der Geschosslängsachse zustande gekommen.«

Der zweite Schuss, der Bauchdurchschuss, erfolgte von hinten nach vorn. Beim Ausziehen der eng anliegenden Bluse des Opfers fiel das noch fehlende Projektil Kaliber 9 mm auf den Tisch. Im Bereich der Schussstelle des Rückens wies die gesamte Bekleidung in gleicher Höhe ein Schussloch auf.

Nach den vitalen Reaktionen sind beide Schüsse relativ kurze Zeit hintereinander abgegeben worden und »betrafen jeweils einen lebenden Organismus, d. h. mit noch intakten Lebensfunktionen«. Der Steckschuss hatte nicht unmittelbar lebenswichtige Organe verletzt. Es war zwar zu Darm- und Magenverletzungen gekommen, »sie haben doch die Handlungsfähigkeit nicht unmittelbar und sofort eingeschränkt, so dass dem Geschädigten noch bestimmte Handlungen möglich waren, einschließlich der Fortbewegung. Der Durchschuss betraf die Wirbelsäule mit Verletzung des Rückenmarks und eine Eröffnung der Bauchschlagader an der Teilungsstelle in die gemeinsamen Beckenschlag­adern. Abgesehen von den übrigen noch entstandenen Verletzungen war die Läsion der Wirbelsäule durchaus geeignet, einen sofortigen Zusammenbruch mit Hinstürzen zu verursachen. Infolge des rasch einsetzenden Blutverlustes trat dann binnen weniger Minuten der Tod ein. Von diesen Überlegungen ausgehend, dürfte der Steckschuss der erste gewesen sein – hatte er doch die Lebensfunktion noch eine bestimmte Zeit zugelassen – und der Bauchschuss der zweite.«

Hemdbluse des Getöteten von vorn

Ebenfalls lag aufgrund des Obduktionsbefunds eine zweimalige umschriebene, stumpfe Gewalteinwirkung gegen das Gesicht vor (Schwellung der linken Mundgegend, einschließlich der Lippen und der rechten Kinnseite). Die Gerichtsmediziner erklärten die erhobenen Befunde durch Schläge mit der Faust, die aber mit einer erheblichen Kraft geführt worden waren.

Wie wir aus dem Spurensicherungsprotokoll vom 15. Februar 1972 erfahren, sicherte Oberleutnant Krause vom Untersuchungsorgan der BV Magdeburg noch weitere Spuren als Ergebnis der Obduktion: die beiden gefundenen Projektile, einen kleinen braunen Kunststoffsplitter aus dem Schusskanal und vier weitere Splitter von der Bekleidung, eine kleine Substanzfaser im Schusskanal – zwei Zentimeter tief im Rücken der Leiche –, geringe braune Substanzpartikel von der Stirnpartie der Leiche sowie geringe Substanzfasern von der Stoffdurchtrennung im Vorderteil des Uniformmantels und der Uniformhose. Die Spuren wurden in Glasröhrchen durch Mitnahme gesichert.

Am 29. Februar 1972 wurde das entwendete Motorrad dem Eigentümer Otto Schrelle in Dreileben, Kolonie, zurückgegeben. Es musste alles seine Ordnung haben.

Offen war noch geblieben, wie Jatzek konkret festgenommen werden konnte. Hier lag dem MfS ein Festnahmebericht der Kriminalpolizei des VPKA Burg vom 13. Februar 1972 vor, aus dem interessante Fakten zu erfahren waren, über die Kriminalobermeister Lorenz berichtete.

Danach wurde am 13. Februar 1972 gegen 14 Uhr eine männliche Person durch den Bürger Klaus-Dieter Neunauge dem ABV von Schermen, Unterleutnant der VP Krüger, gebracht. Neunauge erklärte dem ABV, dass dieser Bürger sich stellen will, und verließ daraufhin mit einem Gruß die Wohnung des Volkspolizisten.

Jatzek und Krüger, der überhaupt nicht ahnen konnte, was eigentlich vorgefallen war, gingen in das Dienstzimmer des ABV, das sich mit im Wohnhaus befand. Dort angekommen, bot der Polizist dem Unbekannten keinen Platz an, sondern sagte sehr dienstlich: »Zeigen Sie bitte Ihren Personalausweis!«

»Ich habe keinen, aber ich will mich stellen, wirklich«, sagte Klaus Jatzek.

»Was haben Sie denn angestellt?«

Jatzek wirkte unruhig, zitterte am ganzen Körper, er war aufgeregt, gab keine eindeutigen Antworten. Er griff in die rechte Tasche seiner Dederonkutte, und etwas zögerlich kam in der rechten Hand eine Pistole zum Vorschein, deren Lauf nach unten zeigte. So wollte er wohl andeuten: »Ich werde nicht auf dich schießen.« Die beiden Männer standen sich gegenüber, so dass Krüger nach einer ganz kleinen Schrecksekunde sofort zum Arm von Jatzek griff und ihm die Pistole Marke »Makarow« abnahm. Jatzek leistete keinerlei Widerstand.

Der ABV handelte schnell und richtig. Er entfernte das Magazin aus der Pistole, die entsichert und gespannt war. Jatzek hätte also sofort schießen können, wenn er es gewollt hätte. Der ABV sah auch nach, ob sich noch ein Schuss im Lauf befand, was nicht der Fall war. Im Magazin befanden sich acht Patronen.

»Wo haben Sie die Pistole her?«, wollte Krüger nun wissen, nachdem er innerlich etwas zur Ruhe gekommen war.

»Die habe ich einem Polizisten in Seehausen abgenommen.«

Krüger durchsuchte die Person gründlich; ein weiteres Magazin fand er nicht, nur noch eine einzelne Pa­trone. »Wie heißen Sie denn nun?«

Die Antwort wirkte, als wenn er sie schon oft bei Behörden vorgetragen hatte, etwas militärisch und bürokratisch sogar: »Jatzek, Klaus, geboren am 18. Juni 1949 in Seehausen, wohnhaft in Seehausen, im Kreis Wanzleben.«

»Setzen Sie sich bitte hierhin und rühren Sie sich nicht! Bitte!« Krüger schob ihn unter Beachtung der Eigensicherung auf einen Stuhl und informierte um 14.20 Uhr den Operativen Diensthabenden (OdH) des VPKA Burg über seine vorläufige Festnahme, der Streifenwagen traf schon um 14.30 Uhr ein, dessen Besatzung Jatzek und die Waffe samt Munition zum VPKA Burg brachte. Jatzek wurde danach im VPKA Burg den Mitarbeitern der BVfS Magdeburg übergeben.

Die erste Beschuldigtenvernehmung begann am 13. Februar 1972 um 16.30 Uhr und endete am 14. Februar 1972 um 6.30 Uhr. Aus dem Protokoll erfahren wir nun beweiskräftig, dass Klaus Jatzek von Herbst 1968 bis zum Frühjahr 1970 als Gefreiter/Richtschütze seinen Wehrdienst in der NVA ableistete. Er wurde insgesamt mit fünf Ordnungsstrafen (von Herbst 1968 bis Herbst 1971) belegt; insgesamt hatte er 950 Mark zu zahlen, staatliche Auszeichnungen hatte er nicht bekommen.