Transformationsdesign - Bernd Sommer - E-Book

Transformationsdesign E-Book

Bernd Sommer

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Beschreibung

Was brauchen wir für ein gutes Leben? Was können wir weglassen? Wie können die Ressourcen besser verteilt werden? Von der Beantwortung dieser Fragen wird abhängen, ob es gelingt, die Entwicklung der Menschheit so zu »designen«, dass eine lebenswerte Zukunft für alle möglich ist. Doch was ist zu tun? Unsere Konsummuster zu ändern oder auf alternative Technologien zu setzen, wird nicht reichen; was zur Disposition steht, ist unser komplettes soziales Leben. Wie sich eine »Welt des Weniger« organisieren lässt, dafür hält das Buch ein Bündel an Ideen bereit, von der Gemeinwohlökonomie bis zu den Transition Towns. Es liegt an uns, sie anzuwenden und in lokalen Gemeinschaften zu erproben. Denn nur so lässt sich der Wandel aktiv gestalten und wir müssen nicht fürchten, im Desaster zu enden. »Ein spannendes Buch über Zukunftsvisionen und eine Alternativgesellschaft« (fairkehr).

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Bernd Sommer, Harald Welzer
Transformationsdesign
Wege in einezukunftsfähigeModerne
Transformationen Band 1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© oekom verlag München 2017Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenKorrektorat: Maike SpechtInnenlayout, Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96006-193-9

Vorwort der Herausgeber*innen

Der Stoffwechsel moderner Gesellschaften mit ihrer natürlichen Umwelt ist nicht nachhaltig. Systematisch werden Ökosysteme übernutzt und endliche Ressourcen verbraucht. Die Folgen dieses Raubbaus verändern nicht nur die ökologischen und klimatischen Bedingungen des Erdsystems grundlegend, sondern bedrohen zunehmend die natürlichen Versorgungssysteme menschlicher Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund ist in den vergangenen Jahren zuerst in den Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaften ein neuer Forschungszweig entstanden, der sich mit der Transformation moderner Gesellschaften in Richtung Nachhaltigkeit befasst.
Die vom Norbert Elias Center (NEC) der EuropaUniversität Flensburg herausgegebene Reihe »Transformationen« eröffnet dezidiert sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf sozialökologische Transformationsprozesse. Denn die Theorien, Methoden und bestehenden Wissensbestände der Sozial- und Kulturwissenschaften sind in der Forschung zur Transformation im Kontext der Nachhaltigkeit noch immer unterrepräsentiert. Dies drückt sich nicht zuletzt in der unkritischen Übernahme von Konzepten aus den Natur und Umweltwissenschaften aus, die den gesellschaftlichen Charakter der heutigen Nachhaltigkeitskrise verschleiern. Beispiele hierfür wären das sogenannte »Anthropozän« oder die Rede vom »anthropogenen Klimawandel«. Denn es ist nicht »der Anthropos«, der Mensch als Gattungswesen, für die strukturelle Übernutzung der außermenschlichen Natur verantwortlich. Vielmehr ist die kontinuierliche Übernutzung ökologischer Systeme das Resultat eines bestimmten Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsmodus. Die Charakteristika dieses spezifischen gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur – wie die kapitalistische Wachstumswirtschaft, Hyperkonsum, soziale Beschleunigung oder technische Entwicklung – zu identifizieren, zu verstehen und zu erklären ist originäre Aufgabe der Sozial- und Kulturwissenschaften
Dies ist also das inhaltliche Anliegen der Buchreihe »Transformation«, die ihren Gegenstand im Plural definiert, da wir davon ausgehen, dass es eine einheitliche und synchrone Transformation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse nicht gibt bzw. geben kann; zu heterogen sind im internationalen Vergleich, aber auch innergesellschaftlich, die ökonomischen, kulturellen oder auch energetischen Voraussetzungen für Transformationsprozesse. Daher werden in den Folgejahren in dieser Reihe Forschungsarbeiten veröffentlicht, die die gesellschaftlichen Aspekte zeitgenössischer Umweltveränderungen mit einem sozialwissenschaftlichen Instrumentarium (methodisch und theoretisch) ergründen.
Hinzu kommen Untersuchungen, bei denen die systematische Beschäftigung mit historischen Transformationsprozessen im Vordergrund steht. Denn eine Analyse gesellschaftlicher Veränderungsprozesse in der Vergangenheit erlaubt nicht zuletzt auch Rückschlüsse auf die Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung gesellschaftlichen Wandels. Ein solches Wissen ist unabdingbar für Akteurinnen und Akteure des Wandels, aber auch für eine Transformationsforschung, die nicht gesellschaftstheoretisch naiv und historisch blind sein will.
Bisher sind in der Reihe die folgenden Titel publiziert:
Band 1: Bernd Sommer/Harald Welzer, Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. 2014
Band 2: Annett Entzian, Denn sie tun nicht, was sie wissen. Eine Studie zu ökologischem Bewusstsein und Handeln. 2015
Band 3: Jorit Neubert, Es war ein naturverbundenes Leben … Die Wahrnehmung von Natur und Umwelt im Kontext extremen gesellschaftlichen Wandels in der Volksrepublik China. 2015
Band 4: Martin David/Sophia Schönborn, Die Energiewende als Bottomup Innovation. Wie Pionierprojekte das Energiesystem verändern. 2016
Band 5: Karin Schürmann: Die Stadt als Community of Practice. Potentiale der nachhaltigkeitsorientierten Transformation von Alltagspraktiken. Das Beispiel Seattle. 2016
Wir danken dem oekom verlag für die Zusammenarbeit bei der Herausgabe der Buchreihe sowie der EuropaUniversität Flensburg für die hervorragenden Arbeitsbedingungen, die Publikationsprojekte wie dieses ermöglichen.
Michaela Christ, Bernd Sommer & Harald Welzer

Inhalt

Vorbemerkung
1  Einleitung: Was warum zu transformieren ist
2  By design or by disaster
Klima, Krisen und Knappheiten
Strukturelle Nicht-Nachhaltigkeit und imperiale Lebensweise
Ist eine zukunftsfähige Moderne möglich?
3  Aus der Geschichte lernen? – Transformationen bisher
Große Transformationen: Die Neolithische und die Industrielle Revolution
Abolitionismus
Frauen- und Gleichstellungsbewegungen
4  Green Business as usual – Zur Kritik vorherrschender Transformationsvisionen
Technoides Transformationsverständnis
Schutz durch Inwertsetzung?
Der Mythos vom grünen Wachstum
5  Verflechtungszusammenhänge – Zur Eigendynamik gesellschaftlicher Entwicklungen
Eigenlogik und Ungleichzeitigkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen
Interdependenzen von Sozio- und Psychogenese
Konflikte und Machtverschiebungen im Zuge von Transformationsprozessen
6  Transformationsdesign – Gestaltung von Reduktion
Wie lässt sich eine Kultur des »Weniger« gestalten?
Transformationsdesign setzt nicht bei Produkten an, sondern bei der kulturellen Produktion und Reproduktion
Transformationsdesign als Einübung des Weglassens
Nutzungsinnovationen und die Ästhetik der Reduktion
Reduktive Kunst: Das Beispiel Karin Sander
Reduce, Reuse, Recycle
Interview mit Muck Petzet
Wiederverwenden, Upcycling
Interview mit Friedrich von Borries
Recycling, Open Source und das Toaster-Projekt
Interview mit Stephan Rammler
Transformationsdesign als Lesbarkeit der Geschichte und Herkunft von Produkten
Transformationsdesign als Genealogie zukunftsfähiger Praktiken
Transformationsdesign als Gestaltung von Rückbau und Schrumpfung
7  Heterotopie als Gesellschaftsdesign – Die soziale Organisation des Weniger
Transition Towns
Interview mit Rob Hopkins
Interview mit Uwe Schneidewind
Divestment
Gemeinwohlökonomie
Interview mit Christian Felber
Arbeitszeitverkürzung und Bedingungsloses Grundeinkommen
Interview mit Juliet B. Schor
Commons
Interview mit Kora Kristof
Postwachstumsökonomie
8  Resümee: Pfadwechsel für eine zukunftsfähige Moderne
Zitierte Literatur
Über die Autoren

Vorbemerkung

Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie mal war. Ja, sie scheint kaum mehr zu existieren, was besonders klar wird, wenn man sich daran erinnert, was sie für die westlichen Gesellschaften noch bis vor etwa drei, vier Jahrzehnten war: ein offener Möglichkeitsraum, den Wissenschaft, technischer Fortschritt, Demokratie und soziale Marktwirtschaft stetig weiter erschließen und dabei die Lebensverhältnisse der Menschen schnell und umfassend verbessern würden. Diese Auffassung von einem entschlossen voranschreitenden Fortschritt sucht man heute in den sogenannten frühindustrialisierten Ländern vergeblich. Obwohl sich die Konsumzone beständig ausgeweitet hat, die Kaufkraft rasant gewachsen ist und in Westeuropa seit Jahrzehnten Frieden herrscht, sind Zukunft und ihre Gestaltung keine Kategorie des Politischen mehr. Stattdessen haben sich »internationaler Wettbewerb«, »Wachstum« und unerbittliche »Marktgesetze« an ihre Stelle gesetzt und eine Kultur der schieren Gegenwärtigkeit etabliert.
Dass heute mehr von »Innovationen« die Rede ist als je zuvor, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass eine Kultur ein tief greifendes Problem damit hat, sich zu erneuern. Ein ähnliches Phänomen ist bei »der Nachhaltigkeit« zu beobachten – je mehr man über etwas redet, desto weniger ist es gegeben. Umgekehrt: Über das, was selbstverständlich ist, wird in Gesellschaften nicht gesprochen – insofern steht die ständige Betonung von etwas in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seinem faktischen Vorhandensein. Als noch kaum jemand über »Nachhaltigkeit« oder »Innovationen« gesprochen hat, wie etwa in den westlichen Gesellschaften der 1960er-Jahre, lebte man hinsichtlich des Material- und Energieverbrauchs erheblich nachhaltiger als heute, und zugleich herrschte nicht das Gefühl vor, man existiere in einer unendlich gedehnten Gegenwart, die außer neuen Produkten keine Neuerungen mehr bereithalten würde. Immerhin flog man zu dieser Zeit zum Mond, öffnete die Bildungslandschaft und sorgte dafür, dass auch Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten studieren konnten. Um nur über zwei von unendlich vielen Fortschritten jener Zeit zu sprechen.
Wir verwenden hier den merkwürdig antiquiert scheinenden Begriff des »Fortschritts«, weil es sich dabei um eine kulturell gerichtete Neuerung handelt, die auf eine Verbesserung von Lebensbedingungen zielt, im Unterschied zur »Innovation«, die ja nichts bedeutet als den trivialen Sachverhalt, dass ein neues Produkt oder eine Praxis in irgendeiner Weise anders ist als das/die alte. Ob es besser ist, ob das alte überhaupt erneuerungsbedürftig war, ob man das eine oder das andere überhaupt braucht: Solche Fragen sind einer selbstgenügsamen Innovationskultur gleichgültig. Ihr genügt die Oberflächenveränderung, um die Wachstumswirtschaft weiter in Schwung zu halten und davon abzulenken, dass die zugrunde liegenden Produktions- und Reproduktionsverhältnisse nicht zukunftsfähig sind, weil sie auf Grundlagen basieren, die sie mit immer größerer Geschwindigkeit zerstören.
Die zukunftsvergessene und innovationsversessene Kultur des unbegrenzten Wachsens und Konsumierens ist ein Endzeitphänomen. Eine Gesellschaft, die über ihren Fortbestand angesichts sich dramatisch verändernder Umweltbedingungen nicht nachdenkt, kann nicht fortbestehen. Das heißt: Sie wird unter großen menschlichen Kosten peu á peu zerfallen und im Verlauf dieses Zerfalls ihre Fähigkeit, sich selbst zu transformieren, immer weiter einbüßen. Oder sie wird sich kulturell und sozial erneuern und als eine andere, transformierte, überleben. Wir haben den sperrigen Begriff »Transformationsdesign« für dieses Buch und für unser Center for Transformation Design & Research an der Europa-Universität Flensburg genau deshalb gewählt, weil die Transformation des jetzt dominanten Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturmodells unausweichlich geschieht. Die Frage ist lediglich, ob sie eher von Menschen auf Basis von zivilisatorischen Errungenschaften wie Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gleichheit und Solidarität gestaltet werden kann oder ob sie stärker von den Verhältnissen erzwungen wird; kurz, ob die Transformation »by design or by disaster« erfolgt.
Dabei geht es nicht um eine »Große Transformation«, die sich zeitgleich im globalen Maßstab vollzieht, sondern um eine Kombinatorik unterschiedlichster Technologien, politischer Interventionen und sozialer Praktiken, die sich bewährt haben, mit solchen, die gebraucht werden, um ein zivilisiertes – also demokratisches, freies, sicheres, gesundes, gebildetes – Leben bei einem drastisch verringerten Naturverbrauch führen zu können. Das Projekt einer »reduktiven Moderne«, das damit angesprochen ist, ist tatsächlich neu: Denn bislang lösen moderne Gesellschaften ihre Probleme mit stetiger Aufwandserhöhung – der Ausdifferenzierung in neue Subsysteme und Expertenfunktionen –, nicht mit Reduktion. Daher gibt es keinen Masterplan, wie sich Gesellschaften unseres Typs in eine reduktive Richtung transformieren können. Es lässt sich sogar sagen: Die Kultur der Masterpläne gehört noch der expansiven Moderne an. Da wir heute nicht wissen, wie eine reduktive Moderne aussehen kann und wird, machen wir keine Pläne, sondern wir suchen: nach sozialen und gestalterischen Strategien, die uns helfen, den zivilisatorischen Standard ohne Wachstum, Hyperkonsum und exzessiven Naturverbrauch zu bewahren. Dass dafür nicht eine Transformation im Singular nötig ist, sondern sehr viele sehr unterschiedliche Transformationen erforderlich sind, scheint uns evident. Daher lassen wir auf den folgenden Seiten immer wieder auch Akteurinnen und Akteure zu Wort kommen, die sich in ihren jeweiligen Bereichen auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit einer »transformation by design« beschäftigen. Unseren Gesprächspartnerinnen und -partnern Friedrich von Borries, Christian Felber, Rob Hopkins, Kora Kristof, Muck Petzet, Stephan Rammler, Uwe Schneidewind und Juliet Schor, die mit uns für dieses Buch darüber nachgedacht haben, was »Transformationsdesign« sein könnte und erfordert, danken wir an dieser Stelle sehr. Und ein sehr herzlicher Dank geht an Udo Holtkamp, Julia Lohmann und Karin Sander für die Überlassung von Fotos und Bildrechten!
Für die vielfältige Unterstützung bedanken wir uns darüber hinaus bei einer Reihe von Institutionen und Personen: Da wäre zuallererst die Europa-Universität Flensburg, die die Bereitschaft und den Mut gehabt hat, das Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC) einzurichten, ein Forschungszentrum zu einem Feld, das in der akademischen Landschaft so noch nicht existiert.
Unsere Kolleginnen und Kollegen Michaela Christ, Dana Giesecke, Ulrike Grassinger, Josefa Kny, Jonas Lage, Maximilian Schmies, Luise Tremel und die anderen Mitglieder des Transformationskollegs am NEC haben ebenfalls wichtige Hilfestellungen gegeben. Auch unseren Studierenden in Flensburg gebührt Dank, die mit ihren Fragen und Diskussionen zur Schärfung der Argumentation in diesem Buch beigetragen haben.
Das vorliegende Buch bildet den Auftakt einer Reihe mit dem Titel »Transformationen«, in denen wir Arbeiten dieser und anderer Kolleginnen und Kollegen publizieren werden, die sich ebenfalls mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen im Kontext von Klimawandel und Nachhaltigkeit beschäftigen. Wir danken dem oekom verlag für die ausgezeichnete Begleitung und das Vertrauen, das er in diese Buchreihe setzt!
Bernd Sommer und Harald Welzer, im Juli 2014

1  Einleitung:Was warum zu transformieren ist

Im 20. Jahrhundert wurde weltweit zehnmal mehr Energie verbraucht als während der kompletten Menschheitsgeschichte zuvor (McNeill 2005: 29). Die aus den Böden, den Wäldern, den Meeren entnommenen Mengen an Material, fossilen Rohstoffen und Biomasse haben sich, insbesondere seit den 1950er-Jahren, exponentiell gesteigert (Steffen/Crutzen/McNeill 2007). Der globale Rohstoffverbrauch und die Emissions- und Müllmengen wachsen weiterhin von Jahr zu Jahr an; der weltweite Siegeszug der kapitalistischen Wirtschaftsweise schafft neuen Reichtum, lässt neue Mittelklassen entstehen, ignoriert aber die planetarischen Grenzen (Rockström et al. 2009), die die prinzipiell endliche Menge an Ressourcen und Senken1) setzt. Die Übernutzung von Ökosystemen und Ressourcen sowie die Einschränkung der langfristigen Überlebensbedingungen von Menschen führt dazu, dass die Gesellschaften zunehmend unter Stress geraten: Dazu gehören erhöhte Ressourcenkonkurrenz, ebenso geopolitische Machtverschiebungen, Extremwetterereignisse oder steigende Nahrungs- und Energiepreise.
Vor diesem Hintergrund ist in den vergangenen Jahren in der interdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung und sozialökologischen Forschung unter dem Schlagwort der »Transformation« ein neuer Forschungszweig entstanden, der sich mit der Frage beschäftigt, wie sich moderne Gesellschaften, die sich in einem Zustand struktureller Nicht-Nachhaltigkeit befinden, in Richtung Nachhaltigkeit transformieren können.2) Im Gegensatz zur »Transformationsforschung« in den Politikwissenschaften (Merkel 2010), die sich mit der Transformation der politischen und wirtschaftlichen Regime in den ehemals sowjetkommunistischen Staaten befasst, wird hier also der Transformationsprozess nicht retrospektiv oder begleitend analysiert, sondern als Zukunftsaufgabe verstanden.
Dies ist der Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen, und damit stehen Fragen der Möglichkeit der Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse im Zentrum, die von der politischen Steuerung (Governance) über Stadtplanung und Architektur bis hin zur Produktgestaltung reichen. Es geht also um Transformationsdesign, die Gestaltung eines notwendigen Transformationsprozesses – eine Aufgabe, vor der vor allem die Gesellschaften stehen, deren ökologische Fußabdrücke und CO2-Emissionen pro Kopf rechnerisch um ein Vielfaches über dem liegen, was für eine nachhaltige und zukunftsfähige Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft möglich ist (WBGU 2009). Wir beschränken den Geltungsbereich unserer Ausführungen zur Gestaltung von Transformationen damit auf die wohlhabenden frühindustrialisierten Gesellschaften. Diese haben sich ihre materiellen und organisatorischen Vorteile gegenüber nachrückenden Gesellschaften dadurch erworben, dass sie früher als andere den kapitalistischen Wachstumspfad eingeschlagen, diesen vor allem mit fossiler Energie befeuert und damit eine expansive Kultur begründet haben, die sich im Zuge des Globalisierungsschubs der letzten drei Jahrzehnte weltweit ausgebreitet hat.
Auch wenn mittlerweile bis auf wenige Ausnahmen beinahe alle Volkswirtschaften der Welt dem expansiven Prinzip der kapitalistischen Wachstumswirtschaft folgen, konzentrieren sich unsere Überlegungen aus drei Gründen auf moderne, also freiheitliche und demokratische Gesellschaften westlichen Typs: Erstens, weil Gesellschaften dieses Typs vor anderen Entwicklungsaufgaben stehen als etwa die sogenannten Schwellenländer – Armuts- und Hungerbekämpfung oder die Einrichtung von basalen Versorgungsinfrastrukturen stehen hier nicht im Vordergrund, sondern viel eher die Bewahrung eines erreichten zivilisatorischen Niveaus. Zweitens hat ein Großteil der Bewohnerinnen und Bewohner solcher Gesellschaften aufgrund ihrer in vielerlei Hinsicht relativ komfortablen Lebensbedingungen Spielräume zur Gestaltung ihrer beruflichen und privaten Handlungsbedingungen, die wir definieren können und die die Voraussetzung für unsere Überlegungen bilden, wie notwendige Transformationen gestaltet werden können. Schließlich ergibt sich drittens aus diesen Gestaltungsspielräumen sowie dem historischen und aktuellen Niveau des Naturverbrauchs auch die Verantwortung für Transformationen in Richtung Nachhaltigkeit. Für Gesellschaften mit anderen Entwicklungsaufgaben möchten wir uns weder die Kompetenz noch das moralische Mandat anmaßen, Designs für wünschenswerte Entwicklungen vorzugeben.3) Es ist, wie sich im Weiteren zeigen wird, ohnehin schwierig genug, so etwas für die eigene Gesellschaft zu versuchen. Wir entwickeln unsere Ideen also nicht »für die Welt«, schon gar nicht »für die Menschheit«; wir beanspruchen auch nicht, sie »retten« zu wollen, und was dergleichen politfolkloristische Nebelkerzen immer sein mögen. Wir sprechen über die konkreten Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Blockierungen des Übergangs einer expansiven zu einer reduktiven Moderne und damit über ein Thema, das weder theoretisch noch praktisch hinreichend ausgeleuchtet ist. Denn es ist zwar bekannt, wie es auf Basis einer fossil befeuerten Wachstumswirtschaft zu jenen enormen materiellen und zivilisatorischen Fortschritten gekommen ist, die uns zu den Privilegierten der Welt gemacht haben, aber es existiert einstweilen allenfalls fragmentarisches Wissen darüber, wie sich ein solcher Typ Zivilisation unter Bedingungen aufrechterhalten lässt, in denen der Material- und Energieverbrauch sowie die Emissions- und Müllmengen um den Faktor fünf bis zehn reduziert sind. Vor diesem Hintergrund ist Transformationsdesign zunächst einmal die Heuristik einer reduktiven, zukunftsfähigen Moderne.
Die bisherige Entwicklung moderner Gesellschaften ist grundsätzlich durch eine expansive Dynamik gekennzeichnet – und zwar nach innen wie nach außen. Die Expansionsbewegung »nach außen« bedarf vor dem Hintergrund von Kolonialisierung sowie anhaltender Globalisierung des Wirtschafts- und Kulturmodells, das vor etwa 250 Jahren in Europa und Nordamerika seinen Ausgang nahm, kaum weiterer Erläuterung. Aber auch »nach innen« zeichnen sich diese Gesellschaften durch ungeheure Zuwachsraten in der Güterproduktion und Konsumption und damit einhergehend beim Ressourcen- und Energieverbrauch aus (siehe Abbildung 1).
Wie sich diese Expansionsdynamik auf der individuellen Ebene darstellt, hat Wolfgang Uchatius (2013) in einem Essay für Die ZEIT herausgearbeitet: Während Ende des 19. Jahrhunderts ein typischer deutscher Jugendlicher zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern einen einzigen Raum bewohnte und eine sehr überschaubare Anzahl persönlicher Gegenstände sein Eigen nennen konnte, besitzt der typische deutsche 18-Jährige zum beginnenden 21. Jahrhundert, wie Marktforschungsergebnisse zeigen, ca. 500 verschiedene Produkte: »ein Flachbildfernseher, 32 Zoll, ein Computer mit Monitor, zwei angeschlossene Lautsprecherboxen, ein Kopfhörer, ein Smartphone, ein CD-Radio-Kassettenrekorder, eine Playstation für Videospiele mit integriertem DVD-Spieler, eine Wii-Konsole, eine tragbare Playstation, mit der man auch unterwegs spielen kann. Außerdem: ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Taschenrechner, ein Funkwecker, zwei Fußbälle, ein Basketball, ein Volleyball, ein Rucksack, ein Globus, mehrere Paar Sportschuhe sowie Hemden, Hosen, Jacken, Bücher, Spiele, Stifte, DVDs« (ebd.).
Abbildung 1, Teil 1Die Zuwachsraten in ausgewählten gesellschaftlichen Bereichen zwischen 1750 und 2000 (Quelle: Steffen et al. 2011).
Abbildung 1, Teil 2
Eine derartige Anhäufung materieller Konsumgüter wirft nicht allein vor dem Hintergrund der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und Senken Fragen auf, sondern auch in Bezug auf die für Menschen grundsätzlich begrenzte Zeit. Wann sollen die Videospiele gespielt, die Bücher gelesen, die DVDs geschaut und die verschiedenen Sportarten betrieben werden? Steigt die Anzahl an Handlungsoptionen, die diesen Artefakten jeweils eingeschrieben ist, auch an, so bleibt die verfügbare Zeit eines Menschen doch auf 24 Stunden pro Tag und 365 Tage pro Jahr beschränkt. Und in dieser gilt es noch zu schlafen sowie andere körperliche Bedürfnisse zu befriedigen und die wachsenden Selbstoptimierungsanforderungen moderner Gesellschaften zu bewältigen, die Schüler und Jugendliche zusätzlich unter Stress und Zeitdruck geraten lassen (Beisenkamp et al. 2012). Damit die Wirtschaft aber weiter wachsen kann, muss jemand all die Waren kaufen, die beständig neu kreiert und produziert werden. Nach Hartmut Rosa löst der Kapitalismus dieses Dilemma dadurch, dass er Menschen hervorgebracht hat, die zwar noch kaufen, aber zunehmend weniger konsumieren (im Sinne von »nutzen«): »Anstatt die Bücher zu lesen, die CDs zu hören oder die Musikinstrumente zu spielen (oder auch nur die Nahrungsmittel zuzubereiten), die wir längst nach Hause getragen haben, erwerben wir […] neue Produkte, und es kann kein Zweifel daran herrschen, dass dabei ein Kompensationsverhältnis zwischen dem entgangenen Realkonsum und den gesteigerten Kaufraten besteht: Weil es zu zeitaufwendig ist, Shakespeare zu lesen oder Mozart zu hören, kaufen wir stattdessen Goethe und Beethoven noch dazu« (Rosa 2011: 129 f.).
Kurz, die Menschen in Gesellschaften unseres Typs konsumieren nicht mehr, was sie kaufen. Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass allein die Deutschen jährlich »6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel in den Abfall, 800.000 Tonnen Kleider in den Container, eine Million Tonnen veraltete oder defekte, aber oftmals noch reparable Handys, Computer, Fernseher, CD-Spieler und Laserdrucker auf den Schrotthaufen« (Uchatius 2013) werfen.
Eine unheilvolle Allianz aus gewachsener Kaufkraft, billiger Transportkapazität, externalisierten Umweltkosten, beständig verkürzten Produktzyklen und hyperkonsumistischer Alltagskultur hat etwa dazu geführt, dass sich der Konsum von Textilien je Dekade verdoppelt, ebenso wie der von Möbeln, Nahrungsmitteln usw. (Schor 2010). Während man vor 50 Jahren in Deutschland durchschnittlich 42 Tage arbeiten musste, um sich ein Fernsehgerät anzuschaffen, sind es heute gerade noch vier; für den Kauf eines Schweinekoteletts musste man zweieinhalb Stunden arbeiten, heute noch eine halbe. Die aufzuwendende Arbeitszeit für den Kauf eines Brotes hat sich halbiert, ebenso wie für den Liter Benzin. Für ein Hähnchen oder ein Stück Butter genügt heute ein Zehntel der Arbeitszeit von 1960 (FAZ vom 21./22.12.2013, C1). In dieser radikal gesteigerten allgemeinen Kaufkraft infolge immenser Produktivitätssteigerungen liegt begründet, weshalb die Menschen heute weitaus mehr Mittel zum Konsum von immer mehr Dingen zur Verfügung haben und weshalb gleichzeitig alles nur noch so wenig wert ist, dass es so bald als möglich durch das nächste Modell ersetzt wird.
Die Flächenversiegelung schreitet allein in Deutschland mit täglich 70 Hektar genauso voran, wie die Autos immer größer, die Fernreisen immer zahlreicher und die Wohnflächen immer üppiger werden. In einer Kultur, die ihre Wertepräferenz darin hat, von allem immer mehr permanent verfügbar zu haben, übersetzt sich jeder Effizienzgewinn in einen Rebound, also in den konsumistischen Einsatz der eingesparten Energie-, Material- oder Geldmenge in ein weiteres Gerät, eine zusätzliche Reise, ein größeres Auto. Eine Wirtschaft, die wesenhaft auf der Generierung von Mehrwert durch Produktivitätssteigerung und Marktexpansion beruht, lässt systematisch auch gar nichts anderes zu. Sie hat funktional ganz einfach keine Grenze und kann nicht innehalten, bis, wie Max Weber vor einem Jahrhundert formuliert hat, »der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist« (Weber 1905: 180). Ein solches System kommt erst zum Innehalten, wenn es keinen Treibstoff mehr hat. Bis dahin aber wächst sein Zerstörungspotenzial kontinuierlich an.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine Problemstellung ab, die paradoxe Züge trägt: Die zunehmende Zerstörung von Naturressourcen und damit heutiger und künftiger Überlebensvoraussetzungen erfolgt für einen Hyperkonsum, der das Glück keineswegs weiter erhöht, sondern eher Leiden verursacht – Konsumstress, Freizeitstress, Zeitnot, Burn-out, Fettleibigkeit sind einschlägige Stichworte. Die zugrunde liegende Ökonomie des Wachstums sorgt also nicht nur für eine beständige Erhöhung der verarbeiteten und gekauften Mengen, sondern auch dafür, dass diese Erhöhung lebenspraktisch immer mehr zur Belastung wird. Die wachsende Zerstörung erzeugt wachsendes Unglück. Eine Umkehrung der Richtung von »mehr« auf »weniger« scheint daher sinnvoll, um es zurückhaltend zu formulieren.
Die Entwicklung einer Heuristik des Weniger im Kontext moderner Gesellschaften ist vor allem deshalb notwendig, weil alle erfolgreichen Schritte in Richtung einer »Ergrünung« der kapitalistischen Gesellschaften nichts daran geändert haben, dass seit Jahrzehnten nahezu jedes Jahr einen neuen Rekord im Verbrauch von Energie und Rohstoffen sowie in der Produktion von Müll und Emissionen gebracht hat. Ein auf Expansion angelegtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell scheint weder durch Bewusstseinsveränderungen noch durch Effizienzgewinne die grundlegende Entwicklungsrichtung korrigieren zu können. Empirisch kann man das damit belegen, dass in den mehr als vier Jahrzehnten seit dem Erscheinen der »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) sich zwar eine Fülle von Werthaltungen, Lebensstilen, Gesetzen und politischen Präferenzen verändert hat, aber weder eine einzelne noch die Summe dieser Veränderungen dazu beitragen konnten, dass die naturzerstörerische Steigerungslogik selbst unterbrochen worden wäre. Lediglich punktuell konnten einzelne Sektoren und Regionen »ergrünen«; doch gelang dies vor allem durch die Verlagerung der besonders ressourcen- und emissionsintensiven Industrien in andere Weltteile, in denen seither die Umweltkrisen umso virulenter sind.
Es kommt also darauf an, nach Ausgängen aus jenem Korridor zu suchen, der die Zivilisierungsrichtung umdreht und Demokratie, Staatlichkeit, Freiheit sukzessive immer mehr unter Stress geraten lässt. Allerdings sind solche Ausgänge nicht leicht zu finden, sind doch nicht nur unsere äußeren Lebens- und Überlebensbedingungen, die Infrastrukturen und Institutionen durch das expansive Kulturmodell geprägt, sondern auch die Innenwelten, also die »mentalen Infrastrukturen« (Welzer 2011), Wahrnehmungsweisen, Gewohnheiten, Routinen, Problemlösungsstrategien, Selbstbilder. »Den Wahn«, so lautet ein Diktum Sigmund Freuds, »erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt« (Freud 2000 [1930]: 213). Wenn man sich ansieht, wie sehr sich die Ökologiebewegung und ihre Institutionen – von Forschungsinstituten über Nichtregierungsorganisationen bis zu Parteien – nach und nach der expansiven Mainstreamkultur angepasst haben und fast noch begeisterter von Ressourceneffizienz und (grünem) Wachstum sprechen als Wirtschaftsliberale, wird offenkundig, dass der ökonomischen Geschmeidigkeit des Kapitalismus durchaus auch eine politische entspricht: Wie dieses Wirtschaftssystem jede Gegenbewegung von der erneuerbaren Energieerzeugung bis zur share-economy inkorporieren kann, so adoptiert es das gedankliche Inventar grüner Strategien zur Verbesserung der Welt und verwandelt es in Modernisierungsinfusionen. No way out also?
Es kommt auf einen weiteren Versuch an. Ein solcher Versuch sollte aber nicht von der Vorstellung getragen sein, es könne gleich eine »Große Transformation« gelingen oder es gelte Masterpläne zu entwerfen, die dann in den kommenden Jahrzehnten akribisch umzusetzen sind. Denn »neue« Verhältnisse, das hat noch jeder tief greifende soziale Wandel gezeigt, sind im besten Fall Amalgamierungen von neuen Ordnungstypen und bestehenden Traditionen und Infrastrukturen unterschiedlichster Art. Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse sind grundlegend durch Nicht-Linearität und Eigendynamik gekennzeichnet, die – insbesondere in hochkomplexen, modernen Gesellschaften – den Absichten der Handelnden regelmäßig zuwiderläuft oder paradoxe Effekte zeitigt. Deshalb ist es angemessener, von segmentären Transformationen unterschiedlicher Art und Wirkung auszugehen, was – wie später noch gezeigt wird – auch politisch angeraten ist.
Zu berücksichtigen ist bei der Forderung nach einer »Großen Transformation« zudem, dass es sich beim zu Transformierenden ja nicht um einen fixen, stabilen Zustand handelt – dem fertigen Produkt eines historischen Prozesses gewissermaßen. Wenn man die seit Mitte des 18. Jahrhunderts sich entwickelnde und sich seither in unterschiedlichen Dynamisierungsschüben über den ganzen Globus ausbreitende kapitalistische Wachstumswirtschaft betrachtet, wird man feststellen, dass die vor 250 Jahren eingeleitete Transformation, nämlich die kapitalistische Formierung aller Lebensbereiche, noch im vollen Gang ist: Globalisierung, Vereinheitlichung der Lebens- und Konsumformen, Individualisierung, fortschreitender Naturverbrauch, Ökonomisierung aller Daseinsbereiche, wirtschaftliche Monopolbildungen, geopolitische Refigurationen, all das ist nicht abgeschlossen, sondern findet aktuell sogar in intensivierter Dynamik statt. Dieser Befund gilt auch oder gerade, wenn man den Begriff der »Großen Transformation« in Anlehnung an Karl Polanyi verwendet. Denn die von ihm konstatierte und beklagte »Entbettung« der Marktprozesse aus übergeordneten gesellschaftlichen Bezügen findet in der Gegenwart eine intensive Fortsetzung (Polanyi 1973).
Das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das insbesondere im Zuge seiner Globalisierung verhängnisvoll zu werden droht, hat nicht nur zu einem historisch ganz unvergleichlichen allgemeinen Wohlstandsniveau geführt, sondern auch zu nicht-materiellen Standards von Zivilisierung, die moderne Gesellschaften heute für unhintergehbar halten: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversorgung. Wenn man also die Frage nach notwendigen Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft stellt, geht es um nichts Geringeres als um die Frage, ob sich der zivilisatorische Standard, den die Menschen in den frühindustrialisierten Gesellschaften erreicht haben, bewahren lässt oder nicht. Wolfgang Uchatius’ Vergleich des »typischen Jugendlichen« am relativen Anfang der industriellen Moderne und zu ihrer Spätphase ist auch in dieser Hinsicht aufschlussreich: Denn auch abgesehen vom quantitativen Ausmaß des Besitzes an Gebrauchsgegenständen, unterschied sich die Lebenssituation eines typischen 18-Jährigen vor etwa 120 Jahren in Deutschland grundlegend: Statt zur Schule ging der typische Jugendliche Ende des 19. Jahrhunderts in die Fabrik, um für zehn bis elf Stunden schlecht bezahlt zu arbeiten, und seine durchschnittliche Lebenserwartung betrug nicht 80, sondern 45 Jahre (Uchatius 2013). Dieses Beispiel verdeutlicht schlaglichtartig, dass für die Individuen die vergangenen 100 Jahre nicht allein eine Anhebung der materiellen Standards, sondern auch eine der zivilisatorischen bedeutete. Die Herausforderung für ein Transformationsdesign besteht also darin, einem Modus der Vergesellschaftung nachzuspüren, der bei radikal reduziertem Naturverbrauch die Aufrechterhaltung und sogar Weiterentwicklung ebendieser zivilisatorischen Standards ermöglicht.4) Es geht also nicht um ein »Zurück auf die Bäume«, wie Kritiker Umweltschützern mitunter polemisch unterstellen, sondern um die Organisation der Reduktion im Kontext moderner Gesellschaften.
Politisch übersetzt sich das in die Frage, ob man die unter den gegenwärtigen Bedingungen gegebenen Möglichkeiten der Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft proaktiv nutzt oder ob man sich passiv einem Prozess überantwortet, in dem die Handlungsmöglichkeiten unter zunehmendem Stress immer geringer werden und sich das Primat der Ökonomie noch weiter Geltung verschafft, was schließlich zu einer Entzivilisierung führen kann, die den Stärkeren mehr Rechte und Überlebenschancen einräumt als den Schwächeren.
Die zugrunde zu legende pragmatische Haltung lässt sich mit Mathis Wackernagel (2014), dem Präsidenten des Global Footprint Network, sehr einfach charakterisieren: Verändern werden sich unsere Gesellschaften vor dem Hintergrund ihres nicht-nachhaltigen Stoffwechsels mit der außermenschlichen Natur auf jeden Fall; die Frage ist nur, ob by design or by disaster. Wir plädieren für design.
1) Unter »Senken« werden in den Geo- und Umweltwissenschaften Ökosysteme verstanden, die in der Lage sind, zeitweilig oder auf Dauer Emissionen zu binden – so z. B. Wälder, Ozeane oder Moore beim Kohlendioxid.
2) Die früh- und spätindustrialisierten Gegenwartsgesellschaften sind insofern strukturell nicht-nachhaltig, als sie auf physischen Grundlagen beruhen, die nicht dauerhaft zur Verfügung stehen (Sieferle 2010: 11).
3) Aus ähnlichen Gründen fokussiert sich auch der aus den Niederlanden stammende Transition-Management-Ansatz auf die frühindustrialisierten westlichen Gesellschaften: »Since people in this area of the world (Western Europe) caused many crises referred to, they must also take a lead in finding solutions. We do not imply that other countries such as China or India are not capable of doing so. We just want to stress that we are not in the position to require them to change without making transitions ourselves« (Grin et al. 2010: 2).
4) Was genau wir unter diesen »zivilisatorischen Standards« verstehen, wird im folgenden Kapitel 2 »By design or by disaster« konkretisiert.

2  By design or by disaster

Klima, Krisen und Knappheiten

Im November 2012 veröffentlichte die Weltbank einen Bericht, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und der Non Profit-Organisation Climate Analytics die Folgen für Ökosysteme und Gesellschaften in einer im Vergleich zum vorindustriellen Niveau vier Grad wärmeren Welt beschreiben (The World Bank 2014). Die darin skizzierten Klimafolgen sind der Öffentlichkeit bereits aus zahlreichen vorherigen Reports – insbesondere den Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – vertraut: In einer durchschnittlich vier Grad wärmeren Welt würden bis zum Jahr 2100 der Meeresspiegel zwischen 0,5 und einem Meter steigen (ebd.: XV), die Gefahr von Flutwellen wachsen (ebd.), die Stärke von Tropenstürmen zunehmen (ebd.: 27) sowie sich die Anzahl, Dauer und Intensität von Hitzewellen deutlich erhöhen (ebd.: 37). Derartige Veränderungen blieben voraussichtlich nicht ohne Auswirkungen auf die Landwirtschaft und auf andere Versorgungssysteme menschlicher Gesellschaften. So wäre in einer vier Grad wärmeren Welt mit einem Rückgang der Lebensmittelproduktion sowie der Verfügbarkeit an Trinkwasser zu rechnen – und dies bei einer stark gewachsenen Weltbevölkerung. Sind grundsätzlich alle Staaten direkt oder indirekt hierdurch betroffen, werden besonders starke Effekte für Länder vermutet, deren Ernährungssicherheit bereits heute prekär ist. Beispielsweise drohen in Afrika südlich der Sahara infolge zunehmender Hitzeereignisse und veränderter Niederschläge etwa 35 Prozent des heutigen Ackerlands für den Getreideanbau wegzufallen (ebd.: 62).
Die Befunde des Berichts sind heute, wie eingangs angesprochen, weitgehend bekannt. Erwähnung findet er hier auch aus einem anderen Grund: Vier Grad Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau, das ist nach verschiedenen Klimaszenarien der Temperaturanstieg, mit dem zu rechnen ist, wenn die Staaten der Erde ihre bisher gemachten Zusagen zur Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen einhalten (ebd.: 23–24). Mit anderen Worten, wenn sich die verhandelnden Vertragsparteien bei der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris nicht zu deutlich ambitionierteren Anstrengungen beim Klimaschutz bereiterklären – wofür nach heutigem Stand so gut wie überhaupt nichts spricht –, ist ein Anstieg um 3,2 Grad Celsius (zuzüglich zu der heute bereits 0,8 Grad Celsius gemessenen Erwärmung) eine wahrscheinliche Veränderung der globalen Durchschnittstemperatur bis zum Ende dieses Jahrhunderts (ebd.). Sollten auch die bislang gemachten Zusagen beim Klimaschutz nicht eingehalten werden, könnte sich diese Erwärmung sogar bereits bis zum Jahr 2060 vollziehen (ebd.).