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»Mehr Fortschritt wagen« – unter diesem Motto ist die Bundesregierung von Olaf Scholz angetreten. Schon wegen des nicht vorhergesehenen russischen Krieges gegen die Ukraine gestaltet sich dieses Vorhaben schwieriger als gedacht. Die Beiträgerinnen und Beiträger nehmen die Stellschrauben und Stolpersteine der Transformationspolitik, die sich die Ampel-Koalition vorgenommen hat, in den Blick. Damit erstellen sie nicht nur eine Halbzeitbilanz dieser Regierung, sondern geben in der Zeitenwende einen praxisnahen Überblick über die unterschiedlichen politischen Herausforderungen und ökonomischen Notwendigkeiten der Bundesrepublik.
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Knut Bergmann, Matthias Diermeier (Hg.)
Transformationspolitik
Anspruch und Wirklichkeit der Ampel-Koalition
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld
© Knut Bergmann, Matthias Diermeier (Hg.)
Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
https://doi.org/10.14361/9783839470787
Print-ISBN: 978-3-8376-7078-3
PDF-ISBN: 978-3-8394-7078-7
EPUB-ISBN: 978-3-7328-7078-3
Buchreihen-ISSN: 2364-6616
Buchreihen-eISSN: 2747-3775
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Transformationspolitik – eine Halbzeitbilanz der Ampel-KoalitionKnut Bergmann/Matthias Diermeier
Gesellschaftspolitik: Partizipation, Ost − West, Populismus, Narrative, Nudges
Verändern: Über schwindende Mehrheiten und wachsende Gesprächsstörungen Veränderungszuversicht für inklusive TransformationVeränderungszuversicht für inklusive TransformationKarl-Rudolf Korte
Spaltet die Transformation unsere Gesellschaft?Die komplexe Organisation von Mehrheiten in Zeiten zunehmender ZumutungsaversionenKnut Bergmann/Matthias Diermeier
Regionale Beteiligung gegen polarisierende Triggerpunkte?Zur demokratischen Gestaltung der Großen TransformationPaulina Fröhlich
Für immer geteilt – kollektive Enttäuschungen trotz ökonomischer Erfolge in Ostdeutschland?Michael Hüther
Die neuen Themen Klima und Krieg: Die AfD als Krisenprofiteur der ZeitenwendeManès Weisskircher
Show – don’t tell. Performative Widersprüche in zwei Jahren grün-gelben KoalierensSebastian Jarzebski
Gutes Regieren – eine verhaltensökonomische PerspektiveDominik H. Enste
Alles im Lot? – Ein TransformationsessayIna Scharrenbach
Infrastruktur: Stadt − Land, Digitalisierung, Energiewende, Wohnungsmarkt
Ländliche Räume: Der Stabilitätsanker Deutschlands Fünf BeobachtungenHanno Kempermann
Infrastrukturbereitstellung neu kalibrierenFünf Thesen für eine effiziente Infrastrukturbereitstellung in KommunenUwe Schneidewind
Wie der Staat digitalen Fortschritt vorantreiben kannVera Demary
Digitalpolitik: Der lange Weg des Staats zum EnablerThomas Bönig
Klimatransformation – langer Weg, wenig ZeitThilo Schaefer
Klimaneutralität 2045 – (wie) können wir das schaffen?Maja Göpel/Johannes Zieseniß
Zwischen Klimaschutz und Bezahlbarkeit – wie sozial ist die Transformation im Wohnungsmarkt?Ralph Henger/Michael Voigtländer
Industriepolitik
Industriepolitik ist mehr als StandortpolitikHubertus Bardt
Industriepolitik in der Zeitenwende – die Rolle des StaatesMarkus Heß
Finanzpolitik
Wettbewerbsfähigkeit trotz Transformation: Priorisierung in der FinanzpolitikTobias Hentze
Überlegungen zur TransformationspolitikJakob von Weizsäcker
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: Zuwanderung, Sozialpartnerschaft, Inklusion, Gerechtigkeit, Rente
Grenzen und Potenziale der Zuwanderung für die FachkräftesicherungAxel Plünnecke
Abnehmende Tarifbindung trotz Gestaltungsanforderungen: Sozialpartnerschaft in Bedrängnis?Hagen Lesch
Sozialpartnerschaftliche Transformationspolitik braucht funktionierende Rahmenbedingungen durch staatliches HandelnJohanna Wenckebach
Zwischenstand Inklusion: Vorgaben und UmsetzungAndrea Kurtenacker
Verteilungs- und Sozialpolitik: Ist mehr besser?Sinkendes Gerechtigkeitsempfinden in Zeiten wachsender SozialausgabenJudith Niehues
Der Sozialstaat im NiedergangsdiskursGeorg Cremer
Wieviel Solidarität können und wollen wir uns im demografischen Wandel leisten? Die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung auf dem PrüfstandJochen Pimpertz
Europapolitik
Europäische Union: Institutionelle Verharrung oder Delors-Plan 2.0?Melinda Fremerey/Simon Gerards Iglesias
Delors-Plan 2.0 – eine doppelte Ergänzung für die erfolgreiche Reform der EUJohannes Lindner
Geopolitik versus Ordnungspolitik? Sprengkraft innerhalb der EU durch die ZeitenwendeJürgen Matthes
Erfolgsgeschichte EU-Binnenmarkt – mit gemeinsamen Nachhaltigkeitsstandards zu einer gerechteren GlobalisierungAnna Cavazzini
Außen- und Sicherheitspolitik
Keine Zeitenwende im VerteidigungshaushaltHubertus Bardt
Parole »Fertig werden!« – Die Bundeswehr als Paradigma deutscher ÜberbürokratisierungHans-Peter Bartels
Die Zukunft des Westens in der Deglobalisierung – Gestaltungspotenziale trotz Abhängigkeit?Michael Hüther
Anhang
Autorinnen und Autoren
Es hätte alles so schön werden können: Mehr Fortschritt zu wagen, hatte man sich vorgenommen; Aufbruch, Harmonie und Einigkeit – und keine Nachtsitzungen mehr, um Koalitionsstreitigkeiten zu bereinigen. Nachdem sich letzteres bald nicht mehr vermeiden ließ, avancierte Krisenmodus zum Wort des Jahres 2023. Außen- wie innenpolitisch traten Herausforderungen auf, mit denen niemand rechnen konnte oder vielleicht auch wollte – wobei viel Wunschdenken dabei gewesen ist. Was sicherheitspolitisch der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bedeutete, war mindestens finanz-, wenn nicht gar innenpolitisch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. November 2023 zur Nichtigkeit des zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021, mit dem die Umwidmung einer nicht benötigten Kreditermächtigung aus Zeiten der Corona-Pandemie in Höhe von 60 Milliarden Euro in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) für verfassungswidrig erklärt wurde.
Für die Einleitung in diesen Band hat dies Vor- und Nachteile: Erstere liegen darin, dass man nur die Kommentare abschreiben müsste, um den Zustand der Koalition zu bebildern: Wegfall der Geschäftsgrundlage, das Ende nahe oder Koalitionäre als aufeinander zurasende Züge. Schon einige Zeit vor dem KTF-Urteil war in den Medien von einer blockierten Regierung, der nicht zur Ruhe kommenden Koalition oder gar einem Ampel-Märchen zu lesen. Andererseits sind die Folgen des Bundesverfassungsgerichtsurteils trotz der Einigung der Koalition vom 13. Dezember 2023, wie mit den Haushaltslöchern umgegangen werden soll, nicht bis zum Ende der Legislatur absehbar. Zu viele, auch strategische, Unwägbarkeiten, zu viele potenzielle Streitpunkte und damit in Summe zu viele potenzielle Ausstiegspunkte liegen auf dem Weg bis zum regulären Bundestagswahltermin im Herbst 2025. Als markante Wegmarken seien neben den alljährlichen Haushaltsberatungen genannt die Europawahl im Juni 2024 und vor allem die drei Landtagswahlen im September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. In Umfragen liegt die AfD seit langem stabil auf Platz Eins, und auch die Europawahl in ihrer Eigenschaft als second-order-election – oder auch Nebenwahl (Reif/Schmitt 1980) – droht zu einem Freudenfest des deutschen wie europäischen Rechtspopulismus zu werden.
Eigentlich verfügte gerade diese Koalition über beste Voraussetzungen, die großen Transformationsaufgaben anzugehen. Nicht zuletzt, weil die tragenden drei Parteien nur über wenig Schnittmengen in ihrer jeweiligen Wählerschaft verfügen. Insofern können sie sehr unterschiedliche Segmente adressieren (Korte 2024). Allerdings hat die Koalition aus dieser Chance eher wenig gemacht, und mehr noch: insbesondere der Regierungschef hat sich kommunikativ oftmals verweigert. Statt Geschlossenheit zwischen den Bündnispartnern, die es eigentlich gebraucht hätte, um Fortschritt nicht nur zu wagen und den Koalitionsvertrag entsprechend zu benennen, sondern ihn auch zu vollziehen, herrschte von kurz nach Anbeginn vor allem Zwist. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde das grundlegende Dilemma der Ampel-Koalition in ein gastrosophisches Bild gefasst:
»Ein veganer Hobbykoch, ein Currywurst-Budenbesitzer und ein experimenteller Sterne-Chef können ohne viel Aufwand kulinarischen Fortschritt fordern, aber wenn sie gemeinsam ein Gericht zubereiten müssen, schmeckt es nicht. Um überhaupt etwas anbieten zu können, werden sie sich auf die kleinste Gemeinsamkeit einigen, zum Beispiel Salat.« (Buchsteiner 2023)
Wirtschaftsminister Robert Habeck brachte die Herausforderung nach dem KTF-Urteil in einer Koalition mit drei Partnern mit gegenläufigen Interessen – keinerlei Rückbau des Sozialstaates (SPD), keinerlei Steuererhöhungen oder erhöhte Neuverschuldung (FDP), keinerlei Abrücken von den Klimaschutzzielen (Bündnis 90/Die Grünen) – auf den Punkt, indem er in einem Interview sagte: »Ich weiß natürlich, in welchem Koalitionsvertrag ich lebe« (Habeck 2023). Allerdings sind einer Untersuchung von Robert Vehrkamp, Autor des Vorgängerbandes, und Theres Matthieß zufolge von den insgesamt 453 von ihnen identifizierten Regierungsversprechen des Koalitionsvertrages nach 20 Monaten fast zwei Drittel entweder schon umgesetzt (38 Prozent) oder zumindest angegangen (26 Prozent). Lediglich 36 Prozent der Vorhaben harrten noch ihrer Bearbeitung (Vehrkamp/Matthieß 2023). Angesichts der großen Ambitionen, die dem Gründungsdokument der Ampel-Koalition innewohnte, ist das eine enorme Leistung, die jedoch weder die öffentliche noch die veröffentlichte Meinung durchdrungen hat.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik musste eine Bundesregierung zur Halbzeit derart niedrige Umfragewerte verzeichnen – je nach Institut kommt die Koalition gemeinschaftlich auf maximal 36,5 Prozent, die FDP dabei jeweils hart an der Sperrklausel. Genauso lag noch nie ein amtierender Bundeskanzler mit seiner Partei so schlecht in Umfragen – bei Olaf Scholz’ SPD waren es im Dezember 2023 institutsabhängig zwischen 14 und 15 Prozent (Zicht/Cantow 2023). Auf ähnlichem Niveau bewegen sich die Kompetenzwerte in Sachen Wirtschaftspolitik: Laut Infratest dimap trauen nur 13 bzw. 12 Prozent der Befragten am ehesten der SPD bzw. der FDP zu, die wirtschaftspolitischen Probleme des Landes zu lösen; noch geringer fällt der Anteil bei den Grünen aus, der sich auf kümmerliche 4 Prozent beläuft. Allein die Union kann sich mit 35 Prozent der Bürgerinnen und Bürgern absetzen; die AfD kommt auf 10 Prozent (Infratest dimap 2023).
Dem vorliegenden Band ging eine virtuelle IW-Veranstaltungsreihe – Gutes Regieren für die Transformation – voraus. Hierbei wurde der zumeist ökonomische Blick auf die Notwendigkeiten des transformativen Regierens mit einer Perspektive aus der Praxis abgeglichen. Die letzte Folge – IW-Direktor Michael Hüther zusammen mit Staatsminister Carsten Schneider, dem Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, fand unmittelbar vor dem 8. Dezember 2023, dem zweiten Jahrestag der Wahl von Olaf Scholz zum Bundeskanzler, statt. Mit dieser Reihe wie dem vorliegenden Band wurde und wird auch eine Halbzeitbilanz der Ampel-Koalition gezogen.
Fast alle der in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren haben einen Input in dieser Reihe geliefert, weshalb einige der Beiträge gedoppelt sind und teils sogar denselben Titel tragen. Die Herausgeber dieses Bandes hatten die Reihe konzipiert und die einzelnen Folgen jeweils moderiert. Sehr erfreulich ist, dass unter der Schar der Beitragenden sich eine Autorin und einige Autoren befinden, die ebenfalls im Vorläuferband, der sich den Aussichten für die Legislaturperiode angenommen hatte, vertreten waren (Bergmann 2022).
Allen Autorinnen und Autoren gebührt großer Dank für ihre Manuskripte, die zudem sämtlich zum vereinbarten Zeitpunkt eintrafen. Bei der weiteren Bearbeitung der Texte halfen Maria Garb, Natalie Päßler und Gabi Ballner, worüber wir nicht nur dankbar sind, sondern auch froh waren – ohne ihr Engagement, ihre Tatkraft und Akribie wäre dieser Band niemals erschienen. Ebenso wenig gäbe es dieses Buch, wenn am Institut der deutschen Wirtschaft nicht die Freiräume, der Spirit und die Kollegialität herrschten, die nötig sind, um solche Vorhaben zu verwirklichen. Daher gilt unser Dank ebenfalls allen Kolleginnen und Kollegen am IW, die direkt wie indirekt mitgewirkt haben.
Trotz aller ampelkoalitionärer Halbzeitbilanzziehung, die in den Texten vorgenommen wird, kann keiner von ihnen beantworten, ob diese Bundesregierung bis zum regulären Wahltermin im September 2025 durchhalten wird. Falls sie scheitert, wird dies zweifelsohne einigen der zahlreichen Friktionen, die in vielen der Beiträge zutage treten, geschuldet sein. Was aber passiert, passieren wird, ist offen. Der Schluss in dem Artikel mit der Überschrift »Die Nacht, als die Ampel überlebte«, mit dem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung nachgezeichnet wurde, wie sich die Koalitionäre auf die nötigen Sparmaßnahmen im Zuge des KTF-Urteils des Bundesverfassungsgerichtes einigten, soll in seinem prophetischen Charakter auch das Ende dieser Einleitung bilden: »Vieles ist noch unklar, aber die Koalition ist gerettet. Fürs Erste.« (Bollmann et al. 2023)
Das erste Kapitel mit der gesellschaftspolitischen Perspektive eröffnet Karl-Rudolf Korte, der schon an der hinter dem Vorgängerband liegenden Tagung als Projektpartner großen Anteil hatte. Er leuchtet unter dem Titel »Verändern: Über schwindende Mehrheiten und wachsende Gesprächsstörungen« aus, wie sich die Transformation im politisch-koalitionären Umfeld zur Halbzeit der Ampel-Regierung überhaupt gestalten lässt: »Transformationsfuror, Profilierungsstreit der Koalitions-Parteien, Krisen mit Zeitenwende-Charakter und nicht zuletzt einer scheinbar unüberwindbaren Gesprächsstörung zwischen Regierenden und Regierten« lassen dies als eine Sisyphus-Aufgabe erscheinen. Um Unpopuläres mehrheitsfähig zu machen – und nichts anderes bedeutet die Multi-Transformationsaufgabe der Regierung Scholz – müsse der nötige Wandel »kommunikativ inklusiv, politisch partizipativ und sozial stets solidarisch ausgerichtet sein«. Sonderlich erfolgreich sei die Regierung dabei nicht gewesen; das Wichtigste sei, die in der Pandemie noch größer gewordenen »Gesprächsstörungen« zwischen Regierenden und Regierten zu überwinden.
An Karl-Rudolf Kortes Beitrag anschließend, fragen Knut Bergmann und Matthias Diermeier, ob und inwieweit die Transformation die Gesellschaft spaltet. Umbruchsprozesse verunsichern, und im vorliegenden Fall kommt die Parallelität nicht nur der im vorherigen Beitrag benannten Krisen, sondern mit der Gleichzeitigkeit von Digitalisierung, Dekarbonisierung, Deglobalisierung und demografischen Alterung auch unterschiedliche Treiber hinzu. In Zeiten zunehmender Zumutungsaversionen erweist sich das Organisieren von politischen Mehrheiten als immer komplexer. Bei der Transformationspolitik haben die Regierenden mit schwer erfüllbaren Erwartungen der Bevölkerung zu kämpfen, die zudem teils widersprüchlich sind. Problematisch an den Erwartungshaltungen ist, dass mit dem Hinweis auf eine gespaltene Gesellschaft ein politischer Überbietungswettbewerb gerechtfertigt wird, der wiederum neue Enttäuschungen evozieren kann. Dies ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit der AfD von Bedeutung. Umso mehr gelte es, die Transformation klug zu gestalten und entsprechend zu kommunizieren.
Die stellvertretende Geschäftsführerin des Progressiven Zentrums, Paulina Fröhlich, als Autorin auch im Vorgängerband vertreten, greift anschließend das Spannungsfeld zwischen großer Uneinigkeit hinsichtlich der Politikausgestaltung sowie grundsätzlicher Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung und Stoßrichtung der Transformationspolitik auf. Entsprechend fordert sie eine breite Koalition aus Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft, die der Bevölkerung die zentralen Werkzeuge zur Transformationsbewältigung an die Hand geben soll: »Resilienzvertrauen und Gestaltungsfähigkeit«. Im Zentrum der Transformationswiderstände sieht sie die im vorstehenden Beitrag von Bergmann und Diermeier herausgearbeiteten widersprüchlichen und kaum zu befriedigenden Anspruchshaltungen von Seiten der Bevölkerung gegenüber der Politik. Diese ließen sich auf »ein auf individuelle Präferenzen fixiertes, konsumierendes Staatsverständnis« zurückführen, das es für eine erfolgreiche Transformationsgestaltung aufzulösen gelte. Da sich »Zuversicht nur bedingt erkaufen lässt«, müssten gerade in Transformationsregionen zudem »immaterielle Formen der Anerkennung« und lokale Beteiligungsformate in den Fokus genommen werden.
Michael Hüther verhandelt unter dem Titel »Für immer geteilt – kollektive Enttäuschungen trotz ökonomischer Erfolge in Ostdeutschland?« die Transformationserfahrungen nach der Wiedervereinigung. Tatsächlich nähere sich die ostdeutsche Wirtschaftskraft seit einigen Jahren der westdeutschen an – und zwar schneller, als dies eigentlich beim Zusammenwachsen zweier vormals getrennter Wirtschaftsräume zu erwarten gewesen sei. Im Kontext der Zeitenwende habe die ostdeutsche Wirtschaft zudem weitere Schubkraft bekommen: die derzeit »prominentesten Unternehmensansiedlungen – nicht nur wegen der hohen Investitionssumme, sondern auch aufgrund der hohen Subventionszahlungen – konzentrieren sich auf Ostdeutschland«. Dies sei auch der gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit, den vorhandenen Industrieflächen, der Verfügbarkeit Erneuerbarer Energien und dem geringen Widerstand gegen Industrieansiedelungen in der Region geschuldet. Die wirtschaftlichen Erfolge und Potenziale würden dennoch in der ostdeutschen Bevölkerung weniger wahrgenommen, als es das mittels der ökonomischen Analyse zu Tage tretende Ausmaß vermuten ließe. Gründe hierfür sucht Hüther in den teils schmerzhaften Transformationserfahrungen. Hierzu passt das Zitat der deutsch-ungarischen Schriftstellerin Terézia Mora, die ihre Protagonistin Muna in dem gleichnamigen Roman auf die Frage, ob die DDR nicht längst untergegangen sei, antworten lässt: »Nicht, solange Menschen leben, die von ihr geprägt worden sind« (Mora 2023, S. 263).
Um das rasante Erstarken der AfD zur Hälfte der Ampel-Legislatur zu erklären, schlägt der Populismusforscher Manès Weisskircher von der TU Dresden einen weiten Bogen über die migrationsspezifischen Mobilisierungsreservoirs der Partei hinaus. Dabei wird sichtbar, dass sowohl die Ablehnung der anti-russischen Positionen der EU und Deutschlands im Kontext des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine als auch die klimapolitische Polarisierung der Partei Zulauf bescheren: »Auch wenn Migration weiterhin das Kerngeschäft der AfD darstellt, ist sie mittlerweile thematisch breit aufgestellt.« Da eine ambitionierte Klimapolitik im Zentrum der Fortschrittskoalition steht, bietet sich hier ganz grundsätzlich ein neues Standbein für die in Teilen rechtsextremistische Partei. Als »ironisch« benennt Weisskircher die Hoffnung mancher, das »Bündnis Sahra Wagenknecht« könnte die AfD eher schwächen als eine erfolgreiche Transformationspolitik der Ampel.
Unmittelbar an seinen Beitrag aus dem Vorgängerband schließt Sebastian Jarzebski (2022) an. Damals hatte er über das Narrativ einer Facette der damals so unerwartet harmonischen Koalitionsbildung geschrieben; die noch am Wahlabend projektierten zitrusfarbigen Vorsondierungen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP. Indes stellt sich das Ergebnis nach zwei Jahren fruchtgerecht als ziemlich sauer dar, im deutschen Winter wachsen keine wohlschmeckenden Zitronen. Mit den performativen Widersprüchen des zwei Jahre grün-gelben Koalisierens fokussiert der Autor auf die vorpolitische, symbolische und erzählerische Dimension, auf die kommunikativen Rahmenbedingungen, unter denen die Ampel versuchte, dem verheißenen Aufbruch Taten folgen zu lassen. Mit der Zeitenwende setzte Bundeskanzler Scholz drei Tage nach dem 24. Februar 2022 den Begriff seiner jungen Kanzlerschaft, womit er erfolgreich ein die Rahmenbedingungen veränderndes Deutungsangebot machte. Über die Positionierung der Regierungsparteien in dann doch strittigen Sachfragen gingen erste performative Dissonanzen einher; das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimatransformationsfonds entzog der Ampel dann – wie vielfach kommentiert – einen Teil der Geschäftsgrundlage. Angelehnt an die fünf Akte des klassischen Dramas zeichnet Jarzebski die Chronologie der Entzweiung dieser ersten echten Dreier-Koalition auf Bundesebene nach. Am Ende steht die – mutmaßlich haltbare – Prognose, dass alle drei Partner gesichtswahrend werden Abstriche machen müssen. Und: Jetzt brauche es ein »Show, don’t tell« – wie im Titel des Beitrages vermerkt –, nicht reine Deskription, sondern in die Zukunft gerichtete Handlung: »Nun heißt es also zu zeigen, wie der Aufbruch gelingen kann.«
Die verhaltensökonomische Perspektive auf das gute Regieren liefert Dominik Enste. Er untersucht die Voraussetzungen für entsprechende Interventionen, wobei sein Fach keine moralischen Urteile fällt, sondern versucht zu analysieren, mit welchen Instrumenten die jeweiligen politischen Ziele bestmöglich freiheitswahrend zu erreichen sind. Enste zeichnet das nötige Verständnis der Psychologie des Menschen und seine Anfälligkeit für unterschiedliche Bias nach – dem gegenüber stehen diverse Nudges, Anstupser, die Menschen zu einem erwünschten Verhalten bringen sollen. Um damit nicht auf Ablehnung zu stoßen, ist entscheidend, dass der Prozess der Entscheidungsfindung und der Entscheidung transparent und nachvollziehbar wird. In Summe macht der Beitrag an zahlreichen praktischen Beispielen deutlich, welchen Beitrag die Verhaltensökonomik zur Transformation leisten kann.
Beschlossen wird das Kapitel von einem Essay zum Thema Transformationspolitik von Ina Scharrenbach, der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Zu Beginn des zweiten Kapitels, das dem Thema Infrastruktur gewidmet ist, liefert Hanno Kempermann ein Plädoyer für die Bedeutung des ländlichen Raums. Die dezentrale Balance und die wirtschaftliche Stärke peripher gelegener Regionen identifiziert er als ein Alleinstellungsmerkmal des erfolgreichen deutschen Geschäftsmodells. Allerdings wird ebenso eine wachsende Ablehnung von Transformationspolitik im Ländlichen konstatiert, die sich in steigenden Zustimmungsraten der AfD zeigt. Kempermann führt diese gesellschaftspolitische Unruhe auf die vergleichsweise schlechten vorherrschenden infrastrukturellen und fachkräftebedingten Rahmenbedingungen zurück. Lediglich bei der Verfügbarkeit von Industrieflächen und Strom aus alternativen Energien liegt ein Wettbewerbsvorteil begründet. Der Ampel-Koalition wird folglich geraten, die derzeitige Programmatik regionaler Wirtschaftsförderung zu überdenken und vermehrt an den erwartbaren Strukturproblemen des ländlichen Raums auszurichten.
Im Anschluss erarbeitet Uwe Schneidewind, langjähriger Transformationsforscher und Wuppertaler Oberbürgermeister, in seinem Beitrag fünf Thesen, mit denen er für einen zwischen Stadt und Land differenzierenden Politikansatz wirbt. Zuerst stellt er die unterschiedlichen Bedarfe etwa hinsichtlich der Verkehrs- oder Energieinfrastruktur heraus. Zweitens fordert er eine kluge Infrastruktur-Konzessionsvergabe, die sowohl auf eine effiziente Bereitstellung als auch auf eine breite Abdeckung abzielt. Drittens werden alternative Finanzierungsmodelle für den ÖPNV oder den sozialen Wohnungsbau angeregt, die Bund und Länder entlasten sollen. Viertens steht die Forderung nach Reallaboren, wo einzelne Entbürokratisierungsmaßnahmen zeitnah ausprobiert werden könnten. Fünftens spricht Schneidewind der Politik Mut zu, mehr Nutzersteuerung zu wagen – auch wenn dies für einzelne unbequem werden dürfte, die es sich etwa im sozial geförderten Wohnraum bequem gemacht haben. Dafür aber dürfe man sich seine Transformationspolitik nicht zerreden lassen vom omnipräsenten Vorwurf der Verbotspolitik.
Vera Demary spürt in ihrem Text der in Anbetracht der Polykrisen zuletzt in den Hintergrund getretenen Frage nach, wie der Staat digitalen Fortschritt vorantreiben kann. Tatsächlich konnten Fortschritte in der Digitalisierung von Wirtschaft oder Verwaltung zuletzt kaum mehr verzeichnet werden. Dabei wären diese existenziell, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts zu erhalten und die Dekarbonisierung der Wirtschaft voranzutreiben. Dem Staat käme hierbei gleich dreifach eine zentrale Rolle als Vorbereiter, Verbindungsstelle und Vorbild zu. Unglücklicherweise versagt Deutschland auf ganzer Linie – nämlich darin, die richtigen infrastrukturellen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen, nützliche digitale Schnittstellen zu Bürgerinnen und Bürgern sowie zu Unternehmen zu errichten und als First Mover trägere Unternehmen auf die Mehrwerte der Digitalisierung zu stoßen.
Der Chief Innovation Officer (CIO) und Chief Digital Officer (CDO) der Stadt Stuttgart, Thomas Bönig, schlägt in dieselbe Kerbe, indem er fordert, Digitalisierung zu nutzen, um die deutsche Verwaltung schneller, effizienter und effektiver zu machen. In diesem Prozess ist besonders bedeutsam, sich wirklich an den konkreten Anspruchsgruppen zu orientieren. Dafür müsste die deutsche Digitalpolitik jedoch vom Paradigma abrücken, lediglich Formulare zu elektronifizieren, und sich vielmehr damit beschäftigen, ganze Prozesse vollständig zu digitalisieren (Ende-zu-Ende-Digitalisierung). Eine Grundvoraussetzung dafür sieht er in der zentralen Bereitstellung von digitalen Plattformlösungen durch den Bund, der Nutzung von KI-Lösungen zur Verwaltungsmodernisierung, einem Agilitätsschub für risikoaverse Verwaltungsangestellte sowie der Abkehr von einem überzogenen Datenschutz.
Mit der Frage »Klimaneutralität 2045 – (wie) können wir das schaffen?« wirft Thilo Schaefer den ökonomischen Blick auf die Umsetzung der Zielsetzung, bis zum Jahr 2045 netto keine klimaschädlichen Treibhausgase mehr auszustoßen. Deutlich wird die gewaltige Anstrengung, die etwa hinsichtlich des Ausbaus Erneuerbarer Energien notwendig ist, soll diese doch auch die enorme Nachfrage etwa nach Grünem Wasserstoff, E-Mobilität sowie beim Wohnen decken. Der Artikel beleuchtet des Weiteren die Komplexität der Zielkonflikte zwischen den ambitionierten Maßnahmen der europäischen Klimapolitik und den Mechanismen, die einen dadurch implizierten Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit abwenden sollen. Abgeleitet wird in diesem Kontext eine auch ordnungspolitisch begründete Notwendigkeit von industriepolitischer Steuerung sowie der Aufruf nach internationaler Klimapolitik – auch um die Kollateralschäden für den Welthandel zu begrenzen.
Die Transformationsforscherin Maja Göpel, Professorin an der Leuphana Universität Lüneburg, schreibt anschließend in ihrem gemeinsam mit Johannes Zieseniß verfassten Essay eine kleine Geschichte der Klimapolitik, um so die Einzeldebatten zu kontextualisieren. Unter demselben Titel wie bei Thilo Schaefer lautet die Antwort, wie Klimaneutralität erreicht werden kann, nicht zuletzt mit dem Rückgriff auf eine oft vergessene demokratische Tugend: Zumutung. Die Autoren rekurrieren zuvor weniger auf die Ebene der konkreten Umsetzung – Ausbau der Energienetze, Elektrifizierung des Mobilitätssektors, Dekarbonisierung der Wärmezufuhr für Gebäude und Industrie etc. –, sondern stärker auf die Finanzierungsseite. Dabei werde eine steigende CO2-Bepreisung, das meistdiskutierte und mit den größten Hoffnungen versehene Instrument, es allein nicht richten. Göpel und Zieseniß erörtern die transformativen Gelingensbedingungen, die modernisierte Anreiz- und Lenkungseffekte benötigten. Darüber hinaus setzen sie auf eine veränderte Innovations- und Verständigungsbereitschaft im öffentlichen Diskurs, um das Verständnis für die entsprechenden Wirkungseffekte zu erhöhen. Wichtig wäre, ein positives Ziel zum Referenzpunkt zu machen. Insgesamt gehe es nicht um Ideologie, sondern effektives Regieren.
Die Immobilienökonomen Ralf Henger und Michael Voigtländer umreißen in ihrem Beitrag die Wohnungspolitik der Ampelregierung. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Zielkonflikt zwischen Klimaschutz sowie Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Wohnraum. Zentral wird dabei die Forderung an den Gesetzgeber vorgetragen, nicht zu sehr die Energieeffizienz, sondern auf die zum Heizen genutzten Energieträger abzuzielen und auf einen konsequent ansteigenden Pfad des CO2-Preises zu setzen. Hart gehen die Autoren mit der Regierung ins Gericht, die sich gerade im Gebäudeenergiegesetz auf das Ordnungsrecht mit Geboten und Verboten verstiegen hat. Vielmehr brauche es einen breiteren Policy-Mix, der langfristig verlässliche Rahmenbedingungen vorgibt und so privatwirtschaftliche Investitionen anregt und Raum für Innovationen schafft. Als Beispiele werden eine Dynamisierung der absoluten Kappungsgrenzen, mit denen Sanierungskosten auf Mieter umgelegt werden können, ebenso diskutiert wie die Möglichkeit, Mietern staatliche Sanierungsförderungen durch abgemilderte Mieterhöhungen zukommen zu lassen.
In seinem Beitrag zur Industriepolitik fächert Hubertus Bardt zunächst den theoretischen Rahmen auf: Dabei erweist sich die Polarität zwischen einer horizontalen Industrie- oder Standortpolitik, also das Setzen der Rahmenbedingungen, bei gleichzeitiger Beschränkung der vertikalen Wirkungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Branchen oder einzelner Unternehmen auf das nötigste, zwar als der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft entsprechend, aber auch unrealistisch vereinfachend. Insofern argumentiert der Autor zugunsten eines Mix, wobei insbesondere die ambitionierten Klimaziele der Bundesregierung adäquate Rahmenbedingungen erfordern. Hinzu kommen die mit dem Systemwettbewerb insbesondere mit China einhergehenden Herausforderungen. Zu den Stärken des Industriestandorts D zählen der stabile Ordnungsrahmen und die Wissensbasis für die Industrie, die vergleichsweise gute Infrastruktur sowie der erreichbare Markt. Die Arbeits- und Energiekosten sowie Steuerbelastungen stehen dem gegenüber. Klar wird, dass sich die anstehende Transformation nur mit einer entsprechenden Innovationsfähigkeit, Investitionstätigkeit wie -bereitschaft werden meistern lassen.
Die industriepolitische Perspektive aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz liefert Markus Heß, Leiter der Unterabteilung Zukunft der Industrie, unter dem Titel »Industriepolitik in der Zeitenwende – die Rolle des Staates«.Der Autor begründet die Notwendigkeit einer Industriestrategie mit der Bedeutung des Verarbeitenden Gewerbes für Wertschöpfung und Arbeitsmarkt. Um die Sozial-ökologische Marktwirtschaft im aktuellen geopolitischen Umfeld zu sichern, müsse eine Industriestrategie die gesamteuropäische Perspektive einnehmen (1); auf die Stärkung von Standortbedingungen abzielen (2); eine aktive Förder- und Ansiedelungspolitik mit einbeziehen (3). Den kontroversesten Aspekt, die aktive Förderpolitik, begründet Heß einerseits mit den geopolitischen Risiken für deutsche Schlüsselindustrien. Andererseits führt er die hohen Subventionen in den USA und China an, die Europa zum Nachziehen zwängen. Für die zweite Hälfte der Legislaturperiode müsse die Regierung aber besonders die Angebotsbedingungen für die Industrie in der Transformation verbessern.
Unter dem Titel »Wettbewerbsfähigkeit trotz Transformation« fragt Tobias Hentze zu Beginn des dritten, der Finanzpolitik gewidmeten Kapitel nach der Priorisierung in diesem Politikfeld. Die sei nötig, da die auf 50 Milliarden Euro jährlich geschätzte Investitionslücke im Gleichschritt mit den gewaltigen Transformationsaufgaben wachse. Die Notwendigkeit zu priorisieren, erwachse nicht zuletzt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das nicht nur den Nachtragshaushalt von 2021 für verfassungswidrig erklärte, sondern auch grundsätzlich ausschließt, »bei Aussetzen der regulären Verschuldungsgrenzen in einer Notsituation Kreditermächtigungen zu beschließen, die in späteren Jahren ohne Notsituation genutzt werden sollen« (BVerG 2023). Die Schuldenbremse greife demnach wesentlich schärfer, als dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Schlechte Nachrichten seien dies für Länder, die ihren Haushalten zuletzt immer häufiger Sondervermögen an die Seite gestellt haben, um die Null-Prozent-Neuverschuldungsschranke der Schuldenbremse zu überspringen, sowie überschuldete Kommunen, die auf handlungsfähige Länder angewiesen sind. In den kommenden Jahren werden überdies höhere Zinszahlungen und wachsende Zuschüsse an die gesetzliche Rentenversicherung zu Buche schlagen. Trotz allem wäre die Bundesregierung grundsätzlich handlungsfähig: Die Restriktionen »sind eher politischer als ökonomischer Natur«.
Jakob von Weizsäcker, Minister der Finanzen und für Wissenschaft des Saarlands, wirbt in seinen »Überlegungen zur Transformationspolitik« dafür, klimapolitische Glaubwürdigkeit, Prosperität und sozialen Zusammenhalt zusammenzudenken. Bei einer Dekarbonisierung ohne Sicherung der wirtschaftlichen Dynamik und des sozialen Zusammenhalts laufe Deutschland Gefahr, zu einem »traurigen Vorreiter« zu werden, »dem man eigentlich nicht folgen mag«. Des Weiteren erklärt der Autor zur »zentralen finanz-, sozial- und wirtschaftspolitischen Aufgabe unserer Zeit«, zwischen CO2-Bepreisung, Ordnungsrecht und Subventionen »den klügsten Instrumentenmix zur Erreichung der Emissionsziele zu finden«. Die Notwendigkeit einer aktiveren Industriepolitik aufgrund von Dekarbonisierung und Deglobalisierung solle »nicht als Freibrief« für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft missverstanden werden. Pointiert argumentiert der saarländische Finanzminister am Beispiel seines Bundeslandes für eine Reform der Schuldenbremse, die der Regierung über einen Transformationsfonds investive Handlungsspielräume ermöglicht, ohne eine übermäßige Gefährdung der Haushaltssolvenz in Kauf zu nehmen.
Axel Plünnecke eröffnet das Kapitel zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit einem Beitrag, in dem er die Herausforderungen des demografischen Wandels für die Fachkräftesicherung in den innovationsrelevanten MINT-Berufen erläutert. Engpässe in diesen Berufen belasten Innovationsprozesse und die erfolgreiche Transformation bei Klimaschutz und Digitalisierung. Der Autor betont, dass die Zuwanderung bereits in den letzten zehn Jahren stark zur Innovationskraft und Fachkräftesicherung in akademischen MINT-Berufen mit beigetragen hat, dass diese Erfolge aber noch nicht ausreichend sind, um in größerem Umfang Fachkräfte für die Gestaltung des Transformationsprozesses zu gewinnen. Das jüngst beschlossene neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz setzt wichtige Impulse für mehr Zuwanderung durch bessere Regelungen bei der Blauen Karte, beruflich Qualifizierten oder Personen mit Berufserfahrung und schafft attraktivere Regeln für die Arbeitssuche durch die Chancenkarte. Auch werden Informations- und Werbeangebote weiter ausgebaut.
In seinem Text greift Plünnecke auf eine Stellungnahme der Zuwanderungsexpertin Bettina Offer, die mit ihm im Zuge der virtuellen Veranstaltungsreihe diskutiert hatte, zurück. Sie hatte in einer Öffentlichen Anhörung zur Fachkräfteeinwanderung im Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages bekundet, dass sie aufgrund der weiterhin kritisch zu betrachtenden Bürokratie und den zu langsamen Prozessen den Gesetzesvorschlag dennoch nicht für geeignet hielte, die Anzahl der im Rahmen der Erwerbsmigration zuwandernden Drittstaatsangehörigen in den nächsten Jahren stark zu erhöhen. Ohne eine deutliche Verbesserung der kommunalen Verwaltung und die Einführung zusätzlicher Verfahrenswege bei den bestehenden Bundesbehörden oder gar einer Bundeseinwanderungsbehörde könnten die in dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz durchaus vorhandenen großen Potenziale für mehr Zuwanderung nicht gehoben werden.
Unter dem Titel »Abnehmende Tarifbindung trotz Gestaltungsanforderungen: Sozialpartnerschaft in Bedrängnis?« hinterfragt Hagen Lesch das von der Ampel-Koalition vereinbarte Ziel, die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung durch staatliche Eingriffe stärken zu wollen. Politische Maßnahmen wie die bereits umgesetzte Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro (ab 2024 dann auf 12,41 Euro) je Stunde oder das geplante Bundestariftreuegesetz dienten keinem dieser Ziele. Im Gegenteil: Die Politisierung des Mindestlohns schade den Tarifpartnern und damit auch der Tarifautonomie. Die historischen Erfahrungen staatlicher Steuerung der Tarifautonomie zeigten, dass Symptome kuriert, Ursachen aber nicht angegangen würden. Wenn die Politik die Tarifbindung steigern wolle, müsse sie erst einmal Kenntnisse über die Motive von Unternehmen gewinnen, die zu einer Tarifbindung führen. Wenn Flächentarifverträge für große Betriebe vorteilhafter sind als für kleine, stehen die Tarifparteien in der Verantwortung, maßgeschneiderte Lösungen zu finden. Gestaltungswillige und gestaltungsfähige Tarifpartner sind die Voraussetzung für eine funktionsfähige Tarifautonomie. Es ist ihre Aufgabe, nicht die des Staates, ihre Mitgliederbasis zu stärken und das Image ihres gemeinsamen »Produkts« Tarifvertrag aufzupolieren.
Im Gegenzug vertritt Johanna Wenckebach in ihrem Beitrag »Sozialpartnerschaftliche Transformationspolitik braucht funktionierende Rahmenbedingungen durch staatliches Handeln« die These, dass die Tarifautonomie weniger durch staatliches Handeln in Bedrängnis gebracht werde als durch ihre Fehlinterpretation, sie als Freiheit zu verstehen, um Tarifbindung zu verhindern oder ihr zu entgehen. Nicht nur sei die Tarifautonomie verfassungsrechtlich garantiert, sie sei ebenfalls Ausdruck des Sozialstaatsprinzips. Dem Staat fällt die Aufgabe zu, soziale Teilhabe zu sichern und dazu ein funktionierendes Tarifvertragssystem zur Verfügung zu stellen. Da die Transformation die ohnehin schon durch arbeitsrechtliche Deregulierung erschwerten Kollektivierungsprozesse weiter schwächen kann, ist staatliches Handeln zur Stärkung der Tarifautonomie geboten. Dies gilt umso mehr, als zwischen den Sozialpartnern keine Einigkeit darüber besteht, wie sich Tarifbindung autonom steigern lässt. Als rechtspolitische Maßnahmen empfiehlt die Autorin Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder, kollektive Handlungsmöglichkeiten für Solo-Selbstständige, ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften und eine Weiterentwicklung der betrieblichen Mitbestimmung.
Als eine besondere Facette des bundespolitischen Handelns beschreibt Andrea Kurtenacker ausführlich die häufig unterbelichteten Fragen der Inklusionspolitik, die im Koalitionsvertrag an zentralen Stellen benannt wurden. Ziel der Ampel-Inklusionspolitik ist es, die Barrierefreiheit in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens herzustellen. Im Fokus stehen dabei Aspekte der digitalen Barrierefreiheit, sowie derer in den Politikfeldern Mobilität, Wohnen und der Gesundheit. In der Gesamtschau der mitunter kleinteiligen Maßnahmen wird die Halbherzigkeit der aktuellen Inklusionspolitik kritisiert, die vielfach Verpflichtungen folge, die sich aus der bereits 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention sowie einer EU-Richtlinie von 2019 ergebe. Aus Perspektive der Transformationsforschung betont das Kapitel auch die Bedeutung der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderung für die Fachkräftesicherung. Problematisiert wird dabei nicht zuletzt die geringe Vermittlung von Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Deutlich wird in dem Beitrag zudem die hohe Bedeutung, die den rechtlichen Fragestellungen in der Inklusionspolitik zukommt.
In Zeiten wachsender Sozialausgaben und ausgeprägtem Ungerechtigkeitsempfinden orientiert sich Judith Niehues’ Beitrag an der provokanten Leitfrage: »Ist mehr besser?«. Schließlich liegt die Sozialleistungsquote auch nach der Pandemie-Ausnahmesituation bei über 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Mit der relativ wie absolut messbaren Ausweitung seiner Leistungen ist der Staat zwar den Präferenzen der Bürger gefolgt, die mehrheitlich für einen weiteren Ausbau des sozialen Netzes votieren, diese Entwicklung hat aber nicht dazu beigetragen, dass die sozialen Unterschiede als gerechter empfunden würden. Gründen für diese Ambiguität spürt Niehues insbesondere in den widersprüchlichen Forderungen der Bürger nach: So wünschen sich diese zwar eine geringere Ungleichheit, offenbaren aber wenig Zustimmung für zielgerichtete Sozialpolitiken, die prekäre Schichten gegenüber dem Rest der Bevölkerung besserstellen würden. Der Staat stehe damit nicht nur in Zeiten knapperer Haushaltsmittel vor großen Herausforderungen. Um enttäuschten Erwartungen vorzubeugen, sei es demnach Aufgabe der Politik, die Zielkonflikte verschiedener Sozialstaatsfunktionen zu moderieren, Ausgaben zu priorisieren und mögliche Zumutungen unmissverständlich offen zu legen.
Unmittelbar an Judith Niehues schließt Georg Cremer mit seinem Artikel über den Niedergangsdiskurs des Sozialstaates an. Der Autor, selbst langjähriger Generalsekretär der Caritas, macht auch die Sozial- und Wohlfahrtsverbände für die paradoxen Umverteilungspräferenzen, die hierzulande in der Bevölkerung vorherrschen, mitverantwortlich und bezeichnet sie als »Echokammer der Unzufriedenheit«. Immer wieder würden von Seiten der Politik unrealistische Erwartungen bedient; das Setzen von Prioritäten unterbliebe hingegen. Allein auf die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates zu verweisen, werde den Diskurs jedoch nicht verändern können. Darüber hinaus bedürfe es Empathie mit dem unteren Rand der Gesellschaft. Sozialpolitik müsse auch immer als eine »Politik der Befähigung« begriffen werden; die Befähigungsgerechtigkeit müsse dabei ein zentraler normativer Anspruch sein.
Das Kapitel wird beschlossen von Jochen Pimpertz, der am Beispiel der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung erörtert, wie viel Solidarität sich unsere Gesellschaft im demografischen Wandel noch leisten kann und will. Der Begriff Solidarität findet sich übrigens nur an zwei Stellen im Koalitionsvertrag (SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP 2021, S. 6, 113) – eigentlich überraschend für eine von einem Sozialdemokraten angeführte Bundesregierung. Die bisherige Debatte um die Defizite in den Sozialkassen hat sich primär um die Frage, wo zusätzliche Mittel herkommen könnten, gedreht. Allerdings wird sich das Versorgungsversprechen, das die Politik hinsichtlich der gesetzlichen Krankenversicherung abgibt, nur dauerhaft einlösen lassen, wenn das ihm zugrundeliegende Solidaritätsprinzip auch von kommenden Generationen mitgetragen wird. Pimpertz argumentiert daher, der demografischen Herausforderung nicht allein durch stetig steigende Umverteilung zu begegnen, sondern eine nachhaltige Lösung der grundlegenden Probleme im Gesundheitswesen anzustreben.
Zu Beginn des europapolitischen Kapitels konstatieren Melinda Fremerey und Simon Gerards Iglesias in ihrem Beitrag über die Reformbedürftigkeit und die Weiterentwicklung der Europäischen Union, dass der europäische Bundesstaat, so wie er im Koalitionsvertrag der Bundesregierung genannt wurde, letztlich unerreichbar bleiben wird. Angesichts der vielfältigen Krisen plädieren die Autoren unter der Formel »In Vielfalt geeint neu denken« vielmehr für Pragmatismus bei der Weiterentwicklung der EU. Da das deutsch-französische Tandem, das die EU lange getragen und vorangetrieben hat, momentan als Reformmotor ausfällt, müssen alternative Wege bei der weiteren Integration beschritten werden. Verteidigungs- und Investitionsunion könnten dabei – angelehnt an das Konzept der EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten – schrittweise geschaffen werden.
Der Co-Vorsitzende des Jacques Delors Centres an der Hertie School of Governance, Johannes Lindner, ergänzt den vorstehenden Beitrag von Fremerey und Gerards um zwei Aspekte: Erstens macht die Zunahme an distributiven Implikationen von in der EU getroffenen Entscheidungen sowie deren Tangieren der nationalen Souveränität die Fragen nach Mitspracherechten und politischer Identität zu Stellschrauben, die über die Akzeptanz europäischer Integration entscheiden. Wo es Gewinner und Verlierer gibt, wächst für Bürgerinnen und Bürger die Bedeutung der demokratischen Rückbindung von Entscheidungen. Die Toleranz gegenüber etwaigen Verlusten sei im europäischen Staatenbund noch immer sehr viel niedriger ausgeprägt als in den nationalstaatlichen Solidargemeinschaften. Zudem hätten national legitimierte Politiker ein grundsätzliches Interesse daran, Enscheidungshoheiten nicht abzugeben. Zweitens, argumentiert Lindner, könne das Wirken von Jacques Delors als Vorbild dienen, um Integrationsschritte politisch vorzubereiten. Dafür skizziert er, wie eine klare Zielsetzung mit Zeitplan, Kompensationsmechanismen für mögliche Verlierer sowie überparteiliche und transnationale Unterstützung aussehen könnten.
Unter der Überschrift »Geopolitik versus Ordnungspolitik? Sprengkraft innerhalb der EU durch die Zeitenwende« widmet sich Jürgen Matthes der Frage, wie weit die europäische und deutsche Politik ihren ordnungspolitischen Kompass hinter sich lassen darf, um auf die geopolitische Herausforderung, vor die der Westen durch Russland und China gestellt wird, angemessen zu antworten. Aus der Abhängigkeit der europäischen Volkswirtschaften von China resultiert die Diskussion, ob der Staat möglicherweise eine größere Rolle übernehmen sollte. Die Europäische Kommission setzte insbesondere bei der grünen Transformation auf eine aktive Rolle der Politik – das Stichwort lautet Net Zero Industry Act, wobei ähnliche Aktivitäten beim Thema Rohstoffe und Halbleiterindustrie zu verzeichnen seien. Ebenso zu berücksichtigen seien die finanziellen Mittel, die den einzelnen Staaten und der EU für das De-Risking und die nötige Transformation zur Verfügung stehen. Deutlich werde, dass die alten ordnungspolitischen Gewissheiten der Vergangenheit nicht länger haltbar seien; die Ordnungspolitik aber trotzdem noch der Politik Orientierung geben könne.
Die Vorsitzende des EU-Binnen- und Verbraucherschutzausschusses im Europaparlament, Anna Cavazzini, betont die Bedeutung der Vereinbarkeit von Industrie und Nachhaltigkeitsstandards. So wirbt die grüne Europaabgeordnete etwa dafür, den europäischen Green Deal sowie die Regulierung zur Kreislaufwirtschaft ernst zu nehmen, aber nicht bürokratisch zu überfrachten. Ziel der gemeinsamen Regelwerke sei schließlich auch, den Binnenmarkt attraktiver zu gestalten, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken – und nicht zu gefährden – sowie sich in der Zeitenwende resilienter aufzustellen. Als Beispiel hebt Cavazzini das EU-Lieferkettengesetz hervor – auch wenn sie die Unterstützung von Unternehmensseite womöglich überschätzt (Kolev-Schaefer/Neligan 2023). Über eine Zollreform versucht sie im Europäischen Parlament abzusichern, dass Standards nicht von außerhalb der EU unterlaufen werden.
Hubertus Bardt weist in seinem Beitrag nach, wie stark die Bundesrepublik nach dem Fall der Berliner Mauer und dem – vorläufigen – Ende der Block-Konfrontation abgerüstet hat. Deutschland habe mit dem Einstreichen dieser vermeintlichen Friedensdividende einen europäischen Sonderweg beschritten. Im internationalen Vergleich dominierten hinsichtlich der finanziellen Aufwendungen für militärische Zwecke seit Jahrzehnten die USA. China habe seit der Jahrtausendwende seine diesbezüglichen Aufwendungen verzwölffacht, wobei der entsprechende Anteil am BIP nicht gewachsen sei, sondern dank wirtschaftlicher Prosperität möglich wurde. Dass die Spielräume in Deutschland trotz des mit der Zeitenwende verkündeten Sondervermögens von 100 Milliarden Euro zur Ertüchtigung der Bundeswehr eng bleiben, sei absehbar. Die Finanzierung des NATO-Ziels von zwei Prozent sei ab spätestens 2027 ungeklärt.
Ob die Bundeswehr die von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius im November 2023 geforderte »Kriegstüchtigkeit« erlangen kann, fragt ebenfalls der nächste Beitrag: In diesem zieht der langjährige SPD-Verteidigungspolitiker Hans-Peter Bartels Parallelen der hierzulande generell unterfinanzierten öffentlichen Infrastruktur bei gleichzeitiger 150-Prozentigkeit der regulatorischen Ansprüche mit dem bedauernswerten Zustand der Bundeswehr. Der ehemalige Vorsitzende des Verteidigungsschusses und nachmalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages erkennt im Zustand der Bundeswehr ein »Musterbeispiel für die bisher in Kauf genommene Verwahrlosung der Funktionsfähigkeit einer einst teuer aufgebauten öffentlichen Einrichtung«. Damit das Sondervermögen der Kampfkraft der Truppe zugutekommen könne, bedürfe es einer radikalen Reform des Beschaffungsmanagements. Zudem gelte es, einen »selbstgemachten Bürokratie-Overkill« zu überwinden. Falls dies gelinge, »könnte die Bundeswehr, deren Kümmernisse heute ein Sinnbild für viele andere prekär gewordene Strukturen in Deutschland geworden sind, zum Modell für ein erfolgreiches Umsteuern werden«.
Weiter zurück als Jürgen Matthes im vorigen Europakapitel greift Michael Hüther in seinem Beitrag über die Zukunft des Westens in der Deglobalisierung. Hier markierte der Fall der Berliner Mauer und die Überwindung des Eisernen Vorhangs in den Wendejahren 1989/90 scheinbar den Beginn einer unumkehrbaren Bewegung hin zu Demokratie und Marktwirtschaft. Indes führte der politische Hegemonialanspruch des Westens bis zur Finanzkrise Ende der Nuller-Jahre in vielen der dortigen Länder zu moralischer Arroganz und mindestens sicherheitspolitischer Naivität. Mit Blick auf den Welthandel konstatiert Hüther eine Erschöpfung der Globalisierung, die guten Jahre für die deutsche Exportwirtschaft seien indes schon seit 2018 vorbei. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zwinge die deutsche Volkswirtschaft nunmehr mindestens zu einem De-Risking, wenn nicht sogar De-Coupling. Unterlegt seien diese Herausforderungen von der demografischen Alterung unserer Gesellschaft als der größten Hypothek, aber auch von vielfältigen Transformationsbedarfen, auf die die Politik – anders als etwa in den USA – hierzulande noch nicht hinreichende strategische Antworten gefunden habe.
Bergmann, Knut (Hg.) (2022): »Mehr Fortschritt wagen«? Parteien, Personen, Milieus und Modernisierung: Regieren in Zeiten der Ampelkoalition, Bielefeld: transcript.
Bollmann, Ralph/Gerster, Livia/Schuller, Konrad (2023): Die Nacht, als die Ampel überlebte, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 17. Dezember 2023, S. 2.
Buchsteiner, Jochen (2023): Ein Ort der Verdunklung, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3. September 2023, S. 3.
BVerfG (2023): Urteil des Zweiten Senats vom 15. November 2023–2 BvF 1/22-, Rn. 1–231, Website BVerfG, [online] https://www.bverfg.de/e/fs20231115_2bvf000122.html [abgerufen am 18.12.2023].
Habeck, Robert (2023): Karlsruher Klima-Urteil – Habeck befürchtet Ende der Strom- und Gaspreisbremse, Interview mit Silvia Engels, in: Deutschlandfunk am 20.11.2023, Website Deutschlandfunk, Min 3:35, [online] https://www.deutschlandfunk.de/nach-verfassungsgerichtsurteil-wie-weiter-beim-haushalt-int-robert-habeck-dlf-d176093a-100.html [abgerufen am 18.12.2023].
Infratest dimap, 2023, ARD-DeutschlandTrend September 2023, Website infratest dimap, [online] https://www.infratest-dimap.de/fileadmin/user_upload/DT2309_Report.pdf [abgerufen am 20. November 2023].
Jarzebski, Sebastian (2022): Bündnisse erzählen. Wie mit dem Narrativ vom Aufbruch eine neue Koalition geschmiedet wurde, in: Knut Bergmann (Hg.): »Mehr Fortschritt wagen?« Parteien, Personen, Milieus und Modernisierung: Regieren in Zeiten der Ampelkoalition, Bielefeld: transcript, S. 61–80.
Kolev-Schaefer, Galina/Neligan, Adriana (2022): EU-Lieferkettengesetz: Jedes fünfte Unternehmen will Preise erhöhen, in: IW Köln, Website IW, [online] https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/galina-kolev-adriana-neligan-jedes-fuenfte-unternehmen-will-preise-erhoehen.html [abgerufen am 18.12.2023].
Korte, Karl-Rudolf (2024): Wählermärkte. Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik, Frankfurt: Campus.
Mora, Terézia (2023): Muna oder Die Hälfte des Lebens, München: Luchterhand.
Reif, Karlheinz/Schmitt, Hermann (1980): Nine second-order national elections – a conceptual framework for the analysis of European election results, in: European Journal of Political Research, 8, S. 3–44.
SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen – Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), Berlin.
Vehrkamp, Robert/Matthieß, Theres (2023): Mehr Koalition wagen. Halbzeitbilanz der Ampel-Koalition zur Umsetzung des Koalitionsvertrages 2021, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.
Zicht, Wilko/Cantow, Matthias (2023): Sonntagsfrage Bundestagswahl, Wahlrecht.de (Hg.), Website wahlrecht.de, [online] https://www.wahlrecht.de/umfragen/ [abgerufen am 19.12.2023].
Große Verteilungskonflikte stecken hinter großen Transformationen (Korte 2022; Bergmann 2022). Nicht die politischen Farben im Parteienwettbewerb sind dabei zentral, sondern der gemeinsame Wille zum Verändern. Potenziale für Resilienz stecken nicht in der ideologischen Ausrichtung der Parteien, sondern in ihrem kommunikativen Interaktionspotenzial. Ob man die Veränderungen dann Fortschritt, Modernisierung, Reform oder Transformation nennt, ist nicht so entscheidend wie der offen kommunizierte Fahrplan. Die Berliner Ampel als Lerngemeinschaft wollte mit einem ökologischen Transformationsnarrativ als wichtigem Politiktreiber Innovationen voranbringen. Das hat die rot-gelb-grüne Bundesregierung bis zur Halbzeit der Legislaturperiode durchaus in einigen Bereichen unter Beweis gestellt. Allerdings hat sie dabei die Unterstützung der Bevölkerung verloren, wie die niedrigen Umfragewerte zur Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit ab Sommer 2023 durchgehend offenlegen. Zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl scheint die Ampel weder über eine politische noch eine gesellschaftliche Mehrheit zu verfügen. Das liegt an vielen Faktoren: Transformationsfuror, Profilierungsstreit der Koalitions-Parteien, Krisen mit Zeitenwende-Charakter und nicht zuletzt einer scheinbar unüberwindbaren Gesprächsstörung zwischen Regierenden und Regierten.
Die Schlussfolgerungen für uns als Wähler sind ambivalent (Korte 2024). Denn das erlebte Regieren der Ampel-Koalition wirkt aufdringlich unfertig und höchst uneinig. Man sieht Varianten von Good Governance zeitgleich neben koalitionsinternen Kämpfen als Guerilla Governance. Die Meister des Diffusen und des Nicht-Zuständigen stehen neben denjenigen Ministern, die ihre tagtägliche Abwägung von Gütern minütlich offenlegen. Das ist anstrengend und passt nicht in die Muster des Politikmanagements einer Kanzlerdemokratie. Vieles deutet darauf hin, dass sich das politische System von dieser Spielart, aktuell in Form erstmals einer echten Dreier-Koalition, in eine Perspektive des multi-zentristischen, kollaborativen Regierens weiterentwickelt, getrieben durch den Ressourcenfluch des Transformationsdrucks. Es ist zu früh, um zu beurteilen, ob dies an den Akteuren, der Dreier-Konstellation oder an der Größe der Transformationsaufgabe liegt. Faktisch gab es auf Bundesebene seit 1949 bislang keine drei bundespolitisch aufgestellten Parteien, die eine Kanzlermehrheit organisierten. Die CSU ist eine Regionalpartei, die nur in Bayern wählbar ist. Insofern haben wir mit der Ampel in Berlin ein strukturelles und machtpolitisches Unikat auf Bundesebene. Die Kanzlerpartei SPD ist zudem strukturell gegenüber Bündnis 90/Die Grünen und FDP permanent in der Minderheit – wobei es diese beiden, trotz ihrer geschickten Citrus-Vorsondierungen, nicht vermocht haben, sich gemeinsam strategisch gegen die Sozialdemokratie zu verbünden (siehe hierzu auch den Beitrag von Jarzebski in diesem Band). Die Kanzlerpartei war historisch in allen Konstellationen einschließlich der Regierungszeit von Angela Merkel immer klarer Mehrheitsführer in der Regierungskoalition. Scholz muss angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse im Kabinett strukturell mehr moderieren als führen. Außerdem hat Scholz das geringste Mandat an Wählerstimmen inne (mit knapp 25 Prozent für die SPD), mit dem jemals ein Bundeskanzler von den Wählern ausgestattet wurde (Zur Analyse der Bundestagswahl von 2021 vgl. Korte/Schiffers/Schuckmann/Plümer 2023). Auch das relativiert die traditionelle Stärke dieses Regierungschefs in der bundesrepublikanischen Kanzlerdemokratie.
Regulierungen mit Veränderungspotenzial folgen in Deutschland idealerweise politisch-kulturellen Mustern, um auch Unpopuläres mehrheitsfähig zu machen. Folgt man den Pfadabhängigkeiten, die Veränderungen möglich machen, werden deren Voraussetzungen sichtbar: Die Transformation sollte demnach kommunikativ inklusiv, politisch partizipativ und sozial stets solidarisch ausgerichtet sein. Konkret könnte das bedeuten: transparent kommunizieren mit anschaulichen Narrativen, befristet Zumutungen aussprechen sowie verlässlich zusichern, dass alles sozial ausgewogen, fair, gerecht sowie teilhabend daherkommt und mit der prospektiv entscheidenden Botschaft versehen ist: Danach wird es für alle besser!
Doch das bleibt im politischen Wettbewerb oft Theorie, denn jede Partei versucht im Regierungshandeln nicht den eigenen Vorteil zu verlieren, um bei der kommenden Wahl beim Wähler zu punkten. Da liegt es nahe, das Unpopuläre aufzuschieben oder es den Mitregierenden aufzubürden. Die Fliehkräfte werden auch innerhalb der Ampel existent bleiben. Der Mechanismus ist nicht neu: Mit Geld dasjenige im Koalitionstopf aufzufüllen, was an politischem Konsens fehlt – was für die Geschäftsgrundlage der Ampel mit der Umwidmung von 60 Mrd. Euro aus den Corona-Hilfen in den Klima-Transformations-Fonds schlussendlich höchstrichterlich untersagt worden ist. Und dies ist naturgemäß bei drei Akteuren umfangreicher als bei zwei Parteien. Auch das Mehrebenen-Spiel – Schuldzuweisung und Aufgabenüberforderung zwischen Ländern und dem Bund – gehört zum Politikmanagement in Deutschland immer mit dazu. Die mit Urteilsspruch vom November 2023 von Karlsruhe entschiedene haushaltspolitische Zeitenwende erhöht den Druck, nicht nur Aufgaben zu priorisieren, sondern auch veränderungszuversichtlicher und ehrlicher zu kommunizieren: Transformationen können sich unter solchem Druck entwickeln, wenn auch gesagt wird, wem man zukünftig – begründet und idealerweise befristet – etwas wegnimmt. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein feines Gespür dafür, dass es nicht anders funktionieren kann, wenn am Ende enkelfähige Politik als Zielmarke auftauchen soll. Sie fühlen sich nicht ernst genommen, wenn die Politik so tut, als könnte sie alle vor den diesseitigen und fast schon jenseitigen Unbillen des Lebens schützen. Politikverdrossenheit entwickelt sich auch aus dieser Konstellation, die umgekehrt, aus Sicht einiger politischen Akteure, wie Bevölkerungsverdrossenheit daherkommt.
Die Versuche der Ampel-Regierung, auf den Wählermärkten für Transformation zu begeistern, waren bislang noch nicht sonderlich erfolgreich. In dem Maße, in dem die Klimakrise im privaten Heizungskeller ankam, zeigten sich die Optionen von staatlicher Regulierung im paternalistischen Gewand in Reinform: Zumutungen vereinbaren? Finanzielle Entlasteritis für alle organisieren? Verbote durchsetzen? Vorschriften machen? Auf technische Innovationen setzen? Marktanreize zum Umdenken machen? Oder Angst-Management forcieren? Die Transformationsforschung zur Nachhaltigkeit kann präzise Erfolgsfaktoren für den gesellschaftlichen Wandel benennen.1 Unterstützend, stimulierend, zielführend, gestaltend? Am Anfang steht sehr oft, die Widerstände lieben zu lernen. Und das Eingeständnis, dass das Primat der Politik gilt. Hilft die Idee des Gesetzes, dass es tatsächlich besser wird? Ist erkennbar, dass auch ärmere Bürgerinnen und Bürger nicht vergessen wurden? Bin ich überzeugt davon, dass ich selbst nicht allzu viel leiden muss? Das sind die Fragen aus der Verhaltensökonomie, die die Politik zu beantworten hat, wenn Transformation gelingen soll.
Ein anderer Zugang zum Thema Transformation wird eröffnet, wenn man politische Steuerungsfragen aus einer veränderten Perspektive angeht. Ohne Responsivität leidet die Qualität der Freiheit. Die Rückbindung der Politik an die Bürgerinnen und Bürger schafft das notwendige Reservoir an Vertrauen, ohne das Politik handlungsunfähig wird. In der Wahlforschung spielt seit einigen Jahren das Kommunikationsverhalten der Wählerinnen und Wähler eine größere Rolle als deren sozioökonomische Lagen. Wahlverhalten lässt sich auf volatilen Wählermärkten heute aussagekräftiger analysieren, wenn man weiß, was gelesen, gehört, gewischt, gesehen wird. Und dies kann man auch für Transformationspolitik nutzen. Denn auf welche Bürgerwelt stößt die politische Veränderung? Wie konstituiert sich die Lage der Menschen, auf welche die Politik steuernd einwirken möchte? Dahinter steckt die Kernfrage: Wie entsteht ein politisches Lagebild in der Bevölkerung? Wer diese Frage beantworten kann, hat einen wichtigen Zugang, um den Raum der Politik und den Stoff des Politischen zu verstehen. Man erkennt im Umkehrschluss, wie die Politik die Menschen erreichen kann, wie man sie teilhaben lässt. Bundespräsident Joachim Gauck formulierte im Sommer 2023: »Für mich – und deshalb melde ich mich überhaupt zu Wort – ist es wichtig, dass die Politik mit uns spricht.« (Zitiert nach Betschka 2023: 12) Und weiter: »Ich plädiere für eine Politik, die erkennt, dass das Wünschbare nicht immer umsetzbar ist, wenn man demokratische Mehrheiten erhalten will.« (Ebd.) Aber wie kommt man zu Lagebildern und demokratischen Mehrheiten? Mit dem Begriff der Gesprächsstörungen kann man sich den Antworten nähern.
Die zunehmende Komplexität im Kommunikationsalltag der digital vernetzten Vielen korrespondiert mit Gesprächsstörungen zwischen Bürgern und der Politik. Diese Gesprächsstörung hat eine doppelte Wucht. Denn dahinter verbirgt sich eine Politik- und Medienverdrossenheit. Publikumsempörung und Medienempörung müssen nicht im Gleichklang verlaufen. Bürger fühlen sich nicht ausreichend von den Repräsentanten der Politik vertreten. Zugleich finden sie ihre Themen auch nicht im öffentlich-rechtlichen Rahmen und in den regionalen bzw. überregionalen Zeitungen ausreichend gewürdigt. Wir haben es nicht nur mit unterschiedlichen Generationen verschiedener Öffentlichkeiten zu tun, sondern auch mit Unterschieden in der jeweiligen Dosis an Öffentlichkeit. Fehlende Responsivität verstärkt im doppelten Sinne Gegenöffentlichkeiten, sowohl in der Politik mit ihrem ausdifferenzierten Protestrepertoire als auch in der Zuwendung an/nach sozialen Eigenmedien. So kommen zwiespältige Befunde über Befindlichkeiten der Bürger auf den politischen Märkten zustande: Wir sind privat meist zufrieden und öffentlich oft unzufrieden. Die eigene Lebenslage wird konstant besser bewertet als die öffentliche.
Der Soziologe Hartmut Rosa diagnostiziert die gestörte Resonanzbeziehung der Bürger zu ihrer jeweiligen Umwelt als das Übel einer modernen Gesellschaft. In der Politikwissenschaft spricht man eher von einer Gesprächsstörung zwischen Bürgern und Politiker bzw. der Politik. Klassisch kann dies dem Topos der Politik- und Politikerverdrossenheit zugeordnet werden. Rosa schreibt: »Der Resonanzdraht zwischen Politik beziehungsweise Politikern und Bürgern erweist sich damit als wechselseitig blockiert: Die beiden Seiten beeinflussen, behindern und manipulieren sich gegenseitig, aber sie erreichen, bewegen oder berühren sich in aller Regel nicht: Das Repräsentationsverhältnis ist ein starres, verhärtetes und kennt kaum noch Formen der Verflüssigung.« (Rosa 2016: 370) Wenn Resonanz nicht über Harmonie, Einklang oder Konsonanz herstellbar sein soll, dann verbleiben prozesshaftes Antworten und politische Berührung im übertragenen Sinne. Die Resonanzsehnsucht in der Demokratie kann durch Anerkennung und Schutz von Differenz befriedigt werden. Letztlich verlaufen die Wiederherstellung oder die Erhaltung einer demokratischen Resonanzbeziehung zwischen Regierten und Regierenden über die Herstellung von Vertrauen.
Der Aufbau von Bindungen zwischen den Regierenden und den Bürgern sichert Resonanz und Vertrauen. Ohne Bindungen kann sich keine Kommunikation entfalten, die auf Resonanz aus ist. Aber auf wen verlassen sich die Bürger in der Politik? Zu wem bauen sie Vertrauen auf? Vom Personenvertrauen wird oft auf das Systemvertrauen geschlossen. Denn Vertrauen führt – wobei es von politischer Seite oft eine rar bewirtschaftete Ressource ist (Bergmann 2013). Aus Politikverdrossenheit wird oft Politikverachtung, wie Umfragen dokumentieren. Der Eindruck verfestigt sich in den vergangenen Jahren, dass viele Debatten in Politik und Medien sich von der Lebenswirklichkeit der Bürger entfernt haben und am Bürger vorbei verlaufen. Es bleibt zu prüfen, ob mit dieser Resonanzstörung auch eine Verschiebung zu analysieren ist. Die politisch-mediale Mitte wäre dann nicht mehr deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Mitte. Am Bürger vorbei bedeutet dann, dass die veröffentlichte Meinung nicht mehr das Meinungsspektrum der Bürger wiedergibt. Hinter der messbaren spezifischen Politik- und Medienverdrossenheit würde sich dann auch viel Potenzial für Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien sammeln, eine Elitenkritik, die Populisten lautstark propagieren.
Die überzeugten Rechtsextremen sind auf den Wählermärkten für Mitte-Parteien schwer zurückzugewinnen. Aber die orientierungssuchenden Unzufriedenen, die sich auch bei der AfD sammeln, kann die Mitte durchaus mobilisieren. Diese Mitte muss sich selber fragen, wie sie integrationsfähiger wird, wie empathiefähiger? Wie wird man guter Gastgeber? Mit welcher Aufenthaltsqualität muss der Begegnungsort ausgestattet sein, damit dies gelingt?
Es liegt nahe, deshalb nochmals den Blick auf die Gesprächsstörungen zu legen. Die Dynamik der AfD ist schwer einzuschätzen. Aber viele Wähler finden sich auch bei ihr, weil dort offenbar alles ausgesprochen wird, was sie selbst bedrückt und was sie gleichermaßen auch alles verstehen, was propagiert wird. Diese Erfolgsformel von Populisten muss man nicht imitieren, aber strukturell verstehen. Wer keine Resonanz zu den Wählern aufbaut, kann weder auf Vertrauen noch auf Mobilisierbarkeit hoffen.
Wie kann man den Entfremdungsprozess zur pragmatischen, oft adaptiven Mitte stoppen? Eine verbale Bedeutungsvermittlung setzt immer voraus: Aufmerksamkeit, Verständnis, Akzeptanz (Kercher 2013). Auch notwendige Kohärenzgefühle zur eigenen Lebensorientierung und zum inhaltlichen Angebot der Parteien setzen voraus: den Eindruck von Machbarkeit, Verstehbarkeit der Situation und der Sinnhaftigkeit des Vorgeschlagenen. Wer so spricht, kann die Bürgerinnen und Bürger kommunikativ erreichen und wieder Vertrauen aufbauen. Daraus erwächst die Verantwortung, alle Themen, die ihnen Sorgen machen, anzusprechen. Und dies in einer Sprache, die auch alle verstehen. Nicht einfache oder verführerische Botschaften sind gemeint, sondern eine »erhellende Vereinfachung« (Joachim Gauck). Mit »robuster Zivilität« (Timothy Garton Ash) muss dann an den Problemen argumentativ und handelnd gearbeitet werden. Mit wichtiger Kommunikationsmacht – wieder gehört zu werden – sind Gesprächsstörungen überwindbar, als Schlüssel zum Erhalt einer stabilen, demokratischen Mitte. Es gibt viele Auswege, um den Durchmarsch von Demokratieverächtern zu verhindern.
Das Gefühl nicht gehört zu werden, nicht verstanden zu werden ist seit der Pandemie auf dem Wählermarkt ausgeprägter als zuvor (Florack/Korte/Schwanholz 2021). Viele Phänomene der Repräsentationslücke, der Legitimationskrise, des Vertrauensverlustes lassen sich auf dieses Gefühl eines Entfremdungsprozesses zurückführen. Menschen fühlen sich insofern alleingelassen mit ihren Sorgen und Problemen. In einem krisenerschöpften Umfeld fällt das mehr ins Gewicht als in saturierten Zeiten. Denn wir spüren, dass jede Sicherheit sich heute jeder permanent selbst erarbeiten muss, wenn die traditionellen Anker (Familie, Milieu, Gruppe, vorpolitische Organisationen, Vereine etc.) schwächeln. Transformation als gesellschaftlicher Veränderungsprozess, hin zu einer digitalen Nachhaltigkeitsgesellschaft kann aber nur freiheitlich gelingen, wenn Bürgerinnen und Bürger verstehen, was die Politik anstrebt. Ohne Überwindung von Gesprächsstörungen kann eine inklusiv gedachte Transformation nur scheitern.
Bergmann, Knut (2013): Vertrauen als politische Führungsressource, in: Georg Eckert/Leonard Novy/Dominic Schwickert (Hg.), Zwischen Macht und Ohnmacht. Facetten erfolgreicher Politik, Wiesbaden: Springer VS Verlag, S. 116–123.
Bergmann, Knut (Hg.) (2022): »Mehr Fortschritt wagen«? Parteien, Personen, Milieus und Modernisierung: Regieren in Zeiten der Ampelkoalition, Bielefeld: transcript.
Betschka, Julius (2022): Ohne Amt, dafür frei und gefragt. Schattenbundespräsident Gauck, in: Tagesspiegel vom 17.10.2023.
Falk, Armin (2022): Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein … und wie wir das ändern können: Antworten eines Verhaltensökonomen, München: Siedler Verlag.
Florack, Martin/Korte, Karl-Rudolf/Schwanholz, Julia (Hg.) (2021): Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt a.M.
Kercher, Jan (2013): Verstehen und Verständlichkeit von Politikersprache.Verbale Bedeutungsvermittlung zwischen Politikern und Bürgern, Wiesbaden: Springer VS Verlag.
Korte, Karl-Rudolf (2024): Wählermärkte. Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik, Frankfurt a.M.: Campus.
Korte, Karl-Rudolf (2022): Transformatives Regieren in Zeiten der Krisenpermanenz, in: dms – der moderne staat, Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, 15. Bd. (2/2022), S. 413–429.
Korte, Karl-Rudolf/Richter, Philipp/von Schuckmann, Arno (Hg.) (2023): Regieren in der Transformationsgesellschaft. Impulse aus Sicht der Regierungsforschung, Wiesbaden: Springer VS Verlag.
Korte, Karl-Rudolf/Schiffers, Max/von Schuckmann, Arno/Plümer, Sandra (Hg.) (2023): Die Bundestagswahl 2021. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden: Springer VS Verlag.
Kristof, Kora (2020): Wie Transformation gelingt. Erfolgsfaktoren für den gesellschaftlichen Wandel, München: oekom Verlag.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
1Als Beispiel dazu die anwendungsbezogene Analyse von Kristof (2020). Auch anwendungsbezogen vgl. dazu auch Korte/Richter/von Schuckmann (2023) und Falk (2022).
Transformation impliziert große Veränderungen und große Veränderungen laufen immer Gefahr, als gesellschaftliche Frakturen empfunden zu werden. Der Soziologe Stephan Lessenich macht den schwierigen Umgang mit den Brüchen daher an der Abwesenheit von Normalität fest und vermutet einen »Phantomschmerz, der durch den Verlust von etwas entsteht, das gewesen ist oder angeblich gewesen sein soll« (Lessenich 2022: 23).
Das entstehende Defizitgefühl kann sich sogar noch verstärken, wenn gänzlich unterschiedliche Transformationstreiber »Gleichzeitig« (Demary et al. 2021) wirken: Ähnlich wie die Wirtschaft parallel mit Digitalisierung, Dekarbonisierung, Deglobalisierung und der demografischen Alterung zu kämpfen hat, treiben artverwandte Umbrüche aktuell auch die deutsche Gesellschaft um. Aufgrund der von vielen als Überforderung empfundenen Veränderungen wird zunehmend eine »gewisse Transformationsmüdigkeit« (Mau et al. 2023: 264) konstatiert. Diese kann in gruppenübergreifenden Reaktanzen resultieren, wenn sich etwa das Gefühl einstellt, man befände sich an einem Kipppunkt (slippery slope). Gäbe man jetzt nach – so die Intuition –, würde einem immer mehr und mehr abverlangt: »Was kommt dann als nächstes?« (Mau et al. 2023: 260)
